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Israel-Palästina: Wir weigern uns, Feinde zu sein

„THE CITADEL FOR CULTURE, EDUCATION & INFORMATION“, BEIT SAHOUR

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„Wir weigern uns, Feinde zu sein“

Israel-Palästina-Reise vom 29. Mai bis 10. Juni 2022

Schon bei der Anreise wird die IPPNW-Reisegruppe mit der israelisch-palästinensischen Konfliktsituation konfrontiert. Es ist der Jerusalem-Tag 2022, der Tag im Jahr, an dem vor allem zionistische Siedler*innen und Nationalist*innen die Eroberung Ostjerusalems im Sechs-TageKrieg begehen und mit einem Marsch durch das Damaskus-Tor in die Altstadt ihre Freude und ihre Ansprüche demonstrieren. Das Gebiet um das Tor ist weitläufig abgesperrt. Unser Hotel ist nur wenige hundert Meter vom Tor entfernt, aber der Bus kann uns nicht bis vor die Tür bringen. Also geht es zu Fuß durch die von Militär gesicherten Absperrungen. Jedes Mal muss erneut geklärt werden, dass eine deutsche Tourist*innengruppe durchgelassen werden möchte. Und dazu die Warnung, Abstand zur Demonstration mit ihrem blau-weißen Fahnenmeer zu halten. „Der Fahnenmarsch beunruhigt uns und wir nehmen eine angespannte aggressive Stimmung wahr,“ kommentiert eine Mitreisende. So eilen wir betroffen zum Hotel. Am Tag darauf, beim geführten Besuch in der Altstadt und aus den Medien, erfahren wir vom teilweise aggressiven Vorgehen der Demonstrant*innen.

Reiseziel: Modelle der Konflikttransformation vor Ort kennenlernen

Nach zwei Jahren Aussetzen wegen strenger Corona-Auflagen unternahm eine IPPNW-Gruppe zwischen dem 29. Mai und dem 10. Juni 2022 erneut eine politische Studien- und Begegnungsreise in die Westbank, nach Ost-Jerusalem und Israel. Es geht darum, die Konfliktlagen annähernd zu verstehen und sachliche Kompetenz zu erwerben. Deswegen führen Mitglieder und Freundinnen der IPPNW seit Jahren politische Studien- und Begegnungsreisen in Länder mit politischen und menschenrechtlichen Konflikten durch. Diese Reise hatte ein volles Programm mit ganz unterschiedlichen Kontakten zu Menschenrechtsorganisationen und politischen Gesprächspartner*innen und vermittelte direkte Eindrücke der Kultur und des Alltags in Palästina. Das sollte auch das Nächtigen und Essen bei und mit palästinensischen Gastgeber*innen gewähren. Ein sehr volles Programm, das von den Mitreisenden als erkenntnisbringend, aber auch in der Massierung der Informationen als anstrengend bezeichnet wurde.

IPPNW fördert Erkenntnisse zum Nahostkonflikt

Die IPPNW beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem (mangels Alternativen so genannten) Nahostkonflikt. Ein Thesenpapier der IPPNW Deutschland erkennt in ihm einen Schlüsselkonflikt der Region (s. IPPNW-Forum 160). Es unterstreicht, dass die IPPNW sich am Völkerrecht und den universellen Menschenrechten orientiert. Wenn es um eine politische Positionierung oder gar Intervention der IPPNW gehe, sollte zu gerechten und nachhaltigen Lösungen der Konflikte im Sinne der betroffenen Bevölkerungen beigetragen werden.

Unter den Mitreisenden zweifelte niemand daran, dass der Konflikt hochkomplex sei. An ihm sind verschiedene und in sich heterogene Konfliktparteien beteiligt: die israelische Regierung und das israelische Militär, die palästinensische Autonomiebehörde, die Hamas-Regierung in Gaza, die israelische Siedlerbewegung, die israelische und die palästinensische Zivilgesellschaft sowie die jüdische und palästinensische Diaspora. Benachbarte sowie am Konflikt direkt oder indirekt beteiligte Staaten haben wesentlichen Einfluss auf die Konfliktdynamiken und tragen durch ihre Eigeninteressen mitunter zur Aufrechterhaltung des Konfliktes bei.

Als ärztlich geprägte Friedensorganisation will die IPPNW Konflikte und Krisen präventiv und zivil bearbeiten und so, wenn möglich, Gewaltanwendungen und Schlimmeres verhindern. Diesen Ansatz will die IPPNW möglichst vielen Medizinstudierenden nahe bringen. Deswegen unterstützt sie diese besonders, wenn sie sich für das Mitreisen entscheiden. Die Reisen bedeuten für Studierende eine erhebliche materielle Anstrengung, weswegen die IPPNW sie durch einen Zuschuss fördert. Die IPPNW hofft, dass die Erfahrungen und Erkenntnisse einen Wert für die Zukunft haben.

AN DER MAUER IN OSTJERUSALEM

Vorsicht und Rücksicht

Bei der Vorbereitung der Reise wurde öfters die Frage nach der Sicherheit gestellt. Da ist es sehr beruhigend, dass die IPPNW ein Reisevorbereitungsteam hat, das die Region, das Land und viele der politischen Kontakte dort seit Jahren gut kennt und in der Lage ist, potentielle Gefahren mit Hilfe der Kontakte vor Ort sicher einzuschätzen. Denn fraglos bestimmt politische Gewalt die Region. Laut einem Bericht des lokalen UN-Menschenrechtsbüros ist die Anzahl von Terroropfern im ersten Halbjahr 2022 stark angestiegen. Von Januar bis Juni dieses Jahres stieg die Zahl auf 60 getötete Palästinenser*innen, verglichen mit 41 in den ersten sechs Monaten in 2021. Die UN erwähnt ebenfalls, dass palästinensische Terroristen zwischen März und Mai des Jahres 18 Israelis auf souveränem Gebiet von Israel getötet hätten. Die UN kritisiert diese übermäßige Gewaltanwendung aller Beteiligten als im Gegensatz zu internationalen Gesetzen stehend.

Tod von Shireen Abu Akleh

Wer sich auf eine solche Reise in die Region vorbereitet, weiß aus den Medien um die Erschießung der Al Jazeera-Jornalistin Shireen Abu Akleh am 11. Mai 2022. Ihr international untersuchter Tod und die Frage, ob das tödliche Geschoss aus einer Militärwaffe oder von palästinensischer Seite abgefeuert wurde, hat ihr Bild in die Ahnenliste des palästinensischen Widerstandes katapultiert. In vielen Städten und Dörfern, von vielen Wänden schaute sie auf uns herab. Von einem Vertreter der Menschenrechtsorganisation Al-Haq erfuhren wir, dass er selbst an den Post-Mortem-Untersuchungen der Journalistin beteiligt war. Zahlreiche große Medien und auch das UN-OCHR haben nach Sichtung von Videomaterial und Zeugenaussagen festgestellt, dass eine Tötung durch israelische Soldaten, die sich in der Nähe befanden, wahrscheinlich sei.

Menschenrechtsvergehen aller Seiten

Herausgegriffen seien die Treffen mit den Menschen- und Völkerrechts-Jurist*innen von Al Haq und Addameer Anfang Juni als für die Gruppe sicherlich besonders aufschlussreich. Beide informierten uns aus erster Hand über die erschwerten Bedingungen der Arbeit der Dokumentation und Verteidigung von Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser*innen und die Schwierigkeiten oder sogar die strukturelle Unmöglichkeit, vor der in den besetzten Gebieten zuständigen israelischen militärischen Gerichtsbarkeit für Palästinenser*innen ihr Recht zu erstreiten. Seit 13 Monaten müssen beide Organisationen dabei ohne die über viele Jahre gewährte europäische Finanzierung auskommen.

Denn im Mai 2021 teilte die Israelische Regierung der EU mit, AlHaq und weitere NGOs würden EU-Gelder zur Finanzierung der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) verwenden, einer militanten Organisation, die auf der Terrorismus-Liste der EU geführt wird. Beweise dafür gibt es nicht. Trotz internationaler Proteste, auch von der IPPNW, gegen die Gängelung der Menschenrechtsorganisationen erging im Oktober 2021 sogar eine militärische Order, die neben Al-Haq Organisationen wie Addameer, Defence for Children International-Palestine, das Bisan Center for Research and Development, die Union of Palestinian Women’s Committees and die Union of Agricultural Work Committees als „terroristisch“ einstufte. Ende Juni hat die EU-Kommission zumindest den Menschenrechtsorganisationen AL-Haq und dem Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte (PCHR) schriftlich mitgeteilt, dass die Aussetzung europäischer Fördergelder nach 13 Monaten ohne Auflagen beendet wird. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, mit der schönen Abkürzung OLAF, hat nunmehr erklärt, dass es nach Prüfung der Bücher der Organisationen für die von israelischer Seite erhobenen Vorwürfe keinerlei Belege gäbe. (Anm. der Redaktion: Kurz vor Druck dieses Heftes erreichte uns die Nachricht, dass das israelische Militär die Büros von Al-Haq und Addammeer in Ramallah durchsucht und geschlossen hat!)

Zum Schluss erwischte die Reisegruppe eine andere Realität. Denn Mitreisende mussten aufgrund von Corona-Infektionen in Isolation und Begegnungen mit Akteur*innen vor Ort wollten diese lieber übers Internet führen. Das konnte aber unterm Strich den Wert der Reise nicht schmälern.

Den Reisebericht finden Sie ab Anfang Oktober unter:

ippnw.de/bit/reise22

Dr. Jens-Peter Steffen war im Juni 2022 mit der IPPNWReisegruppe in Israel/Palästina.

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