Vorbemerkung
Ich habe an die zehn, elf oder auch zwölf Jahre auf verschiedenen Schiffen gelebt. Vagabundierend unterwegs, einige Jahre aber auch mit einem festen Heimathafen. Derzeit lebe ich an Land und an Bord meines Segelbootes. Dabei plane ich schon das, nächste Wohnschiff anzuschaffen, zum Leben und Wohnen. Gut möglich also, dass ich – wenn Sie dieses Buch in Händen halten und diese Zeilen lesen – schon lange wieder dauerhaft und ausschließlich an Bord lebe. Ob unterwegs auf Reisen oder auch nicht, ist zweitrangig und ergibt sich von selbst. Hauptsache, erst einmal an Bord zu sein. Die Möglichkeiten, die man dann hat, sind nahezu unbegrenzt.
Detlef Jens
Land’s End Wo das Leben beginnt Reisejahre eines Seevagabunden
Die Reihe wird herausgegeben von Klaas Jarchow
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Vorwort
Land’s End. Das Ende vom Land. Und, das ist wichtiger, der Anfang vom Meer. Solche Orte gibt es natürlich viele, nicht nur am Ende des Landes in Südwestengland. Auch auf der anderen Seite, südlich der Western Approaches zum Ärmelkanal, wo, in der Bretagne, das westlichste Departement »Finistère« heißt. Schon die Römer nannten es so: Finis Terrae. Bezeichnenderweise lautet der bretonische Name genau andersherum, Penn ar Bed, was bedeutet: Anfang der Welt. Oder noch etwas weiter südlich, jenseits der Biskaya, das Kap Finisterre in Nordwestspanien. Und alle diese Punkte, wo das Land endet und das freie Meer beginnt, faszinieren mich. So gesehen klingt Land’s End – oder Finisterre – für mich wie ein Versprechen, eine Verheißung. Für Landmenschen mag hier ein Ende sein, für mich bedeutet es Anfang, Aufbruch. Eben das, worum es auch in diesem Buch geht. ~5~
Inhalt
Vorbemerkung 1 Vorwort 5 1. Zu Hause 7 2. Aufbruch 22 3. Noch ein Aufbruch: Winterwunderland 41 4. Ankommen 60 5. Sturm 64 6. Angst und Wahrheit 78 7. Cocooning 86 BILDTEIL 96 8. Exotik 113 9. Genuss 122 10. Städte 139 11. Alltag 151 12. Zurück in den Norden 168 13. Leben im Hafen 178 Nachwort 1. Eine Nordseeinsel. Ein Traum 196 Nachwort 2. Die »Enterprise« segelt weiter 198 Nachwort 3. James 199
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1. ≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈
Zu Hause
I
n Bayona trafen wir uns das erste Mal. Ich war dort, mal wieder vorübergehend alleine, mit meinem Katamaran eingelaufen, auf dem Weg nach Norden, zurück nach England. Bayona ist so ein Hafen, schicksalsschwer. Kolumbus war nach seinem Karibiktörn hierher zurückgekommen. Es liegt südlich des legendären Kap Finisterre am Eingang des mächtigen Ría de Vigo. Strategisch gut platziert, hier kreuzen sich viele Kurse, ob nun outward bound oder schon auf dem Weg zurück – wobei sich immer wieder die Frage stellt: Zurück, aber wohin? Zurück, wie in meinem Fall, ins Ungewisse. Zu Hause? Das ist dort, wo der Anker liegt. Niemand lebte das damals konsequenter und glücklicher als Niki und Jamie auf ihrem elf Meter langen Holzboot. Als ich sie in Bayona kennenlernte, waren sie noch blutjung, aber schon halb um die Erde gesegelt, von Australien bis nach Spanien. Zuerst war mir ihr wunderhübsches Boot mit den eleganten Linien der klassischen Rennyacht der 50er-Jahre aufgefallen. Und das kleine hölzerne Beiboot, das Jamie gerade zimmerte. Er kommt aus Sydney und ist gelernter Bootsbauer. Seine Lebens- und Segelgefährtin Niki ist Engländerin. Als Teenager war sie aus irgendeinem Grund in Australien und hatte dort während einer Regatta an Bord einer großen Yacht Jamie kennengelernt. »Wir wussten einfach beide im ersten Au~7~
genblick, dass wir gemeinsam auf einem Schiff leben und segeln wollten«, sagte Niki, als sei damit alles Weitere erklärt. Immerhin, das Schiff hatte Jamie schon, »geerbt« von seiner Familie. Ein paar Monate arbeiteten sie noch, um Geld zu verdienen, rüsteten das Boot so gerade eben mit dem Nötigsten aus und segelten los, Ziel: Europa. Gerade 20 waren sie, blutige Greenhorns, und gerieten im Indischen Ozean gleich in ihren ersten Taifun. Viel hätte nicht gefehlt, und dieser tropische Wirbelsturm wäre auch ihr finaler Orkan geworden. Tagelang trieben sie in der tosenden See, ohne einen Fetzen Segel, lagen eng ineinander verschlungen auf dem Kajütboden ihres Bootes, in völliger Finsternis, während draußen die Seen auf das kleine Boot eintrümmerten und der Wind schrill im Mast kreischte. Erlebten Todesangst, sahen in einen unbeschreiblichen Abgrund und kamen gestärkt und erwachsen wieder daraus hervor. Wie durch ein Wunder schwamm ihr Schiffchen noch, als zwei Tage später der Sturm vorbei war, wenn auch an Bord ein unbeschreibliches Chaos herrschte. Seekarten, Klamotten, Bettzeug, Bücher, Brot, Reis – alles durchnässt und unbrauchbar. An Deck sah es nicht minder wüst aus, und mit Entsetzen bemerkten sie, dass durch die Gewalt der Sturmseen sämtliche Farbe vom Rumpf geschliffen worden war, herunter bis auf die nackten, rohen Holzplanken. Aber sie hatten den Taifun überlebt. Sie schafften es bis nach Sri Lanka, wo sie an Land gingen und ihr Schiff gründlich überholten. Machten dabei ihre ersten Erfahrungen mit korrupten Beamten. Niki und Jamie wollten für einige Tage zurück nach Australien fliegen. Der »Immigration Officer« beauftragte sie bei der Ausreise damit, auf dem Rückweg zehn Rugbyhemden und eine Handvoll Baseballkappen mitzubringen, sonst würde ~8~
er sie nicht wieder einreisen lassen. Jung und gutmütig, brachten die beiden das Gewünschte mit – trotz ihres chronischen Geldmangels. Dann, nur zehn Tage später, konnte der Kerl sich nicht mehr daran erinnern, was er eigentlich »bestellt« hatte, und sich auch nicht entscheiden, was er nun nehmen solle. Am Ende segelten Niki und Jamie noch monatelang mit einer Ladung Rugbyhemden durch die Welt und verteilten sie unterwegs an Kinder und Landbewohner, wie es gerade kam. Später, in England, traf ich sie wieder. Ich hatte den Katamaran verkauft, vorübergehend einen Job bei einem nautischen Verlag angenommen und lebte nun auf einem sehr kleinen, sehr rotten, aber dafür sehr hübschen und sehr gemütlichen Gaffelkutter. Niki und Jamie waren nach England gesegelt, um sich hier einige Monate lang herumzutreiben und Nikis Familie zu besuchen – am Ende wurden daraus zwei oder drei oder vier Jahre, so genau weiß ich es nicht mehr. Wenn die beiden überhaupt einmal Pläne machen, kommt es doch immer anders. Sie lassen sich treiben, wohin der Wind und ihre Launen sie wehen, und sie lassen sich dabei von niemandem einengen. Wenn man sich mit ihnen verabredet, kann man froh sein, wenn man sich am Ende auf dem gleichen Kontinent mit ihnen befindet. Einmal wollten sie mich treffen, als ich mit meinem Schiff im Hafen von Paimpol in der nördlichen Bretagne lag. Statt jedoch nach Paimpol zu segeln, machten sie auf der anderen Seite der Halbinsel fest und marschierten die fünf Kilometer über Land. Dummerweise war ich gerade nicht an Bord, als sie ankamen, und so kehrten sie um und wanderten zu ihrem Schiff zurück. Ich sah sie danach erst drei Monate später wieder. ~9~
In England jedoch verbrachten wir eine ganze Zeit zusammen. Sabine, die mich in Portugal verlassen hatte, war aus Spanien zurückgekommen und wieder an Bord eingezogen, und wir lebten in einem netten schwimmenden Dorf im Hafen von Town Quay, Southampton, und segelten ab und zu auf dem Englischen Kanal nach Westen raus und zu den Kanalinseln und nach Frankreich rüber. Als wir in Town Quay lagen, waren dort fünf oder sechs Boote bewohnt. Ein arbeitsloser Lehrer auf einem neun Meter langen Motorsegler, drei Studenten auf drei sehr kleinen und sehr alten Holz- und Plastikbooten, ein Trucker und seine Frau auf einem zwölf Meter langen Serienschiff, ein Beamter von der städtischen Denkmalpflege aus dem Rathaus auf einem winzigen, aber wunderhübschen Klassiker, der sogar noch kleiner war als die Boote der Studenten, dafür aber tipptopp gepflegt. Er war halb taub, hatte irgendwo noch ein Haus und eine Familie und musste trotz seiner Taubheit auf sein Schiffchen ziehen, in dem er so gerade eben sitzen und liegen, nicht jedoch stehen konnte, um endlich seine Ruhe zu finden. Niki und Jamie segeln über einen Ozean, wenn sie Ruhe wollen. »Den wahren Frieden findet man 1000 Seemeilen vom nächsten Land entfernt«, schrieb Joseph Conrad. Außerdem kann man dort kein Geld ausgeben. Ein wichtiger Aspekt für die beiden, die damals mit minimalem Budget unterwegs waren. Sie lebten fröhlich von der Hand in den Mund. Geld brauchten sie nur so viel, wie gerade nötig war, um ihr Schiff und sich selbst am Leben zu erhalten – in dieser Reihenfolge! Als sie in England waren, verbrachten sie ein Jahr an Land. Jamie restaurierte wieder mal ihr altes Holzschiff, Niki arbeitete in einem Versicherungsbüro, um Geld zu verdienen. »Ein absolut verlo~ 10 ~
renes Jahr«, sagte sie danach voller Abscheu. »Das wird uns nie wieder passieren!« Ein gutes halbes Jahr nach unserem ersten Kennenlernen in Bayona sahen wir uns in Südengland wieder, wo wir mit unseren Booten aus verschiedenen Gründen gelandet waren. Dort überzeugte ich sie davon, mit ihrem Schiff zum Holzbootfestival nach Risør in Südnorwegen zu segeln. Immerhin ist ihre »Siandra«, auf der sie immer noch leben, eine klassische Rennyacht aus Holz, und so waren sie denn auch der Star der Show. Und wie ich sie kannte, dachte ich, dass sie anschließend auch gleich in Norwegen überwintern würden. Wie es sich herausstellte, kannte ich sie damals noch schlecht. Sie überwinterten zwar in Norwegen, aber nicht im Süden. Wenn schon, denn schon, sagten sie sich (und mir) und segelten im Herbst noch schnell an die 2000 Seemeilen nach Norden, um die Polarnacht in Nordnorwegen am Nordkap und in Tromsø zu erleben. Nach knapp sechs Monaten Dunkelheit und Kälte kehrten die beiden ziemlich blass und etwas verschimmelt in den frühlingshaften Süden zurück. Der Polarwinter, an Bord ihres Bootes in Tromsø erlebt, sei dennoch wundervoll gewesen. Ich segelte in der Zwischenzeit noch einmal mit Sabine ins Mittelmeer, fand mich auf Malta plötzlich alleine und verlassen an Bord wieder und hing ein paar Monate lang durch. Traf später Anke und segelte mein Schiff zurück in den Norden, wo sie damals lebte – nur um etwa ein Jahr später gemeinsam mit ihr wieder Richtung Süden zu starten. Anfang Dezember, so um den Nikolaustag herum, verließen Anke und ich Emden mit Kurs auf London. Dort trafen wir Silvester ein; Niki und Jamie lagen in jenem Winter mit ihrer »Siandra« in Falmouth, Cornwall, machten ~ 11 ~
einen langen Landausflug und besuchten uns per Bus für ein paar Tage in London. Dort beschlossen wir, im Frühjahr gemeinsam nach Südwesten zu segeln. Ziel? Ungewiss. Ob wir in Gibraltar nach backbord und hinein ins Mittelmeer segeln würden oder nach steuerbord in den Atlantik hinaus und zu den Kanaren, Kap Verden oder in die Karibik, war vollkommen offen. Es würde sich schon weisen, wenn es so weit war. Wir genossen den Weg nach Süden. In der Bretagne hielten wir uns besonders lange auf. Im Golf von Morbihan feierten wir Nikis Geburtstag. Unsere Schiffe »Siandra« und »Enterprise« lagen hintereinander im Strom vor Anker, in der Enge bei Port Blanc, zwischen der Île-aux-Moines und dem Festland. Morgens früh schulterte ich einen leeren Rucksack und paddelte mit Anke in unserem knallroten Gummiboot die 500 Meter an Land. Dann wanderten wir etwa zwei Kilometer die Landstraße entlang bis zu einem Supermarkt, wo wir den Rucksack mit allen erhältlichen Köstlichkeiten für den Geburtstagsabend beluden: frische Austern aus der Gegend, frischer Fisch, Pasteten, Salate, Baguettes, Wein, noch mehr Wein und dann noch ein paar Flaschen Wein obendrauf. Mühsam, weil mit sehr schwerem Rucksack und einigen zusätzlichen Tüten beladen, schlichen wir zum Landeplatz und unserem Beiboot zurück. Doch mittlerweile war die Tide gekentert; die junge, frische Flut rauschte und gurgelte mit ungeheurer Wucht durch die Enge, auf deren anderer Seite unsere Boote lagen. In diesem Moment hätten sie auch auf der anderen Seite des Atlantiks liegen können, so unerreichbar waren sie für uns und unser Gummiboot. Wir hätten es wissen müssen, denn das ist ganz typisch für das Morbihan, diesem Binnensee mit nur einem schmalen Aus~ 12 ~
gang zum offenen Meer. Wir erinnerten uns an unser Einlaufen in diesen einzigartigen Golf. Um uns herum strömte, zischte, gurgelte und wirbelte es. Die Flut rauschte »nur« mit sechs Knoten durch die Enge beim Pointe Navalo in den Golf von Morbihan hinein, denn wir hatten zum Glück Nipptide – es hätten auch neun oder zehn Knoten sein können. Und trug uns mit, sog uns sozusagen hinein. Wir hätten keine andere Wahl gehabt. Das Einlaufen in den Golf gestaltete sich zudem unorthodox, nämlich über den Achtersteven. Etwa so: Der König sagte »Auslaufen«, die Tide sagte: »Einlaufen!« Und so wurde eingelaufen, gnadenlos, wenn es sein musste eben auch rückwärts. Wir hatten kaum Wind und keine rechte Lust, den Motor zu starten, ließen uns als Spielball treiben. Von den Gezeitenwirbeln gepackt, die hier durch den unebenen, felsigen Meeresboden entstehen, drehte sich unser Schiff um die eigene Achse, mal hierhin, mal dorthin. Nicht immer ist die Passage durch die Enge so extrem, mit etwas mehr Wind oder auch der Maschine könnte man ja die Ruderwirkung im Schiff erhalten; aber immer schießt man wie der Korken aus einer warmen Champagnerflasche hindurch. Der fjordartige Golf an der Südküste der Bretagne ist immerhin rund 50 Quadratmeilen groß, zweimal am Tag zwängt sich das Wasser mit den Gezeiten durch die Enge hinein und wieder hinaus. Rund ein Dutzend größere Inseln (nur zwei oder drei davon bewohnt) und Hunderte kleinere Eilande und Felsen liegen im Golf verstreut. Als wir im Golf waren, segelten wir mit einer kleinen Landbrise gemächlicher weiter. Nicht überall ist die Tide so furios wie in der Einfahrt, und natürlich auch nicht über alle zwölf Stunden eines Gezeitenzyklus hinweg. Beeindruckt waren wir ~ 13 ~