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Inhalt

jetzt.de zum Ausdrucken:

ein Magazin geschenkt Manchmal läuft das Leben einen Schritt schneller als wir. Wir merken das zum Beispiel, wenn wir plötzlich schon wieder in der Kälte stehen und Chinaböller anzünden. War nicht gerade erst Silvester? Auch in der jetzt.de-Redaktion kennen wir dieses Gefühl. Deshalb laden wir dich zum Abschluss diesen Jahres auf einen kleinen Umweg ein: Er führt zurück in das Jahr 2009. Keine Sorge: Es geht hier nicht um einen Jahresrückblick. Wir haben einfach (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) ein paar schöne Texte und Illustrationen der vergangenen Monate rausgesucht, diese in ein handliches PDF verpackt und schön verschnürt – als kleines Geschenk für dich zum Abschluss des Jahres. So kannst du einige besondere Texte des Jahres (wieder)-lesen oder neu entdecken. Einfach runterladen, ausdrucken und durchblättern. Angenehmer Nebeneffekt: Plötzlich läuft man wieder im gleichen Tempo wie das Leben außenrum. Viel Spaß beim Lesen wünscht die jetzt.de-Redaktion

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Macht Verbieten, was man nicht versteht - Ein „Killerspiel-Verbot“ hilft bei der Aufarbeitung des Amoklaufs überhaupt nicht „Das Blut ist hinter mir her“ Nach Hause in ein fremdes Land

Kultur

8 10

Sex Vergewaltigung ist so ein hässliches Wort

13

Hört auf zu schnüffeln!

17

Mädchen, wofür ist eigentlich ein Bidet? 20 Anzeichen, an denen du merkst, dass du schon sehr lange in einer Beziehung bist

18

31

Am Limit - Die Analyse eines gescheiterten Comedian

34

Technik Bist das du? Die Typologie der Kommentarschreiber

37

Fräulein Fies

39

25 Jahre Tetris - die Fakten zum Geburtstag des Steinchenspiels 41

Leben 19

Job Proseminar Umhängetasche

21

Ich pflege meine Mutter

23

Manchmal habe ich Angst, dass ich nie wieder etwas finde

Das Klumsche Paradoxon 6

27

Wir Kinder aus Ing

44

Michael Jackson stirbt im Internet

47

Mama hat jemanden kennenglernt

51

The Bartender´s Guide to Nightlife

52

Hauptsatz: Soll ich die Schuhe ausziehen?

54


Interviews, die wir 2009 gef체hrt haben:

Um die Gespr채che zu lesen, einfach auf das Bild klicken.

Liam Gallagher

Regina Spektor

William Fitzsimmons

Daniel Kempf

Laurent Lafleur

Conrad Fritzsch

Yes Men

Sasha Grey

Frank-Walter Steinmeier

Tim M채lzer

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Um die Gespräche zu lesen, einfach auf das Bild klicken.

Phoenix

Juleska Vonhagens

Markus Kavka

Mirjam Anschütz

Philipp Lahm

Nicolas Clasen

Arndt Klinkhart

Mike Perham

Camille

Philipp Rösler

Markus Beckedahl

Markus Beckedahl

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Ressort

Macht Foto: photocase.com | spacejunkie

Verbieten, was man nicht versteht – Kommentar nach dem Amoklauf von Winnenden Das Blut ist hinter mir her Nach Hause in ein fremdes Land

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Verbieten, was man nicht versteht Ein „Killerspiel-Verbot“ hilft bei der Aufarbeitung des Amoklaufs überhaupt nicht 13.03.2009 | Text: dirk-vongehlen Fotos: dpa

Die Politik reagiert mit populistischem Aktionismus auf den Mordanschlag von Winnenden - und bringt damit die Welt ihrer Kinder in Verbindung mit einem psychisch kranken Einzeltäter Wir sind ratlos. Wir haben nicht für möglich gehalten, dass so etwas bei uns geschieht. Wir sollten unsere Ratlosigkeit nicht zu überspielen versuchen mit scheinbar naheliegenden Erklärungen. Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht. Diese Worte stammen von Johannes Rau. Der damalige Bundespräsident sprach sie während der Trauerfeier zum Gedenken an die Opfer des Mordanschlages in einem |

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Erfurter Gymnasium im Frühling 2002. Es tut gut, Raus Worte heute wieder zu lesen, weil er etwas ausspricht, was die Politiker nach dem Mordanschlang von Winnenden sich nicht auszusprechen trauen: Wir verstehen es nicht, sagt Johannes Rau. Wir sind ratlos. Statt mit diesen Sätzen vor die Presse zu treten, lassen sich Politiker mit anderen Worten zitieren. Sie fordern schnelle Konsequenzen und hartes Durchgreifen. Sie verdammen so genannte Killerspiele und geben dem Internet eine Mitschuld. Die Trauer lindern sie damit nicht und auch nicht das Entsetzen. Johannes Rau sagte vor sieben Jahren im Erfurter Dom: „Gewiss, wir möchten verstehen, was den Täter angetrieben, was ihn verführt, was ihn jeden menschlichen Maßstab hat verlieren lassen. Wir suchen nach Ursachen und nach Verantwortung.“ Man sollte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) unterstellen, dass es diese Suche nach Ursachen ist, die ihn Sätze sagen lässt, wie: „Killerspiele sind schlicht abartig und sollten komplett verboten werden.“ Auch die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) hat vermutlich die Aufarbeitung der schrecklichen Tat im Sinn, wenn sie rhetorisch fragt: „Braucht unsere Gesellschaft aggressive Gewaltspiele und exzessive Gewalt im Fernsehen?“ Und dann antwortet: „Auf diesen menschenverachtenden Schund können wir verzichten.“ Doch in Wahrheit tragen Schünemann und Merk und

all die anderen, die jetzt nach einem Killerspiel-Verbot rufen, keineswegs zur Ursachenforschung bei. Sie zeigen vielmehr nur ihre eigene Ratlosigkeit. Weil sie nicht wissen, wie man angemessen reagiert, greifen sie das an, was sie nicht kennen. Sie inszenieren eine Kampagne gegen die dunkle, vemeintlich gefährliche Welt der Computerspiele und übersehen dabei: Es ist die Welt ihrer Kinder, die sie damit pauschal in Verbindung bringen mit einem psychisch kranken Einzeltäter. Warum tun sie das? Die Verbindung, die man vom Amokläufer von Winnenden zu Computerspielen herstellen kann, ist äußerst vage. „Tischtennis war seine Leidenschaft“, zitiert die Frankfurter Rundschau einen Bekannten von Tim K.: „Mit Computern hatte Tim nicht viel am Hut. Für das Internet habe er sich auch nicht begeistert.“ Wofür er sich offenbar begeistern konnte, waren Waffen. Er war im Schützenverein und in seinem Zimmer fand die Polizei mehrere Softair-Waffen. In seinem Elternhaus hatte er - warum auch immer - Zugang zu einer Beretta und zu Munition. Egal, wie man sich in der Debatte über die Wirkung von Computerspielen positioniert, eins ist unbestreitbar: Dass Tim K. Zugang zu der Waffe und der Munition hatte, hat den Amoklauf erst möglich gemacht. Ohne die Waffen wäre es nicht zu dem Amoklauf gekommen, ohne Computerspiele vermutlich schon.


Dennoch sagt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), man dürfe nicht glauben, der Grund für das „schreckliche Geschehen“ sei privater Waffenbesitz.“ Warum man aber glauben soll, dass Computerspiele der Grund seien, sagt der Innenminister nicht. Keiner der Politiker, die sich jetzt zu Wort melden, kann das sagen. Es ist vielmehr populistischer Aktionismus, der die Politik treibt: Man will verbieten, was man nicht versteht. Vermutlich kennen Merk, Schünnemann und Schäuble zahlreiche Menschen, die in deutschen Schützenvereinen aktiv sind. Sie würden es zurecht zurückweisen, diesen eine Verbindung zu dem Amoklauf zu unterstellen. Weil sie aber vermutlich in ihrem Bekanntenkreis keine Menschen haben, die regelmäßig Counterstrike spielen (oder es zumindest nicht zugeben), konstruieren Merk und

Schünnemann hier eine Verbindung, die genauso falsch ist und stellen Computerspieler an den Pranger. Es sind diese naheliegenden Erklärungsversuche, die Johannes Rau in seiner Erfurter Rede kritisierte, die jetzt eine Öffentlichkeit bekommen. Weil es doch so gut passen würde, hat man zum Beispiel am Donnerstag gerne geglaubt, dass Tim K. seine Tat im Internet angekündigt habe. Baden-Württembergs Innenminister Rech hat vor der Presse sogar aus dem gefälschten Post vorgelesen und ein Polizeisprecher lies mit Blick auf die Tat verlauten: „Das Motiv hängt mit dem Internet zusammen.“ Selbst wenn Tim K. seine Tat im Netz angekündigt haben sollte, bleibt dieser Satz falsch und dumm. Denn: Hätte der Polizeisprecher auch verkündet, das Motiv hänge mit Papier zusammen, wenn Tim K. seinen Amoklauf auf

einem Zettel angekündigt hätte? Vermutlich nicht. Weil man mit einem Stück Papier nicht die Konotation des Fremden, Verbotenen und Kriminellen verbinden kann. Mit der abstrakten und völlig unklaren Begrifflichkeit „das Internet“ oder „die Killerspiele“ kann man aber ein Feindbild konstruieren, aus dem man naheliegende Erklärungen ableitet. Der Aufarbeitung des Unfassbaren dient dies sicher nicht, höchstens der Selbstinszenierung eines vermeintlich durchgreifenden Politikers. Dass es darum jetzt aber nicht gehen sollte, merkt man spätestens wenn man Raus Erfurter Rede liest. Darin kommt er mit Blick auf die unfassbare Tat zu dem Schluss: „Wir werden sie - letzten Endes - auch nie völlig erklären können.“

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„Das Blut ist hinter mir her“ 08.02.2009 | Text: philipp-mattheis | Foto: ap

Henry ist erst 17 und war Kindersoldat in Sierra Leone – jetzt hofft er im Bayerischen Wald auf Asyl. Eine Begegnung In Sierra Leone gibt es ein Sprichwort: Wer einen unschuldigen Menschen tötet, wird vom Blut verfolgt. Der Täter entkommt dem Blut des Opfers nicht. Es verfolgt ihn in seinen Träumen und vergiftet sein Leben. Henry ist erst 17 Jahre alt, trotzdem verfolgt ihn das Blut schon seit über sechs Jahren. Fast ein Jahr kämpfte er auf Seiten der Rebellen in dem westafrikanischen Land. Vor drei Monaten kam Henry als blinder Passagier mit einem Schiff nach Deutschland. Mit seinem viel zu großen Pullover sitzt er in München in der Beratungsstelle des Katholischen Jugendsozialwerks. Als er über den Krieg zu sprechen beginnt, senkt sich sein Blick, seine Stimme geht in einen monotonen Singsang über. Manchmal gerät sie ins Stocken. Dann redet ihm sein Freund und Dolmetscher, Adam, gut zu. Er übersetzt seinen englischen Dialekt. Adam kommt auch aus Sierra Leone und war selbst Kindersoldat. Es gibt keine offizielle Definition eines Kindersoldaten. Die Coalition to Stop the use of child Soldiers, eine Nichtregierungsorganisation, orientiert sich an der Altersgrenze der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, wonach kein Mensch unter 18 Jahren für den Dienst im Militär rekrutiert werden darf. Für Organisationen wie UNICEF, terre des hommes und amnesty international sind „alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind Kindersoldaten“. Ihre Zahl wird weltweit auf 250 000 geschätzt, ein Drittel davon sind Mädchen. |

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Seit 2002 findet jedes Jahr am 12. Februar der „Internationale Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten“ statt. Er soll an das Schicksal von Kindern erinnern, die zu Kampfeinsätzen gezwungen werden. Dabei ist schon das Wort „Zwang“ eine schwierige Kategorie. Manche geben an, sich freiwillig den Soldaten angeschlossen zu haben. Aber „freiwillig“ ist auch ein schwierig zu definierender Begriff. Wie freiwillig lässt sich jemand rekrutieren, dessen bester Freund gerade erschossen wurde, weil er sich weigerte? Wie freiwillig wird ein minderjähriger Vollwaise zum Soldaten, wenn er nicht weiß was er am Abend essen soll? Es ist das Jahr 2000, vielleicht auch 2001, Henry weiß es nicht mehr so genau. Der Bürgerkrieg in Sierra Leone tobt seit fast zehn Jahren. Da machen sich Henry, seine Mutter und seine beiden Schwester auf den Weg nach Norden. Sie wollen das sichere Nachbarland Guinea erreichen. Unterwegs werden sie von Rebellen gestellt, gefangen genommen und in ein waldumrandetes Lager gebracht. Was seinen Schwestern passiert, darüber schweigt Henry. Auf jeden Fall sind sie nicht mehr am Leben. Henry hat keine Wahl: Er muss auf Seiten der Rebellen kämpfen, sonst, so drohen sie, werden sie ihn töten. Doch er hat Glück im Unglück: Statt an der Front zu kämpfen, muss er „nur“ die feindlichen Stellungen ausspionieren. Henry ist neun Jahre alt, als er zum ersten Mal eine Waffe in die Hand nimmt. Er ist von nun an ein Kindersoldat. Immer wieder schleicht sich Henry in die vom Feind besetzten Dörfer. Seine Mutter muss als Pfand im Lager

bleiben. Sein Auftrag: Bei den Soldaten um Essen betteln und ihnen möglichst viele Informationen entlocken. Nachts geht er in das Lager der Rebellen zurück. Doch eines Tages schöpft das Militär Verdacht: Warum verschwindet der Junge Nacht für Nacht und kehrt am nächsten Tag in das Lager zurück? Ist er ein Spion? Der Lagerchef ruft ihn zu sich und verprügelt den neunjährigen Jungen mit seinem Gewehrkolben. Henry bleibt zur Sicherheit einige Nächte bei den Soldaten, um den Verdacht zu entkräften. Als er wieder zu den Rebellen zurückkehrt, erwartet ihn dort dieselbe Prozedur. Während er spricht, wedelt Henry mit dem Stoff seines Pullovers, um sich Kühlung zu verschaffen. Albert Riedelsheimer kennt viele Kindersoldaten. Der Sozialpädagoge arbeitet beim Katholischen Jugendsozialwerk als Vormund. Er hilft den jungen Männern beim Stellen eines Asylantrags und bei alltäglichen Behördengängen. „Viele ehemalige Kindersoldaten haben große Probleme, Beziehungen aufzubauen. Sie leiden unter Bindungsstörungen“, sagt Riedelsheimer. Die meisten haben im Krieg ihre Eltern verloren, sie leiden unter Verlustängsten. „Kindersoldaten selbst schwanken zwischen zwei Extremen: Mal sehen sie sich als Täter, dann wieder als reine Opfer, die keine Wahl hatten, etwas anderes zu tun.“ Einige Monate arbeitet Henry als Spion für die Rebellen. Eines Tages im Lager der Rebellen muss Henry zusehen, wie die Soldaten eine schwangere Frau vergewaltigen. Henry stockt beim Erzählen, als schäme er sich für das, was seine Augen gesehen haben. Die Soldaten schließen


Der „Tag der Kindersoldaten“ am 12. Februar macht auf das Schicksal von Kindern wie Moses oder Henry aufmerksam: Das Agenturbild zeigt Moses im Jahr 2002, ein Jahr nach Ende des Bürgerkrieges von Sierra Leone. Genau wie Henry hat er diesen Krieg als Soldat erlebt. Und wird die Vergangenheit nicht los.

Wetten darüber ab, ob das Ungeborene ein Junge oder ein Mädchen wird. Es gibt nur einen Weg das herauszufinden: Sie schneiden der Frau den Bauch auf. Dann hört Henry auf zu sprechen. Sein Freund Adam fasst ihn an der Schulter und blickt ihm in die Augen. Doch Henry wendet seinen Blick ab. Adam sagt zu ihm, er solle sprechen. Es sei gut für ihn, es helfe ihm, auch wenn es schwer falle. Henry schwitzt, er zieht seinen Pullover aus. Dann erzählt er davon, wie eine Gruppe von Soldaten ein Mädchen vergewaltigte. Sie zwangen ihn, mitzumachen. Er war als Vorletzter an der Reihe. Als er den Raum wieder verliess, betrat sein Commander den Raum. Ein Schuss fiel.

„Das Blut ist hinter mir her“, sagt Henry und steht auf. Adam ist sich sicher: Henry hat auch selbst getötet. Darüber könne er aber nicht sprechen. Seit knapp drei Monaten ist Henry in einem Asylbewerberheim in Regen im Bayerischen Wald untergebracht. Der Wald um das Heim erinnert ihn an die Zeit bei den Rebellen. Die Chancen, in Deutschland Asyl zu erhalten, stehen schlecht: Der Bürgerkrieg in Sierra Leone ist seit fast acht Jahren beendet. Kindersoldat gewesen zu sein, ist kein Asylgrund. Henry hat Alpträume: Er träumt davon, dass sich seine Mitinsassen – Afghanen, Iraker oder Afrikaner – gegen ihn verschwören. In den Träumen spionieren sie ihn

aus und schließlich jagen sie ihn durch den Bayerischen Wald. Am Ende fangen sie Henry und stellen ihn vor ein Tribunal, bei dem er für seine Taten büßen soll. Manchmal, sagt Albert Riedelsheimer, rauben auch ihm die Geschichten der Flüchtlinge den Schlaf. Manche haben ihm davon erzählt, wie sie Hände abhacken und Augen ausstechen mussten. Letztlich drehe sich vieles um die Frage, inwieweit die jungen Täter selbst Opfer sind: Mit Opfern, sagt Riedelsheimer, haben wir Mitleid. Für Täter würden wir Strafe fordern. Täter seien in unseren Augen schuldig, Opfer unschuldig. Er zweifelt, ob diese Zuordnung auch für Menschen wie Henry zutrifft. „Kinder können nicht schuldig sein“, sagt er. 2009

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Nach Hause in ein fremdes Land 12.01.2009 | Text: philipp-mattheis Fotos: Philipp Mattheis

Wie der junge Iraker Ziyad nach einer Odyssee durch halb Europa schließlich zu seinem Bruder in München fand Ziyad ist zurück. Der 25-Jährige sitzt auf der weichen Couch in der Wohnung seiner Schwester im Münchner Westend. In der Ecke des Zimmers steht ein kleiner Christbaum behängt mit glitzernden Kugeln und Lametta. Daneben mahnt auf einem Bild an der Wand pathetisch ein sterbender Jesus zu Barmherzigkeit. Der Fernseher läuft ohne Ton. Ziyads Backen formen ein Lachen so breit, dass es beinahe sein ganzes Gesicht einnimmt. Seine Haare sind frisch gewaschen und gekämmt, seine Kleidung sauber. Neben ihm sitzt der zwei Jahre jüngere Petrus. Petrus, sein Bruder, mit dem er einst Bagdad verließ, den er jedoch seit jenem Tag im März, als sie kamen, um ihn zu holen, nicht mehr gesehen hat. Abir, die Schwester der beiden, bringt arabische Süßigkeiten und Tee. Um ihre Beine herum turnt ihr Sohn, der kleine Mario. Ziyad ist endlich heimgekehrt in ein fremdes Land. Am 18. November 2008 griff die deutsche Polizei einen 24-Jährigen Iraker nahe der französischen Grenze auf. Der Mann sprach weder Deutsch noch Englisch. Doch war er den Behörden kein Unbekannter. Es ist das zweite Mal, dass Ziyad deutschen Boden betritt. Es ist, so hofft er, das Ende einer 16 Monate währenden Odyssee vom Irak über die Türkei, nach Griechenland und Deutschland, von dort zurück nach Athen und schließlich wieder über Frankreich nach Deutschland. Während die Reise seines 10|

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Bruders Petrus im März 2008 in der Wohnung seiner Schwester im Münchner Westend ihr Ziel fand, dauerte Ziyads Reise acht Monate länger. Und das, obwohl die Brüder gemeinsam aus Bagdad flüchteten und gemeinsam deutschen Boden betraten. Während sein Bruder Petrus in München Arbeit und eine eigene Wohnung fand, übernachtete Ziyad in den Parks von Athen. Mehrere Male saß er im Gefängnis, weil ihn die Polizei ohne oder mit den falschen Papieren aufgegriffen hatte. Im vergangenen September besuchte jetzt.muenchen Ziyad in Athen, wohin man ihn nach seiner Festnahme in Deutschland gebracht hatte. Am 30. September lief auch seine Aufenthaltsgenehmigung für Griechenland ab. Ziyad drohte die Abschiebung in den Irak. Ziyads lange Reise August 2007: Ziyad und Petrus leben in Bagdad. Sie sind chaldäische Christen und als solche steht ihnen grundsätzlich Asyl in der Bundesrepublik zu. Im Irak sind Christen besonders oft das Ziel von Anschlägen radikalislamistischer Gruppen oder von Entführungen. Ihre ältere Schwester Abir hat das Land schon vor Jahren verlassen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in einer kleinen Wohnung im Münchner Westend. Die beiden Brüder lassen sich für mehrere tausend US-Dollar von einem Schlepper über Kurdistan nach Istanbul bringen. Von dort überqueren sie nachts wahrscheinlich die Grenze nach Griechenland und damit die der Europäischen Union. Mit gefälschten Pässen

besteigen sie ein Flugzeug, das sie nach München bringt. Noch im Flugzeug nimmt ihnen der kurdische Schleuser die Pässe ab. Am 10. September 2007 nimmt die deutsche Polizei zwei irakische Brüder ohne Identität fest. Ziyad und Petrus kommen in Abschiebehaft. Wie alle Flüchtlinge, die illegal nach Deutschland einreisen, gilt seit 2003 auch für Ziyad und Petrus Rifaat die „Dublin-II-Verordnung“. Nach diesem Gesetz können Asylsuchende nur in einem Land der Europäischen Union einen Asylantrag stellen – und zwar in dem, dessen Boden sie als erstes betreten haben. Da die beiden Brüder zwar nur wenige Stunden in Griechenland waren, aber mit einer Maschine aus Athen nach Deutschland kamen, ist der für das Asylverfahren zuständige Staat Griechenland. Die deutschen Behörden stellen also eine Anfrage an ihre griechischen Kollegen, ob ihnen die beiden Iraker bekannt sind. Die Griechen antworten schwer nachvollziehbar, doch rechtlich einwandfrei: Petrus Rifaat ist ihnen nicht bekannt, für seinen Bruder Ziyad erfolgt keine Antwort. Damit sind die griechischen Behörden für den Asylantrag von Ziyad Rifaat zuständig. Das Verfahren seines Bruders Petrus wird dagegen in Deutschland eröffnet. März 2008: Früh morgens am 25. März klingeln Beamte an der kleinen Behausung der beiden Brüder im Asylbewerberheim in Sigmaringen. Sie kommen, um Ziyad mitzunehmen. Sie setzen ihn in ein Flugzeug. Das Flugzeug bringt Ziyad nach Athen. In eine Stadt, die er nicht kennt, in der er nicht sein will und deren Sprache er nicht spricht.


aus dem Land geflohen sein. In Griechenland und anderen Staaten an der Außengrenze der EU warten zahlreiche illegale Flüchtlinge vor allem aus dem Irak und Afghanistan. Die wenigen, die es bis nach Deutschland schaffen, werden in den meisten Fällen wieder abgeschoben. „Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als Schleuser zu bezahlen. Viele verstecken sich in LKW, die den griechischen Hafen Patras in Richtung Italien verlassen. Andere versuchen mit einem gefälschten Pass, nach Deutschland gekommen.“, sagt er.

Ziyad versteht nicht, warum man ihn nach Athen gebracht hat. Er kennt niemanden, sein einziger Kontakt zu anderen Menschen sind die Telefonate mit seiner Familie in München. Tagsüber marschiert er mit seinem Rucksack, in dem seine ganze Bleibe steckt, durch die Stadt, hinauf zur Akropolis und wieder hinab, zum Hafen Piräus und wieder zurück. Ziyad geht den ganzen Tag, er geht, um müde zu werden. Nachts versucht er, in den Stadtparks des griechischen Molochs ein paar Stunden Schlaf zu finden, und hofft, vielleicht einmal nicht von dem Geschrei der Besoffenen und Junkies geweckt zu werden. Ziyad wird depressiv, er spricht wenig und lacht nie. Am 30. September schließlich läuft schließlich auch noch seine Aufenthaltsgenehmigung für Griechenland ab. Greift die Polizei ihn nun auf, hat sie das Recht, ihn drei Monate ohne Begründung festzuhalten oder ihn in den Irak zurückzuschicken. Ziyads Schicksal scheint besiegelt. Früher oder später wird ihn die Polizei festnehmen und in den Irak zurückschicken. Doch es kommt anders. Sein Bruder Petrus findet unterdessen Arbeit und zieht in eine eigene, kleine Wohnung. November 2008: Ziyad betritt abermals deutschen Boden.

Gleich an der Grenze greift ihn die deutsche Polizei auf und inhaftiert ihn. Ein Schlepper hat ihn wahrscheinlich über Italien nach Frankreich gebracht. Ziyad sagt, die deutsche Polizei habe ihn gut behandelt. Viel besser als die griechische. Er spricht mit zu lauter Stimme, wie jemand, der lange geschwiegen hat und erst wieder mühsam die Kontrolle über seine Stimmbänder zurückerlangt. Der Mann seiner Schwester Abir, zeigt stolz ein Dokument, in dem steht, dass Ziyads Asylverfahren in Deutschland eröffnet wird. Über den Schleuser und seine Reise von Athen nach Deutschland sagt er nichts. Aus gutem Grund: „Es ist traurig, dass jemand wie Ziyad gezwungen ist, Gesetze zu übertreten“, meint Tobias Klaus vom Bayerischen Flüchtlingsrat. „Warum Ziyad ausgerechnet über Frankreich wieder nach Deutschland eingereist ist, wissen wir nicht. Die Route ist eher ungewöhnlich. Wir sind sehr froh, dass er es geschafft hat, aber begrüßenswerter wäre natürlich eine Grundsatzentscheidung, die diese Abschiebepraxis in vermeintlich sichere Drittländer beendet.“ Tobias Klaus setzt sich seit langem für das Schicksal von Flüchtlingen ein. Er weiß: Ziyad Rifaat ist kein Einzelfall. Seit Beginn des Irak-Krieges sollen etwa 600 000 Christen

Weihnachten zu Hause Christoph Unrath ist der Anwalt der Familie Rifaat und mit Ziyads Geschichte betraut. „Am 24.12. erreichte uns der Bescheid, dass das Asylverfahren für Ziyad nun in Deutschland eröffnet wird.“, sagt er. „Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit positiv für Ziyad ausgehen. Auf jeden Fall wird es nicht zu einer Rückführung kommen. Allerdings nannte die Ausländerbehörde als Grund lediglich das Verstreichen einer Fristen. Nur ein Grundsatzurteil hätte Folgen für ähnliche Fälle“. Am 23. Dezember feiert Ziyad seinen 25. Geburtstag. Noch am selben Tag darf er das Asylbewerberheim im badenwürttembergischen Sigmaringen, wo er sich ein kleines Zimmer mit drei Kurden teilt, verlassen und zu seiner Schwester und seinem Bruder nach München reisen. Den Heiligabend verbringt die Familie gemeinsam in der Kirche. Zur Bescherung bekommt Ziyad neue winterfeste Kleidung. Sein Bruder Petrus hat inzwischen eine eigene Wohnung. Sein Geld verdient er noch immer mit dem Braten von Burgern bei einer Fastfood-Kette. Ziyad sitzt auf der Couch seiner Schwester, isst arabische Süßigkeiten und schaut in den Fernseher, aus dem kein Ton dringt. Ziyad ist wieder bei seiner Familie. Zum ersten Mal seit 16 Monaten und vielleicht zum ersten Mal in Frieden und Sicherheit. 2009

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Ressort

Sex Vergewaltigung ist so ein hässliches Wort Hört auf zu schnüffeln – Sexkritik

Foto: photocase.com | knallgrün

Mädchen, wofür ist eigentlich ein Bidet? Anzeichen dafür, dass du zu lange in ener Beziehung bist

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Vergewaltigung ist so ein h채ssliches Wort 29.08.2009 | Text: ein_oxymoron in Tagebuchschreiber

#1 Ich bring dich nach Hause, sagt er. Brauchst du nicht,

sage ich, und denke, der ist doch schon wieder stockbesoffen, da nervt er nur wieder rum. Doch doch, sagt er, ich bring dich heim, du willst doch wohl nicht alleine gehen. Vor meiner Haustuer will er mich wieder kuessen. Ich wehre ab. Er laesst sich nicht beeindrucken. Eigentlich finde ich ihn ja ziemlich niedlich - wenn er nuechtern ist. Aber dann redet er kaum mit mir. Wenn er getrunken hat, ist er nicht niedlich, aber dafuer aufdringlich. X, du bist total besoffen, geh jetzt heim, sage ich halb lachend. Er haelt mich fest, drueckt seine Lippen auf meine, schiebt seine Hand unter mein T-Shirt. Ich mache mich los, nicht mehr lachend. Ich sage, ich will das nicht, lass mich in Ruhe. Laut und mit Nachdruck. Das wirkt. Spaeter frage ich mich, wie viele zu einer so deutlichen Ansage nicht in der Lage gewesen waeren, zu schuechtern oder zu betrunken. Noch spaeter erzaehlt mir ein gemeinsamer Bekannter, er habe mal eine Geschichte von ihm gehoert, in der ein Maedchen und ein abgelegener Parkplatz vorkommen, viel mehr will er mir nicht erzaehlen.

#2 Wir liegen in seinem Bett, wie immer. Ich koennte

auch im Nebenraum schlafen, aber dann koennten wir uns nicht mehr unterhalten. Wir kennen uns schon seit Jahren, wir hatten schon so viel Spass zusammen, sind

so schoen vertraut miteinander. Ich mag es, mit meinem Kopf an seiner Schulter Film zu gucken, ich mag es, wie er sich beim Einschlafen ankuschelt, und ab und an war es auch spassig, weiterzugehen. Seine Hand zwischen meinen Beinen muss jetzt aber wirklich nicht sein. He, lass deine Finger bei dir, befehle ich und schiebe sie weg. Aber letztes Mal mochtest du das doch auch, sagt er. Letztes Mal war ich Single, und letztes Mal war nicht dieses Mal. Jetzt mag ich das nicht, sage ich. Er schmollt ein bisschen, wir schlafen ein. Waehrend ich aufwache, sehe ich sein zufriedenes Grinsen. Dann realisiere ich langsam, dass er seine Finger genau da hat, wo ich sie vor dem Einschlafen wegbefohlen hatte, und dass er sie schon eine Weile erfolgreich dort benutzt haben musste. Was soll der Scheiss, fahre ich ihn an, waehrend ich ihn wegstosse. Er murmelt irgendwas. Ich verlasse genervt das Zimmer. Ich weiss, dass er sich nichts Boeses dabei gedacht hat, aber was, bitte, hat er sich dabei gedacht? Je mehr ich darueber nachdenke, desto unangenehmer fuehlt sich das an. Habe ich den Anschein erweckt, wach zu sein? Hat mein Koerper mitgemacht, habe ich im Schlaf gestoehnt? Mir wird uebel. Aber er ist doch mein bester Freund.

#3 Ich habe es kommen sehen, so ein bisschen, aber

darauf vorbereitet war ich noch nicht. Ploetzlich liegen seine Arme von hinten um mich, und ich umfasse sie instinktiv. Ich mag ihn ja sehr gerne, wir sind gute Freunde. Aber... Das ist nicht gut, sage ich. Er faengt an, leidenschaftlich meinen Hals zu kuessen und seine Haende wandern zu lassen. Ich frage, meinst du wirklich, das ist eine gute Idee? Er seufzt, sagt nein, und macht weiter, als gaebe es kein Morgen. Das geht mir alles zu schnell. Ich moechte da zumindest erst mal drueber nachdenken, aber er laesst mir keine Chance. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Spannung und Besorgnis, zwischen schoen und seltsam, angenehm und zu viel. Ich kann jetzt keinen Sex mit dir haben, sage ich. Er scheint mich nicht zu hoeren. Ich weiss nicht, wo ich die Grenze ziehen soll, sie fliesst davon. Ich geh Kondome holen, sagt er. Ich sage nichts mehr. Ich liege nur da und hoffe, dass mein gequaelter Gesichtsausdruck ihm die Lust verdirbt. Tut er aber nicht. Na schoen, wasauchimmer. Er stellt sich ja gar nicht mal schlecht an, sehr gut eigentlich. Aber mein Gefuehl dabei ist nicht so gut. Oder, es sollte Gefuehl dabei sein fuer mich, aber da ist nichts. Ich denke an den, mit dem ich das Gefuehl haben koennte, und kaempfe mit den Traenen. Ich hatte Sex mit einem lieben Freund. Ohne es zu wollen. 2009

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Aber auch ohne es richtig nicht zu wollen. Im Nachhinein habe ich es nicht gewollt, ich fuehle mich beschissen. Ich haette nein sagen sollen. Ich haette ihm sagen sollen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Er wusste, dass ich nicht auf den Mund gefallen bin, und dass ich mich wehren wuerde, wenn ich etwas wirklich nicht will. Ich kann ihm meine Unentschlossenheit nicht zum Vorwurf machen. Oder?

#4 Ein richtig netter WG-Abend war das. Zusammen

kochen, zusammen essen und noch lange rumsitzen und reden. Dann zusammen die Landkarte studieren, weiterunterhalten, sich dabei klammheimlich naeherkommen. Und ich dachte, mit diesem Mann koennte ich es schaffen, wirklich nur Kumpels zu sein. Ich finde ihn unheimlich sympathisch, aber einfach nicht anziehend, und bei ihm ist das doch genauso, oder..? Fast ehrfuerchtig nimmt er mich in den Arm. Du bist so wunderschoen, sagt er, ich will dich einfach nur ein bisschen beruehren. Ich bin sprachlos. Geschmeichelt. Kann ein bisschen koerperliche Naehe gerade gut gebrauchen. Aber nicht mehr als das, sage ich. Sex ist nicht drin, da musst du dann selbst Hand anlegen. Warum nicht, fragt er. Wie ich diese Frage hasse. Weil ich das nicht will. Er fragt, bist du sicher? Ich sage, ja, ich bin sicher. 14|

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Ganz gut sieht er ja schon aus, warme Augen, netter Koerper, schoene Haende. Ich fuehle mich immer so wohl in seiner Naehe, auch in seinen Umarmungen, aber das hier ist zu viel der Naehe. Die schoenen Haende sind sanft zu mir und geschickt, aber ich fuehle mich nicht wohl, ich schiebe sie weg. Sie kommen zurueck. Ich schiebe sie wieder weg, sage, lass das bitte. Er haelt meine Hand fest, sagt, ach komm schon. Ich winde mich aus seinem Griff, sage, ich will das nicht. Er sagt, sei doch nicht so. Wenn er nur irgendein Trottel waere, haette ich schon laengst die Geduld verloren, haette ihn runtergeputzt und waere gegangen. Aber das ist nicht irgendein Trottel, es ist ein kluger, liebenswerter Mensch, ich mag ihn wirklich gerne, und ich kann es mir nicht einfach mit ihm verderben. Er sagt, du bist doch feucht. Ich versuche, ihm den Unterschied zwischen unwillkuerlicher koerperlicher Reaktion und emotionalem Erleben zu erklaeren. Er laesst sich nicht beirren. Du willst doch, dass es mir gut geht, sagt er. Auch das noch. Und was ist mit mir, frage ich, mir geht es nicht gut hiermit. Oh bitte, sagt er, fleht er. Bitte, bitte, bitte. Was um Himmels willen soll das denn. Nur weil ich nicht verklemmt bin, bin ich noch lange nicht die Caritas fuer sexuell Notleidende. Er laesst einfach nicht locker, er bettelt, wird zurueckgedraengt, haelt fest, er kaempft einen sanften Kampf um

jeden Zentimeter meines Territoriums. Langsam, aber sicher kommen mir die Traenen. Nicht, weil ich mir missbraucht vorkommen wuerde, sondern weil ich mit den Nerven am Ende bin, und vor allem, weil ich so enttaeuscht von ihm bin. Weil es mir wehtut, wie er gerade unsere Freundschaft und unsere Wohngemeinschaft zerstoert, nur weil er seine Triebe nicht im Griff hat. Willst du mich wirklich zwingen, sage ich mehr, als ich frage. Nein, nein, natuerlich nicht, sagt er erschrocken. Nicht weinen, fluestert er. Haelt mich eine Weile. Und macht weiter. Er kommt auf meinen Bauch. Liegt lange da. Geht Papiertuecher holen. Fragt, ob ich heute nacht bei ihm schlafen will. Nein, sage ich. Bist du sicher, fragt er. Ich ziehe mich an und gehe in mein Zimmer, sitze mit verheultem Gesicht auf dem Sofa und starre vor mich hin. Die Tuer ist halboffen, wie fast immer. Er soll sehen, wie es mir geht. Alles ist still. Ich frage mich, ob es jemals so still war, wenn wir beide zu Hause waren. Irgendwann steht er an meiner Tuer und sagt gute Nacht. Ich sehe wortlos auf. Hey, tut mir echt leid wegen vorhin, sagt er mit bruechiger Stimme. Ich stehe auf und gehe zur Tuer. Da steht er, mit der Stirn an der Wand. Er sieht voellig fertig aus, ich kann sehen, dass er auch geweint hat. Es tut mir so leid, fluestert er. Ich nehme ihn in den Arm.


06.09.2009 | Text: christina-waechter Foto: zettberlin/photocase.de

Eine jetzt.de-Userin schreibt einen Text über uneindeutige Situationen mit Männern – und löst eine Diskussion über ein Phänomen ohne Name aus Immer wieder gibt es auf jetzt.de Beiträge, die besonders berühren. Neulich veröffentlichte ein_oxymoron den Text Vergewaltigung ist so ein hässliches Wort und löste eine große Debatte aus. Fast 600 mal wurde der Text von anderen Lesern kommentiert, weil sie Vorfälle beschreibt, die so vermutlich schon viele Mädchen und auch Jungs erlebt haben. Situationen, die irgendwo im Graubereich zwischen Vergewaltigung und Sex angesiedelt sind. Für jetzt.de las der Sexualpädagoge Sebastian Kempf, 43, von Pro Familia München den Text und versuchte sich an einer Einordnung des Phänomens. jetzt.de: Herr Kempf, Sie haben den Text von ein_oxymoron gelesen. Welchen Eindruck hat er auf sie gemacht? Sebastian Kempf: Mein erster Eindruck war, dass das realistische Situationen sind, die im Leben von jungen Erwach-

senen passieren können. Mir ist aufgefallen, dass diese vier Situationen sehr unterschiedlich sind. Bei den ersten beiden hat sich die Frau erfolgreich gewehrt und eine Taktik gewählt, die funktioniert. Im dritten und vierten Fall passiert dann doch etwas, und trotzdem finde ich, dass es in beiden Fällen der Begriff „Vergewaltigung“ nicht trifft. Die Selbstvorwürfe, die in dem Text vorkommen, diese Fragen „War ich deutlich genug?“ – „Habe ich mich zu wenig gewehrt“ – woher kommen die ? Selbstvorwürfe können auftauchen, wenn jemandem sexuelle Gewalt angetan worden ist. Das hat mit der Scham zu tun und mit der Frage: Wie konnte ich zulassen, dass mir so etwas passiert? Das hängt mit der psychischen Grundstruktur des Menschen zusammen und damit, dass es für niemanden angenehm ist, Opfer zu sein. „Opfer“ ist ja nicht umsonst eines der neuen und beliebtesten Schimpfwörter unter Jugendlichen. Obwohl zum Beispiel 30 Prozent aller Jungs zwischen 17 und 20 schon einmal Opfer sexueller Übergriffe wurden, reden da die wenigsten dar-

über oder gehen zu einer Beratungsstelle. Es passt überhaupt nicht zu ihrem Bild von Männlichkeit, dass ihnen etwas angetan wurde und sie sich nicht wehren konnten. Die Protagonistin in dem Text übernimmt nicht nur die Verantwortung für ihre eigene Sexualität, sondern auch für die des Jungen. Warum? Frauen sind eher darauf gepolt, die soziale Verantwortung für das Gelingen einer Beziehung zu übernehmen. Das lernen schon kleine Kinder in ihrer Familie. Da ist die Mutter auch für all das verantwortlich – Streit schlichten, Geburtstagsgeschenke besorgen, Freunde einladen. Da hat sich bis heute noch nicht wahnsinnig viel geändert. Das spiegelt sich ja auch in dem Text: In der vierten Geschichte heult der Junge hinterher und es endet damit, dass sie ihn in den Arm nimmt. Beide sind völlig fertig nach dem, was passiert ist, und trotzdem schafft sie es, ihn auch noch zu trösten. Können Sie aus der Perspektive der Jungs sagen, was da passiert ist? 2009

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Mein Eindruck ist, dass sie ausloten und testen wollen, was geht. Bei allen vier Fällen befinden sie sich in Ausgangssituationen, die für diese jungen Männer nahelegen, dass noch mehr passieren könnte. Ich finde es auch okay, sich das zu wünschen, zu fragen, oder es körperlich zu signalisieren. Aber wenn sie dann eine klare Botschaft sendet, dass sie das nicht will, muss Schluss sein. Ich finde, man tut der Sexualität unrecht, wenn man sagt, dass es nur zwei Arten von Sex gäbe: Nämlich entweder der von beiden Seiten gewollte und hundertprozentige, einvernehmliche oder der gewaltsame, eine Vergewaltigung. Es gibt auch Grauzonen. Es gibt Verführung und es muss auch nicht immer nur die Frau sein, die überzeugt wird. Wenn man diese Seite der Sexualität, die auch etwas mit Überredung und Schmeicheln und vorsichtigen Grenzüberschreitungen zu tun hat, verneint, dann macht man Sexualität zu einer klinisch reinen Sache und das ist sie einfach nicht. Wenn nicht irgendwann mal einer den ersten Schritt macht und sagt: „Wie wäre es denn jetzt?“, dann würde oft überhaupt nichts passieren. Aber es ist absolut nicht okay, wenn man nicht sofort aufhört, obwohl der andere „Stop“ gesagt hat. Interessant ist bei dem Text: In den Fällen, wo sie das Nein sehr laut sagt, da wirkt es. Mit einer ganz klaren Botschaft kommt sie durch. Vergewaltigung will sie all diese Fälle nicht nennen und Sie scheuen auch vor diesem Wort auch zurück. Was ist es denn dann? Ich würde es versuchte oder durchgeführte Grenzüberschreitungen nennen. Die Frage der Definition ist natürlich heikel. Das deutsche Recht sagt, Vergewaltigung ist es vor allem dann, wenn es um ein Eindringen in den Körper des oder der anderen geht. Aber andere sexuelle Handlungen können sexuelle Nötigungen sein und entsprechend als Straftatbestand gelten. Es fällt mir schwer, diese Erlebnisse in eindeutige Schubladen zu stecken. Die heikelste Situation ist die vierte Geschichte, weil sie die 16|

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Beziehung, die sie vorher hatten, nicht auf ’s Spiel setzen will. Da stellt sich die Frage, ob man ihm das vorwerfen soll, dass er sich nicht im Griff hat. Es ist nicht okay, was er gemacht hat. Aber, und da tue ich mich sehr schwer, weil ich weiß, dass das politisch und feministisch sehr umstritten ist: Mein Eindruck ist, sie hätte in all den Situationen die Chance gehabt, aufzustehen und zu gehen. Warum ist das heikel? Wenn man als Mann sagt: Das ist keine Vergewaltigung, dann kriegt man von Frauen gesagt, dass man etwas kleinredet, was eindeutige Gewalt ist. Sollte man solchen Situationen einen Namen geben? Man muss es nicht definieren. Man muss sagen: Es gibt Sachen, die unglücklich gelaufen sind. Sehr unglücklich gelaufen ist, dass er nicht aufgehört hat und dass er wohl einen solchen sexuellen Notstand hat, dass er seine WG, die Freundschaft auf ’s Spiel setzt. Aber ob man es in die Schublade „Vergewaltigung“ stecken muss, das glaube ich nicht. Die Autorin will das ja auch nicht. In den USA hat die Journalistin Laura Sessions Step für Vorfälle wie diese den Begriff „Gray Rape“ geprägt. Das hat für Diskussionen gesorgt. Ihr wurde unter anderem vorgeworfen, dass sie mit diesem Begriff den Tatbestand einer Vergewaltigung abstuft und insofern auch marginalisiert. Man kann so denken. Aber die Frage ist, ob man da nicht auch zu schwarz-weiß malt und sagt, alle Männer sind potentielle Vergewaltiger. Und bei dieser Diskussion wird überhaupt nicht mit einbezogen, dass es auch sexuelle Übergriffe von Frauen auf Männer gibt. Das kommt nicht oft vor, aber es passiert. Wenn man diese „Das ist Vergewaltigung und Schluss“-Linie zieht, dann betrachtet man die Sache zu eindimensional. Laura Sessions-Step hat in ihrem Artikel auch einen Zusammenhang hergestellt zwischen der Tatsache, dass Frauen heute selbstbestimmter ihre Sexualität

ausleben – dass sie One-Night-Stands haben und nicht ausschließlich auf der Suche nach festen Beziehungen sind – und der Zunahme solcher Vorfälle. Das finde ich ganz heikel, weil Frauen so in die Rolle zurückgedrängt werden, dass sie zu warten haben, bis sie angequatscht werden. Überspitzt könnte man da auch sagen, dass Frauen keine Miniröcke tragen sollten, weil sie sonst vergewaltigt werden könnten. Woran liegt es, dass dieses Thema in Deutschland nicht so präsent ist? Das liegt daran, dass es in den USA Regeln fürs Dating gibt: Nach dem zweiten Mal Essen gehen darf er offiziell fragen, ob sie mit ihm schläft; sie kann ihn abblitzen lassen, indem sie ihn genau dreimal nicht zurückruft. Da wird ein Bereich verregelt, bei dem es eigentlich nicht möglich oder zumindest schwierig ist. Diese Dating-Regeln gibt es bei uns nicht. Und es gibt bei uns auch nicht die Abstinenz-Ideologie, die in den USA den Teenagern eingeimpft wird. Und wenn die dann in Situationen geraten, wo sie eben doch Sex haben wollen, kennen sie sich weder mit Verhütung aus, noch wurde ihnen beigebracht, wie sie mit ihrer Sexualität umgehen können. Könnten Sie denn eine Empfehlung geben, wie man sich in Situationen, wie sie in dem Text beschrieben sind, verhalten sollte? Ich finde das ganz schwer. In den ersten beiden Situationen hat sie es klar kommuniziert und das hat geklappt. Bei der letzten Situation finde ich es sehr schwer, einen Rat zu geben. Wenn man sagt, „setze ein eindeutiges Signal oder verlasse das Zimmer“, dann schiebt man ihr wieder den größeren Teil der Verantwortung zu. Es ist auch wichtig, zu ihm zu sagen: „Typ, jetzt kapier’ doch bitte, wann es zu viel wird.“ Deshalb hat die Geschichte mich auch sehr berührt, weil klar ist, dass beide merken, wie scheiße das gelaufen ist. Er kapiert es zu spät, aber wenigstens kapiert er es.


Hört auf zu schnüffeln! 07.05.2009 | Text: xifan-yang Illustration: Katharina Bitzl

Erst mal das Internet sondieren: Die Unsitte, neue Bekanntschaften zu googeln, zerstört das Geheimnis des Kennenlernens. Eine Selbstanklage Es gibt viele überlieferte kleine Alltagsbräuche, die es einigermaßen unbeschadet in unser Zeitalter geschafft haben. Zu jenen, die ich besonders putzig finde, gehört das Ritual, Geschenke zu verpacken, was objektiv betrachtet sinnloses Einmummen von Gebrauchsgegenständen in umweltschädliches Einwegpapier ist und damit eigentlich abgeschafft gehört. Dennoch macht es jeder, selbst ansonsten wenig auf Förmlichkeit bedachte Zeitgenossen, die vor dem Geburtstag eines Freundes hastig die lieblos zusammen gestellte Mix-CD in das Feuilleton von gestern knüllen und eine Schleife aus Frischhaltefolie drum herum binden. Es ist eben eine kleine Respektsbekundung, mit der man einem Menschen den sinnlosen, aber schönen Kitzel einer kurzen Entdeckungstour schenken kann. Geht es jedoch um den Kitzel, den man erleben kann, wenn man eine fremde Person kennen und lieben lernt, ist mittlerweile aber auch dem letzten die Lust am Unbekannten abhanden gekommen. Ein Beispiel: Am ersten warmen Wochenende dieses Jahres saß ich mit einer guten Freundin im Park. Irgendwie kam sie mit einem netten Jungen ins Gespräch, der wenige Meter neben uns auf einer Wolldecke logierte. Er hieß David, grinste schelmisch und hatte kein T-Shirt an. In einem früheren Leben hätte man da konkrete Schritte in Angriff nehmen können, sich verabreden zum Beispiel, aber meine Freundin wählte den konkretesten von allen: Sie ging

erst mal ins Internet und fand über Google und Facebook alles über ihn heraus, was drin war. Es stellte sich heraus, dass David in seiner Pubertät goldene Ohrringe trug, seltsame Essgewohnheiten hat, sich erst vor zwei Wochen von seiner langjährigen Ex-Freundin getrennt hat, die ihn nun auf Facebook verleumdet. Alles Dinge, die man eigentlich gar nicht wissen will, zumindest nicht sofort. Meine Freundin hatte dann irgendwie doch keine Lust mehr, ihm zu schreiben. Jetzt kann man natürlich herkommen und sagen, ist doch selbst schuld, wer Innenleben und Jugendsünden für jeden einsehbar ins N e t z stellt. Nur produziert in dem Fall das Angebot die Nachfrage und nicht umgekehrt. Vorab schon mal die Lage zu sondieren, bevor man weiter miteinander redet, ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Ich weiß inzwischen, dass ich den neuen Freund einer alten Schulfreundin doof finde, ohne ihn je getroffen zu haben, allein aufgrund seiner Google-Ergebnisse. Manchmal erlebe ich in Gesprächen, dass der andere Dinge von mir weiß, die ich ihm nie erzählt habe. Manchmal google ich mich auch selbst und frage mich vorsichtshalber, was jemand von mir denken könnte, der meinen Namen schon mal in die Suchleiste eingegeben hat. Das Hinterherspionieren im Internet dient demselben Ziel, wofür im Militär eine Vorhut in ein Einsatzgebiet geschickt wird: Dem Gewinn von Informations- und

Zeitvorteilen gegenüber dem Gegner. Täuschung zwecklos. Schade eigentlich, denn Kennenlernen, gerade im amourösen Kontext, ist auch immer Verstellungskunst, bei dem der Wechsel aus Verbergen und Entblößen gespielt wird. Seine Schokoladenseiten zeigt man stolz her, Macken und peinliche Vorlieben versteckt man besser. Nun ist Versteck-Spielen umsonst wenn man ohnehin splitternackt vor seinem Gegenüber dasteht. Da ist das Internet auch nicht anders als das wahre Leben: Wer zuviel von sich preisgibt, macht sich uninteressant. Und wer zwanghaft auf den Profilen potenzieller Freund- und Liebschaften herumsurft, raubt dem anderen die Möglichkeit, sich interessant zu machen bzw. interessant zu sein. Man selbst bleibt indes mit dem schalen Gefühl zurück, zwei Wochen vor Heiligabend die Geschenke gefunden zu haben. Hinterhältig und indiskret ist es zudem. Genauso wenig wie man zugeben würde, in anderer Leute Schubladen herumzuwühlen, würde man schließlich bei seinem nächsten Rendezvous sagen: „Du, ich glaub das wird doch nichts mit uns. Ich hab dich gestern gegoogelt.“ Natürlich mache ich es trotzdem. Aber nur noch ganz selten, hab ich mir vorgenommen. 2009

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Mädchen, wofür ist eigentlich ein Bidet? 26.10.2009 | Text: max-scharnigg

Immer zum Wochenende: Jungs fragen Mädchen fragen Jungs, weil manches kapiert man einfach nicht, bei denen.

Die Jungsfrage Es muss ja auf diese Frage eine ganz bolzeneinfache Antwort geben, schließlich werden Bidets in Massen hergestellt und verbaut und gehören in sehr guten Hotels anderswo zum Standard, genau wie der Fön. Während mir beim Fön aber alles klar ist (außer: föhnt wirklich jemand kalt?), weiß beim Bidet nicht nur ich nicht recht Bescheid. Auch die nächstbesten Mädchen, die ich dazu befragt habe, ahnen allenfalls, worum es da gehen soll. Stichwort: Unten mal ordentlich feucht durchwischen. Aber irgendwie kann ich das fast nicht glauben – nur für ein bisschen Zusatzhygiene wird so ein Riesending angeschraubt? Auf das ihr euch setzt, nachdem ihr auf dem Klo gesessen seid? Wie umständlich. Oder pullert ihr da auch gleich rein, ist es also wie ein Urinal für Frauen? Einmal in der Woche große Unterbodenwäsche? Reinigt es auch Männerteile? Kann ich mir evtl. die Füße drin waschen? Oder hat es irgendwas mit Sex zu tun? Eine ganze Fragentorte - bitte, tut einen Klacks Antwort drauf! 18|

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Die Mädchenantwort Das trifft sich gut, denn zufällig hast du es mit einer Expertin zu tun. Das Bidet zieht sich gewissermaßen als Motiv durch meine Wohnbiografie. Als ich klein war, gab es eins bei meinen Eltern und als ich groß wurde, gab es fast überall wo ich hinzog auch eines. In meinem aktuellen Bad steht solch eine Keramik-Installation, und mindestens drei – männliche – Besuche haben mich auch schon in Anfällen von Vertraulichkeit gefragt, ob-ichdas-schon-mal-benutzt hätte. Tatsächlich: Das Bidet hat schon als Zuber für Feinwäsche gedient und als Kühlgrube für Partybiere. Es eignet sich auch für Fußbäder oder als Zehennägelauffangbecken. Ansonsten staubt es eher gemütlich zwischen Toilette und Waschbecken vor sich hin. In der Ordnung der Sanitäreinrichtungen liegt dann schon fast der ganze Sinn der Sache. Das Bidet ist sozusagen das Waschbecken für Unten- bzw. Hintenrum, nix Frauenurinal. Edlere Varianten haben eine Untenrumdüse in der Mitte des Beckens und eine Randspülung an den Seiten. Das gemeine Bidet besitzt nur einen Hahn, da spritzt es raus. Wer ein bisschen zu tief in sich geht, wird sich vielleicht noch dunkel daran erinnern, wie ihn als Kleinkind Mama oder Papa nach dem Klo aufs Waschbecken setzten und abwuschen. Das Bidet setzt das Prinzip fort, nur dass der Erwachsene Mensch sich eben selbst setzt und wäscht. In dieser Hinsicht ist die Sache so geschlechtsneutral wie ein Klo.

In modernisierten oder neu gebauten Wohnungen begegnet man dem Bidet äußerst selten. Dagegen ist es in süd-westlichen Regionen und in Hotels extrem üblich. Für Süd-West gibt es wahrscheinlich unterschiedliche Gründe. In armen Ländern wie zum Beispiel Argentinien ist Toilettenpapier in vielen Haushalten eine Kostbarkeit, aber dafür stehen selbst in vergleichsweise armen Haushalten oft Bidets im Bad. In Frankreich liegt es vielleicht eher daran, dass das Bidet dort geboren ist. Was die Hotels angeht, greift wahrscheinlich zum einen

irgendeine internationale Badnorm. Zum anderen kommt hier in der Tat die andere Hauptfunktion des weiblichen Unterleibs ins Spiel. Denn Hotels sind Orte, an denen Menschen Sex haben. Jetzt mal angenommen, eine Frau und ein Mann treffen sich in der Mittagspause so auf ein Sexchen und wollen sich der äußeren Anzeichen dafür hernach entledigen. Dann ist es natürlich top-praktisch, wenn sich die Frau rasch an der entscheidenden Stelle abwaschen kann, ohne gleich übertrieben geduscht zu wirken. Und auch für stundenlanges Aufeinanderabfahren, was unter Liebespaaren in Hotelzimmern ja durchaus


20 Anzeichen, an denen du merkst, dass du schon sehr lange in einer Beziehung bist. 03.03.2009 | Text: fabian-fuchs

vorkommt, ist so ein Zwischendurchwaschgang nicht unbedingt unangenehm. Immerhin findet da eine gewisse Belastung von Gewebe und Schleimhäuten statt! Dass Bidets eher mit Frauen assoziiert werden, hängt übrigens damit zusammen, dass man früher meinte, Schwangerschaften durch ordentliches Ausspülen verhindern zu können. Grundsätzlich ist das Bidet in Deutschland aber eher ein Relikt aus ärmeren Zeiten, in denen man nur die Hauptverunreinigungszonen des Körpers regelmäßig wusch und ein Ganzkörperbad das war, was man Sonntagabend machte. So ein Bidetgang erfordert ehrlich gesagt auch Gewöhnung und eine gewisse Routine. Da gibt es bestimmt Techniken, aber wer die einem heute noch beibringt, keine Ahnung. Bis man da mal richtig hockt und dann wird alles nass, das dauert ja auch alles. Dann braucht man noch spezielle Untenrum-Handtücher zum trocknen und wer sich die Wohnung nicht gerade mit einem Intimpartner teilt ahnt, was da für logistische Probleme entstehen. Irgendwie ist die Sache also ein bisschen Nein, danke. Andererseits: Wer weiß, ob nicht in Deutschland irgendwann auch wieder ärmere Zeiten anbrechen. Dann sind wir sicher froh über die Bidets, die wir haben. Derweil kannst du aber gern deine Füße darin waschen. meredith-haaf

• Die Nachbarn der Eltern deines Partners grüßen dich und du weißt, wo sie zuletzt im Urlaub waren.

• Seine/Ihre Geschwister fragen dich nach Geschenktipps.

• Ihr könnt gegenseitig eure Unterschrift fälschen.

• Du schaust nicht mehr zwingend hin, wenn dein Partner sich auszieht.

• Du kennst die dreistellige KreditkartenPrüfziffer deines Partners auswendig

• Ein T-Shirt, das du vom Partner geschenkt bekommen hast, passt dir nicht mehr.

• Eure Geschlechtsorgane haben Namen.

• Du kennst den Namen des Haustieres, das dein Partner als Kind hatte.

• Du weißt, wie viele Weißwürste dein Partner beim Frühstück theoretisch essen könnte • Als Frau rufst du ohne Anlass alle paar Wochen die Mutter des Partners an, um mal zu fragen wie’s so geht. • Als Mann hattest du schon mal ein Kleidungsstück an, das dem Vater deiner Partnerin gehört.

• Bei der Frage des Kellners, ob das Wasser mit Sprudel oder ohne sein soll, antwortet ihr im Chor. • Ihr habt schon mal ernsthaft über das Thema Sexspielzeug geredet. • Du kennst seine/ihre Meinung über Woody Allen, thailändische Küche und Rothaarige.

• Ihr erinnert euch noch an das Telefonat, das ihr am 11. September 2001 geführt habt.

• Ihr habt eine gemeinsame Sparbüchse für irgendwas.

• Ihr wart schon mal zusammen auf einer Beerdigung und auf einer Taufe.

• Du weißt schon bei der Begrüßung, wie viel Alkohol dein Partner getrunken hat.

• In einem Hotelzimmer gibt es keine Diskussion mehr darüber, wer auf welcher Seite schläft.

• Du weißt nicht mehr, wann du zuletzt vor einem Kuss aufgeregt warst. 2009

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Ressort

Job Proseminar Umh채ngetasche Ich Pflege meine Mutter

Foto: photocase.com | suze

Manchmal habe ich Angst, dass ich nie wieder etwas finde

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Proseminar Umhängetasche 19.04.2009 | Text: andreas-glas

TU München

Freie Universität Berlin

Universität Hamburg

Preis: 25 Euro

Preis: 12,90 Euro

Preis: 36,90 Euro

Optik: Gelungene Innovations-Tasche mit hochkantiger Formgebung. Zurückhaltend in Farbe und Stoff, eingesticktes Logo. Sehr technischer Style, aber funktional bis hin zum Namensschild und trotzdem nicht langweilig. Seltsamer Spezialstoff. Durch die interessante Form passen auch kleinere Erfindungen rein (wenn sie hochkant sind), außerdem gut stapelbar (zum Beispiel bei W-LanPartys) und formstabil im Gedränge.

Optik: Glossy LKW-Plane, die in grün wahlweise an Polizei oder Straßen-Promotion-Teams erinnert. Standard-Gurt und leider sehr kleine Klettverschlüsse, unangenehmer Geruch nach Lack und Kinderarzt. Insgesamt eher mäßige Verarbeitung, langweiliger Logo-Platz vorne. Nicht gerade Hauptstadtwürdig, sondern eher so, dass man in den richtigen Clubs damit falsch angeschaut wird.

Optik: Bullig und feist, wie ein Mercedes-Kombi. Sieht aus, als wäre ein Exemplar der Zeit darin eingenäht. Ungewöhnliche Nähte, die das Design unruhig machen. Reichhaltige, gepolsterte Innenaufteilung, ziemlich unübersichtlich. Macht viele „Puff“-Geräusche und hängt nicht lässig, sondern dick, als würde man sein Kissen spazieren führen. Immerhin kann man im Park darauf seinen Kopf sehr gut ablegen.

Praxistest: Wegen des länglichen Formats schlagen die Kanten manchmal in die Kniekehlen – Stolpergefahr! Weist Regen überraschend gut ab, fällt aber im Brandlochtest durch.

Praxistest: Auch bei hohem Gewicht angenehm zu tragen, weil der Gurt gut gepolstert ist. Wetterfest und damit auch für jede Party geeignet, auf der man die ganzen anderen zugezogenen Berliner trifft.

Praxistest: Bücher sind in dieser teuren Tasche vor umgestoßenen Bierflaschen sicher. Nachteil: Die Polsterung saugt nicht nur Flüssigkeiten sehr gut auf, sondern auch deren Gerüche. Sind zu viele Bücher drin, geht der Deckel nicht zu. 2009

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University of Cologne

Technische Universität Darmstadt

Humboldt Universität zu Berlin

Preis: 19,95 Euro

Preis: 19,96 Euro

Preis: 23 Euro

Optik: Auffälliges Coca-Cola-Logo inkl. Wappen von 1388. Tasche wirkt aber nicht ehrwürdig, sondern windig, einfach an den Kanten vernähter Knitter-Kunststoff, anfälliger Klettverschluss und simpler Gurt. Hält auch optisch nicht länger als das erste Semester durch, lässt sich aber immerhin glaubwürdig als WeihnachtsmannTasche umfunktionieren – gut für den Nebenjob!

Optik: Auffälliger Tribal-Style auf der Deckel-Lasche, dazu wieder eine glänzende LKW–Plane. Ziemlich groß und wuchtig, der Name der Universität nur sehr dezent am Gurt. Guter Gesamteindruck, nur das Ethno-Bild verstört etwas, aber für Darmstädter, die Tatoos mögen, ist das auf jeden Fall ein Must-Have.

Optik: Retro-Sporttaschenstyle mit hübsch abgesetzten Nähten und wertig eingesticktem Logo. Geruch nach Quarantänestation. Ziemlich schlichte Verarbeitung und sehr schwacher Tragegurt, der knittert und zum Verdrallen neigt. Eher dünnes Gewebe und Innenleben, in der Außenwirkung aber flott bis frech.

Praxistest: Auch hier ist der Tragegurt verbesserungswürdig, da leider ungepolstert. Den Gefahren des Studentenalltags widersteht die robuste Planentasche souverän, der Preis lässt allerdings auf eine gewisse exzentrische Note oder vielleicht sogar Studentenhumor schließen.

Praxistest: Der drallernde Tragegurt ist unkomfortabel, wegen eines zusätzlichen Bodeneinsatzes kann die Tasche aber kurzfristig in einer Bierlache abgestellt werden, ohne gleich alle Bücher aufzuweichen.

Praxistest: Vorsicht mit spitzen Gegenständen – Reißgefahr! Wenn die Tasche konsequent vor Regen und Zigarettenglut geschützt wird, kann das Verfallsdatum trotzdem bis zum zweiten Semester hinausgezögert werden.

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Ich pflege meine Mutter 12.07.2009 | Text: peter-wagner Fotos: Maria Dorner

Müssen wir unsere Eltern betreuen, wenn sie krank werden? Vicky, Karoline und die Antwort auf eine schwierige Frage Das Leben fragt ja nicht, ob es gerade passt. Vicky führt eine alte Dame durch einen Park in Wiesbaden, in Trippelschritten geht es voran, sie verdient sich ein paar Euro, weil sie die Frau auf Spaziergängen stützt. Dann läutet das Handy, Vicky hebt ab und eine Stimme sagt, dass ihre Mutter im Krankenhaus sei, es ist das Frühjahr 2006, Trippelschritte. Vicky will ins Krankenhaus. Sie würde die Frau an ihrem Arm am liebsten hochheben und zurücktragen. Als Vicky vor dem Bett in der Intensivstation steht, pumpt eine Maschine Sauerstoff in die Lungen ihrer Mutter. Sie fragt die Ärzte nicht nach dem Zustand, sie rührt die Mutter nicht mal an, so neu ist ihr dieses Bild. Zuhause googelt Vicky „Hirnblutung“ und „Schlaganfall“ und liest von Menschen, die nach zwölf Wochen wieder gehen und reden können. Frühjahr 2009, aus der Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses in Wiesbaden kann man dem Wetter zusehen und fühlt sich wie auf einem Gipfel. Vicky ist 26 und lebt hier allein mit ihrer Mutter. Die Eltern trennten sich, als Vicky fünf war. „Sie war voll berufstätig und musste mich allein großziehen“, sagt Vicky. „Deswegen war ich in meiner frühen Jugend oft auf mich gestellt.“ Sie überlegt. „Meine Mutter war kein Mensch der großen Worte. Eher der Laissez faire-Typ. Ich durfte machen, was ich für richtig hielt.“ Mit feiner Stimme erklärt Vicky die Diagnosen, die das Leben ihrer Mutter und ihr eigenes in eine andere Richtung lenkten: Die Befunde machen sie zur Pflegerin ihrer Mutter. Vicky kaut Kaugummi während sie redet. Das hilft gegen die Tränen. Vicky studiert Medienwirtschaft, aber in jenen Wochen vor drei Jahren beginnt ihr Studium zu ruhen. Schläuche führen in den Kopf der Mutter, sechs Wochen künstliches Koma. Morgens geht Vicky ins Krankenhaus, abends fällt sie auf das Sofa im Hoch2009

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haus. Nachdem die Mutter die Augen geöffnet hat wird mit jeder Stunde klarer, was ihr Körper noch kann. Kauen und Schlucken und Sitzen zum Beispiel. Wenn sie Wasser aus einer Flasche in ein Glas schenken will, verwechselt sie Flasche und Glas. Sie spricht neue Worte. ,Didi, dada, mölle.‘ Die Begriffe haben keine Bedeutung, aber aus Sicht der Ärzte sind sie ein schlechtes Zeichen. Vicky wird mit 23 Jahren der Vormund ihrer 53-jährigen Mutter. „Sie ist noch da aber trotzdem weg“, sagt Vicky und kaut den Kaugummi. „Ich vermisse sie.“ Seit 14 Jahren gibt es die Pflegeversicherung und man kann sie sich wie eine Schatulle für schlechte Zeiten vorstellen. Alle Arbeitnehmer und -geber zahlen ein, damit jeder im Land, der Pflege braucht, etwas nehmen kann. Es ist eine Grundsicherung, die nie alle Kosten der Pflege deckt. Zyniker sagen, das Geld reiche, einen Menschen „satt und sauber“ zu halten. Weit über zwei Millionen Menschen greifen in Deutschland in diese Schatulle. Es werden mehr. Wer Hilfe braucht, den ordnet ein Gutachter in eine von drei Pflegestufen. Vickys Mutter ist „schwerst pflegebedürftig“ und in die höchste der drei Stufen geordnet. Als sie aus der Rehaklinik nach Hause kommt, darf sich Vicky deshalb jeden Monat 1470 Euro aus der Pflegeschatulle nehmen, die sie an einen Pflegedienst weiterreicht: Täglich kommt eine Frau ins Hochhaus, die ihre Mutter aus dem Bett holt, sie anzieht, wäscht und füttert. Vicky sieht der Pflegerin zu und denkt, dass sie das auch selbst kann. Sowieso kommt der Pflegedienst nur zum Pflegen, nicht zum Bleiben. Die Mutter muss zum Beispiel dauernd zum 24|

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Trinken angehalten werden. Wer drückt ihr tagsüber ein Glas Wasser in die Hand, wenn Vicky studieren soll? Sie bringt ihre Mutter nach kurzer Zeit in ein neu eröffnetes Pflegeheim. Es gibt gute und weniger gute Heime, aber in diesem neuen Haus vergessen die Pfleger, Vickys Mutter zu füttern. Sie waschen sie mit Latexhandschuhen, obwohl auf ihrer Haut Ekzeme wachsen und aufplatzen. Die Mutter reagiert allergisch auf Latex. „Heime sind menschenunwürdig“, sagt Vicky voll Zorn und holt ihre Mutter nach wenigen Wochen zurück nach Hause. Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden in Deutschland in ihren vier Wänden betreut. Von der Oma – sie ist 75 und reist manchmal aus ihrer tschechischen Heimat zum Helfen nach Wiesbaden – lernt Vicky Kochen. Von den Therapeuten ihrer Mutter lernt sie, wie man eine halbseitig Gelähmte aus dem Bett dreht und in den Rollstuhl hebt, wie man sie auf den Lift über der Badewanne hievt. Es gibt nur wenige Menschen, die der Frage nachgehen, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zurecht kommen, die ihre Eltern pflegen – während ihr eigenes Leben sich noch zurechtrüttelt. Mit Pflege setzen sich meist nur Erwachsene um die 50 auseinander, wenn deren Eltern um die 80 sind. Aber das wird sich ändern. Mehr Eltern bekommen ihre Kinder später, oft noch im fünften Lebensjahrzehnt. Die Kinder sind dann vergleichsweise jung, wenn Mutter oder Vater mit den Folgen eines Herzinfarkts oder eines Schlaganfalls kämpfen. Sabine Metzing-Blau ist eine der ersten Wissenschaftlerinnen in


Deutschland, die sich mit jungen Menschen befassen, die ihre Eltern pflegen. Sie sitzt in ihrem Büro an der Universität Witten-Herdecke und erklärt sich das so: „Was man nicht wahrnimmt, dazu kann man nichts arbeiten.“ Metzing-Blau suchte monatelang nach jungen Menschen, die sie für ihre Doktorarbeit befragen konnte. Doch viele Kinder und Eltern erzählen nur zögernd, wie sich ihr Verhältnis zueinander geändert hat. Häufig hat das mit Scham zu tun. Es gibt Sechsjährige, die dem Vater beim Gehen helfen, indem dieser die Hand auf den Kopf des Kindes stützt. Es gibt Zehnjährige, die ihrer Mutter beim Einführen eines Katheters helfen. Sabine Metzing-Blau lernte Jugendliche kennen, die kaum die Schule schaffen, weil sie zu Pflegern wurden. „Für die Kinder ist es undenkbar, die Familie im Stich zu lassen. Ein 18-Jähriger sagte mir: ,Ich habe das nicht so gelernt, dass man jemand sitzen lässt und sagt: Mach deinen Scheiss allein. Man macht das nicht. Es ist die Familie.‘“ In Großbritannien fragen Forscher schon seit einer Weile nach dem Leben der Young Carers, nach jungen Pflegern unter 18 Jahren. Nach einer Annahme stehen in Großbritannien 175.000 Kinder und Jugendliche ihren chronisch kranken oder behinderten Eltern im Alltag bei. Sabine Metzing-Blau geht für Deutschland von 225.000 aus. Eine Hochrechnung, in der die 18- bis 30-Jährigen noch gar nicht vorkommen. In einem kleinen Ort nahe Augsburg lebt Karoline. Sie ist heute 28 Jahre alt und konnte noch nicht richtig reden, da hatte ihre Mutter schon einen Schlaganfall. Karoline erklärt ziemlich gut, wie die Krankheit der Mutter ihr Leben

formte. Immer wenn sie überlegt, scheint sie zu lächeln. „Ich war zweieinhalb, da platzte in ihrem Kopf eine Ader. Die Blutung hat das Gehirn stark zerstört. Die ganze Familie hat sich viel um sie gekümmert. Ich hab sie bis in meine Pubertät hinein zum Arzt begleitet und ihr beim Kochen geholfen. Vor allem hat sie Schnitzel, Nudeln und Pizza gekocht. Das gab es jede Woche. Irgendwann bin ich eingeschritten und habe selbst gekocht. Mit 15 wollte ich nicht mehr und bin mehr ausgegangen, was sie wiederum sauer gemacht hat. Sie hat bei anderen geschimpft, was für eine unmögliche Tochter ich sei. (Dazu muss ich sagen, dass die Hirnseite, die sie zum Reden braucht, intakt ist. Sie redet wie ein Wasserfall. Manches sagt sie 100 Mal.) Unser Verhältnis war immer schwierig zu definieren. Eltern sagen normalerweise: ,Jetzt reicht’s‘. Aber so war es nie und so konnte es mit ihr nicht sein. Mein Vater hat immer gearbeitet und meine Brüder und ich konnten machen, was wir wollten. Oma und Opa haben schon mal gesagt, wo es lang geht. Aber als mein Vater abends heimkam, war er froh, uns zu sehen. Er hatte anderes zu tun, als uns für den Ungehorsam zu schimpfen, den er nicht mitbekommen hatte. Irgendwann aber begann er sich abzuwenden. Er suchte Abstand und verbrachte viel Zeit im Wald. Er ist Jäger. Inzwischen wäre der Haushalt fast untergegangen. In dieser Zeit hat es bei mir den Schalter umgelegt und ich habe mir gedacht: ,Es hilft nichts. Jetzt muss ich mithelfen.‘ Das war die Entscheidung.“ Karoline lernt nach dem Schulabschluss Hauswirtschaft, dann Altenpflege, jetzt ist sie Mutter und Hausfrau und lebt ganz oben im großen Haus ihrer Eltern. Im Erd-

geschoss wohnen der Vater und die Mutter, im ersten Stock der Opa, im zweiten Stock Karoline selbst mit ihrem Mann und den beiden Söhnen. Seit Jahren hört sie manchmal minütlich die nie verstummende Stimme ihrer Mutter durch das Haus hallen, die ihren Namen ruft. ,Karo? Karo?‘ Karo folgt der Stimme, zieht ihre Mutter an, kocht für sie, hilft ihr beim Waschen, sie redet mit ihr. Wenn die Mutter nicht schreit, sondern zehnmal in Folge vom Erdgeschoss in den zweiten Stock telefoniert, nimmt Karo zehn Mal ab. Selbst wenn sie gerade ihre Kinder ins Bett bringt. Wenn Karos Mann deswegen grummelt, beschwichtigt sie und sagt den Satz, den sie häufig sagt: ,Sie kann doch nichts dafür.‘ „Das Geheimnis der Pflege ist Geduld“, sagt Karoline. Sie legt gelassen ihre Hände um das Glas Wasser auf dem Tisch vor sich. „Viele haben mir schon geraten, kürzer zu treten. Immer wieder höre ich von Freundinnen den Satz: ‚Wie schaffst du das?‘ Ich weiß, er ist als Kompliment gemeint. Aber was soll ich damit anfangen? Wenn ich von Anfang an gesagt hätte, ich mache das nicht, wäre mein Vater bestimmt nicht böse gewesen. Aber mit meinem Gewissen hätte ich es nicht vereinbaren können. Wenn sie stirbt, möchte ich nicht an ihrem Grab stehen und denken: ,Ich hätte es anders machen sollen.‘ Sie ist meine Mutter. Und sind denn andere Menschen glücklicher, nur weil sie am Wochenende machen können, was sie wollen?“ Die Bundesregierung will, dass möglichst viele Menschen zu Hause bleiben können, wenn sie Pflege brauchen. Vickys Mutter ist jetzt wieder zu Hause und es ist mühsam. Vicky verzichtet auf den ambulanten Pflegedienst (Anzie2009

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hen, Waschen und Füttern kann sie ihre Mutter selbst). Deswegen bekommt sie monatlich nur noch 675 Euro so genanntes Pflegegeld überwiesen. Jene 1470 Euro erhält sie nur, wenn sie davon einen Pflegedienst zahlt. (Deswegen heißen die 1470 Euro nicht Pflegegeld sondern Sachleistung.) Hinzu kommen monatlich 200 Euro Betreuungsgeld und die Rente der Mutter. Die reicht für Essen, Kleidung, Medikamente und Miete und damit genau so weit, dass Vicky für sich und ihre Mutter keine Sozialhilfe beantragen muss. Einmal im Jahr bekommt sie 1470 Euro für den Fall, dass sie in den Urlaub geht und eine Ersatzpflegerin braucht. Allerdings kann Vicky ihre Mutter kaum alleine lassen. Die Mutter ist der Tochter verbunden wie ein Kind. Versuche, sie in eine Tagespflege-Einrichtung zu gewöhnen, schlagen fehl, weil die Mutter meist aufschreit, sobald die Tochter den Raum verlässt. Vicky geht auch nicht mehr aus. Ihr Freundeskreis ist zusammengeschnurrt, seit sie alle Einladungen absagt. „Ich bin isoliert“, sagt sie und es klingt sehr sachlich. Auf die Frage, ob sie nicht nochmal daran gedacht habe, es in einem anderen Pflegeheim zu versuchen, antwortet sie schnell und schroff: „Heim kommt nicht in Frage“. Es klingt wie ein Punkt. Manuel ist seit zehn Jahren Vickys Freund. Sie nennt ihn manchmal ihre „einzige Stütze“, er ist 30 und beendet gerade sein Informatikstudium. Manuels Mutter ist Altenpflegerin. Vielleicht kommt daher seine geklärte Sicht auf Vickys Leben. „Ich verstehe zu 100 Prozent, dass sie ihre Mutter nicht ins Heim bringen will. Ich hätte sie auch nicht dort gelassen. Vicky leistet seitdem Wahnsinniges 26|

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und verzichtet auf Vieles. Ich rede gar nicht von Partymachen, sondern von einer vernünftigen Ausbildung. Ich sage ständig, sie soll doch die Klausuren mitschreiben. Sie meint dann, dass es nicht gehe, dass es alles zuviel werde. Für unsere Beziehung war die Umstellung dafür kein Problem – angesichts der Pflege eines Menschen werden viele Dinge lächerlich, finde ich. Deshalb mag ich darüber gar kein Wort verlieren. Wenn wir uns zurückziehen wollen, machen wir das eben in meiner Wohnung. Die ist Luftlinie 50 Meter entfernt. Montagnachmittag zum Beispiel geht es. Da bleibt die Mutter mittlerweile für drei Stunden in einer Betreuungsgruppe der Kirchengemeinde.“ Manuel überlegt und setzt noch einmal an. „Klar könnte man das alles scheisse finden und traurig, wütend und frustriert zugleich sein. Aber man kann auch versuchen, es anzunehmen.“ Sabine Metzing-Blau traf Jugendliche, die ihren Frust über die Pflege in sich fressen, und wenn sie fragte, wo sich dieser Frust abbaue, sagten manche: ,Nirgendwo.‘ Sie traf allein erziehende Mütter, die fragten: ,Was soll ich sonst machen?‘ Metzing-Blau schrieb aus den Dutzenden von Gesprächen mit Eltern und Kindern und Jugendlichen ihre Doktorarbeit und gründet zurzeit mit der Schwesternschaft des Deutschen Roten Kreuzes in Hamburg etwas, das für Gepflegte und Pflegende vielleicht am nützlichsten ist: eine Beratungsstelle. Damit jene, die zu Hause die Rollen getauscht haben, mitbekommen, dass sie nicht alleine sind.* Gibt es eine moralische Verpflichtung, die eigenen Eltern zu pflegen? Sozialwissenschaftler wie Sabine Metzing-Blau

wollen auf die Frage nichts sagen. Vielleicht gibt es auch keine klare Antwort. Es gibt vielleicht nur persönliche Antworten, die entstehen, wenn jeder für sich sein Gewissen und seine persönliche Situation gegeneinander wiegt. Der Kapuzinerbruder Paulus aus Würzburg redet immer sonntags in einer eigenen Fernsehtalkshow mit seinen Gästen über das, was man im Leben machen und lassen soll. Im Gespräch über die Elternpflege nähert er sich einer möglichen Antwort. „Wir müssen Abschied nehmen von der Vorstellung, was ein gelungenes Leben ist. Ausbildung, Heirat, Kinder, Karriere – der Weg ist in Ordnung. Ein gelungenes Leben kann aber auch bedeuten, die Mutter zu pflegen und auf Tanz und Kino zu verzichten. So kann man auch zu einem wunderbaren Menschen heranreifen. Klar gibt es Lebensgenossen, die sagen: ,Du kannst doch nicht dein Leben opfern.‘ Das ist aber das Verrückte und Gute, dass Menschen so sein können. Man kann fragen: ,Was hast du dann noch vom Leben?‘ Da frage ich: ,Was ist das Leben eigentlich?‘ Es heißt, sich zu engagieren, zu lieben, sich zu opfern. Aber: Niemand zwingt einen dazu!“ Vicky zieht ihre Schuhe an, fährt mit dem Aufzug nach unten und geht aus dem Hochhaus. Sie holt ihre Mutter aus dem Betreuungskreis der Kirchengemeinde. Die Mutter sitzt im Rollstuhl und hat ein rundliches Gesicht, das Fröhlichkeit und Melancholie zur selben Zeit ausdrückt. Vicky fragt, wie es ihr gehe und die Mutter zieht zur Antwort eine Schnute. In der Krankengymnastik übt sie zurzeit das Gehen. Manchmal geht es. Sehr langsam. Trippelschritte.


„Manchmal habe ich Angst, dass ich nie wieder etwas finde“ 04.10.2009 | Text: christina-waechter Fotos: privat

jetzt-Userin rose und ihre Freundin Simone schreiben in ihrem Blog Gesellschaft ist kein Trost über Arbeitslosigkeit, Hoffnung und Angst. Im Interview erzählen sie von der langwierigen Suche nach Arbeit, dem Bloggen und ihren Gefühlen. Simone, Rose, ihr betreibt seit Juni zusammen ein Blog über eure bislang vergebliche Suche nach Arbeit. Wie entsteht so etwas? Rose: Wir haben uns im vergangenen Herbst kennengelernt - bei einem Seminar. Dort wurde man zum Referenten für PR und Unternehmenskommunikation ausgebildet. Man versprach uns -größenwahnsinnig- eine Vermittlungsquote von 80%. Für mich war das aber zunächst nicht so von Bedeutung: ich kam ja gerade „frisch gekündigt“ aus einem Arbeitsverhältnis und dachte mir, ich würde mit meinen zehn Jahren Erfahrungen als freie Journalistin und PR-Beraterin sowieso schnell wieder was finden. Simone: Als wir nach der Weiterbildung wieder in die freie Marktwirtschaft geschubst wurden, haben wir gemerkt, dass man wohl noch so viel tun kann, man aber trotzdem nichts erreicht. Das haben wir mit einiger Wut festgestellt und die Idee mit dem Blog kam wie von selbst. Ist ja jetzt auch nichts wirklich Neues mehr. Wir wollten das öffentlich machen, um zu zeigen, dass uns da ankotzt, weil es ja nicht an uns liegt, sondern da irgendetwas anderes nicht stimmt.

Und woher kommt der Name „Gesellschaft ist kein Trost“? Simone: Wir saßen bei mir Wohnzimmer und wollten direkt lospreschen als wir merkten, dass das Kind einen Namen braucht. Es sollte nicht so negativ klingen a la: Jetzt reicht’s mal! oder so. Rose stand vor meinem Bücherregal und wir probierten uns da so durch. Als wir dann ein Buch mit Shakespeare-Zitaten durchblätterten, gefiel uns das mit „Gesellschaft ist kein Trost“. Hat einfach in dem Moment total gepasst. Ist zwar ein bisschen lang, aber wir hoffen, dass der Name zum Nachdenken anregt. Hilft das Bloggen? Rose: Ich kann für mich persönlich sagen, ja. Es hilft ungemein, Stress und Frust abzubauen. Und es ist ein toller Moment, wenn sich Leute zurück melden und uns schreiben, dass es ihnen ähnlich ergeht. Wir sind nicht alleine. Simone: Man lässt einerseits Dampf ab, andererseits bekommt man dann Feedback von anderen (also doch etwas „Trost“). Außerdem wünscht man sich, dass viele auch mal von den Ärgernissen, die man ständig bei der Arbeitssuche mitmacht erfahren. Wir hätten schon gerne dazu beigetragen, dass sich etwas ändert. Ein frommer Wunsch, aber dennoch… Und hilft das Bloggen auch beim Job finden? Haben Personaler mit euch Kontakt aufgenommen? Rose: Nicht direkt, aber der eine oder andere Nicht-Personaler hat es gelesen und hat Stellenangebote weiter gelei-

tet. Wir gehen ja auch kritisch mit dem Erlebten bei Vorstellungsrunden um - manchmal frage ich mich schon, ob das richtig ist. Aber ich finde, man muss ehrlich sein dürfen. Einen Arbeitgeber, bei dem ich mich komplett verbiegen muss, möchte ich nicht. Ich möchte dort mit 100 Prozent von dem, was ich kann und wie ich bin, arbeiten können. Aber: Die Personaler kennen den Blog. Oder halt meine anderen Texte von jetzt.de. Dank Google ist es nicht im Verborgenen geblieben. Das gilt es dann, geschickt zu „besprechen“ beim Vorstellungsgespräch. Ihr habt beide viel Erfahrung, gute Referenzen, seid jung und eigentlich sollte es jetzt doch endlich los gehen. Tut es aber nicht. Irgendeine Ahnung, was schief gelaufen ist? Rose: Bei mir ist der Wiedereinstieg in das „Seriöse Business“ wohl ein Problem. Ich habe jahrelang für Künstler und Klubs gearbeitet, irgendwie zählt das bei vielen nicht als „richtige Arbeit.“ Ich muss mich dann immer erklären, warum ich jetzt gerne ‘was „Seriöses“ machen will, tagsüber, sozialversichert und so weiter. Das ist schon anstrengend. Viele denken auch, ich kann daher nicht im Team arbeiten – weil ich so vieles als freie Journalistin gemacht habe. Das ärgert mich schon sehr. Simone: Ich habe Studium, Auslandsaufenthalt, Praktika, freie Mitarbeit und Weiterbildung auf mich hinaufgeschaufelt und es klappt dennoch nicht. Was hätte ich noch tun sollen? Was war falsch? Falsches Studium? 2009

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Falsche Praktika? Falsche Weiterbildung? Ich denke, mein Lebenslauf ist ziemlich gut. Ich frage mich bei jeder Absage, was im Lebenslauf der Anderen stehen muss. Vielleicht denken einige, ich sei mit 31 jetzt schon zu alt für ein Volontariat. Ich hatte aber vorher kein Glück eine Stelle zu finden, so bleibt mir nichts anderes übrig, als hierüber den Berufseinstieg zu suchen. Macht auch kein Spaß sich jetzt noch als Anfänger sehen zu müssen, echt nicht. wIhr erlebt ja eigentlich gerade das, wovor so ungefähr jeder Mensch furchtbar Angst hat, der das Ende seiner Ausbildung absehen kann. Wie ist es, da mittendrin zu stecken? Rose: Für mich ist es wie eine Achterbahnfahrt: Ich weiß selber, was ich kann, aber es will gerad’ keiner haben. Egal, wie ich es gerade anstelle. Es gibt Tage, da denke ich „Wow, Du Ausgeburt der Lost Generation, Glückwunsch es ist schlimmer gekommen, als man Dir angedroht hat in jungen Jahren“. Dann gibt es Tage, da bin ich einfach voller Hoffnung. Ich habe ja jetzt gerade einen Job, wenn auch nur ein bis November befristetes Projekt. Ich hoffe, das hilft mir, mich besser zu verkaufen. Es klingt einfach besser, wenn man sich aus einem Job für einen neuen Posten bewirbt. Und ja: Ich habe manchmal tierisch Angst. Angst davor, dass mir das Amt noch mehr Steine in den Weg wirft als schon zuvor. Angst, dass ich nie wieder ‘was finde. Da gibt es schlimme Momente. 28|

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Wie zum Beispiel, die Absagen auf Volontariate. Da wird einem dann gesagt, zehn Jahre Erfahrung reichen nicht für ein Volo. Simone: Zu allererst ist es schlimm. Das Schlimme ist zum einen natürlich die finanzielle Situation. Dass man so knausern muss. Dass man gut ausgebildet jeden Monat zu ARGE rennen muss. Für mich aber wirklich nervig ist festzustellen, dass man so verzichtbar zu sein scheint. Dabei kann ich etwas. In den Bereich, in den ich will (PR/ Presse/ Öffentlichkeitsarbeit/ Kommunikation), bin ich gut, man muss mich nur mal ranlassen. Dieser ganze Nervenkrieg zerrt an einem. Bewerbungen schreiben. Hoffen. Vor und während eines Gespräches pure Aufregung. Dann wieder hoffen. Dann eine Absage. Dabei hatte man ein gutes Gefühl. Ich nutze meine Zeit jetzt aber sinnvoll: ich mache (mal wieder) ein Praktikum und habe so frische Arbeitsproben. Außerdem lerne ich gerade italienisch. Was ist am unerträglichsten an eurer Situation? Rose: Zuviel Zeit. Der Tag ist so lang. Ich sagte immer in der ganz schlimmen Zeit: „Ich habe zuviel Tag!“. Bevor ich das Projekt angenommen habe, in dem ich jetzt gerade arbeite, hatte ich so viel Tag: Ich bin immer morgens um acht aufgestanden – um nicht aus dem Rhythmus zu kommen. Falls der Job der Jobs plötzlich kommt. Selbst wenn man ganz viele nützliche Dinge macht, bleibt zu viel Tag. Ich habe an manchen Tagen bis zu 15 Bewerbungen ge-

schrieben und dann den Rest des Tages Klassiker der Weltliteratur gelesen, Fachbücher gepaukt. Aber trotzdem saß ich dann um drei da und der Tag war immer noch nicht vorbei. Wenn man so wenig Geld hat, weil man in der Zeit ja auf das Geld vom Amt angewiesen ist, kann man ja auch nicht viel anderes machen. Geht ja gar nicht. Simone: Ich finde es äußerst unangenehm auf Menschen zu treffen, die ich lange nicht gesehen habe und die dann fragen: „Und? Was machst du so?“ Das gleiche gilt für die Verwandtschaft. Da fühlt man sich nicht so gut. Und das ewige: „Jaaa, das ist echt schwer zur Zeit, tut mir leid für dich“ will man schon gar nicht hören. Ich würde gerne wissen, warum es einfach nicht klappt. Ich will, dass die Zweifel, die nach jeder Absage wiederkommen, verschwinden. Wovon lebt ihr gerade? Rose: Ich gehöre nun seit ein paar Wochen zu den sogenannten Aufstockern. Ich mache gerade einen Job im Kultureventmanagement und verdiene da halt nicht so viel,


und bekomme noch etwas oben drauf. Aber ich wollte den Job unbedingt – damit ich aus dem Dilemma von zu viel Tag heraus komme. Allerdings kann ich hier nur sagen, das Amt hat mich eher dabei behindert, diesen Job anzunehmen als geholfen. Der Arbeitgeber musste einige Schrauben drehen. Nun arbeite ich als Aushilfe. Ganz dunkles Kapitel, in Sachen Arbeitsamt. Wenig Hilfe mehr Hürden. Ich bekomme nicht mal meine Bewerbungskosten erstattet. Das ist ein einziges Drama. Simone: Hartz IV. Keine schöne Sache. Ich habe mit dem Hochschulteam der ARGE aber noch nie Probleme gehabt. Meine Fallmanager sind zumeist sehr engagiert. Hat euch die Arbeitslosigkeit eigentlich politisiert? Rose: Ich war schon immer sehr politisch und habe schon immer gerne den Kampf der Gerechten geführt, aber die Situation nach dem Seminar zur PR-Beraterin hat es schon verstärkt. Simone: Ich war immer schon politisch interessiert. Schön war als die Redaktion von Spiegel TV auf mich und den

Blog aufmerksam wurde und mich zum Townhall-Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier eingeladen hat. Generell ist das Thema „Arbeitslosigkeit“ im Wahlkampf nur unzureichend behandelt worden. Und was die Rahmenbedingungen für ein Volontariat beispielsweise in der PR-Branche angeht, könnte ich die Wände hochgehen, was da passiert. Stundenlöhne von 2,50 € bei einer 40-Stunden-Woche. Keine geregelte fachliche Ausbildung, alles ganz schlimm. Da muss auch etwas passieren. Was bedeutet der Wahlausgang eigentlich für euch? Habt ihr Befürchtungen oder Hoffnungen? Rose: Ich habe schon ziemliche Angst, dass nun noch weniger geholfen wird. Noch weniger möglich wird. Ich glaube ja auch persönlich nicht daran, dass es nun massenhaft neue Jobs geben wird. Nicht in unserer Branche. Das ist ja das Tragische. Normale Stellen werden gerade mit Praktikanten besetzt und wenn es eine normale Stelle ist, muss man plötzlich 120 Jahre Berufserfahrung haben, studiert und am besten noch ‘ne Ausbildung - aber nicht über 28 sein. Das ist doch total unrealistisch. Setzt sich der elitäre Leistungsgedanke der FDP durch, habe ich einfach Angst, dass Leute, die einfach nur Talent haben und gut sind, keine Chance haben. Der deutsche Arbeitsmarkt ist jetzt schon so hart, selektiv und durchzogen von Diskriminierung, da kann man nur hoffen, dass die schlimmsten Erwartungen nicht wahr werden.

Simone: Ich habe Angst, dass es dem Sozialstaat mächtig an den Kragen geht. Für viele ist das Wort „Sozialstaat“ ja schon fast ein Schimpfwort. Für mich war und ist er eine Errungenschaft, die man bitte nicht mit Füßen tritt. Ich will nicht, dass es nur noch heißt „hop oder top“. Wer nicht ganz oben mitmischt, der ist selber schuld, wenn er ganz unten ankommt. Da ist keine Mitte mehr,.zumindest vermisse ich sie. Es kann nicht nur Hardliner und Loser geben. Ich will nicht, dass der Gedanke der Chancengleichheit an den Rand gedrängt wird. Soll „Gesellschaft ist kein Trost“ weiter bestehen, auch wenn sich eure Situation geändert hat? Rose: Ja, natürlich. Wir kriegen ja andauernd Post mit Erlebnissen von anderen, da ist immer genug da, über das man schreiben kann. Und jetzt stehen uns ja komische Zeiten bevor und da wir auch über Tabu-Themen schreiben wie soziale Ungerechtigkeit und HartzIV wird uns der Stoff wohl nicht ausgehen. Wir werden diese Plattform weiterführen bis ein grundlegendes Umdenken eingesetzt hat - die Plattform sich überflüssig gemacht hat. Simone: Wenn wir einen Job haben ist das natürlich super. Aber, wenn die Verhältnisse dieselben sind ist ja eigentlich keinem geholfen. Das ist oft das Problem: nur weil es einem selbst besser geht, vergisst man viele Probleme. Auch die, die man selber hatte. Das ist Mist. Ich würde mich freuen, wenn wir eine richtige Plattform würden, die was bewegt. 2009

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Ressort

Kultur Das Klumsche Paradoxon

Foto: photocase.com | complize | m. martins

Am Limit - Die Analyse eines gescheiterten Comedian

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Das Klumsche Paradoxon 01.04.2009 | Text: max-scharnigg Illustrationen: dominik-pain

In ihrer vierten Staffel fährt Germany‘s Next Topmodel wieder Rekordquoten ein. Warum eigentlich? Vier Anfälle von Sofa-Philosophie rund um die Laufstege, Modeljobs und „Mädls“ von Pro Sieben. Erstens: Germany‘s Next Topmodel ist das beste Castingformat Die Zusammensetzung der S-Bahn-Passagiere ist kein schlechtes Ablesegerät, für das, was die Mehrheit so macht. Wenn man jeden Tag fährt, erkennt man bald Abweichungen in der grundsätzlich homogenen Masse der Mitfahrer. An Freitagabenden reiht sich zum Beispiel schon ab halb acht Uhr eine unübersehbare Anzahl an Feierbereiten ein, deren erwartungsvolle Lautstärke die normalmüde Heimfahrergruppe aufmischt. Donnerstags gibt es ähnliche Häufchen Auffälliger. Sie sind oft im Schüleralter, gut angezogen im Sinne von flott und tragen einen Beutel mit sich, in dem etwas ist, das man schon fast für ausgestorben hielt: Knabberzeug. Das sind die Topmodel-Grüppchen. Denn in der vierten Staffel hat sich die Show längst zu einem Gruppenerlebnis gemausert – was unbedingt eine Art Ritterschlag für Unterhaltungsformate ist. Sonst verabredet man sich zum Fernsehen ja nur, wenn irgendwer im Halbfinale steht oder es sich um Dinner For One handelt und man danach gemeinsam den Nachbarbalkon beböllert. Dass man sich nun auch zum Topmodeln verabredet, ob real vor einem Fernseher, in den Foren der Communities oder wenigstens am Tag danach gewissen-

hafte Nachbereitung an Bushaltestellen oder Kantinentischen betreibt, bedeutet erstmal, dass das Format die Neugier breiter Zuschauermassen weiterhin auf Zug hält. Damit schafft es mühelos etwas, um das ein Konkurrent wie DSDS in seinen Sequels längst mehr kämpfen muss.

Zum anderen funktioniert das Gruppenerlebnis Heidi Klum auch deshalb, weil es die Ironiegrenzen aushebelt. Mit einem DSDS mit Bohlen, mit der latenten RTL-Lust aufs Prollige und mit der trashigen Überinszenierung der Singerei konnte man sich als mündiger Zuschauer von Anfang an schlecht arrangieren – einvernehmliche Grüppchenbildung vor dem Fernseher war also schwierig. Dazu kommt, dass die Singshow verlangt, dass man sich selbst und relativ früh für einen Kandidaten und damit gegen die anderen positioniert – auch nicht die beste Grundlage für einen gemütlichen Abend. Das Klum-Format setzt dagegen vielmehr auf eine Einheit aller gezeigten Protagonisten, für oder gegen die sich die Einheit der Zuschauer einigermaßen problemlos formieren kann. Nicht nur, dass es auf verknüpfende Elemente wie Zuschauer-Voting, Saalpublikum und erdende Homestories der Kandidaten verzichtet; es bricht auch nicht voreilig seine eigene Würde mit witzelnden Moderatoren oder eingespielten Panne-Geräuschen. Germany‘s next Topmodel bleibt immer auf der gleichen Ebene und wirkt dabei fast so, als würde es auch ohne Zuschauer stattfinden – ähnlich wie ein Fußballspiel. Mit dieser Illusion wird das Gucken viel einfacher: Es erfordert keine direkte Stellungnahme des Zuschauers, stattdessen nimmt er als Gastseher an einem festen Ablauf teil und pickt sich ganz nach Gusto dabei seine Amüsements heraus. Seinen Freunden vor dem Fernseher bleibt er auch während der Show immer näher als allen Gezeigten, das Fan-Sein überwiegt nie und eine gewisse Distanz will die Topmodel-Show gar nicht überschreiten. 2009

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Zweitens: Hier ist der Kunde noch König Das Modeln an sich ist ein seltsam undefinierter Zeitvertreib. Es ist nur klar, dass es dabei irgendwie um gutes Aussehen geht. Da sich eine vielwöchige Show aber nicht immer nur um Kinnpartien und Frisuren drehen kann, suggerieren Heidi Klum und ihre wechselnden Experten von Beginn an, dass Modeln ein Art Fachwissen mindestens ebenso voraussetzt, wie ein perfektes Gesicht. Ziemlich lange halten sie sogar den Ulk aufrecht, dass jemand ohne perfektes Gesicht es trotzdem in die Topliga schaffen könnte, wenn er nur brav alle Regeln befolgte. Der einstige Traumberuf jedenfalls, in dem Auserwählten viel Geld nur für ihr schaumgeborenes Dasein gezahlt wird, mutierte in der Interpretation der Show zu einem Lehrberuf, in dem die Kandidatinnen gewissermaßen Azubis sind. Das handwerkliche Wissen, das ihnen von Visagisten, Benimm-Experten und vor allem von der Alma Mater Klum persönlich beigebracht wird, wird natürlich und nebenbei auch von den Zuschauern übernommen. Dies führt dazu, dass heute jeder am Fernseher Expertisen über den richtigen Laufstil abgeben kann oder weiß, dass man zu einem Casting sein Lookbook mitzubringen hat. Keine Regel aber wird in diesem künstlichen Regelwerk des Modelns an Kandidaten und Zuschauer derart oft und prägnant weitergegeben, wie die Regel vom Kunden. Sie besagt schlicht, dass der Kunde, der das Model bucht, alles verlangen kann und alles bekommen muss. „Es kann 32|

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sein, dass der Kunde…“ so fangen viele Begründungen und Standpauken an. Wer, wie unter Geschäftspartnern sonst üblich, als Model seinem Kunden auf Augenhöhe gegenübertreten möchte, hat das Prinzip nicht verstanden. Wer sich gar weigert, seine Haare radikal zu ändern, in Unterwäsche an Seilen durch die Luft geschwenkt oder mit Schlamm beworfen zu werden, stellt das ganze System in Frage und muss sich empörte Kritik gefallen lassen. Das Sendekonzept, das jede Woche ein derartiges Opfer vorsieht, ist letztlich nichts anderes, als eine Form der nett organisierten Erniedrigung und die „Model-Lehre“ nicht weit von der Brechung, die Soldaten durchlaufen um das System des Befehls zu ver-

innerlichen. Alles für den Job – diese steinzeitliche These bekommt das Model von Morgen ins Seelchen gestanzt. Seltsam unzeitgemäß wirkt die gepredigte Kundenhörigkeit aber nicht nur theoretisch, sondern vor allem, wenn die Kandidatinnen bei ihren ersten richtigen „Jobs“ auf eben jene ominösen „Kunden“ treffen. Die kommen nicht nur überwiegend von vernachlässigbaren Firmen, sondern haben in ihrem Auftreten selten etwas vom brachialen Kundendiktator, der allen Kindern eingeredet wurde. Meistens sind es zwei Abgesandte eines mittelständischen, schwäbischen Unternehmens, die sich krampfhaft um Weltläufigkeit bemühen – und weit davon entfernt sind, sich despotisch zu gebärden. Wozu also das voreiliges Einschwören der Mädchen auf ein baldiges Dasein als willenloses Schmachtvieh? Ganz einfach: Es ist gar nicht der Kunde, der immer grenzenlose Ehrfurcht erwartet, sondern Heidi Klum. Drittens: Die „Mädls“ sind die anderen Alphamädchen Von Staffel zu Staffel wurde es auffälliger, mittlerweile fällt es aber niemandem mehr auf, sondern alle sagen es ständig: Mädls. Diese Wort hallt aus jeder Minuten der Show, Klum benutzt es als „unsere Mädls“, die Mädls selber benutzen es untereinander oft und gerne auch doppelt, etwa „So viele Mädls hier sind ja total hübsche Mädls“, die angeheuerten Starfotografen sprechen zwar ausschließlich newyorkerisch, pressen aber als einziges deutsches Wort etwas das wie „the Madls“ klingt über die Lippen, wenn sie


sich erschöpft über die Qualität der Geknipsten äußern müssen. Mädls, das hat im Laufe dieser und auch anderer Castingshows einen ganz neuen Tonfall angenommen, es ist beinahe zu einem neuen Personalpronomen mutiert: Ich, du, ersiees, wir, ihr und Mädls. In den ersten Staffeln, das meint zumindest die Erinnerung, wurde im gleichen Tonfall immer eher noch von „Mädchen“ gesprochen, mit der aktuellen Dauer-Verkürzung auf Mädls hat der Begriff aber noch viel mehr von einer tollen Befindlichkeit. Ein Superwort, eigentlich. Mädls suggeriert gleichzeitig eine gesunde Frechheit und Jugend, eine weibliche Solidarität, eine schwesterliche Gleichheit, die alle Mädls als Solidargemeinschaft eint, etwas Lockiges und etwas Reines und dabei knallt doch in dem Wort auch eine Ahnung an das mit, was früher „Girlpower“ genannt wurde. Gleichzeitig steht es natürlich auch für die Ent-Individualisierung, die das ganze Format vorantreibt, nicht zuletzt, indem es die Mädchen dauernd verkleidet, umstylt und durch die Welt schickt. Aber: Alle Mädls wollen schließlich gerne Topmodel sein, von dieser Annahme wird die Show seit jeher befeuert. Alle Mädls wollen in die nächste Runde, die Mädls sind aufgeregt oder die Mädls sind müde, die Mädls lieben ihren Shoppingausflug. Nie hatte es ein Format leichter, seine Protagonisten so simpel als Einheit zu präsentieren und dabei immer gleich auch das ganze Geschlecht anzusprechen. Denn die Gruppe der Mädls setzt sich natürlich vor dem Fernseher fort und zieht sich ziemlich weit in die Altersschichten hinein – das Obermädl Klum ist schließlich 36.

Viertens: Heidi Klum wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung Rätselhaft sind die Launen der Klum. Ihre Rollen sind lange nicht so einheitlich wie etwa die eines Dieter Bohlen. Sie gibt sich in manchen O-Tönen streng und professionell, dann wieder agiert sie schwesterlich, lustig oder betont volksnah, besonders nervtötend ist die von ihr geliebte Rolle als ausgeflipptes Huhn, dem nichts peinlich ist. Manchmal mimt sie die dreifache Mutter und Sittenwächterin, die Nacktfotos für B-Magazine verurteilt, dann wieder schüttelt sie über Prüdheit den Kopf und fordert die Mädls beim Kapitel „Bodypaint“ zu offensiver Freizügigkeit auf. Kurios wird es, wenn sie den Rhetorik- oder gar Klug-Modus wählt, sich in unsinnige Metaphern versteigt und die Mädchen für doof erklärt, wenn die ihr nicht folgen können. Über all diesen Facetten aber stehen die übermenschliche Lebensfreude und unendliche Vitalität, die der Klum aus jeder Pore spritzen. Dank dieser abrufbaren Rollen übertrumpft sie jede der Kandidatinnen, die zur Endabnahme bei ihr vortreten und sich niemals sicher sein können, wem sie dort begegnen. Die Überlegenheit der Figur Heidi Klum liegt also nicht nur in der Anordnung der Show, sondern eben auch in dieser geschickten Unwägbarkeit. Ist ein Mädchen besonders schüchtern macht die Klum den Hanswurst und grellt minutenlang in die Kamera, ist ein Mädchen selbstbewusst und frech, wird die Klum zur vermeintlich moralischen Respektperson, will eines keinen Sport

machen, macht die Klum sofort zehn Liegestützen und hat ein Mädchen deutlich mehr Grips flüchtet sich Heidi Klum in das Topmodel Heidi Klum und damit in den Panzer der Prominenz. Die allgemein akzeptierte Ungerechtigkeit des Chamäleons Klum aber ist es, bei allen anderen ihre eigene Vielseitigkeit einzufordern. Sie setzt ständig voraus, dass die Mädchen sich mit ihr auf den Boden werfen und Luftgitarre spielen und ebenso bereitwillig auf einen Reigen widersprüchlicher Eigenschaften zurückgreifen, wie sie selber. Sollte eine Kandidatin dabei tatsächlich nach dem Grund fragen, zitiert die vielgereiste Klum ohne Federlesen aus ihrem reichen Erfahrungsschatz, der all das Klum-Spezifische angeblich nötig macht – schließlich ist sie ja erwiesenermaßen Topmodel. Dabei muss man kein intimer Kenner der Szene sein, um zu ahnen, dass die Zahl der Jobs, bei denen Mädchen sich in matschiges Essen stürzen oder aus dem Stand eine Brüllszene hinlegen sollen, eher gering sein dürfte. Die Einzige, die für so etwas ständig gebucht wird ist Heidi Klum – aber erst, seit sie ihr Talent dazu in der Show fortlaufend demonstriert. Die Show ist damit eigentlich weniger Sprungbrett für den Nachwuchs, sondern vielmehr eine Bühne von Heidi Klum, auf der sie den schmerzlosen Übergang vom alternden Model hin zu einem alterslosen Faktotum vollzieht. Sie wird für den Werbespot als ausflippende Luftgitarre gebucht, weil sie zuvor schon allen versichert hat, dass so was jederzeit vorkommen kann und dass sie, Heidi Klum, auch perfekt darauf vorbereitet ist. 2009

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Am Limit 29.10.2009 | Text: peter-wagner Foto:dpa

Oliver Pocher hat ein Problem: Er sieht nicht ein, was er nicht kann. Die Analyse eines gescheiterten Comedian. Vor vier Wochen knipsen Oliver Pochers Mitarbeiter in einem ehemaligen Kölner Kino das Licht an und filmen den 31-Jährigen, wie er sich an der Premiere seiner Sat 1 Late Night Show versucht. Am Abend darauf knipsen die Menschen in Freiburg bei Wetten, dass …? ihr Lachen aus, als Pocher eine Stand Up-Einlage gibt. Zur selben Zeit strahlt RTL Pochers Liveprogramm „Gefährliches Halbwissen“ aus. Drei Sender in zwei Tagen, besser geht es nicht und eigentlich möchte man Oliver Pocher endlich für sein Erreichtes loben. Aber warum fällt das so schwer? Sollte Oliver Pocher einmal in die Verlegenheit kommen, eine Bewerbung schreiben zu müssen, dürfte er Ehrgeiz, Zielstrebigkeit und Belastungsfähigkeit unter der Rubrik Soft Skills notieren. Sein erster Auftritt ist aus der Talkshow von Bärbel Schäfer verbürgt. „Heute bei Bärbel: Du bist nicht witzig“ lautet der Sendungstitel. Der YoutubeSchnipsel wird ab 1.35 min interessant und ist seltsam geschnitten, vielleicht auch zu Ungunsten von Pocher. Aber man sieht, dass er schon damals so hantiert wie heute. Er geht und rennt fast auf sein Publikum zu. Er scheint kein Lampenfieber zu haben. Er scheint sich einfach nur darüber zu freuen, dass er vor der Kamera steht. Schon damals lacht er seinen Witzen hinterher und die maue 34|

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Publikumsreaktion schert ihn nicht. Der Auftritt ist gut elf Jahre her - Oliver Pocher hat die Nullerjahre im Fernsehen verbracht. Details über sein Leben vor dem Fernsehen sind schon ziemlich bekannt. Seine Eltern fanden irgendwann die Zeugen Jehovas gut und der Sohn musste sie auch gut finden. Er missionierte und schuf so eine kleine Legende, die für Pocher ein Schutzschild wurde: Stand UpComedy-Anfänger müssen mit Erniedrigung umgehen können. Wer auf die Bühne kommt, weil er glaubt, er könne unterhalten, der muss auch unterhalten. Schafft er es nicht, wird ihm der gesenkte Daumen gezeigt. Pocher behauptet, er könne mit dieser Form der Abneigung ganz besonders gut umgehen. Schließlich seien ihm in seiner Eigenschaft als Missionar schon einige Türen zugeknallt worden. Nach dem sehr durchwachsenen Bärbel Schäfer-Auftritt sagt er ganz unbeirrt: „Lass mich bei Harald Schmidt auftreten und ich sag dir: Die Nummer kommt gut.“ Mittlerweile war Pocher bei Harald Schmidt. Jetzt hat er sogar eine eigene Show - und seinen Zenit überschritten. Oliver Pocher tauchte in den vergangenen Jahren vor der Werbung, in der Werbung und nach der Werbung auf, sein Lebenslauf ist garniert mit bonbonfarbenen Namen wie Viva, Mediamarkt und Quatsch Comedy Club. Er hat das Prinzip „Straßenwitz“ perfektioniert. Vielleicht ist er sogar ein Meister darin, fremde Menschen und gleichzeitig sich selbst zu überraschen. In guten Stunden konnte man Pocher wirklich als wie auch immer geartete „Hoffnung“ bezeichnen. Das Lied zur Fußball-WM 2006 namens „Schwarz und Weiss“ konkurrierte mit „54, 74, 90, 2006“ von den Sportfreunden Stiller um den Titel „deutsche WM-Hmyne“. Rudi Carrell hatte Pocher mal angerufen und gelobt. Carrell war ein Witz-Arbeiter, ein Humor-Perfektionist. Er dach-

te vermutlich, wenn einer so hart arbeitet wie Pocher, dann muss aus dem was werden. Nur scheint es heute so, als habe Pocher ganz viel gearbeitet, aber nicht so sehr an sich. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb Pocher einmal nach einer Sendung diesen Satz ins Zeugnis: „Pocher kann nicht mit Menschen umgehen, er kann sich nur über sie lustig machen“. Nun kann auch Rotzigkeit ein Softskill sein. Zumindest wurde Pocher deswegen in die ARD geladen. Harald Schmidt durfte vor der ersten Schmidt & Pocher-Sendung einen sehr selbstbewussten Menschen begrüßen, der dem Spiegel dieses Zitat anvertraute: „Ich frage mich: Hört das irgendwann auf? Kommt der Zeitpunkt, wo das alles stoppt? Oder wirst du größenwahnsinnig und denkst: Wenn alles läuft wie geschnitten Brot, dann versuchst du es jetzt auch noch in Amerika?“ Viele Schmidt & Pocher-Sendungen waren dann fad, einige waren gut. Dann trennte sich Schmidt und Pocher zog vermeintlich geadelt davon. Er sah sich selbst nun als tauglich für alles, schließlich hatte er die Zeit neben Harald Schmidt ohne größere Wunden überstanden. Selbst wenn der Meister ihn gezüchtigt hatte: Pocher wusste ja, wie man einsteckt und wieder aufsteht. Er wusste auch, dass sein Ehrgeiz intakt war und wahrscheinlich wird ihm das bald zum Verhängnis. Das erste Oktoberwochenende war nämlich so etwas wie eine Meisterprüfung. Er hat sie nicht bestanden. Comedians können einen schlechten Abend haben. Und sicher ist es kein Spaß, vor dem Wetten, dass …?-Publikum zu bestehen. Doch schon 24 Stunden vor dem Auftritt bei Thomas Gottschalk moderierte Oliver Pocher die traurige Kopie einer Late Night-Show. Er verwaltete seine neue Sendung und setzte seinen Vater in die erste Reihe, um einen Sidekick zu haben für die Momente, in denen ihm die Luft ausging. Sie ging ihm oft aus. Als Johannes

B. Kerner zu Gast war. Auch als Shakira zu Gast war, mit der er schon in den ersten 60 Sekunden verzweifelt eine Ebene suchte. In manchen Momenten tut es weh, Pocher jetzt zuzusehen. Es scheint, als könne er den neuen Rahmen nicht füllen, den er sich vors Gesicht hält. Er soll jetzt den Menschenfänger geben, obwohl sein Witz eigentlich lieber Richtung Menschenverachtung tänzelt. Die Stand Up-Nummer zu Show-Beginn, die Band, die Gäste, der Vater - Pocher wirkt in diesem Arrangement so, als sei der Honk aus den sketchigen Einspielfilmen aus Versehen auf den Chefsessel gesetzt worden. Vielleicht hat er vergessen, sich weiterzuentwickeln. Womöglich ist er einfach das kecke Aufstehmännchen mit dem guten Straßenwitz geblieben, das sich aber zu fein war, so an sich zu arbeiten, dass das Ergebnis auch heute noch Rudi Carrell gefallen würde. Unter einem Video auf Youtube steht: „Ich meine: Richtig lustig sein, viel Talent haben und damit Erfolg haben können wohl viele. Mit begrenztem Humor so viel zu erreichen ist viel beeindruckender!“ Und unter die Sendungskritik auf welt.de schreibt der User Witzbold einen wohlmeinenden aber klaren Rat, dem man voerst nichts hinzufügen muss: Als der Pocher das erste Mal ins Fernsehn kam, fand ich den nicht lustig! Dann hat er sich ein wenig entwickelt und man konnte sagen, ja er beginnt jetzt lustig zu werden. Doch bevor er ein Comedian wurde, ist er bereits wieder dabei abzusteigen. Ich kann leider nicht mehr über seinen Humor lachen und die letzten Shows in denen er aufgetreten ist haben mir gezeigt, es lacht keiner mehr über die „Witze“. Oli, lass es lieber und kümmere dich um deine künftige Familie. In 2 oder 3 Jahren kannst du es dann nochmal versuchen... aber bitte besser vorbereitet als jetzt. 2009

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Ressort

Technik Bist das du? Die Typologie der Kommentarschreiber

Foto: photocase.com | complize | m. martins

Fr채ulein Fies 25 Fakten 체ber Tetris - die Fakten zum Geburtstag des Steinchenspiels

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Bist das du? Die Typologie der Kommentarschreiber 20.08.2009 | Text: fabian-fuchs Illustrationen: katharina-bitzl

Seit im Internet geschrieben wird, wird auch kommentiert. Das freut die Autoren und entlüftet die Leser. Aber je länger diese Web-Sache geht, desto häufiger trifft man auf die immer gleichen Typen von Kommentarschreibern - höchste Zeit für einen kleinen Katalog des Internet-Publikums.

Der Unkritische Das schreibt er: „Supi!!!!!!.“ Entspricht in der Schulklasse: Dem Typen, der sich auch in der Stunde mit dem Vertretungslehrer eifrig meldet. Erkenntnis beim Autor: Hey schau, ich bin möglicherweise supi! Vielleicht ist die ganze Welt aber sowieso supi und ich bin deswegen nur Durchschnitt.

Der Schwafler Das schreibt er: „Interessantes Thema, hatte mal ein ähnliches Erlebnis, als ich vor vier Jahren Austausch in Spanien gemacht habe, hab‘ damals zwar nicht inner WG gewohnt, sondern bei einem Bekannten von meinen Vater, aber das Haus war so . Sind hier eigentlich Leute unterwegs die zu der Zeit auch in Spanien waren? Na, Egal. Jedenfallls... Entspricht in der Schulklasse: Dem Typen, der versucht sich als Nichtraucher in der Raucherecke zu etablieren, indem er Witze über Nichtraucher macht. Erkenntnis beim Autor: Ich hätte doch noch mehr schreiben sollen, der Leser ist offenbar nicht ausgelastet.

können, amüsiert, das kotzt mich echt an. Schon mal überlegt, dass es auch andere Schicksale gibt?“ Entspricht in der Schulklasse: Dem Mädchen, das jeden Monat ein Referat über die Probleme der Ureinwohner am Beispiel der Inuit halten möchte. Und die sich bei Hitzefrei Sorgen darüber macht, ob die Klasse noch genug Zeit für die Vorbereitung auf die nächste Schulaufgabe hat. Erkenntnis beim Autor: Ich bin ein schlechter Mensch, evtl. sogar der schlechteste. Wieso habe ich dieses und jenes nicht bedacht? Habe ich womöglich keine gute Kinderstube? Ach doch, habe ich. Und dieses und jenes hat ja mit meinem Text eigentlich gar nix zu tun.

Der Nichtleser

Die Ernste Das schreibt sie: „Sorry, vielleicht ist mir die tiefere Ironie entgangen, aber auch wenn: Ich kann darüber wirklich nicht lachen. Wie man sich hier auf Kosten von Schwächeren, die sich vielleicht nicht so gut artikulieren

Das schreibt er: „Hab’ jetzt den Artikel gar nicht gelesen, bin auch in der Thematik nicht wirklich bewandert, muss aber trotzdem was loswerden: Warum sagen hier in Baden-Württemberg eigentlich alle der Radio und nicht das Radio?“ Entspricht in der Schulklasse: Dem Typen, der neben dir im Deutsch-Leistungskurs sitzt, weil er Deutsch fließend spricht. Erkenntnis beim Autor: Für wen schreib’ den ganzen Mist eigentlich auf? Doch nicht für mich. Da würde es ja reichen, wenn ich mir Gedanken mache. 2009

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Der Gemeine Das schreibt er: „Setzen Sechs! Ich hoffe diesen so genannten Artikel hat ein Praktikant verfasst. Wenn dafür auch noch jemand Geld bekommen hätte, würde ich echt das grobe Kotzen kriegen.“ Entspricht in der Schulklasse: Dem Typen, der dir vor dem Bus auflauert, deinen Schulranzen in den Altglascontainer quetscht, deine Schuhe im Klo versenkt und dir nebenbei Nackenstöße versetzt. Aus Spaß, wie er sagt. Erkenntnis beim Autor: Kurze Erwägung diesen ganzen Kram mit Leben und Atmen nicht mehr mitzumachen. Später Praktikanten zusammenfalten und Säuferschuhe anziehen.

Der Ortograph eines Tages einfach mit dem Rücken zur Klasse hinsetzt und danach für zwei Monate krankgeschrieben ist. Erkenntnis beim Autor: Menno, jetzt vermiese ich den Menschen schon mit ein paar harmlosen Sätzen das ganze Leben. Typisch ich, meine Ex hatte doch recht. Vielleicht sollte ich Texter für ein Inkassobüro werden.

Das schreibt er: „„Dass“ in der zehnten Zeile von unten muss „das“ sein. Und mit Nachtischlampe ist wohl die Nachttischlampe gemeint, schätze ich mal? Und könnt ihr bitte mal die Kommaregeln lernen oder jemanden einstellen, der das kann. Danke. „ Entspricht in der Schulklasse: Dem Banknachbarn, der dich nicht abschreiben lässt, aber hinterher bereitwillig die richtigen Lösungen in der Klausur an die Tafel schreibt. Erkenntnis beim Autor: Kleinkarierter Spießer, Hausmeister! Äh, schreibt man Spießer überhaupt mit scharfem s?

Der Besserwisser Die Liebe

Der Misanthrop Das schreibt er: “Ist das euer Ernst? Das wird immer schlimmer, hier, alles, die Texte, Fotos, Überschriften. Geht total bergab mit der deutschen Medienlandschaft. Mir reichts. Ich bin weg.“ Entspricht in der Schulklasse: Dem Lehrer, der sich 38|

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Das schreibt sie: „Hab’ ich gerne gelesen. Guter Artikel. Sternchen dafür! Und bitte noch viele weitere Texte.“ Entspricht in der Schulklasse: Dem netten Mädchen, das alle tröstet, die eine schlechte Note haben und das trotzdem irgendwie immer alleine nach Hause gehen muss. Erkenntnis beim Autor: Schreibt die das nicht immer? Die schreibt das immer!

Das schreibt er:“Sorry, aber über dieses Thema habe ich im NME schon vor einem Jahr gelesen. Mal wieder typisch, dass ihr die Letzten seid. Und wenn man ganz genau ist, dann haben sie erst vier Alben rausgebracht, das eine war nur eine EP.“ Entspricht in der Schulklasse: Deinem Nachhilfelehrer, der mit dir noch mal die Fehler der letzten Mathe-Ex durchgehen will, damit du für das nächste Mal gewappnet bist. Erkenntnis beim Autor: Nerd, für dich schreibe ich eh nicht. Und wo ist eigentlich der aktuelle NME?


Fräulein Fies 22.02.2009 | Text: christina-waechter Illustration: katharina-bitzl

Im Internet mutieren viele Frauen zu Lästermäulern - und festigen damit alte Rollenbilder Bis vor einem Jahr, bevor die Serverkosten angesichts des großen Zuspruchs zu hoch wurden, führte die Bloggerin Nikol Lohr auf ihrer Website „Disgruntled Housewife“ die „Dicklist“. Eine Liste von Tausenden von Männern, die sich in den Augen ihrer Exfreundinnen als „Dicks“, als „Arschlöcher“ qualifiziert hatten. Die Liste war ein Pranger: Die vermeintlichen „Vergehen“ der Männer waren säuberlich aufgereiht und unter anderem mit Wohnort und Name versehen. Wer die „Dicklist“ zur Hand hatte, konnte problemlos nach üblen männlichen Exemplaren in seiner Umgebung forschen und wurde meist auch fündig - so ausführlich war die Liste. In das Vakuum, das nach dem Ende der „Dicklist“ im Internet offenbar herrschte, ist vor einigen Wochen eine neue Website gestoßen, die in der Blogosphäre für große Heiterkeit sorgt. Von Mailbox zu Mailbox wird der Link geschickt, meist mit der Betreffzeile „wirklich lustig!!!“. Die neue „Dicklist“ heißt „I Bang The Worst Dudes (Sorry Mom)“ und funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip: Junge Frauen schicken Fotos ihrer angeblich schlimmsten Bettgenossen ein, die dann, mit einem schwarzen Verbrecherbalken versehen, veröffentlicht werden. Hinzu kommen Kurzbeschreibungen und es ist durchaus lustig zu lesen, wenn da von selbstverliebten Gockeln berichtet wird,

die sich im Bett daneben benommen haben. Mal hat sich einer aufgrund seiner Körperbehaarung disqualifiziert, mal hat er es gewagt, nach einer gemeinsam verbrachten Nacht um ein zweites Treffen zu bitten. Das Verhalten der ausgestellten Männer ist also in den seltensten Fällen tatsächlich verachtenswert. Klar, sichert die Erfinderin von „I Bang ...“ zu, die übrigens anonym bleiben möchte: Wenn sich einer der „Worst Dudes“ beschwere, dann werde sein Bild aus dem Netz genommen. Aber das komme fast nie vor. Bisher habe sie auch nur eine verärgerte Mail von einem der Opfer bekommen. Und all ihre Freundinnen fänden die Seite so unfassbar lustig, dass sie gleich dutzendfach ihre eigenen peinlichen One-Night-Stands eingeschickt hätten. Ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Opfern hat die Macherin der Homepage nicht, ebenso wenig wie die Frauen, die ihre Exfreunde der Lächerlichkeit preisgeben. Der enorme Erfolg der Website sagt vor allem eines: Frauen benehmen sich im Internet häufig ziemlich provozierend und finden das kein bisschen problematisch, sondern verkaufen ihre Rüpel-Attitüde mitunter gar als neuartige feministische Haltung. Klar ist auch unser Verhalten im Netz geschlechterspezifisch geprägt. Untersuchungen des unterschiedlichen Webnutzungsverhaltens von Frauen und Männern haben erwiesen, dass sich die stereotypen Unterschiede im Netz erstaunlicherweise eher manifestieren, denn verwischen. 2009

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So surfen Männer eher fokussiert auf Ergebnisse hin, während Frauen die Kommunikation und die Festigung emotionaler Bindungen sehr viel wichtiger sind. Auch eine Studie von Medienwissenschaftlern der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg zur „Selbstrepräsentation in Web-basierten sozialen Netzwerken“, die im Januar dieses Jahres veröffentlicht wurde, kam zu diesem Ergebnis. Auch dort zeigt sich, dass Frauen Websites wie StudiVZ oder Facebook in erster Linie zur Kommunikation mit dem schon vor der Anmeldung existierenden Bekanntenkreis nutzen. Websites, die explizit für Frauen konzipiert sind, tragen diesen Geschlechterunterschieden Rechnung. Eine der erfolgreichsten Seiten-Neugründungen der vergangenen beiden Jahre ist jezebel.com, das aus dem New Yorker Medienunternehmen „Gawker“ hervorgegangen ist. Junge berufstätige Frauen sollen auf „jezebel.com“ auf sie zugeschnittene Themen finden: Politische Meldungen, die mit ihrem Leben zu tun haben, Hintergrundberichte aus der Modebranche und, ja, auch Klatsch. All das aber mit Niveau und einer feministischen Grundhaltung. Das klingt gut und funktionierte in den ersten Monaten. Mittlerweile aber produzieren die Redakteurinnen kaum mehr eigene Inhalte. Sie beschränken sich darauf, Klatschgeschichten und andere Meldungen zusammenzufassen und hin und wieder Bilder von Promis oder niedlichen Tieren zu posten. Auch das ist noch mit einer gewissen ironischen Grundhaltung versehen, ändert aber nichts 40|

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daran, dass diese Seite, die als eine große Hoffnung der weiblichen Netzcommunity gehandelt wurde, mittlerweile den Websites frappierend ähnelt, gegen die sie damals angetreten war. In Deutschland sieht es nicht anders aus. Frauen bewegen sich auch hierzulande in abgesteckten Claims und verbringen ihre Zeit im Netz vor allem damit, sich auszutauschen. Und dieser Austausch kann auch auf Deutsch sehr schnell sehr schroffe Formen annehmen. Style-Blogs, die zu den beliebtesten und erfolgreichsten Blogs im Netz gehören, haben zum Großteil weibliche Fans und Leser. Und die holen sich nicht unbedingt Modetipps von den dort abgebildeten Leuten, sondern arbeiten sich besonders gerne in den Kommentaren an den gezeigten Menschen ab. Die Basher sind in der Mehrzahl weiblich. So kommentieren die User in einem willkürlich gewählten deutschen Styleblog das Foto eines farbenfroh gewandeten Pärchens: „Sieht scheiße aus. Wer hat diese Farbkombi gewählt?!“ - „Hackfresse?! Von mir aus Mut zur Farbe, aber bitte geschmackvoll.“ - „Ich finde dass er mit seinen Beinen bzw. Fußballerwaden definitiv KEINE Röhrenjeans tragen sollte.“ - „Also wenn man sich so anzieht muss man sich Kritik anhören müssen. Schrecklich!“ - „Haha, zwei neue Kandidaten für die Schublade ,Wir versuchen krampfhaft individuell zu sein‘„. Dieser raue Ton, der im Netz herrscht, wird von einigen jungen Frauen als positive feministische Entwicklung

verkauft. Als würde sich etwas im Geschlechterverhältnis ändern, wenn sie verbal nur genauso vom Leder ziehen, wie das bisher eher Männern zugeschrieben wurde. Diese kindische Attitüde als feministische Errungenschaft zu preisen, ist nicht nur ärgerlich, sondern vor allem auch falsch. Denn junge Frauen scheinen im Internet gerne mal all die Smartheit und Intelligenz zu verlieren, die sie im wirklichen Leben ausmacht. Ausgerechnet im Netz kehren sie verstärkt zu einer vergangen geglaubten Schulhofmentalität zurück und versichern sich ihrer eigenen Identität, indem sie sich von anderen durch Lästereien und verbale Hiebe abgrenzen. Offensichtlich verstärkt das Internet ausgerechnet die stereotypen Eigenschaften, die besonders unangenehm sind. Aus zivilisierten Frauen werden mitunter unangenehm zickige Avatare, die sich über die sexuellen Präferenzen ihrer Exfreunde in aller Öffentlichkeit lustig machen und sich dabei des Beifalls der ganzen Community sicher sein können. Die Rache der Männer an ihren ehemaligen Liebhaberinnen hat übrigens momentan nur ein Ventil: Auf Schmuddelseiten wie Ex Girlfriend Revenge Pics stellen Männer Nacktfotos ihrer Exfreundinnen aus. Das ist noch ein bisschen schlimmer als „Worst Dude“, wird aber immerhin nicht als witzigste Seite seit Erfindung des Internets gefeiert, sondern als das gesehen, was es ist: eine armselige Aktion enttäuschter Liebhaber, die ihre Armseligkeit durch solche Aktionen zementieren.


25 Jahre Tetris - die Fakten zum Geburtstag des Steinchenspiels 03.06.2009 | Text: dirk-vongehlen

9. Gerassimow lebt heute als Wissenschaftler in Australien. Hier hat er seine Version der Verbreitung von Tetris aufgeschrieben.

In dieser Woche wird eines der bekanntesten Computerspiele 25. Wir gratulieren - und erklären in 25 Punkten die Geschichte hinter Tetris 1. Vater des digitalen Puzzle-Spiels Tetris ist der russische Programmierer Alexej Paschitnow (englische Schreibweise: Alexey Pajitnov), der das Spiel im Jahr 1984 in Moskau erfand. 2. Die erste spielbare Version von Tetris gab es am 6. Juni vor 25 Jahren. 3. Seitdem wurden, so vermeldet Blue Plante Software (die Firma, die Tetris heute vertreibt) weltweit 70 Millionen Kopien des Spiels in 50 Ländern verkauft. 4. Tetris ist dabei auf rund 30 unterschiedlichen Systemen spielbar - von von A wie Amiga bis Z wie ZX Spectrum. 5. Da es vielleicht trotzdem jemanden gibt, der noch nie Tetris gespielt hat: Wikipedia beschreibt es als Spiel, bei dem man nacheinander einzeln von oben herunterfal-

lende, stets aus vier Quadraten zusammengesetzte Formen in einem rechteckigen Spielfeld in 90-Grad-Radien so drehen und platzieren muss, dass sie am unteren Rand horizontale, möglichst lückenlose Reihen bilden. Sobald eine Reihe von Quadraten komplett ist, wird sie entfernt, und alle darüber liegenden Reihen rücken nach unten und geben damit einen Teil des Spielfeldes wieder frei. 6. Die Idee basiert auf dem russischen Brettspiel Pentamino, das sehr ähnlich funktioniert. 7. Tetris-Erfinder Paschitnow war 29 Jahre alt, als er die Idee für das Spiel entwickelte - ursprünglich, um den damals angesagtesten Computer der östlichen Welt zu testen, den Elektronika 60. Für Nerds: Dabei handelte es sich um einen Nachbau des amerikanischen Computers PDP-11.

10. Denn in den Hochzeiten des Kalten Krieges funktionierte die Verbreitung einer Idee und eines Spiels etwas anders als heute. Wie es das Spiel trotzdem in den Westen schaffte, zeichnet die BBC-Dokumentation Tetris From Russia with Love von Filmemacher Magnus Temple nach. 11. Die Geschichte, wie Tetris in den Westen kam, erinnert laut spiegel.de „eher an ein Kapitel aus einem Wirtschaftsthriller als an einen Deal in der sonst eher lax geregelten Software-Branche der achtziger Jahre.“ 12. Hauptfiguren dieses Thrillers waren auf der einen Seite drei finanzkräftige Verhandler aus dem Westen: Robert Stein, Kevin Maxwell sowie Henk Rogers, der heute als Chef der Firma Blue Planet Software arbeitet. Ihnen gegenüber standen Vertreter der Sowjetunion, die die Rechte an dem Spiel verkauften.

8. Mit im Entwickler-Team war auch der damals 16-jährige Wadim Gerassimow, der das Spiel so umschrieb, dass es auch auf westlichen Rechnern lief. 2009

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13. Die Verhandlungen im Kreml liefen zäh und lange. Während dieser Tage kommen auch Henk Rogers und Alexej Paschitnow miteinander in Kontakt. Sie freunden sich an. Später wird Rogers dem Spiele-Erfinder helfen, die Sowjetunion zu verlassen. 14. Rogers ist es auch, der aus dem Verhandlungsmarathon als Gewinner hervorgeht. Seine wichtigsten Argumente: Er handelte im Auftrag des wichtigen japanischen Spiele-Herstellers Nintendo und Paschitnow ist auf seiner Seite. 15. Diese Verbindung ist zwar für Rogers von Vorteil. Der Sowjet-Bürger Paschitnow hat von dem Verkauf der Rechte an Tetris aber nichts. Erst als im Jahr 1996 (nach dem Zusammenbruch des Ostblocks) die Rechte auslaufen, wird auch er (mittlerweile nach Seattle ausgewandert) an den Erlösen beteiligt. 16. Zu diesem Zeitpunkt ist Tetris bereits ein weltweiter Erfolg - dank des Gameboys, auf dem das Spiel zunächst vertrieben wurde. 17. Henk Rogers hatte Tetris übrigens im Jahr 1988 auf einer Spielemesse entdeckt. Seine erste Reaktion: „Das Spiel ist zu einfach, man kann damit nichts machen. Aber dann kam ich zurück und spielte es wieder und wieder.“ 18. Erstaunlich, dass auch Tetris-Erfinder Paschitnow seine ersten Erlebnisse mit dem Spiel in einem Interview mit dem Guardian sehr ähnlich beschreibt: „Das Spiel war ziemlich einfach. Es gab keine Bestenlisten und keine Levels. Aber ich spielte los und konnte nicht mehr aufhören.“

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19. Rogers und Paschitnow arbeiten mittlerweile zusammen in der Firma Blue Planet Software und nutzen den Geburstag, um Tetris noch weiter zu bewerben. Ihr Plan: Sie wollen Olympische Spiele für Tetris schaffen. Den Anfang macht dabei die Community Tetris Friends Online, die vor kurzem gestartet wurde. 20. Bekannt ist das Spiel aber vor allem wegen seines Retro-Looks und der Musik aus dem Original-Spiel. Diese basiert laut Wikipedia auf dem Lied Korobeiniki, welches auf dem 1861 geschriebenen gleichnamigen Gedicht von Nikolai Alexejewitsch Nekrassow basiert. Dieses Lied hat den Charakter eines russischen Tanzes und wird normalerweise mit einer stetigen Tempobeschleunigung gespielt.“ Russia with Love von Filmemacher Magnus Temple nach. 21. Die Tetris-Melodie inspirierte nämlich zahlreiche DJs zu sehr unterschiedlichen Tetris-Remixes. 22. Eine besonders schöne Tetris-Weiterentwicklung ist diese The Original Human Tetris genannte Video-Performance von Guillaume Reymond, der sich im Projekt „Game Over“ auch mit anderen Spieleklassikern wie Space Invaders und Pong befasst hat. Den Clip zum Human-Tetris sieht man hier:

23. Das Spiel inspirierte darüberhinaus auch Möbelhersteller zu Tetris-Regalen und Blumenkübeln im Spiel-Design. Man findet im Netz aber auch Do-it-Yourself-Anleitungen zum Bau von Tetris-Möbeln. 24. Spiele-Erfinder Paschitnow hat übrigens für sich ein anderes Spiel entdeckt: In World of Warcraft spielt er schon seit längerem eine Druidin. 25. Eine Botschaft zum Schluß? Vielleicht dieser Rat von Tetris-Erfinder Alexej Paschitnow aus dem Jahr 2007: „Genießt das Spiel, schämt euch nicht zu spielen, egal, was eure Eltern oder Freunde oder Verwandte oder sonstwer sagt: Genießt jede Minute, die ihr spielend verbringt!“


Ressort

Leben Wir Kinder aus Ing

Foto: photocase.com | Nadine Platzek

Michael Jackson stirbt im Internet Mama hat jemanden kennen gelernt The Bartender´s Guide to Nightlife Hauptsatz: „Soll ich die Schuhe ausziehen?“

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Wir Kinder aus Ing 26.10.2009 | Text: max-scharnigg Illustration: Katharina Bitzl

Sonntags in den Speckgurt – über eine Reise, die junge Münchner immer wieder unternehmen Sie raten. Sie raten, wenn sie glauben, dass wir in München den Triumph, eine überteuerte Mini-Mietwohnung zu bekommen, mit Prosecco begießen. Sie raten, wenn sie darüber lachen, dass bei uns um ein Uhr Nachts Sperrstunde sei und sie raten, wenn sie uns voreilig „Ich würde nie zum FC Bayern gehen!“ ins Ohr grölen. All die jungen Berliner, Kölner und Hamburger stochern auf der Suche nach den Unterschieden zwischen ihren und unseren Stadtleben in einer blickdichten Hecke aus Klischees, Kurzeindrücken und den Gerüchten, die ihnen von Bekannten erzählt wurden. Gleichzeitig ist es ihnen 44|

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aber auch nicht egal, wie wir hier in unserem München leben, so wie es ihnen doch fürchterlich egal ist, wie die Menschen in Münster, Düsseldorf oder Brügge aufwachsen. Nein, sobald man ihnen von der 089 erzählt, erfasst sie etwas wie eine Unruhe der Ausgeschlossenen, ein Annähernmüssen und ein unbedingter Drang, ihre Leben zu unseren zu positionieren. Im gleichen Maße, in dem wir uns dann für unsere München-Existenz rechtfertigen müssen, rechtfertigen sie sich damit ungefragt auch für ihre Nicht-Münchner-Existenz. Dabei sind unsere Leben natürlich nicht in dem Grade unterschiedlich, wie es diese Sonderbehandlung vermuten lässt. Im Grunde dürften alle jungen Menschen in urbanen Gesellschaften Westeuropas ein ziemlich ähnliches Leben führen und das Einzige, was uns junge Münchner davon wirklich unterscheidet, sind die Sonntagnachmittage. Am Sonntag fahren wir nach Ing. Ing ist nicht der Ingenieur, Ing sind all die vielen Orte im Münchner Speckgürtel, der ja eher ein SUV-Gürtel ist, in denen unsere (Ingenieur)-Eltern wohnen. Es sind all die Feldafings, Freisings, Olchings, Tutzings, Gautings, Herrschings, die beiden Föhringe, diverse Echings und all die vielen kleineren Ings, in die unsere Eltern vor 30 Jahren mal gezogen sind, als Mama ein bisschen Grün für uns ha-

ben wollte und Papa eine Garage für seinen BMW-Kombi. In den Ings sind wir aufgewachsen und zwar in einer idealen Mischung aus Stadt und Land. Da war Fußball neben Kuhweiden und da war der 20-Minuten-Takt der S-Bahn zum Marienplatz und es war beides gleich wichtig. Sicher, wir mussten vielleicht mit einem Schulbus ins nächste Gymnasium fahren, weil nur jedes zweite Ing eines gebaut bekam, aber trotzdem liefen wir nicht Gefahr, dem Provinzhass zu erliegen, der ganze Landstriche Heranwachsender aus Niedersachen und Baden-Württemberg zuverlässig in die Berliner Altbauten treibt. München hatte immer unseren Rücken und vor uns lagen Berge und Seen. Die Grüne Karte, die der MVV damals ausgab, war unsere GreenCard, die ewige Einreiseerlaubnis in die Stadt. Ihre speckige Hülle begleitete uns zum ersten eigenen Stadtbummel und zum ersten richtigen Konzert und was dabei zu beachten war, war einzig, sie für Mama wieder rauszulegen, wenn man berauscht von Stadtluft und Stadtbier aus der ersten S-Bahn kam und vorbei an der Tischtennisplatte über die nicht abgeschlossene Terrassentür ins Bett wankte. Es war nicht die wildeste Jugend, aber eine sehr angenehme. Natürlich konnten wir nicht in den Ings bleiben, so wenig hassenswert sie auch waren. Und natürlich gingen

viele von uns nach der Schule doch nach Berlin, eher aber noch nach London oder Paris. In Städte eben, mit denen es München wirklich nicht aufnehmen konnte. Ein paar Jahre ließ es sich dort in windigen WGs und mit der monatlichen Überweisung aus Ing gut studieren. Aber nur wenige von uns konnten sich Neukölln oder Hampstead wirklich als Dauerort vorstellen. Das ist das Doofe, wenn man „im Himmel“ aufwächst, wie Georg M. Oswald seinen Roman über den fiktiven Speckgürtelort „Welting“ nennt. Nach dem Himmel, selbst wenn er ein wenig unecht ist, kann man sich so schlecht etwas anderes wünschen. Wenn man also in dieser Zeit in Kreuzberger Kneipen mit anderen Exilmünchnern ins Gespräch kam, vielleicht sogar anderen ehemaligen Ing-Bewohnern, dann gab es immer diesen Moment, in dem auch die radikalsten Neudenker und Freischärler für Sekunden ein Haus mit Bergblick auf der Unterseite ihrer müden Lider sahen, einen Trampelpfad zum See vielleicht und den beruhigenden 20-Minuten-Takt im Kopf hatten. Zwar summte man tagsüber noch „Samstag ist Selbstmord“ von Tocotronic, aber sonntags, das ahnte man, würde man irgendwann wieder in Ing sein. Es war so sicher dort und die Luft so gut, dass man es spätestens den eigenen Kindern gerne wieder ermöglichen 2009

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würde. Auch wenn die Grundstückspreise eine Rückkehr in diese Heimat immer unwahrscheinlicher machten und uns vermutlich in den Ruin treiben würden. Die vage Sehnsucht nach den Ings ist es also, die uns nach und nach wieder zurück nach München treibt. Manche kommen früher, andere erst spät und einige waren eigentlich immer hier. Wir stellen jedenfalls eines Tages fest, dass wir wieder in der Stadt sind, deren Speck uns genährt hat und die mit dem immer strahlenden Wittelsbacher-Gelb der Theatinerkirche auf uns gewartet hat. Wir wohnen jetzt nicht in den Ings – viel zu früh – aber die Eltern wohnen noch dort (oft sind die auch der Vorwand, zurückzukehren). Sie bilden mit ihren dezent veralteten Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften gewissermaßen wieder den ersten Schutzwall um uns, so wie früher. Und in der Mitte dieses Walls formiert sich die Generation Speckgurt, die es so in keiner anderen deutschen Stadt gibt. Eine Schicht von jungen Urbanisten, um die 30 Jahre alt, nett und weltläufig, die am Sonntagnachmittag zum Kaffeetrinken in ihr Elternhaus aufs Land fährt und zwar: 46|

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gerne. Die dankbar den Platz in Papas Garage für ihre Skiausrüstung nutzt und die auf ihren Vernissagen und Konzerten in der Stadt ganz ungeniert nach hinten winkt – wenn nämlich die alten Erzeuger für diesen Anlass aus den Landkreisen angereist sind. Für sie und uns sind Umland und Stadt jetzt die gleichen Spielplätze geworden und wir verabreden uns mit Elternund Freundescliquen zum gemeinsamen Eisstockschießen auf dem Nymphenburger Kanal oder segeln mit dem Vater eines Freundes, weil der sein Boot noch im Wasser hat. Wir sind keine Snobs oder qua Geburt Freizeitspießer, im Gegenteil: Dieses Leben bewerkstelligen wir nicht mit jener unbedingten Eile der Neumünchner und zugezogenen BWL-Snobs, die all das, die perfekte Liegewiese, die Gartenfeste und Vernissagen, eilig übernehmen wollen. Nein, wir haben hier nur einfach den gewachsenen Zugriff auf die Netzwerke unseres ganzen Lebens – und auf die unserer Eltern. Genau wie jeder, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, auf diese Grundvernetzung zurückgreifen kann. Nur, dass unsere Ings keine Dörfer im

Irgendwo sind, sondern eben Oasen, eingebettet in den größten Wohlstandskuchen dieses Landes. Im Grunde ermöglicht uns diese besondere Eltern-KindKonstellation Münchens eine recht ehrliche Konzentration auf das Wesentliche. Weil wir die Vergangenheit ganz gut im Griff haben, so übersichtlich vor uns, kann die Zukunft gerne kommen. Das Gestern und Morgen geht besonders fließend und Münchens S-Bahn-Netz verbindet ein großes Mehrgenerationenhaus. Das Kinderzimmer ist hier für viele immer nahe. Zumindest das mentale Kinderzimmer, das im Kopf funktioniert wie eine universale Rückversicherung. Wer in Berlin mit seinem Start-Up pleite geht oder als selbstständiger Grafiker nicht durchkommt, dem bleibt vielleicht irgendwann nur noch die reumütige Rückkehr nach Bad Saulgau oder in die hessische Provinz. Wir sehen uns in diesem Fall sechs Streifen auf der blauen Karte stempeln und in unser Ing fahren. Dort geht es dann vorbei an der Tischtennisplatte über die Terrasse in die Küche. Ein bisschen Kuchen wird immer noch da sein.


Michael Jackson stirbt im Internet 26.06.2009 | Text: xifan-yang Foto: ap, rtr

Der Tod von Michael Jackson wird als historisches Ereignis in Erinnerung bleiben. Unter anderem, weil der von der Massenhysterie im Internet zu Grabe getragen wurde Es ist 23:29 Uhr. Ich hab schon die Zahnbürste in der Hand, als meine Freundin Natalie mir eine SMS schickt: „Michael Jackson stirbt gerade.“ Die Nachricht ist so absurd, dass ich anfangen muss zu kichern. „Wiedennwasdennwodenn?“ schreib ich zurück. Natalie macht ein Volontariat bei einer großen Tageszeitung in Berlin. Läuft auf CNN und über alle Nachrichtenagenturen, antwortet sie, in der Redaktion stehen sie alle dichtgedrängt um den Fernseher. Ich rufe sie an, um Mitternacht ist Redaktionsschluss, sagt sie, irgendwas muss noch ins Blatt rein, sie ruft später zurück. Ich bin noch nie ein großer Fan von Michael Jackson gewesen. Die meiste Zeit über war er mir eher egal. Meine früheste Kindheitserinnerung an ihn ist ein Auftritt Mitte der 90er bei „Wetten, dass?“: Ein bleicher Mann in schwarzen Lederhosen klettert ein Bühnengerüst hoch, die Windmaschine reißt ihm sein weißes Hemd vom Leib. Die Menschen in der Halle kreischen so laut, dass sein Gesang darin fast untergeht. Wer ist das, fragte ich mich damals. Ich mochte den „Earth Song“ nicht besonders. Erst viele Jahre später habe ich Klassiker wie „P.Y.T.“ zu schätzen gelernt. 2009

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„He! Michael Jackson stirbt gerade!“ brüll ich in die Küche hinein. Es ist 23:35, meine Mitbewohnerin kommt in mein Zimmer, wir gehen auf die Homepage von CNN. „Michael Jackson hospitalized“ ganz oben, es gibt einen Live-Stream vom Krankenhaus. Man sieht aus Kameraperspektive einen Helikopter langsam über das Gebäude kreisen, sonst minutenlang nichts. „No Audio“ steht im Bild geschrieben. Von Tod steht da nichts. „Ich geh mal joggen“, sagt meine Mitbewohnerin, „bis gleich“. Auf Skype ist noch ein Bekannter online, Christian, ich hab

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ihn seit Monaten nicht gesprochen. Aber ich weiß, dass er ein Michael Jackson-Fan ist. Deshalb schreib ich ihn auf blöd mit „Michael Jackson stirbt gerade“ an, ohne Begrüßung. Er:„Verarsch mich nicht“, ich: „Ohne Scheiß“, er darauf: „Du willst mich doch verarschen“, ich darauf: „Ohne Scheiß“. Kurz darauf meldet sich Jonas, ein anderer Freund, auf Facebook: „Krass, hast du schon gehört…?“ Das Handy piept wieder. SMS von Natalie: „Er ist tot.“ 23:50. Spiegel Online meldet Michael Jackson im Kran-

kenhaus, aber etwas lieblos weiter unten, drüber der Weltkulturerbeverlierer Dresden-Elbtal und die Islamkonferenz. Mein Bekannter Christian skypt, ich solle sofort auf Twitter gehen. 0:00. Unter den „Trending Topics“ ist dort die Nachricht vom sterbenden King of Pop längst auf Platz eins. In der Eile hat allerdings jemand seinen Namen falsch geschrieben: „Micheal Jackson“ steht auf der Liste. Auf zwei folgt schon: „RIP MJ“. Ich klicke drauf. Ein Riesenschwall


an Gebrabbel ergießt sich über den Bildschirm, viele OOOOMMMFFGGGGs und noch mehr RIPs. 0:05. Twitter zeigt mir an, dass in den letzten drei Minuten mehr als 5000 neue Beiträge zu Michael Jackson erschienen sind. Dann verebbt das Gezwitscher. Die Seite bricht zusammen, ist überlastet. Meine Mitbewohnerin kommt vom Joggen wieder, will wissen, ob Michael Jackson jetzt tot ist oder nicht. „Ich glaub schon“, sage ich. Sie ruft eine Freundin an. 0:10. Die einzige Quelle, die bislang Michael Jacksons Tod berichtet, ist das US-amerikanische Klatschportal tmz.com. Allerdings hat genau diese Seite vor einigen Wochen auch behauptet, dass Patrick Swayze nicht mehr lebe, warnt das Musikportal Pitchfork. 0:15. „Reportedly dead“ laut Angaben der LA Times heißt es jetzt überall. Berichten zufolge ist er tot. Er ist tot? Ist er tot? Er liegt im Koma, sagt CNN. Währenddessen überbietet man sich auf Twitter darin, die schnellsten Nachrufe zu schreiben. Die größte Ente der Welt, denke ich. Jonas erzählt mir über Facebook, seine Freundin sei gerade auf einer Party, dort würden alle nur noch über Michael Jackson reden. Schließlich bestätigt CNN um 0:38 Uhr: Michael Jackson ist im Alter von 50 Jahren gestorben. Der virtuelle Sargnagel macht wenige Minuten später die Runde. Wer www.ismichaeljacksonalive.com aufruft, kommt auf eine Seite, auf der nur zwei Buchstaben erscheinen: NO. „Wir schaffen uns unsere Nachrichten selbst“, schreibt

Jonas über Facebook, genauso verwundert wie ich von dem, was gerade im Internet passiert. Am nächsten Morgen wird bekannt werden, dass es noch bei keinem Thema einen derart gigantischen Zulauf auf Twitter gab, weitaus größer noch als zur Wahl im Iran oder zur Schweinegrippe. Spätestens in diesem Moment, so wird einem irgendwie klar, läuft die gängige, gern gepflegte Kritik an der Manipulationsmacht und Sensationsgeilheit der großen Medienkonzerne ins Leere. Denn diese Massenhysterie ist selbst induziert. Ihr Ausmaß übertrifft jede bislang bekannte Form von medialem Fieberrausch. Bei Michael Jackson können selbst die schnellsten Nachrichtensender nur hinter dem Instant-Flächenbrand hinterherhecheln. Die Gänsehaut wird im Netz erzeugt. Am Freitagmorgen, auf dem Weg in die Redaktion: Die Zeitungen tun nichtwissend. Die Frau gegenüber in der S-Bahn blättert in der BILD. Titel: „Gestern 21:21 Uhr: Michael Jackson Herzstillstand!“ Komische Welt. Die Zeitrechnung im Internet läuft derweil weiter, dort hole ich den binnen wenigen Stunden Schlaf entstandenen Wissensdefizit mit gedrückter FastForward-Taste nach. Jackos beste Hits, Jackos coolste Moves, Jackos dollste Frauen, der verbliebene Haushalt wird bereits aufgelöst. In der Redaktion meint einer: „Es ist so, als würde Mickey Maus sterben.“ Mickey Maus stirbt nicht. Das liegt einfach nicht in der Natur von Mickey Maus. Genauso surreal fühlt sich der Tod von Michael Jackson, der Ikone an. Michael Jackson, den Menschen nahm man in den letzten Jahren seit dem

Kinderschänder-Prozess schon lange nicht mehr als Lebenden wahr. Trotzdem war er fest im Koordinatensystem aller verankert, die in den 80ern geboren sind. „King of Pop“ ist der Superlativ, mit der ich aufgewachsen bin und den ich verinnerlicht habe. Michael Jackson steht an der Spitze des Systems Popkultur, das war immer klar. Selbst als gruseliger, im Verfall begriffener Freak, selbst als Nosejob-Running Gag. Michael Jackson war einfach da. Eine Konstante meiner Jugend, wie eine Arbeitslosenzahl von vier Millionen. Kai von Stylespion.de bringt es auf den Punkt: „Mit Michael stirbt auch ein Teil meiner Kindheit“. Die, die schon geschlafen haben, wundern sich belustigt über das Drama, das sich gestern Nacht bei den anderen abgespielt hat. Wo warst du als, Michael Jackson starb? Entweder im Bett oder im Internet, lautet die Antwort. Es ist ein bisschen geschmacklos, aber man muss an 9/11 denken. So wie das Datum des 11. September die Generation der heute 20 bis 35-jährigen politisch geprägt hat, so wird vielleicht die Donnerstagnacht des 25. Juni ein historischer Ankerpunkt im kulturellen Kollektivgedächtnis werden. Letzte News: Die Ärzte sollen schuld sein. Jetzt beginnen die Jahrzehnte der Verschwörungstheorien. Update von www.ismichaeljacksonalive.com, Freitagnachmittag: MAYBE NO… Darunter: „What do you think?” Elvis lebt. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde Geschichte geschrieben. 2009

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Mama hat jemanden kennen gelernt 09.08.2009 | Text: jetzt-redaktion Illustration: Katharina Bitzl

Wenn Eltern nach einer Scheidung einen neuen Partner finden - eine Geschichte vom Verlieben Wenn sich die Liebe in einer Familie vorstellt, tut sie dies meist in Person eines neuen Freundes der Tochter oder einer neuen Freundin des Sohnes - was aber, wenn plötzlich die geschiedene Mutter jemanden kennen gelernt und ihn mitbringen? Als ihre Mutter nach jahrzehntelangem Dasein als alleinerziehende und berufstätige Frau eines Tages ihrer Tochter Johanna aufgeregt am Telefon erzählte, sie hätte da „jemanden“ kennen gelernt, wunderte sich Johanna selbst ein bisschen über ihre wenig euphorische Reaktion. Schließlich hatte sie seit dem Ende ihrer Pubertät, seit sie also über den Tellerrand ihrer eigenen Existenz hinausschauen konnte, gehofft, dass dieser Tag einmal kommen würde. Sie war das einzige Kind, der Vater hatte sich schon kurz nach der Scheidung wieder neu liiert und sein altes Leben - inklusive der Menschen - hinter sich gelassen. Und Johanna hatte eindeutig zu viel Zeit ihres Lebens damit verbracht, sich Sorgen um ihre Mutter zu machen. Nicht, dass die zu großen Sorgen Anlass gegeben hätte. Sie war vielleicht nicht ununterbrochen zu Scherzen aufgelegt, und sie rief möglicherweise ein bisschen zu regelmäßig bei Johanna an. Aber sie hatte ihr Leben im Griff 50|

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und lief nicht Gefahr, eine dieser komischen alten Frauen zu werden, deren Atem nach Katzenfutter riecht und die mit ihren Haustieren sprechen. Im Gegenteil: Johanna hatte ihre Mutter schon immer für ihre Unternehmungslust bewundert und für die Fähigkeit, langjährige Freundschaften auch mit schwierigen Menschen zu pflegen. Unter der Woche ging sie zur Arbeit und ihre Wochenenden waren gefüllt mit Aktivitäten. Trotzdem, das wusste Johanna, war ihre Mutter natürlich auch alleine. Noch mehr, seit Johanna ausgezogen war. Sie fühlte sich alleine bei großen Veranstaltungen, zu denen die Menschen ihrer Altersgruppe fast ausschließlich in Paarformation erschienen. Sie war alleine, wenn eine Alltagskatastrophe über sie hereinbrach. Und sie war bestimmt auch einfach so, an irgendeinem ganz gewöhnlichen Dienstagabend alleine und vielleicht auch: einsam. Darüber wollte sich Johanna aber gerade gar keine Gedanken machen, weil sonst das schlechte Gewissen, das sowieso ständig in ihrem Hinterkopf vor sich hin brodelte, noch größer geworden wäre. Und während sie mit dem Verdrängen beschäftigt war, beneidete sie zum wiederholten Mal all ihre Freunde, deren Eltern den Anstand besessen hatten, verheiratet zu bleiben. Die kannten all diese Gedankengänge nicht. Nicht die Sorgen und vor allem nicht das ewige schlechte Gewissen. Sie hatten nichts weiter zu tun, als an hohen Feiertagen Zuhause


zu erscheinen und ansonsten altersgerecht den Abnabelungsprozess vom Elternhaus zu perfektionieren. Warum also konnte sich Johanna nicht einfach mit ihrer Mutter freuen, die weiter aufgeregt von ihrem neuen Bekannten erzählte, der scheinbar sehr nett und interessant war und noch dazu an ihrer Mutter interessiert? Stattdessen machte sie sich jetzt schon Sorgen um das Ende dieser Beziehung, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte. Johanna hatte mittlerweile selbst genügend Erfahrungen mit der Liebe gemacht, um zu wissen, dass der Kummer danach Schreckliches mit einem Menschen anstellen kann. Und sie hatte panische Angst davor, ihre Mutter vielleicht demnächst wieder in einem ähnlichen Zustand vorzufinden, wie nach der Trennung ihrer Eltern. Die Vorstellung, ihre hilflos vor sich hinweinende Mutter zu sehen, die sie trösten, der sie gut zureden und für die sie Suppe kochen müsste, reichte aus, dass sich ihr fast der Magen umdrehte. Sie wollte sich wirklich gerne für ihre Mutter freuen und lieber nicht an ihre Freundin Lily denken, deren „Mama hat jetzt einen Freund“-Geschichte sehr unschön endete. Lily war auch immer alleine mit ihrer Mutter gewesen und hatte sich ebenso wie Johanna durch ganze Gesteinsschichten des schlechten Gewissens kämpfen müssen bis sie sich getraut hatte auszuziehen. Kurze Zeit später hatte Lilys Mutter die frohe Botschaft

verkündet, sie hätte jemanden kennen gelernt. Lilys „Jemand“ hieß Peter, hatte irgendetwas mit Computern zu tun und war von da an der offizielle Freund und Begleiter ihrer Mutter. Lily fand ihn komisch, schob das aber auf seinen Beruf und hütete sich davor, ihre Mutter davon in Kenntnis zu setzen. Schließlich wünschte sie ihrer Mutter nur das Beste, sie wollte ja, dass alles gut ging, auch für sich. Vier Monate später war Peter wieder aus ihrem Leben verschwunden. Er hatte ganz plötzlich das dringende Bedürfnis verspürt, sich selbst zu finden und in diesem Prozess war offensichtlich kein Platz für Lilys Mutter vorgesehen. Einige Wochen lang erwog Lily ernsthaft, den Mann aufzusuchen und ihn entweder zur Rede zu stellen, oder ihm beide Beine mit einer Eisenstange zu brechen. Oder beides. Für ihre Freundinnen war Lily schon oft die Trösterin bei Liebeskummer gewesen, aber noch nie war es ihr so schwer gefallen, jemanden trauern zu sehen. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Und noch nie hatte es sie so sehr selbst getroffen. Johanna lernte ihren „Jemand“ einige Wochen später bei Schnittchen und Rheinwein kennen. Dabei erfuhr sie nicht nur, dass er Martin hieß und Rechtsanwalt bei einem großen Unternehmen war, sondern auch, dass sie sich wieder ein bisschen entspannen konnte. Martin sah nicht unbedingt so aus, als würde er eine Mittfünfzigerin

nach der anderen flachlegen. Er schien ein angenehmer Mensch zu sein, nicht gerade aufregend, aber interessiert an ihrer Mutter und auch liebevoll, soweit Johanna das feststellen konnte. Sie war froh, dass die beiden in ihrer Anwesenheit die Zuneigungsbekundungen auf ein Minimum reduzierten. Es war so schon eigenartig genug, ihre Mutter im Umgang mit ihm zu beobachten. Johanna fiel auf, dass die Stimme ihrer Mutter eine halbe Oktave nach oben ging, wenn sie mit ihm sprach. Und offensichtlich hatte sie auch kein Problem damit, dass Martin mitunter ziemlich autoritäre Ansichten zum Besten gab. Das war Johanna unangenehm. Sie hatte ihre Mutter immer für ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit bewundert. Und sich diese Einstellung zum Vorbild für ihre eigenen Beziehungen genommen. Und jetzt schien es auf einmal so, als ob ihre Mutter gar nichts dagegen einzuwenden hatte, ihr Leben nach einem anderen Menschen auszurichten. Als Johanna an diesem Abend mit dem Zug nach Hause fuhr, hatte sie sehr viel Zeit, über ihre Mutter, deren Martin und sich nachzudenken. Und erst als sie schon fast Zuhause angekommen war, wusste sie, was sie zu tun hatte: Ihre Mutter war ganz offensichtlich glücklich mit ihrem neuen Freund. Und Johanna wollte sich darüber freuen und endlich aufhören, sich ständig Sorgen zu machen. Aber dafür musste sie erst einmal lernen, loszulassen. 2009

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The Bartender’s Guide To Nightlife 08.02.2009 | Text: manic

Kopfschmerzen und Veilchen vermeiden:

1:

Niemals, unter keinen Umständen, hinter die Theke gehen. Es gibt keinen Grund, hinter die Theke zu gehen, aber es zu tun, ist Grund genug, Hausverbot zu kriegen. 2: Niemals, unter keinen Umständen, über die The-

ke greifen. Barkeeper sind empfindliche Wesen, die ungehalten reagieren, wenn die natürliche Barriere zwischen ihnen und den Gästen überwunden wird. Vor allen Dingen: niemals in den Eiskübel greifen. Das Eis wird in die Getränke der anderen Gäste getan. Diese werden nicht begeistert sein, wenn vorher ein betrunkenes Arschloch mit seinen Patschefingern darin rumwühlt. Nach allem anderen, einem Stift, Bierdeckeln, extra Eis, Zitrone, einem Strohhalm oder Streichhölzern, kann man fragen und wird es mit Sicherheit bekommen. 52|

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3: Der Trick, in einem übervollen Laden bedient zu werden: An die Theke gehen, Blickkontakt zum Barkeeper aufnehmen, warten. Nicht winken. Es kann gut sein, das einfach zurück gewunken und ansonsten ignoriert wird. Auf gar keinen Fall pfeifen, Servicekräfte sind keine Hunde. Oh und Servicekräfte sind auch keine Stripper, also nicht mit Geldscheinen wedeln. Im schlimmsten Fall wird der Barkeeper den Geldschein nehmen, in die Kasse tun, sich artig bedanken und niemals eine Bestellung aufnehmen.

6: Ein Longdrink ist ein Mixgetränk das aus zwei

Zutaten, einem hochprozentigen Alkohol und einem Softdrink oder Saft, besteht. Ein Whiskey Soda ist ein Longdrink, ein Whiskey Sour ist ein Cocktail. Ein Bacardi Cola ist ein Longdrink, ein Cuba Libre ist ein Cocktail. „Ein Longdrink bitte.“ ist keine Bestellung, mit der ein Barkeeper etwas anfangen kann. Es wird höchstwahrscheinlich eine große Auswahl an Longdrinks geben. Eine Happy Hour auf Longdrinks gilt nicht für Cuba Libre, der kostet nach wie vor 6,50. Und wenn man Prosecco will, Prosecco be4: Bevor man bestellt, nachsehen, ob man stellen. Nicht Sekt. genug Geld hat. Geld in der Hand haben, wenn man seinen Drink bekommt. 7: 5: Niemals den Servicekräften sagen, wie sie ihren

Job zu erledigen haben. („Hey, Mann, ich muss dir sagen, es gehört sich nicht, mit ’ner Kippe in der Hand auf ’nen Gast zuzugehen!“ – „Kein Problem, dann rauche ich erst auf.“ *Gast winkt meinem Kollegen zu, ich gehe hin* „Bitte.“ „Ey, der Typ soll ARBEITEN, nicht rauchen!“ „Und wer bist du, sein Chef?“ „Ne…ein Gast!“ „Das dachte ich mir, ICH bin nämlich seine Chefin, und er hat Pause.“ *gehe wieder. Keine Bestellung aufgenommen.“ „Ey, in Sambucca gehören DREI Kaffeebohnen!“ *Mein Chef wirft ihm DREI abgezählte Kaffeebohnen in’s Gesicht*)

Es heißt „Zwei Bier, bitte.“ Nicht „Zwei Bier.“

8: Wenn das Licht angeht, müsst ihr ge-

hen. Auch wenn ihr Stammgäste seid. Auch wenn andere Stammgäste noch in der Lounge sitzen bleiben und den Türsteher per Handschlag verabschieden. Diese Stammgäste sind offensichtlich mit dem Personal befreundet und bleiben nach Feierabend noch auf ein Bier. Vielleicht geht einer von ihnen sogar noch mit der Barkeeperin nach Hause und legt sie flach – IHR NICHT.


9: Beschwerden über das Servicepersonal sind an der Theke oder beim Chef abzugeben. Im Regelfall ist der Chef NICHT der Veranstalter, der DJ, der Türsteher, die Garderobiere oder die Kassendame. Diese können nichts tun, wenn der Barkeeper gemein zu euch war, sie werden nur genervt sein. 10: Wenn ihr der festen Überzeugung seid, einen Zwanziger gegeben zu haben, aber Wechselgeld auf einen Fünfer gekriegt zu haben, und der Barkeeper der festen Überzeugung ist, einen Fünfer bekommen zu haben und korrektes Wechselgeld gegeben zu haben, hat der Barkeeper wahrscheinlich Recht. Und zwar, weil er mehrmals wöchentlich in diesem schummrigen Licht Geldscheine annimmt und nach einem System einordnet, und mehr Alkohol verträgt als ihr. Solltet ihr trotzdem überzeugt von eurem Recht zu sein, ist eure einzige Chance, mehr Geld zurückzubekommen, sehr freundlich mit genau dem Barkeeper, der euch bedient hat, zu diskutieren. Wenn ihr verlangt den Thekenchef, Schichtleiter oder Geschäftsführer zu sprechen, wird dieser in 99% der Fälle hinter seinem Angestellten stehen und euch einen Scheißdreck geben.

Man muss in Clubs kein Trinkgeld geben, aber es ist sehr nett, aufzurunden. Fünf Cent Trinkgeld sind arrogant und werden wahrscheinlich nicht angenommen worden.

13: Beim Bestellung nicht das Perso-

18:

14: Getränke beim Barkeeper, Musik beim DJ. DJs sind meist arrogant, aber auch Servicekräfte. Allerdings: The DJ’s not a Jukebox – übertreibt es nicht.

19: Tricks, um eine wirklich lange Nacht zu über-

nal anfassen. Nicht nach dem Namen fragen. Ihr kennt euch nicht, ihr steht in keiner Beziehung zueinander.

16: Mit dem Erhalt des Getränkes und des

Wechselgeldes ist die Transaktion zwischen Gast und Servicekraft rechtlich gesehen abgeschlossen – der Barkeeper trägt keine Verantwortung für gestohlene oder umgeschmissene Getränke. Passt gefälligst selber auf. 17: Wie schleppt man die Barkeeper ab? Männliche

leben: Ab ca. Zwei Uhr sollte man keine stark koffeinierten Getränke mehr zu sich nehmen, sofern man irgendwann schlafen will. Bei Trunkenheit und leichter Übelkeit Tomatensaft bestellen und salzen – beruhigt den Magen, sättigt, reguliert Elektrolyte- und Flüssigkeitshaushalt. Bei einem Alkohol bleiben – wer Wodka Red Bull trinkt, sollte auch bei Schnapsrunden Wodka trinken. Wasser hilft bei starker Trunkenheit besser als Cola. Die Erklärung dafür habe ich vergessen, aber versprochen, es ist nicht nur ein Erfahrungswert. Nicht zuviel Säure zu sich nehmen. Getränke wie Jägermeister Banane werden euch zwangsläufig ein zweites Mal begegnen, aber wenn ihr meint, das trinken zu müssen…. Kotzt bitte vor der Tür. Danke. Zwischendurch mal setzen. Erdnüsse essen. An die frische Luft gehen. Und die Eroberung für die Nacht am besten vor drei Uhr morgens klar machen – danach gibt’s nur noch Ausschussware.

Barkeeper sind Männer und genauso zu behandeln. Nur sind sie Männer, denen ständig tief dekollierte Oberkörper in’s Gesicht gehalten werden, man muss also ein wenig kreativer sein. Oder Schnaps ausgeben. Weibliche Barkeeper sind meist wirklich schwer zu kriegen. Wenn sie arrogant und abweisend wirkt und weder auf ’s Getränke ausgeben noch auf vermeintlich 11: „Nein“ heißt „Nein.“ Wenn das Licht schon an ist und „flotte Sprüche“ reagiert ist eure einzige Chance, den ihr nur noch zwei Beck’s für den Weg nach Hause wollt, Geschäftsführer anzusprechen. Der Geschäftsführer und der Barkeeper sagt „Nein.“ bringt auch die Geschich- ist der stark tättowierte Mittdreißiger, der mit einem te, dass euer bester Freund aus Ecuador das erste Mal seit Riesendrink hinter der Theke steht, aber niemanden 20: fünf Jahren in Deutschland ist, nichts. bedient. Er ist als einziger im ganzen Laden wirklich ernsthaft an Kundenbindung interessiert, und wird 12: „Nur noch Kölsch und Flaschenbier.“ heißt „Nur sich, solange ihr kein offensichtliches Riesenarschnoch Kölsch und Flaschenbier.“ „Och bitte, nur noch loch seid, auf ein Gespräch einlassen. Beim dritten EIN Gin Tonic…ich geb’ dir auch Trinkgeld….och hab’ freundlichen Gespräch kann man schon mal darum dich nicht so“…..NEIN. bitten, der Barkeeperin vorgestellt zu werden.

IMMER genug Geld für ein Taxi dabei haben. Und auf die Handtasche aufpassen. 2009

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Hauptsatz:

„Soll ich die Schuhe ausziehen?“ 01.06.2009 | Text: max-scharnigg

100 Sätze reichen für ein ganzes Leben. Jede Woche stellt unser Autor einen vor. Ein bisschen wie „Stör‘ ich gerade?“ am Telefon hat sich diese Frage in die urbane Etikette eingeschlichen. Zu stellen ist sie an fremden Schwellen, die zu übertreten man meist mittels einer Einladung genötigt wurde. Deswegen auch stehen dabei zusätzlich zu einem selber zwei bis neun Gastgeber im Hemd sowie gastgebender Geste in der Tür und die Stimmung ist sehr gut & herzlich. Es darf auf jeden Fall als Trübung der Begrüßungsstimmung gelten, nun gleich auf das mitgebrachte Schuhwerk hinzuweisen und die leidige Schuhfrage zu stellen. Nicht zuletzt, weil die Gastgeber so zu Hausmeistern degradiert werden. Im Vorteil ist, wer die Hausherren so gut kennt, dass er entweder weiß, wie sie es mit den Schuhen halten oder wenigstens einschätzen kann, wie weltgewandt sie sind. Natürlich sind Schuhe grundsätzlich anzulassen. Schon allein der Damen wegen, die elf Stunden das passende Schuhwerk zur Restdame ausgesucht haben und dann ohne Schuhe niedrig oder mit Füßen in durchsichtigen Strumpfhosen-Kokons herumschlurfen müssten. Das Angebot, Hausschuhe der Gastgeber zu benutzen, ist nur 54|

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bei allerbesten Freunden oder Verwandten überhaupt statthaft und auch dann, falls möglich, abzulehnen. Nicht nur, weil fremde Hausschuhe im Empfinden noch muffeliger sind als fremde Straßenschuhe, sondern vor allem weil für die Gäste oft Scherzhausschuhe reserviert sind. Wer je einen gesellschaftlichen Abend mit Tigerkrallen an den Füßen verbracht hat, kann den aber Punkt „Fegefeuer“ getrost abhaken. Weil in dieser modernen Zeit kaum

einer mehr zu harten Regeln fähig ist, wird es einem als Gast oft freigestellt, die Schuhe anzulassen. In diesem Fall sollte man einen Blick in die Runde der Versammelten wagen und dabei etwas Unverfängliches wie „Hallo!“ oder „Huhu, ich alter Volldepp bin auch da!“ sagen. Strecken alle anderen ihre Plüschsocken in Pastellfarben über den Couchtisch, sollte man deutlich in sich horchen, ob man es hier als Einziger in Schuhen wirklich durchsteht. Oder direkt wieder geht. Irgendeine Sabrina gibt es immer, die zu fortgerückter Stunde grölen wird: „Ey, schau mal, er hier hat als Einziger Schuhe!“ Als Gast erweist man der fremden Wohnung Respekt, indem man sich im Treppenhaus vergewissert, ob man nicht unterwegs ein kleines Tier zertrampelt hat oder mit dessen Hinterlassenschaften in Kontakt getreten ist. Als Gastgeber plagen einen komischere Sorgen. Natürlich dürfen die Gäste die Schuhe anlassen, aber wie läuft man selber auf? Schließlich ist man ja doch in den Privatgemächern eher sockig unterwegs. Will man aber durch die eigene Party als einziger derart fußärmelig wandeln? Nein! Also vor dem ersten Gast rein in die schweren Stiefel und gleich einmal quer damit übers Doppelbett. Macht bessere Laune als jeder Aperitif.


Weiterlesen? jetzt.de erscheint jeden Montag in der S체ddeutschen Zeitung - und t채glich im Internet

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