Schreier Urstromtal Vorschau

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Helmut Schreier

Urstromtal Zu Hause im Auenland der Mittelelbe

Mit Fotografien von Uwe Hameyer u.a.


Mehr zu den Büchern des KJM Buchverlags www.kjm-buchverlag.de, www.hamburgparadies.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Aufl age, Mai 2018 Copyright © 2018 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg www.kjm-buchverlag.de ISBN 978-3-96194-018-9 Abbildungen von: Uwe Hameyer 1–4, 35–42, 79–86, 127–134, 165–172, 180/181, 185; Marcus Schreitter 8/9; Helmut Schreier 12, 29, 34, 52, 55, 71, 109, 121; Helmut Schnieder 186/187 Lektorat: Bernd Brunner, Berlin Herstellung, Satz und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin Lithographie: Reihs Satzstudio, Lohmar Karte: infografi ker.com Druck: Beltz Grafi sche Betriebe, Bad Langensalza Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten

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Hier werd ich leben. Ein Jäger war ich, einfing mich aber das Gras. Lehr mich reden, Gras, lehr mich tot sein und hÜren, lange, und reden, Stein, lehr du mich bleiben, Wasser, frag mir, und Wind, nicht nach.

aus: Johannes Bobrowski, Ebene




Inhalt

WINTERLICHT Zeit der Reduktion 13 Zweimal Mond 15 Heimat vermeiden – eine Befreiung? 18 Die Attraktivität des eigenen Gartens im Winter 21 Offene Türen 24 Der unbesiegbare Sommer 28 Winterhimmel 32 DER WEISSE FLUSS Zögerliche Ankunft 43 Am Fluss alles im grünen Bereich 45 »Biosphärenreservat« 47 Vogelwelt Elbtalaue 49 Die subtile Schönheit von Vogelfedern 50 Der Strom 52 Eine Handvoll Sand 54 Die rätselhafte Kugelgestalt von Sandkörnern aus Quarz 57 Einzigartig: Die Binnendüne 60 Die Feinheit von Windsand 62 Blick über das Land und in die Zeit 63 Brack 66 Flussregulierung und Deichbau 68 Kleinere Überflutungsflächen, steigende Hochwasserfluten 73 Freuden der Flutzeit 75

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DIE HEISSEN TAGE DES SOMMERS Lieder der Vögel zum Sommeranfang 87 Das Wummern der Laubfrösche 92 Kulturelle Landpartie 96 Rundlingsdörfer 97 Im Bauernhaus wohnen 100 Das Dravaenopolabische und Pschipolnitza 103 Elbschwimmen 107 Rinderherden in der Prärie – Pastorale im Dioxin 110 Umsicht, Einsicht und keine Resignation 114 Kanu fahren 118 Der verhaltene Abschied des Sommers 123 ERINNERN UND VERGESSEN Auf einmal rasch: Wende im Handumdrehen 135 Die Unendlichkeit der Sterne 136 Die Riemann’sche Vermutung 138 Die Zyklen der Natur und ihre Chaoskorridore 142 Zwischen Widerstand und Idylle 144 Was der Fluss weiß 148 Die Wohltat des Vergessens 152 Kraniche fallen ein, Kraniche ziehen davon 155 Der Herbst betrauert seinen Sommer 158 Brennholz und Kaminfeuer 162 Das Lied der Landschaft 173 Literatur 188 Karte 190

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Am 4. Dezember 2010 um 7:30 Uhr morgens blicke ich aus einem Passagierfl ugzeug in 11.000 Metern Höhe auf die Elbe. Der Neuschnee schwächt die Farbe der Vegetation und bedeckt einen großen Teil der überfrorenen Seen und Wasseradern in Elbnähe. Gleichzeitig treten die Linien der Deiche in der Morgensonne deutlich hervor. Die Restbögen der über dem Fluss nach dem Bombardement von 1945 entfernten Eisenbahnbrücke werfen Schatten, und die Trasse der längst stillgelegten Bahnstrecke von Dömitz nach Dannenberg quert die Bundesstraße 191 in Form eines Widerstands-Kreuzes.

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Winterlicht

Zeit der Reduktion Tausende und Tausende Tonnen von Blättern fallen in Nordeuropa von den Bäumen. Die Vegetation zieht sich ins Wurzelwerk zurück. Selbst das Gras der Wiesen und Weideflächen verliert allmählich seine grüne Saftigkeit, bremst seinen Stoffwechsel und wird fahl, und das Reet steht strohtrocken mitten im Wasser, nur noch Dekoration. Was von Insekten am Leben geblieben ist, verbirgt sich, die Zugvögel sind davongeflogen, die Scharen von Gänsen und Trupps von Singschwänen, die von Norden her eingefallen sind, machen den Verlust an Vielfalt erst augenfällig. Und wenn der Schnee das Land bedeckt, tritt die Vereinfachung der Welt doppelt hervor: Die Dimension der Organismen fehlt, ihr Wegfall hat das Land bis auf sein Skelett entblößt, und das uniforme Weiß in Weiß, die sanften Konturen der Decke kaschieren Unterschiede und Nuancen. Als ob mit einer weit ausholenden Bewegung alles Überflüssige weggewischt worden wäre – vielleicht in der Absicht, das Unverstellte, Nackte, das Abstrakte, eigentlich allem Zugrundeliegende zum Vorschein zu bringen und diese Wahrheit vor Augen zu führen. Manche sagen, dass eine derartige Reduktion aufs Wesentliche das Denken auf die gleiche Spur hinführe: Man fange an, behaupten sie, die Welt nüchterner, genauer zu betrachten und sich wie ein Philosoph auf den Wesenskern der Dinge zu

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besinnen. Ich hingegen vermisse das Laub, die Blüten, den Vogelgesang und das Zirpen der Grillen um so heftiger, je länger die winterliche Rückführung der Welt anhält. Ich widerspreche den Anhängern puristisch reduzierter und abstraktionsnaher Muster. Mir erscheint der ideale Zustand des Landes erst voll und ganz erreicht, wenn alles voller Leben ist. Da kommt es zum Höhepunkt der Selbstdarstellung, falls das Ergebnis der Ökologie – dieses Handels der Organismen mit den Bedingungen der Umwelt – mit Selbstdarstellung zu tun hat. Trotzdem könnte es sein, dass die Winterszeit die Tätigkeit des Nachdenkens fördert. Man verbringt mehr Zeit im Haus, in der Wohnung, sitzt mehr, liest mehr, redet mehr miteinander, schläft mehr, träumt mehr, und es bleibt, obwohl man auch mehr Zeit mit Fernsehen verbringt, trotzdem mehr Zeit zum sachbezogenen oder aufs Denken selbst gerichteten Nachdenken. Der Frage, weshalb ich gerade hier im Urstromtal angekommen bin, kann ich inmitten der zugeschneiten Ebene kaum ausweichen, und ich kann vor dem Kaminfeuer gründlicher über sie nachdenken, als im Sommer mitsamt seinen ihm vorweg- und nachlaufenden Phasen. Und die Frage, wie wir es anstellen, die Lebensfeindlichkeit des Winters zu überstehen, lässt sich am besten zur Winterzeit im Gespräch mit Freunden verfolgen. Manche – die gleichen, die auch die Reflexionsfreundlichkeit des Winters rühmen – bekennen von sich selber, dass sie im Spätherbst eine Art Wintertrieb erfasst. Während vor ihren Augen das große Ausräumen abläuft, wird in ihnen der Wunsch mächtig, dass der Winter kommen und noch die letzte Erinnerung an den Sommer hinwegfegen möge. Alles soll auf einfache Muster zurückgeführt werden. Nur die reine Geometrie soll bleiben. So sind sie in der Zeit des Abgesangs

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und der großen Vereinfachung vom Sog der Leere erfasst und finden sich im Einklang mit der Auskehr, die ihnen als machtvolle Kraft begegnet. Aber ist es nicht eine Verharmlosung, so möchte ich ihnen zu bedenken geben, wenn der Winter als eine Art Großreinemachen wahrgenommen wird, als Kehraus des Sommers, denn er ist ja etwas viel Brutaleres, ein Tötungsversuch, dem wir Lebewesen mit unseren Kompetenzen, am Leben zu bleiben, ausweichen, wenn auch nicht immer erfolgreich? Und doch fasziniert die Geometrisierung der Welt, wo sie im Winter zutage tritt, was bei glücklichen Umständen erfahrbar ist. Dann kann es geschehen, dass die Ebene im Winterlicht zu einer vollkommen endlosen Fläche verschmilzt, und es entsteht aus der Summe weniger abstrakter Größen – Licht, weiße Weite und Himmelblau – ein Zustand des Losgelöstseins, der gleichzeitig im Inneren wie Äußeren vorherrscht.

Zweimal Mond Am Abend des 7. Januar ist das Auenland vor dem Hauptdeich bei Damnatz lückenlos von Schnee bedeckt, bei 13 Minusgraden schimmert der Himmel über der östlichen Ebene des Urstromtals grau und blau, und riesengroß hängt der volle Mond über dem Horizont. Wie er mit seinem gelb schimmernden Licht die Winternacht beleuchtet, fällt mir einer der Country-Songs ein, die ich vor Jahrzehnten bei meinen über acht Jahre fortgesetzten Arbeits-Aufenthalten in Texas hörte. Es war im Osten des weiten Landes, ich war öfters mit dem Auto unterwegs zwischen den Städten namens Tyler, Long-

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view, Marshall, Canton, das Radio stets eingestellt auf einen der vielen Country-Sender. In der Hitze der Nacht hing der volle Mond über den Weideflächen und Pekanplantagen, und John Anderson sang »Mississippi moon hanging in the haze, wish I’d never left you.« Ich stellte mir den Mississippi-Mond genau so vor wie den Texas-Mond vor meinen Augen: Als magische Leuchtkugel, aufgeblasen und in die flimmernde Luft projiziert über der endlos weiten Ebene, die mit ihren Hügeln in nordöstlicher Richtung hinter Texarkana ohnehin in die endlose Ebene des Deltas mutiert. Heute, mitten in der winterlichen norddeutschen Tiefebene, ruft der Wendland-Mond das Bild von damals zurück in meinem Kopf. Mir ist, als ob ich den Song höre und dazu ein nostalgisches Ziehen spüre. Ist es möglich, den Verlust einer Sehnsucht zu vermissen? Mir ist, als ob ich etwas verloren hätte, das ich damals gar nicht kannte und höchstens im Unterbewusstsein suchte: das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Ein paradoxer Phantom-Schmerz, vielleicht auch ausgelöst durch die Erinnerung an den Klang des Südstaaten-Akzents meiner texanischen Freunde, den ich immer noch süß im Ohr habe: »Remember, you’ve always got a home in East Texas.« Wäre ich dort geblieben und hätte dort Fuß gefasst, ich hätte das Land vermutlich auf ähnliche Weise studiert und die Gemeinschaft des Landes zu verstehen versucht, wie ich die ökologischen Zusammenhänge hier im Urstromtal zu begreifen suche. Die mächtigen Sweetgumbäume, die Massen kleiner schwarzer Schildkröten im Teich, die Schneiderscherenvögel und vor allem die Klangteppiche in der samtheißen Nachtluft: das hämmernde Zirpen der Grillen, das Geschrei der Nachtfalken und die Klagerufe der Ziegenmelker, die vom langge-

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zogenen Heulton der Nachtzüge auf ähnliche Weise aufgenommen wurden wie das Trauerlied der hübschen Trauertauben, das in meinen Ohren nahtlos in die Bluesmusik einmündete. Diese über dem karminroten Boden und dem unendlich grünen Land von Ost-Texas ausstrahlende Sinfonie in Moll, die von der Natur und den Naturwesen selbst ausgeht und von den Menschen aufgegriffen und verstärkt zu werden scheint, hätte ich weiter vernommen und tiefer zu ergründen versucht. Man findet sich an einem Platz, in einer Landschaft auf diesem wunderbaren Planeten, und man nimmt das wahr, was dort wahrzunehmen ist, ganz gleich, ob es in den scheinbar endlosen Flächen des Llano Estacado in Texas oder auf den Sandfeldern der Grisen Gegend im West-Mecklenburgischen ist. Worauf es ankommt, ist wohl, das gut zu machen, was zu tun ist. So weit, so plausibel. Der Mond über Ost-Texas und der Mond über dem Wendland sind völlig identische Gegenstände. Der Unterschied liegt ganz bei mir und meiner Sichtweise, mitsamt meinen verklärten Erinnerungen und trüben Gefühlen. Aber das Bild wäre doch verfälscht, wollte man die subjektiven Bestandteile wegretuschieren. Sie sind die wichtigsten Ingredienzien des Geschehens und machen die Erfahrung erst komplett. Sie wirken als Motive und verändern am Ende das, was vor aller Augen liegt. Das Angebot von »home« in Ost-Texas umschreibe ich hier im Wendland lieber mit der Wendung »Mitte meiner Welt«, als es geradewegs »Heimat« zu nennen. Denn »Heimat« ist von der »Blut und Boden«Idee aus der Nazizeit belastet. Ob man diese in den Schmutz gefallene Begriffsmünze einfach abspülen und weiter in Umlauf bringen kann? Kann es sein, dass der Gebrauch des Wortes von Anfang an mit ideologischen Zwecken befrachtet war wie die Schwebstoffe im Elbwasser mit Dioxinen? Ich frage mich,

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ob das Verhältnis zum Lebensort womöglich genauer zu beschreiben wäre, wenn man das Wort schlicht nicht weiter benutzte. Und doch: Wäre es nicht interessant, dieser Sache namens »Heimat« nachzugehen? Dabei wird vieles an Bildern hervorgerufen, das sich angesichts des tief hängenden Vollmonds an diesem Winterabend aufdrängt, an dem ich mich auf eine ganz körperliche Weise auf Haus und Herd freue. Ein Gespräch am Kaminfeuer über dieses Thema könnte womöglich dabei helfen, das eigene Verhältnis zum Land zu klären. So viel ist dazu gedacht und aufgeschrieben worden, man muss sorgfältig auswählen, was davon brauchbar ist und was bloß in alte Sackgassen führt.

Heimat vermeiden – eine Befreiung? Vilém Flusser, der aus dem deutschsprachigen Prager Judentum stammende Philosoph, der vor den Nazis zuerst nach England, dann nach Brasilien geflüchtet war und dieses Land nach Jahrzehnten verließ, als es zur Diktatur mutierte, um in einem Dorf in Savoyen zu wohnen, Flusser meinte, dass Menschen eine Wohnung brauchen, keine Heimat. Die Idee der Verwurzelung befremdete ihn. Wie die meisten Zivilisationstheorien kommt auch seine auf den entscheidenden Zusammenhang mit der so genannten neolithischen Revolution, also den Beginn von Ackerbau und Viehzucht, der sich vor etwa zehntausend Jahren rasch vom Nahen Osten her über Europa ausbreitete. Erst seit diesem umwälzenden Wandel sind wir sesshaft geworden und führen nicht länger das nomadische Leben, das wir als Spezies vorher über die langen Zeiträume

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der Altsteinzeit hin gewohnt waren. (Jared Diamond, einer der führenden Experten, nimmt an, dass die neolithische Revolution im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris vor etwa 12.000 Jahren stattfand, also zur Zeit des Abschmelzens des Gletschers der Weichsel-Eiszeit in Norddeutschland. Die davorliegende Phase des Jäger-und-Sammler-Daseins reicht viel weiter zurück, 95 Prozent der gesamten Dauer der Existenz der Art Homo sapiens werden ihr zugerechnet.) Die heimatlichen Bindungen des sesshaften Lebens sieht Flusser kritisch. In seinem Leben hat er, nach anfänglichem Schmerz, jede Trennung von einem Ort als neue, weiterführende Befreiung erfahren. Er nimmt diese Erfahrung als Programm: Die Vermeidung von Heimat als Emanzipation – ein Projekt, das wahrscheinlich erst unter den Umständen zunehmender Globalisierung verfolgt werden kann von der anschwellenden Masse jener Intellektuellen, die ihr Leben als internationale Nomaden zubringen. Sie erscheinen auf den ersten Blick als Flüchtlinge oder Entwurzelte, sind aber womöglich Vorboten einer neuen (oder neu-alten) Lebensform, die den begrenzten Raum regionaler Heimaten, Nationen, Rassen, Religionen hinter sich gelassen hat. Jeder braucht eine Wohnung, aber Heimat sei nur Enge. Ihr Kennzeichen sei, so polemisiert Flusser, die aufgeblasene Bedeutung von Banalitäten. Mir ist dieser Blick auf die menschliche Beziehung zum Raum sympathisch, auch wenn ich neuere anthropologische Konzepte überzeugend finde, denen zufolge Sesshaftigkeit nicht erst mit der neolithischen Revolution in die Welt kam, sondern ihr Tausende von Jahren vorausgeht. Neue Funde deuten darauf hin, dass Menschen die Einladung, sesshaft zu werden, dann annehmen, wenn ihnen ein Ort hinreichend

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oder mehr als genug Nahrungsmittel bietet und Schutz von Raubtieren und Unwetter. Ich kenne Flussers Erleichterung beim Blick in den Rückspiegel, wenn ich einen Ort verlasse, der mich beengt und behindert hat. Und die Beruhigung, die der Gedanke mit sich bringt, weggehen zu können, nur so, als Möglichkeit, auch wenn es für das Weggehen keine intersubjektiv leicht nachvollziehbaren Gründe gibt. Außerdem finde ich die Vorstellung einer Renaissance des alten Nomadentums faszinierend. Und habe vom Reisen selber nie genug bekommen können. Dass ich inzwischen hier in der Ebene des Urstromtals der Elbe angekommen bin, vor zehn Jahren, getrieben von der eher vagen Vorstellung eines einfacheren Lebens, in einer für die Norddeutsche Tiefebene typischen Landschaft, und dass ich den Rhythmus dieser Landschaft leicht als meinen eigenen angenommen habe, erscheint mir selbst verwunderlich, vor allem angesichts des offensichtlichen Understatements dieser Landschaft: kein endloses Meer, kein Gebirge mit dem Pathos des Erhabenen, sondern flaches Gelände, das sich von knapp über Meereshöhe bis zu Aufgipfelungen von 33 (Düne Kleinschmölen) oder 70 Meter (Höhbeck) aufschwingt. Selbst im Drawehn, dem angrenzenden »Waldgebirge«, werden höchstens 126 Meter über Normalnull erreicht. Dieses platte Land erheischt meine Mühe und nimmt meine Zeit in Anspruch. Tatsächlich bin ich nicht nur hier hängen geblieben, sondern finde mich damit ganz und gar einverstanden, dass hier die Mitte meiner Welt ist.

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Die Attraktivität des eigenen Gartens im Winter Vielleicht hat mein Einverständnis damit zu tun, dass ich an meinem Garten hänge, diesem kaum tausend Quadratmeter großen Sandbodengelände mit seinen sogar im Winter von Efeu überwucherten Winkeln, den sommerlichen Kartoffelund Erdbeerbeeten, in denen auch wilde Malven, Margeriten, Veilchenkissen und Lavendelbüschel, Rainfarne, Akelei, Sauerampfer, Nachtkerzen und Topinambur siedeln, den ungedüngten Rasenflächen, der großen Hainbuche, dem Feldahorn und den beiden Schwarzkiefern an drei Eckpunkten, der Reihe von Mirabelle, Pflaume, Walnuss, Eberesche, den alten Buchsbüschen, dem Gewächshäuschen und dem Weinspalier, den Nistkästen, Hummelkästen, Insektenhotels, Vogeltränken und so weiter. Die Tätigkeiten, mit denen ich vom März bis in den Oktober täglich im Garten zu tun habe, sind zu einem über die Jahre hin sich entfaltenden Aneignungsprozess geworden, mit dem ich dieses Stück Land in Besitz genommen habe. Die Aussage »Dies ist mein Land« erscheint am ehesten begründet durch die Mühe, Sorge, Arbeit, die jemand dem Land angedeihen lässt, das er als sein eigenes bezeichnet. Mir ist es plausibel, dass diese Redewendung mit dem Landbau in die Welt kam und dass die Bedeutung als Immobilien- oder Lehnsbesitz die ursprüngliche Bedeutung erst später zu überlagern begann, nachdem die Bearbeitung des Landes sich als Fluch für die meisten der Landarbeiter erwiesen hatte; jener Fluch, von dem in der biblischen Schöpfungsgeschichte die Rede ist: »Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.« Die Stelle beschwört das finstere Erbe der Neolithischen Revolution,

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Staatenbildung, Sklavenarbeit, Leibeigenschaft und Eintreiben von Steuern. Denen, die das Land besaßen, das die anderen bearbeiteten, flossen die Früchte zu, anteilig oder vollständig, je nach der Anlage des Ausbeutungsverhältnisses. Und denen, die noch in der Jäger- und Sammlerkultur der Vorfahren lebten – manche als Nomaden, andere als in gesegneten Gebieten sesshaft Gewordene –, erschienen diese Konsequenzen der Staatenbildung als wenig verlockend, ja als katastrophaler Fehler. In den achtziger Jahren verteilte Greenpeace als Autoaufkleber den Spruch des Häuptlings Seattle »Erst wenn der letzte Fisch verschwunden ist, werdet ihr begreifen, dass man Geld nicht essen kann«. Ein Satz aus der großartigen Rede eines nomadisch lebenden Indianers an die weißen Siedler. Befremdlich wie die Geldwirtschaft war ihm die Vorstellung, dass man Land besitzen könne. Eine Aussage wie »Dies ist mein Land« war ihm nicht nur suspekt, sondern moralisch korrupt. Mutter Erde kann keinem gehören. Aber mit dem Landbau war tatsächlich ein neues Verhältnis zur Erde entstanden. »Mein Land« darf sagen, wer dafür im Gegenzug das Land bauend seine Lebenszeit aufwendet und seine Kraft hingibt. Es ist ein Vertrag. Die Bindung, die mit diesem neu gefundenen Verhältnis in die Welt kommt, erfahre ich beim Gärtnern als starke Verbindlichkeit. Man kümmert sich und kümmert sich mit Freuden. Der Gedanke drängt sich auf, dass die Arbeit des Bauern ursprünglich eben keine Sklavenarbeit war und keine Plackerei von Leibeigenen, selbst wenn die Arbeit schwer und schweißtreibend war. Kaum zu entscheiden, ob der Unterschied zwischen Fluch und Segen mit der Unterscheidung zwischen Garten und Acker zusammenhängt oder doch eher mit jener zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Aber wie soll man erklären, dass allein in Europa Millio-

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nen von Menschen an der Gartenarbeit Freude haben, wenn nicht neben der dunklen Seite des biblischen Fluchs eine helle, erquickliche Seite des Landbaus von Anfang an bestand? Das Gärtnern bietet mir jedenfalls Motive, die ich verstehe und auf dilettantische Weise – also mir zur Freude – verfolge. Der Anbau von Gemüse und Früchten und Blütenpflanzen ist zu unserem Lebensunterhalt nicht notwendig. Es ist eher die vage und doch klare Vorstellung, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, bei der ich in eine echte Wechselwirkung mit der Natur gerate, was mich an diese Arbeiten bindet. Wenn wir im September selbst geerntete Kartoffeln, Auberginen, Tomaten, Paprika mit selbst gesammelten Steinpilzen auf dem Tisch haben und zum Nachtisch Trauben vom eigenen Spalier, dann gilt uns das als besonderes Fest: »Und alles bio!« Darauf, dass das ein sehr bescheidener Beitrag am Gesamtumfang unserer Ernährung ist, kommt es uns nicht an, sondern auf die Steigerung unserer Lebensqualität – etwas, das wir wahrscheinlich eher beim Prozess der Produktion erfahren als beim Genuss der Produkte. Die Arbeit, die wir investieren, ist Teil eines erfreulichen Projekts, das uns das gesamte Jahr über begleitet. Vermutlich kennen die meisten Hobbygärtner eine ähnliche Freude. So ein Gefühl muss wohl auch den ersten gärtnernden Frauen und den ersten einen Acker bestellenden Männern begegnet sein. Der Stolz, den wir bei der Wendung »mein Garten« empfinden, spiegelt die vor der neolithischen Revolution noch überheblich klingende Aussage »Dies ist mein Land«, mit der die ersten Bauern eine neue Land-Ethik begründeten.

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Offene Türen Noch wichtiger ist es womöglich, dass die Gartenarbeit Tür und Tor zur Natur als weiterem Studienbereich öffnet. Wer sich um das Wohl seiner Pflanzen kümmert, muss das Umfeld im Blick haben. Wir registrieren bekümmert, wenn im Winter Wühlmäuse die Wurzeln und Rehe die Triebe von Elisabeths 41 Rosenstöcken abfressen und beobachten im Sommer mit Wohlwollen den Besuch von Laubfröschen, Rosenkäfern und, bei den nicht gefüllten Varianten, von Hummeln an den Rosenblüten. Wir verfolgen den Nestbau von Meisen, Amseln, Staren, Sperlingen und versuchen, die herumschleichenden Katzen von den flügge werdenden Jungvögeln fernzuhalten. Wir stellen einen Nistkasten für Schleiereulen auf dem Boden des Schuppens auf und heißen die Hühner des Nachbarn auf den Beeten willkommen, wo sie die Eier der Nacktschnecken aufpicken. Der Garten ist ein Organismus, der sich in unser soziales Leben hineindrängt wie ein Haustier, und ein Teil unseres Gewinns besteht darin, dass uns unsere Tätigkeit die natürliche Welt mit ihren Phänomenen und Prozessen so vor die Sinne stellt, dass wir ihr unmöglich ausweichen können. Ist es nicht so, dass wir über den Garten, den wir als Verhandlungsprozess mit der Natur verstehen, auch ein Ticket für den Zugang zur ungezähmten Natur jenseits des Gartenzauns erhalten? Wir versuchen, uns die Wirklichkeit der Menschen vor den Veränderungen vorzustellen, die der Landbau gebracht hat. Es muss ein Leben intensiver Naturerfahrung gewesen sein, das unsere Vorfahren führten; sie kannten wohl alle Pflanzen und wussten, welche essbar waren, welche Medizin für welche Krankheiten lieferten, sie verstanden sich auf die Zubereitung und verfügten über ein enormes handwerkli-

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ches Geschick bei der Herstellung von Werkzeugen und Jagdwaffen. Die Qualität der altsteinzeitlichen Speere ist unübertroffen, und die genaue Funktionsweise der Speerschleudern ist immer noch nicht geklärt. Ihr Leben sei brutal, unzivilisiert und kurz gewesen, ist behauptet worden. Die Funde aus dem Boden, die Bilder in den Höhlen belegen das nicht. Wir stellen uns lieber vor, dass unsere fernen Vorfahren ein Leben von höchster Intensität führten – sie waren mitten in der Welt, gezwungen, den Mit-Lebewesen nah zu sein und ihnen mit allen Sinnen zu begegnen. Sie verfügten über ein komplexes Weltwissen. Sie trennten noch nicht zwischen Intuition und Erkenntnis und noch nicht zwischen Subjekt und Objekt. Sie führten, so möchten wir glauben, ein auf ihre Weise erfülltes Menschenleben. Eine Art Leben, das wir selber verloren haben, aber immer noch ahnen und ein wenig üben können, dank dem Garten und dank dem freien Zugang zur Landschaft und dem freien Umgang mit der Natur, wie ihn das Landleben hier bietet. Die kleine Dosis, die wir von dieser Lebensweise in unsere eigene luxuriöse Existenz hineinbringen, wirkt aufs Erquicklichste. Verfasser von Gartenbüchern erinnern gerne daran, dass das Wort »Paradies« seinen Ursprung im Altpersischen habe. Es bedeute »Garten«. Und tatsächlich: Wie oft im Lauf eines Jahres kommt uns in unseren Gärten der Gedanke, dass die alte Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und der hermetischen Abriegelung des Zugangs durch Engel und Flammenschwert ein wenig übertrieben klingt. Wo sollte es denn schöner sein als hier, in dieser grünen Welt? Auch wenn die Dinge nicht bleiben werden, wie sie sind, so lassen sie in diesen Augenblicken doch nichts von dem unerfüllt, was wir vom Leben erhoffen.

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Einfälle, Erinnerungen und Überlegungen, ausgelöst durch den Vergleich der beiden Monde und durch die Frage: Weshalb liegt hier unter dem Wendland-Mond die Mitte meiner Welt und nicht vielmehr drüben unter dem Mond von Ost-Texas? Wir sind hier hängen geblieben wegen der günstigen Lebensbedingungen, die uns so viel Autonomie lassen, wie wir wollen, und gestatten, dass wir uns mit der Natur nach Herzenslust einlassen können. So hat uns das Land zum Bleiben überredet. Der Mond ist überall ein- und derselbe Himmelskörper. Mutter Erde zeigt sich an vielen Stellen bewohnbar. Dass wir hier eine Erweiterung der bloßen Wohnung gefunden haben, die über die Einrichtung mit unseren Souvenirs und Habseligkeiten hinausgeht, eine begehbare Zwischenwelt für Interaktionen im weiteren Umfeld, die Lust macht, immer hierzubleiben: Das ist ein wärmender Gedanke, eine befriedigende Vorstellung in dieser Winternacht, in der die Welt des Urstromtals erstarrt unter dem Wendland-Mond liegt. Da ist noch etwas außerordentlich Mächtiges, das ich hier gefunden habe und das mich hier hält. Ich frage mich, ob ich dieses Land tatsächlich wieder verlassen würde, wenn Elisabeth weg wollte, etwa zurück nach Berlin wie so viele andere, die aus Berlin hierher gekommen sind, oder nach Hamburg. Oder ob ich hier geblieben wäre, wäre ich ihr nicht begegnet vor fünf Jahren an einem der seltenen Wintertage mit offenem Himmel. Ich kam von meiner Radtour auf dem Deich und fuhr über den Buckel der Kuhbrücke, sie kam mir zu Fuß entgegen, ich hielt an und grüßte und fragte, ob sie noch ihren Lesekreis führe, ob ich vielleicht mitmachen dürfe und wann man sich treffe und wo und welches Buch denn gerade studiert

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werde. Sie sagte, sie müsse die andern fragen und werde mir bald Bescheid geben. Damals konnte ich nicht ahnen, wie der Eintritt in Elisabeths Lesekreis mein Leben verändern würde. Dass wir heiraten würden und bei unseren Spaziergängen immer wieder zur Kuhbrücke gehen würden, um den Punkt in Erinnerung zu halten, an dem die Sonne hinter die Linie des Horizonts sinkt, und um uns darüber zu wundern, wie weit dieser Punkt im Sommer nach rechts bis hinter das Gehölz am Deich vorrückt und wie weit er im Winter linkerhand liegt, am Rande des Seybruch. Und wie der volle Mond hinter der Langendorfer Höhe emporsteigt, oder ein zunehmender Mond zeitgleich mit der untergehenden Sonne am Himmel hängt. Ich sage das Gedicht des irischen Dichters Yeats auf, das mit den Zeilen endet: »The silver apples of the moon, the golden apples of the sun.« Und sie zeigt mir später am Kaminfeuer eine Stelle aus dem Mondkalender, die das Steigen der Säfte in den Bäumen mitten im Winter belegt. Das Feuer strahlt Wärme aus und Licht von einer Art, die schläfrig macht. Einfälle und Gedanken steigen hervor, die vom Alltagsbewusstsein nur schwach kontrolliert werden. Mir fällt der Spruch ein: Glück und Glas, wie leicht bricht das. Glas als Metapher – man hört das Klirren der Katastrophe. Aber vielleicht lässt sich Glück züchten und halten, vielleicht bleibt es da, wenn man es füttert, so, wie ich die Flamme mit neuen Holzscheiten füttere? Doch das Glück ist kein Haustier und kein Feuer, eher vielleicht wie ein Wind, der weht, wo er will. Etwas, das aus einer luftähnlichen Substanz besteht. Ein freies, radikales Wesen. Keiner kann es besitzen, es kommt und geht, wie es will.

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Der unbesiegbare Sommer Ende Februar ist der Winter alt geworden, mein Freund Ulrich ist mit seiner Frau zu Besuch da, wir sitzen am Kaminfeuer und erzählen einander aus dem Vorrat von Erlebnissen, die sich seit unserer Studienzeit angesammelt haben. Ein Satz kommt mir wieder in den Sinn, den ich vor Jahren las: Alles, was wir haben, sind die Geschichten, die wir einander erzählen. Die Geschichten und ein bisschen Mitgefühl. An diesem Abend dreht sich das Gespräch um Frankreich, wo Ulrich längere Zeit gelebt hat, und um den Schriftsteller Albert Camus, dessen Philosophie unsere jugendlichen Vorstellungen einst ziemlich heftig beeinflusste. Das Thema drängt sich auf, weil wir gerade vorhin einen Vortrag von Iris Radisch über ihre Camus-Biographie besucht haben, im Bornschen Haus in Breese, vor dem Bullerofen, zusammen mit vierzig Wendlandbewohnern, die sich die lange Winterzeit durch Gespräche unter Freunden zu verkürzen suchen. Die These war klar und einfach: Das Absurde der Welt von Camus entstamme der Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit seiner Mutter – der Frau, die er liebte und zu verstehen suchte und deren Verhalten doch vom Autismus bestimmt war. Mitten im Sommerland Algerien sei ihm, ein winterlicher Hauch, die erfrorene Liebe als sinnloser Sinn widerfahren. Wir finden, es ist ein interessanter Gedanke, dass der Winter etwas von einer autistischen Mutter hat. Sind wir nicht bei der Rückfahrt vorhin in der Elbtalaue durch Nebelfelder gefahren, in denen die Temperaturanzeige im Auto von minus 5 auf minus 9 Grad abfiel, erst am Gümser See und dann bei Damnatz und Kamerun entlang des Hauptdeichs? Im Scheinwerferlicht eine undurchdringlich weiße Welle aus purer Kälte. Wer wollte, zumal

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in einer solchen Winternacht, nicht zustimmen, dass das Universum stumm und gleichgültig erscheint angesichts unserer Qualen und Freuden? Da steckt der ganze Sisyphos drin, sagen wir, da liegt irgendwo der Schlüssel zum Verständnis von Glück und Stolz trotz und wegen aller Vergeblichkeit. Und doch ist die Linie von der Gleichgültigkeit der autistischen Mutter (die der erbarmungslosen Winterkälte entspricht) zur Philosophie des Absurden für unsern Geschmack ein wenig zu dick aufgetragen. Sollte man nicht auch die liebevollen Förderer des kleinen Albert als Gegeneinflüsse zur mütterlichen Teilnahmslosigkeit herausstellen? Der Grundschullehrer Louis Germain hätte es doch verdient, so denke ich. Wie ein Vater sorgte er für die Ausbildung des vaterlosen Jungen und opferte seinem Fortkommen viel Zeit und enormen Aufwand. Ich erinnere mich daran, wie mich die Lektüre dieser Geschichte in Camus’ Autobiographie »Der erste Mensch« traf und dass ich damals meine Studenten dazu gebracht habe, den Briefwechsel zwischen Camus mit dem Lehrer Germain bei der Verleihung des Nobelpreises vorzulesen. (Der Brief des Lehrers beginnt mit der Anrede »Mein lieber Kleiner«.) Und später dann, ergänzt Ulrich, als Camus am Ende der Gymnasialzeit von einer Behandlung seiner Lungenentzündung aus Südfrankreich nach Algiers zurückkehrte, die freundliche und großzügige Aufnahme in der Familie der Schwester seiner Mutter, und wie sich sein Onkel um ihn kümmerte. »Menschliche Wärme« ist ja schließlich auch ein Begriff aus der Philosophie des Absurden, nicht wahr. Camus muss ein Talent dafür gehabt haben, die Hilfsbereitschaft anderer Menschen zu mobilisieren, nicht etwa als begnadetes Bettelvermögen, sondern im Sinn einer Gabe, die ihm eigen war und die er zu geben verstand, etwas, das er den Menschen in

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seinem Umfeld schenkte. Wahrscheinlich die gleiche Gabe, von der wir als seine Leser profitieren. Hätte man den Namen dieser Mitgift, dann hätte man wohl eine treffendere Bezeichnung für die Philosophie des Absurden. Elisabeth erinnert an ein Zitat von Camus, das sie an der Pinnwand aufgesteckt hat: »Tief im Winter lernte ich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer lag.« Der innere Sommer gegen den äußeren Winter. Die traumatisierende Kraft der Kälte reicht nur so weit, bis sie auf die Glück spendende Kraft trifft – eine Schwelle, die von der Kälte der Teilnahmslosigkeit nicht überwunden werden kann. Fast allzu einfach kommt uns die Gegenüberstellung vor. Woher stammt denn diese Kraft namens Sommer? Ist sie vom Himmel gefallen oder können wir etwas dazu beitragen, sie hervorzubringen, zu pflegen und zu erhalten? Die Fragen hängen mit unserem Verdacht zusammen, dass die Konzepte von »Winter« und »Sommer« allzu vage Vorstellungen bieten, um ein Argument zu machen. Aber gleichzeitig verbinden sich diese Vorstellungen mit unserer eigenen Erfahrung. Wir finden die Gegenüberstellung wahrscheinlich wegen ihrer Einfachheit einleuchtend und wissen intuitiv, was der Ausdruck »der Sommer in uns« bedeutet. Da ist ein Licht, und es nimmt an Helligkeit zu, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen. Ganz gleich, ob wir über Algerien oder die Provence oder ein anderes Sommerland sprechen oder über den Winter in Kanada und einen Blizzard im hessischen Mittelgebirge – unser Gespräch erzeugt die Sommerkraft, die uns hilft, durch den Winter zu kommen. Wir kommen von einem Thema wie von selbst zum nächsten, und am Ende, so finden wir amüsiert, haben wir in unserem Gespräch unser Winterbild ver-

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wandelt: Die bedrückende Vorstellung einer autistischen Mutter haben wir ersetzt durch die für uns jedenfalls eher hoffnungsvolle Idee eines senil gewordenen Greises, dessen Tage gezählt sind.

Winterhimmel Die Geschichte vom Überleben des Winters ist nicht das einzige Narrativ vom Dasein in der kalten Jahreszeit, vielleicht nicht einmal das tonangebende. Zum Glück gibt es erfüllte Momente, die nur im Winter zu haben sind. Mittags im Januar 2012 finde ich das Urstromtal schneebedeckt unter einem vollkommen wolkenlosen, neonblauen Himmel. Die Sonne ein heftig weiß strahlender Punkt über dem Horizont. Der Fluss verborgen hinter der sanft gewellten endlos scheinenden Ebene. Die obere Schicht der Schneekristalle glitzert und funkelt mit tausend winzigen Lichtpunkten. Es ist absolut still. Da höre ich den rhythmisch pfeifenden Schwingenschlag von Schwänen. Sechs Singschwäne fliegen dicht über mir, Kopf und Hals nach Schwanenart gestreckt, mit rasch rudernden Schwingenspitzen, auf schnurgerader Linie in Richtung Fluss unterwegs. Perfekt. Wäre es eine Inszenierung für mich als Zuschauer, ich müsste applaudieren und auf eine Zugabe pochen. Aber es ist ja viel besser. Ich bin kein Zuschauer, sondern mit darin in dieser Welt, ein Ton ihrer Melodie. Manchmal meine ich, die Melodie zu vernehmen, und summe vor mich hin. Ähnlich spektakulär wie die weiß glänzende Ebene erscheint mir nachts der Winterhimmel mit seiner besonderen

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Fülle von Sternenströmen und -mustern. Er suggeriert wie die endlos weiße Schneelandschaft, dass die Wahrnehmung der Welt auf abstrakte Muster und Melodien hinausläuft, die wir anfangs mit Augen und Ohren verfolgen und in die wir uns selbst einzureihen lernen. Besteht nicht der Sinn des Winters darin, die Klarheit und Einfachheit dieser Klänge und Figuren zu enthüllen? Das mag so sein, aber den Spuren und Restbeständen des Lebendigen kann er doch nicht ganz entkommen. Schaut man nach, findet man überall Keime des Organischen. Störung der reinen Melodie oder tröstlicher Klang des Vertrauten? Man vernimmt etwas, das wir kennen, und hört an diesen Stellen unwillkürlich genauer hin. Mitten im Winter lauert das Leben beständig auf eine Çhance, hervorbrechen zu können, und manche Organismen scheinen den Winter sogar zu ignorieren. Die Brombeeren bleiben grün, der Winterling schiebt Knospen mit gelben Spitzen durch die gefrorene Bodenkruste, die Christrose blüht in den Gärten, die Zaubernuss setzt Blüten an, die Eibe schüttet Pollen aus – Allergiker werden schon im Januar im Rundfunk vor Pollenflug gewarnt –, Krokus und Schneeglöckchen durchbrechen die Schneedecke. Die Bienen summen in ihren Stöcken, die Meisen ernten die Südfassade des Hauses ab, und nachts schallt der unheimliche Balzruf des Waldkauzes von irgendwoher zwischen den kahlen Ästen der Bäume. An den Ufern des Flusses, der Altarme und Haken, der Gräben und Wasserlöcher sind überall mächtige völlig kahle Schwarzpappeln, ihr Astwerk wird sich erst spät im Frühjahr belauben. Unterm Schnee, in den Schichten des dunklen Vorjahrslaubes am Boden unter ihren kahlen Laubschirmen, finde ich viele hübsche Blattgerippe. Die weiche Masse der Blattzel-

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len ist von Bodenlebewesen angefressen und durch Wasser und Frost so präzise herausgelöst worden, dass ein Netz aus feinsten Adern bleibt. Ich halte es gegen das Licht und bewundere die Ästhetik der Struktur. Zu Hause färbe ich es mit schwarzer Linoldruckfarbe vorsichtig ein, lege es auf einen Bogen weißes Papier, bedecke es mit einem zweiten Bogen und drucke es durch reibende Bewegung mit dem Daumenballen ab. Ein Winterbild: das Blattskelett als Gerippe. Ein Überbleibsel vergangenen Lebens. Briefpapier, geeignet zum Schreiben von Trauerbriefen. Aber auch ein subtiles Versprechen: der genaue architektonische Entwurf der Blätter, die wieder ausschlagen werden, sobald ihnen Licht und Luft auch nur die halbe Chance aufs Überleben zuflüstern.

Schwarzpappelblatt

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Der weiße Fluss

Zögerliche Ankunft »Wenn der Frühling kommt«, sagen die beiden stets vergnügten Eulen in Theo van Hoijtemas Kinderbuch »Eulenglück«, »freuen wir uns zu sehen, wie alles aus dem Winterschlaf erwacht.« So banal das Zitat auch klingen mag, es trifft eine fast obsessive Beobachtungslust, die Elisabeth und mich in jedem Frühjahr aufs Neue erfasst. Das hängt damit zusammen, dass sich das Erwachen lange hinzieht und sich durch unvorhergesehene Rückschläge immer wieder verzögert. Der Fortschritt der Vegetation scheint kaum Schritt zu halten mit der täglich weiter ausgedehnten Lichtdauer, aber dann auf einmal erscheint das Land über Nacht wie verwandelt. Zwei Schritt vor, einer zurück – nach dieser Fasson tanzt jedes Frühjahr einen eigenen Tanz, für den es einen eigenen Rhythmus findet. Leider neigen wir nach all den Jahren dazu, die lange Dauer der Frühlingszeit in unseren Breiten immer wieder aufs Neue zu unterschätzen. Beim ersten richtigen Sonnenschein vergessen wir, dass noch letztes Jahr ein Drittel der Jungstörche im Landkreis (sie werden sorgfältig beobachtet und registriert) während eines verregneten und kalten Monats Mai auf den Nestern umgekommen ist, wir nehmen die Aussicht auf die Periode der Eisheiligen, auf die kalte Sophie im Mai und auf die Tage der Schafskälte im Juni nicht recht ernst, versuchen sie zu ignorieren als die Rückfälle in

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