Mona Harry Norden und andere Richtungen
MO NA H AR RY
NO RD E N UND ANDERE RICHTUNGEN Mit Fotografien von Christian Kaiser und Thomas Kunadt
K J M Buchverlag
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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage, April 2018 Copyright © 2018 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg www.kjm-buchverlag.de ISBN 978-3-96194-016-5 Herstellung und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin Fotografien von Christian Kaiser: Cover, S. 10, 30, 32, 40, 44, 50, 52, 56, 62, 64, 68, 70, 72, Fotografien von Thomas Kunadt: S. 7, 8, 12, 14, 16, 18, 20, 22, 24, 26, 34, 36, 38, 42, 46, 48, 54, 58, 60, 66, 74, 76, 78 Foto Porträt S.5: Andreas Fromm Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten
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Moin.
Mein Name ist Mona und ich bin Reisepoetin. Als Poetry Slammerin fahre ich umher, und es verschlägt mich immer wieder in Dörfer und Städte, die ich sonst vermutlich nie besucht hätte. So ergibt es sich, dass ich auch immer mal wieder in Süddeutschland, beispielsweise in Bayern auftrete. Und fast immer, wenn ich in einer beliebigen Klein- oder Großstadt aus dem Zug steige, stelle ich fest, dass es ganz außerordentlich hübsch dort ist. Altstädte, Kirchen, Burgen, Schlösser, immer wenn ich dann dort stehe, denke ich: »Wow! Hier ist so schön!« Aber kaum denke ich das, kommt ein zweiter Gedanke: »Aber wohnen will ich hier nicht.« Und dann frag ich mich, warum es mich doch immer wieder zurück in den kalten grauen nassen NORDEN zieht, und genau darauf ist der folgende Text eine mögliche Antwort. Viel Spaß damit!
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NORDEN
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Du sagst: Norden, 7
das sei doch dieser Ort langweiliger Landschaft, 8
durchsetzt von hässlichen Städten in ewigem Regen. 9
Nichtssagende Wiesen, irgendwo im Nebel gelegen, 10
da sei das Bestreben vergebens, sich nicht dem Nass zu ergeben. 11
Da sei man stets von Kälte, von Klämme und Stürmen umgeben. 12
Und ich sag dann: 13
Komm, nimm deine Navigationsinstrumente, 14
stell deinen Blickwinkel neu ein. 15
Deine Kleider sollen fortan aus Seemannsgarn sein. 16
Wirf deine Netzhäute aus, um zwischen 17
den Wellen nach neuen Sichtweisen zu fischen. 18
Noch das Fernglas in die richtige Einstellung bringen, 19
damit deine Augen Lieder zu singen beginnen, 20
stechen wir in See-schärfe, um den Blick frei zu machen. 21
Denn was ich am Norden so mag, 22
ist schlicht das, was du anklagst, 23
im andren Blickwinkel betrachtet. 24
Denn ich mag dieses Herbe, das Graue, das salzige Raue, 25
das Wasser, den Nebel, den prasselnden Regen, 26
die wogenden Meere, die drohenden Gebärden 27
des Wetters, wenn Wolkenturmhรถhen den Himmel beschatten. 28
Mag das GefĂźhl, mich von SturmbĂśen beuteln zu lassen. 29
Mag die KĂźhe und Deiche mit Schafen aus Watte. 30
Mag die DĂźnen, das Weiche der schlafenden Watten. 31
Mag die Weite der Felder und den endlosen Blick, 32
wo der Himmel nur eine Handbreit Ăźber dem wandernden Horizont liegt. 33
… UND ANDERE RICHTUNGEN Natürlich schreibe ich nicht nur über Norddeutschland, sondern eigentlich über alles Mögliche, das mich gerade beschäftigt oder umgibt. Das Schreiben von Texten ist meine Art, mich mit einem Thema auseinanderzusetzen und über es nachzudenken. Und manchmal auch einfach, um etwas wortverspielt herumzualbern. WUNDERN ist ein Thema, das mich immer wieder zum Schreiben bringt. In UNTERWEGSSEIN geht es wieder nach draußen in die Landschaft und auf Reisen. BLASENPFLASTER führt in die Stadt zurück und erzählt etwas von meiner Wahrnehmung der Welt und ihrer Gegensätzlichkeit. SÜßSPEISEN-MÄRCHEN ist dann so ein einfach wortverspielter alberner Text, zuckersüß und ein bisschen klebrig. Mit den ZWISCHENTÖNEN klingt die Textsammlung schließlich am Elbstrand aus.
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WUNDERN
»Fliegen«, so heißt es in Douglas Adams Per Anhalter durch die Galaxis, »Fliegen ist doch eigentlich ganz leicht, es ist nur ein Trick, der darin besteht, dass man sich auf den Boden schmeißt, nur eben daneben.« Und auf wenig verwegenen, alltagsfarbenen Wegen auf immer gleichen Umlaufbahnen die immer gleichen Kreise ziehend schlurfend, wie auf Schienen der immer gleichen S-Bahnlinien Jeden Blick konzentriert von andren Blicken abwendend sich stetig beständig in Bestätigung spendende Wischmusterspuren auf horchenden, handlichen Flächen versenkend ist alles, ist alles, ist alles, ist alles normal in Uhrzeigertaktung, in Alltagslethargie – jedes Wundern beendend Wo ist das kindliche Staunen? nicht länger wach und verwirrt alle Wunden verbunden – alle Wunder verwunden und Welt nicht länger in Frage gestellt alles normalisiert, alles Normalität ich male mir mein Weltbild, damit es alles erklärt es ist alles, ist alles, ist alles normal Der Himmel ist blau ist alles normal
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Und es gibt sowas wie Wind ist alles normal hat mich einmal verwundert, jetzt nehm’ ich’s einfach so hin Katzenzungen sind rau ist alles normal und jeder Mensch war mal Kind ist alles normal wir haben Sprache und Worte ist alles normal wir fahren mit Autos zum Sport wir können telefonieren es gibt Twitter und Facebook und tinder ist alles normal Es ist alles, ist alles, ist alles normal und apathisch starr ich auf die Statik erstarrter Gesichtszüge im tagtäglichen Trott zwischen geräderten Wänden sich drängende Fremde in beständiger Enge auf S-Bahnbänken wo Alltag und Stirnfalten das Denken begrenzen gefestigte Wahrheit an Stirninnenwänden ist alles, ist alles, ist alles normal Was in den Zeitungen steht ist alles normal Menschen führ’n Krieg ist alles normal Umweltverschmutzung ist alles normal Kurzlebigkeit von Produkten ist alles normal Ressourcen gehen zu Ende ist alles normal und hungernde Menschen ist alles normal
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Diätpillen zum Hummer ist alles normal Verschwörungstheorien ist alles normal und Sündenbocksuche ist alles normal ist alles eindeutig, ist alles normal es fehlen die Fragen, doch Antworten und Antworten und Antworten sind da ist doch auch alles bequemer – alles viel leichter zu versteh’n wenn ein schwarz-weißes Weltbild jeden Zweifel verwehrt auf Autopilot – seh ich nur das von der Welt, was in meinen Denkmustern steht Denn Menschen sind Muster-Erkenner, unser Weltbild hat Macht zwei Punkte, ein Strich siehst du als Gesicht von der Welt siehst du das, was in deine Denkmuster passt Und im tagtäglichem Trott in immer gleicher Weise das nicht abweichend zeitvertreibende Erreichbarbleiben leise anleitend auf immer gleichen Kreisbahnen sich wendend wo gefestigte Wahrheiten an Stirninnenwänden das Denken begrenzen Da wünsch ich mir beizeiten ein paar mehr verwunderte Blicke ein paar mehr stolpernde Schritte ein bisschen mehr Weltbilderzweifeln ein bisschen Kreisbahnen weiten ein bisschen mehr Blickwinkelwechsel ein bisschen mehr Wunder, weniger Normalität und viel, viel mehr Fragen weil wir Antworten schon haben aber es um Antworten allein gar nicht geht
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solange den Antworten die Frage fehlt und dieser Frage-Moment diese Lücke der Verblüffung ist ein Einfallstor ein Zwischenraum, in dem Denken beginnt wo ein offener Geist nach neuen Erkenntnissen sinnt wo uns die Welt etwas angeht, wo uns die Welt direkt angeht wo wir neue Denkmuster zeichnen statt verbissen und starr auf Vorurteilen unhinterfragt zu verweilen Und ich wünsch mir beizeiten zum Blickwinkelweiten ein Stück über den Dingen zu schweben – zu fliegen Und Fliegen »Fliegen ist doch eigentlich ganz leicht, es ist nur ein Trick, der darin besteht, dass man sich auf den Boden schmeißt, nur eben daneben.« Und ich wünsch mir, dass meine Sinne mich vorm Wundern nicht verschon’ weil jedem Zaudern, jedem Staunen ein Zauber innewohnt
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