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Und was kommt jetzt? EIN HEFT ÜBER GROSSE VERÄNDERUNGEN, SCHULE ALS GEFÄNGNIS UND DIE ERWARTUNGEN DER ELTERN.


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Liebe Leserin, lieber Leser, seit dem 22. August nennt sich Bradley Manning anders: Chelsea Elizabeth Manning. Seitdem müssen Medien und andere sich fragen, welchen Namen sie bei der Berichterstattung über die Whistleblowerin benutzen und ob sie weibliche oder männliche Pronomen verwenden. Wir mussten das schon tun, als wir zum ersten Mal über die Geschichte sprachen, die du ab Seite 7 lesen kannst: Dort beschreibt Noah, wie er seiner Klasse sagte, dass er künftig als Junge behandelt werden möchte. Die Geschichte ist die eines tiefgreifenden Wandels – und um Veränderung geht es bei den meisten Texten in diesem Heft. Wo sich etwas ändert, entstehen Fragen und es werden Antworten gebraucht. Danach haben wir gesucht. Viel Spaß beim Lesen! I N H ALT 04 Zustand Was wir mögen, sagt, wer wir sind. 07 Verwandlung Noah will kein Mädchen mehr sein. Ein Jahr der Veränderung. 14 Verdrängung Das Raucherck ist verschwunden. Nachruf auf einen Mythos.

Duales Bachelor-Studium bei Lidl Willkommen bei Lidl: Das Duale Bachelor-Studium qualifiziert Sie für unterschiedliche Managementaufgaben bei Lidl. 38 Regionalgesellschaften von Lidl Deutschland bieten Ihnen in Kooperation mit ausgewählten Dualen Hochschulen bzw. Berufsakademien ihre Partnerschaft an. Der erfolgreiche Abschluss bietet Ihnen erstklassige Berufsperspektiven in einer sicheren Branche. Studieren und verdienen: Schon ab dem ersten Monat verdienen Sie Ihr eigenes Geld: 1. Jahr 1.300 €, 2. Jahr 1.500 €, 3. Jahr 1.700 € (Stand: August 2013). Verantwortung übernehmen: Nach Ihrem Studium Handel / Konsumgüterhandel und der Einarbeitung zum Verkaufsleiter (w/m) sind Sie für 80 – 100 Mitarbeiter und 5 – 6 Filialen verantwortlich. Mit dem Studium Warenwirtschaft & Logistik ist Ihr Ziel eine Position als Abteilungsleiter (w/m) in einem unserer deutschlandweiten Logistikzentren. Voraussetzung: Die Voraussetzung für das Studium ist die Allgemeine Hochschulreife, die Fachgebundene Hochschulreife oder die Fachhochschulreife.* Theorie und Praxis: Beim Studium Handel / Konsumgüterhandel verbringen Sie die Praxisphasen in unterschiedlichen Lidl-Filialen einer unserer Regionalgesellschaften. Im Studium Warenwirtschaft & Logistik ist Ihr Arbeitsplatz eines unserer 38 regionalen Logistikzentren. Die Studienphasen absolvieren Sie je nach Regionalgesellschaft und Studiengang an einer der folgenden Dualen Hochschulen / Berufsakademien: Mosbach / Heilbronn, Mannheim, Lörrach, Hamburg, Berlin.

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16 Freiheit Roman hat keine Ahnung, was er nach dem Abi tun soll. Ein Jahr des Aufbruchs. 22 Aufregung Ausfragetipps vom Pressechef des FC Bayern. 24 Befreiung Wer auszieht, sollte auch ausmisten. 26 Abschluss Zu Besuch in einer Gefängnisschule. 30 Reue Warum wurde unser Autor zum Mobber? 36 Ratschlag Was Eltern über die Zukunft ihrer Kinder zu wissen glauben. 40 Rätsel Finde heraus, wer welches Abifach gewählt hat.

or-studium – l e h c a b s e l a u D Studieren mit gehalt.

42 Interview Eine Partie „Mensch, ärgere Dich nicht“ mit Konstantin Gropper.

Lidl lohnt sich.


Unser Geschmack wandelt sich im Lauf des Lebens. Doch zu jeder Zeit sagt das, was wir gerade mögen, ein bisschen was über uns selbst. Antoine, 22 1. Welchen Film hast du als Letzten gesehen und gemocht? 2. Welches Buch hast du zuletzt gern gelesen? 3. Auf welcher Website bist du gerade Stammgast? 4. Worauf könntest du im Moment nicht verzichten? 5. Welche Fernsehsendung oder -serie findest du gerade gut? 6. Welche Kleidung hast du zuletzt gekauft und gemocht? 7. Welche Kunst oder Ausstellung findest du gerade gut?

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VON TIM BRUENING / FOTO

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4 AUF WEISSWEINSCHORLE

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„PIXAR – 25 YEARS OF ANIMATION“ IM MUSEUM FÜR KUNST & GEWERBE, HAMBURG

WAS ANTOINE MAG, HABEN WIR HIER GEFUNDEN FACEBOOK.COM, FOXSEARCHLIGHT.COM, DIOGENES.DE, CBS.COM, VANS.COM, ILLUSTRATION PIXAR LOU ROMANO, COLORSCRIPT, DIE UNGLAUBLICHEN, 2004, DIGITALZEICHNUNG, © DISNEY/PIXAR

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Noah

wird mein Name sein VON JAZZBERTIE / TEXT & JAN ROBERT DÜNNWELLER / ILLUSTRATIONEN

Ein Mädchen zu sein, das fühlte sich immer schon falsch an. Deshalb hat Noah sich vor seine Klasse gestellt und gesagt, wer er wirklich ist. Seitdem ist die Schule ein besserer Ort. Chronologie einer schwierigen Verwandlung.

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ACHTUNG! MONSTER!

Morgens an der Bushaltestelle oder auf dem Pausenhof. Menschen in etwa so alt wie ich. Sie kennen mich nicht. Sie gucken nicht nett, eher – es ist schwer zu beschreiben – als sei ich ein Tier im Zoo. Sie gucken von oben herab. Leute, mit denen ich in der Grundschule oder in einem Sportverein war. Sie grüßen nicht. Stattdessen gucken sie und starren, als sei ich ein Monster. INNENSICHT

Transsein ist selbstverständlich, es ist immer da, wie unsichtbar. Mein ganzes Leben über. Wenn ich mich umziehe, wenn ich dusche. Falsch. Es ist etwas, das ich nicht will. Ich will keine Brüste, keine Hüfte, nicht einmal das Wort „Frau“. Es fällt mir schwer, das zu schreiben, so tief und grundsätzlich ist meine Abneigung. Es ist ein inneres Widerstreben. Es ist nervig und tut weh. Ich kann aus Jungen- oder aus Mädchensicht denken. Die Jungenart ist entspannter. Als Mädchen ist alles krampfig, kompliziert, unangenehm. Mir ist es lieber, ein Junge zu sein. Das erscheint sehr einfach. Was es so elend und schwer macht, ist meine Umwelt. Ich muss es erklären, ich kann nicht einfach als ein Junge leben, ich muss es publik machen. Dadurch werde ich angreifbar, verletzlich, nackt. Es ist nicht gerecht, dass man sich outen, sich rechtfertigen, sich öffnen muss. Aber ich muss diese UngeUnge rechtigkeit in Kauf nehmen, um glücklich zu sein. Denn es geht um das Glücklichsein. WOHER ICH ES WEISS

Meine frühesten Erinnerungen: Jedes Mal, wenn ich abends schlafen ging, wünschte ich mir, mit einem Penis aufzuwachen. Ich wusste,

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dass das nicht funktionieren würde, trotzdem war ich jeden Morgen enttäuscht. Ich hatte die Angewohnheit, in der dritten Person von mir zu denken, und dachte mich als „er“. Irgendwann fiel mir auf, dass da was nicht stimmte. Wenn meine Mutter mich und meinen Bruder zum Friseur schleppte, wollte ich meine Haare so ratzekurz wie er; leider durfte ich nie. Ich wusste, dass ich anders war als die anderen Mädchen, hoffte aber immer noch, mal eines zu treffen, das so war wie ich. Aber egal wo ich hinkam, nie war jemand wie ich. Also musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich anders war und alle anderen normal. Dann verliebte ich mich in ein Mädchen (und dann noch in weitere) und wurde sozusagen lesbisch. Aber auch da war niemand wie ich. Mir fielen wieder diese Geschichten ein, aus der Zeit, als ich klein war. Mir fiel auf, dass ich meine Brüste immer komisch fand, immer fehl am Platz, dass mir meine weibliche Körperform nicht gefiel. Dass da in mir diese Sehnsucht oder dieser Neid auf jeden Jungen oder Mann war. Und dann wusste ich, dass ich ein Transjunge bin, und band meine Brust ab, kaufte ein paar T-Shirts aus der Herrenabteilung und konnte wieder besser in den Spiegel gucken. Fand mit einer flachen Brust nicht mehr ganz so fremd, was ich da sah. TRANS IN DER SCHULE

Am Anfang war es egal. Ich war sechs Jahre alt und hatte noch meine Freunde aus dem Kindergarten. Aber ab der dritten oder vierten Klasse hatte ich keine Freunde mehr. Die Jungs wollten mich nicht, und ich wollte nicht zu den Mädchen. Vier Jahre später kam ich auf das Gymnasium, auf dem ich heute immer noch bin, und fand da genau drei Freunde. Einen Freak und zwei Mädchen. Ich war eine ungepflegte und unglückliche Erscheinung. Unsere Freundschaft ist vor

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Noah Hasst seinen Mädchenkörper, er will eine Geschlechts-angleichung. Um auch im Pass ein Junge sein zu dürfen, muss er zwei psychologische Gutachten vorlegen und braucht einen Gerichtsbeschluss. Eine Operation hingegen ist nicht mehr notwendig, seit das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Bestimmung des sogenannten Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt hat.

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allem dadurch gekennzeichnet, dass wir nie über Persönliches sprechen. In der Neunten kam ich in eine neue Klasse und wurde Teil einer Mädchenclique, mit der ich immer noch meine freien Stunden verbringe.

mein Muttermal), und meine riesengroße und einzigartige Persönlichkeit wird durch pauschale Wendungen heruntergebrochen, herabgesetzt. „Transident“ ist ein Label, eine Schublade, etwas, damit andere es fassen können. Ich könnte diesen Umstand auch „Pustekuchen“ nennen. Es wäre kein Unterschied. Außer, dass ich es deutlich toller fände.

DIE STÄNDIGEN KONSTANTEN

1. Ignoranz. Warum nennt man mich, der fast perfekt aussieht wie ein Junge, „Frau Soundso“ oder „Mädel“? Ich finde das sehr unhöflich. Wobei ich es natürlich nachvollziehen kann. 2. Distanzhaltung von Leuten in meinen Kursen. Sie wollen nicht wirklich was mit mir zu tun haben, weil sie nicht wissen, wie sie mich einordnen sollen. 3. Sportunterricht macht keinen Spaß, wenn man sich mit den Mädchen umziehen soll. Es ist mir einfach peinlich. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn wir Schwimmunterricht hätten. Festzuhalten: Schule ist generell kein schöner Ort, aber für TransTrans menschen ungleich unschöner. NATUR

In Diskussionen sagen Leute manchmal, dass Transidentität unlogisch sei. Weil man seinen Körper vor seinem Bewusstsein hat. Das ist wahr. Aber diese Feststellung ändert nichts für mich. Sie sagt, ich solle mich meinem Körper anpassen. Ich sage: Ich bin ein Mensch. Und einer der wesentlichsten Züge der Anthropologie ist das „Ich“, und es ist üblich, seinen Verstand über den Körper bestimmen zu lassen. Wenn ich Hunger habe, aber keine Lust aufzustehen. Wenn ich Instrumente spiele und mit hundertfachen Wiederholungen meinen Fingern Bewegungsabläufe einbläue. Noch nie hat zu mir jemand gesagt, Musiker seien absurd, weil sie ihren Muskeln „unnatürliche“ Bewegungsabläufe antrainierten. Aber ich soll meinen Körper als Grundlage für meine Identität nehmen? Bloß weil er schon länger da ist als mein Bewusstsein? DIE SACHE MIT DEM NAMEN

Ja, ich habe einen. Ich mag ihn. Aber: Es ist ein Mädchenname. Und das ist doof. Ich suche gerade einen neuen beziehungsweise probiere Provisorien aus. Aber immer bleibt deutlich, dass das so eigentlich nicht funktioniert. Man bekommt einen Namen. Der Name ist im Idealfall die Verwortlichung des Ichs. Das Grundsätzliche zur Selbstidentifikation. Ein Name beschützt einen, ein Name macht einen zum Individuum, zum Menschen. Und gleichzeitig ist es Zufall, wie man heißt. Was ich anstrebe, ist ein Ding der Unmöglichkeit: einen neuen Namen, der eine Verwortlichung meines Ichs ist. Das ist ein übertriebener Anspruch. Den Namen, den ich momentan benutze, mag ich nicht wirklich, der einzig gute Aspekt ist: Er fängt mit N an, und ich kenne niemanden, der so heißt. Sobald ich unter einem anderen Namen auftrete, habe ich das Gefühl, eine Rolle zu spielen. Die Rolle meines Lebens. Aber das ist kein Spiel, das ist Ernst. Ernster geht es nicht. „IM FALSCHEN KÖRPER GEBOREN“

Stereotypen und Allgemeinplätze sind notwendig, um etwas einfach zu erklären. Zum Beispiel Transidentität: Man sagt, jemand sei „im falschen Körper geboren“ oder „fühle sich als…, sei aber biologisch …“. Ich verstehe, dass es notwendig ist, aber es stört mich auch sehr. Denn nicht mein ganzer Körper ist falsch (meine Nase ist super oder

NOAH

wird mein Name sein. hehe :–) COMING-OUT

Montag ist Stichtag: Ich werde mich vor jeden meiner verdammten elf (!) Kurse stellen und sagen, wer ich wirklich bin. Ich habe Angst, ich habe Panik. Aber es geht nicht mehr anders. Ich habe es Mittwoch so mit meinem Stammkursleiter besprochen. Dieses Coming-out ist ambivalent: Es ist das Schrecklichste, denn es ist schlimm, mich Menschen, die ich verabscheue, öffnen zu müssen. Es fühlt sich an, als verkaufte ich meine Seele. Ich entblöße mich und bin auf positive Reaktionen angewiesen. Und es ist das Schönste, das ich in meinem Leben getan habe. Ich werde leben können, wie ich es will, ich muss mich nicht mehr verstecken, ich übernehme die Verantwortung für mein Schicksal. Und: Morgen erster „richtiger“ Psychotherapie-Termin. Wozu? Der Therapeut stellt die Indikation für die medizinische Angleichung, das heißt Hormonbehandlung und Operation. Und er schreibt das erste von zwei Gutachten für die amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung. COMING-OUT

Ich habe eine Rede gehalten. Und nach dem dritten Mal frei gesprochen. „Ich bin transident. Ich bin kein Mädchen, keine Frau. Ich bin ein Junge. Einer von tausend Menschen ist transident, und an dieser Schule sind wir sogar mindestens zu zweit. Transidentität ist angeboren und bedeutet, dass sich jemand mit seinem zugewiesenen und anerzogenen Geschlecht nicht identifizieren kann. Einige Frauen haben xy- und einige Männer xx-Chromosomen. Einige sind einfach nur Menschen. Identität hat nichts mit dem körperlichen Geschlecht zu tun. Und trans zu sein ist keine Krankheit. Ich wünsche mir, seit ich mich erinnern kann, als Junge zu leben. Leider kam nie ein Zauberer, um mich zu verwandeln. Also werde ich mein eigener Zauberer sein und ab sofort als „Noah“ und mit maskulinen Pronomen herumlaufen. Ich werde nicht mehr auf etwas anderes reagieren. Wenn sich einer mal verspricht, ist das kein Ding, aber nicht mit Absicht. Weil es wehtut (und ich auch herausfinden muss, ob Dinge besser werden, wenn ich mein Leben als Junge führe). Wenn ihr Fragen habt – Was sagen deine Eltern dazu? Wie bist du auf den Namen gekommen? Welches ist dein Lieblingshaustier? –, dann fragt ehrlich und ohne Scheu.“ Es gab keine Fragen, dafür gute Akzeptanz. Yeii! Der Nase nach segelt Noah ins Unbekannte.

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JUNGSZIMMER

NOAH KRIEGT BLOCKER

Ich bin wieder zu Hause, von meiner einwöchigen Schulfahrt. Schön war’s: Zwar durfte ich, wegen Weigerung einiger Jungs, nicht in das Zimmer, in das ich wollte; aber dafür mit zwei anderen, die sehr nett und freundlich waren. Yeah! Am schönsten war es, mit den Worten „Da ist noch ein Herr, der hier nicht hingehört“ nachts aus einem Mädchenzimmer geworfen zu werden. Eine Woche nur „Noah“: Es fühlt sich komisch und ungewohnt an, aber schon besser als am ersten Tag. Über die Hormontherapie habe ich mir gedacht: Eines Tages werde ich sie machen. Absolut sicher. Aber ich will so lange damit warten wie möglich. Unabhängigkeit! Aber erst kommt morgen meine kleine Verwandte, und ich werde meine „Trans-Pride“-Sachen weghängen. Meine restliche Verwandtschaft und das Kaff, in dem ich wohne, haben noch keine Ahnung, und ich will sie nicht in mein Doppelleben hineinziehen.

Juhu! In 21 Tagen habe ich einen Termin in der Uniklinik Frankfurt in der endokrinologischen Sprechstunde. Dann bekomme ich (nehme ich an) keine Blocker, sondern Blut abgenommen und einen Zettel für meine Eltern (minderjährig, oder was?). Aber dann, dann krieg ich Blocker. Ich weiß nicht ganz genau, was die bewirken, auf jeden Fall aber Folgendes: Der hormonelle Status wird in den eines Kindes überführt. Wie sagte ein Freund von mir? Eigentlich bewirken sie nichts. Es wächst halt nichts weiter und Mensch menstruiert nicht mehr. Noah ist schon ziemlich aufgeregt.

OSZILLATION

Oszillation ist das Schwanken zwischen den Extremen. In meinem Fall: Euphorie versus Verzweiflung. Ich war beim Friseur, sehe dementsprechend schick aus und habe Montag einen Termin mit einer neuen Psychotherapeutin. Und da fängt das Elend doch an: eine neue Therapeutin, weil der alte ein unverschämter Vollidiot war, der nach zwei Gesprächen mit mir meiner Mutter vorgeworfen hat, ich könne mich nicht als Frau identifizieren, weil sie mir nie eine weibliche Rolle vorgelebt habe. Des Weiteren sei ich nur neidisch auf meinen Bruder und wolle nicht erwachsen werden. Was für ein Armutszeugnis des Jugendpsychiatriesystems. Ich, der ich seit Monaten einen verfluchten Therapieplatz suche, auf Wartelisten von Sprechstunden stehe und nur weitergeschickt werde. Ich will so gern mein Leben in den Griff bekommen. Aber wie??? ZWEI WELTEN

Schule ist gut, Schule ist der Ort, an dem ich Noah bin. An dem ich meine Freunde treffe und mit ihnen lache. Ich faile in Latein und Mathe und mit meinen Deutschaufsätzen, aber sonst ist es fein. Und es wird Frühling, und da ist Licht und Wärme und Farben! Aber die Welten, in denen ich noch „Mädchen“ zu sein scheine und meinen Namen hasse! Ich will den Vorhang herunterreißen! Ich müsste mit meiner Familie reden. Mit wie vielen Menschen lebe ich zusammen, mit denen ich noch nie geredet, wirklich ein ernsthaftes, persönliches Gespräch geführt habe? Es sind zu viele. Also: Der Plan hat sich nicht geändert, den Weg gehe ich weiter bis ans Ziel, weil es für mich keine andere Möglichkeit gibt, nicht in DeDe pression zu versinken. Aber es ist ein anstrengender, schmerzhafter, frustrierender, langer, einsamer Weg. Ahoi! DAS ENTWEDER-ODER

Es gibt zwei Möglichkeiten. Weiterleben wie bisher, also ein Doppelleben – halb Junge, halb Mädchen. Mich in einem Jahr nach dem Abi wegschleichen und irgendwo ein neues, richtiges Leben anfangen. Aber ich habe Freunde hier. Ich werde zurückkommen, mindestens um meine Familie zu besuchen. Dann müsste ich allen Leuten von früher aus dem Weg gehen. Das wäre nicht fair und widerspricht meiner Moral. Ich kann nicht einfach so von den Menschen, mit denen ich viele schöne Stunden verbracht habe, abhauen. Das ist zu anstandslos und unwürdig und respektlos. Wenn ich trans leben will, muss ich mich also outen. Ich weiß noch nicht, wann und wie und wo anfangen. Aber das ist immerhin meine momentane theoretische Grundlage für die Zukunft.

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RESUMEE

Ein Jahr ist es her, dass ich zum ersten Mal hier geschrieben hab. Ich wollte mich herausbrüllen, der Welt offenbaren, wie ich bin, und hab es mich nicht getraut. Der Witz ist, dass ich immer noch nicht so richrich tig weiß, wer ich bin. Ich bin ermüdet und erschöpft von dem ganzen Definitionsgemöbs. Ich will einfach nur sein. Mir ist es nicht sehr wichtig zu sagen: „Ich bin männlich!“ Ich bin Mensch und Ich in mir. Aber es ist wichtig, dass ich als männlich angesehen und genommen werde. Gelegentlich definiere ich mich innerlich stark als männlich, aber meistens ist es nur eine Anti-Definition zu weiblich. Ich suche eine Form, gut leben zu können. Begutachtung – Coming-out – Therapie – Hormonblocker. Eine Erfolgsgeschichte? Es ist kein Erfolg, dass ich bei etwa meiner halben Familie noch ungeoutet bin, einfach weil ich Angst habe. Nicht vor ihnen, sondern vor mir selbst. Weil ich vielleicht doch unsicherer bin, als ich möchte. Vieles wird anscheinend nicht besser. Aber ich weiß nicht, woran das liegt, und vielleicht ist es ja besser geworden, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ich habe zum Beispiel so viele nette Menschen kennengelernt und Freundschaften geknüpft und vertieft. Allerdings ist es ein Erfolg, dass ich geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe. Es ist ein Erfolg, tatsächlich als Junge erträglicher leben zu können. Ich bin freier, ich bin weniger gehemmt, ich verfüge über mehr Verhaltensweisen, ich bin weniger aggressiv und werde nicht ständig von meinem alten Namen getriggert. Es ist ein Erfolg und Geschenk, dass die anderen mich akzeptieren. Ich gehe mit den anderen Jungs in die Umkleide und auf das Klo. Ich kann meinen Namen auf Kursarbeiten schreiben und werde mit meinem Namen aufgerufen. Mein Stammku rs-Deutsch leh rer Am 26. Juni 2012 um 22.21 Uhr hat Noah unter hat sogar erreicht, dass dem Pseudonym jazzbertie seinen ersten Text mein Zeugnis meinen bei jetzt.de, der jungen Online-Community der Namen trägt. Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Er wolle, Das ist alles wichtig so kündigte er damals an, verständlich machen, für mich. Weil ich an- was er selber nicht verstehe. Seitdem hat er in mehr als 30 Einträgen regelmäßig darüber ders ersticke. geschrieben, wie es sich anfühlt, als Mädchen geboren und erzogen zu werden, sich aber nicht als Mädchen zu fühlen. Dieser Text besteht aus Auszügen seiner bewegenden Einträge. Alle weiteren findest du unter jazzbertie.jetzt.de/


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Um die Ec gebracht VON JAN STREMMEL / TEXT

Die gute Nachricht: Immer weniger Jugendliche rauchen. Die schlechte: Das Rauchereck ist verschwunden. Nachruf auf einen Mythos. Meine Karriere als Raucher war kurz und glanzlos. Sie dauerte knapp vier Jahre, von 15 bis 19. Wobei ich ohnehin nur im streng physikalischen Sinne rauchte; ideologisch gesehen, war ich immer ein Nichtraucher. Denn wer es ernst meint mit dem Tabak, raucht auch vor dem Frühstück, nach dem Sport und bei Mandelentzündung. Genau genommen rauchte ich überhaupt vor allem aus einem Grund: wegen des Raucherecks in der Schule. Mit der Kippenschachtel am Automaten löste man damals nämlich gleichzeitig eine Eintrittskarte für den besten Ort des Schulgeländes – diesen mit Spuckeflecken und platt getretenen Kaugummis übersäten Ort. Dort stand ich die zwei Sommer und zwei Winter von meinem 18. Geburtstag (Volljährigkeit war Voraussetzung für das Rauchen an der Schule) bis zum Abitur. Jede kleine Pause, jede große Pause und pünktlich nach dem 13-Uhr-Gong stellte ich mich in den lockeren Halbkreis aus Kollegiaten um den hüfthohen Ascher und zog an den roten Gauloises, die wir alle nur deshalb rauchten, weil irgendwann mal jemand damit angefangen hatte. Immer im September mussten wir das Rauchereck suchen. Es zog jährlich um. So wie man am ersten Schultag nach den Sommerferien sein neues Klassenzimmer finden muss, stand auch der Aschenbecher jedes Mal woanders um die Schule herum: zuerst neben den Tischtennisplatten vor dem Musiksaal. Dann am Tor zum Schulhof. Schließlich, als ich mit Übertritt in die Kollegstufe endlich selbst befugt war, das gelobte Eck zu betreten, fand ich es, geschrumpft und im Schatten sehr hoher Fichten, hinter dem Gebäude neben dem Parkplatz. Stück für Stück war der Aschenbecher an die Peripherie gerückt worden, immer weiter weg aus dem Sichtfeld von Lehrern, Schülern und zornigen Elternbeiräten. Diese Verdrängung war eine Art Vorbote für eine Entwicklung, die ich damals noch nicht sah, die aber kurz nach meinem Abitur in die offizielle Abschaffung aller Raucherecken in Bayern mündete. Seither gilt ein generelles Rauchverbot für Schüler und Lehrer. Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Sommer dieses Jahres ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Verdrängungsprozess Früchte trägt: Sie besagt, dass die Zahl der jugendlichen Raucher in den vergangenen zehn Jahren um mehr als die Hälfte gesunken ist. 2001 rauchten noch knapp 28 Prozent der Zwölfbis Siebzehnjährigen, 2012 nur noch 12 Prozent. Fragt man die Herausgeber der Studie nach den Gründen, sprechen sie von Nichtraucherkampagnen, Informationsständen und MitmachParcours an den Schulen. Der Rückgang der Raucher sei aber vor allem Zeichen eines größeren gesellschaftlichen Wandels, der bei den Jugendlichen zuerst sichtbar werde: Die strengen Regeln für Tabak-

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werbung, die steigenden Preise, die leidigen Diskussionen um Nichtraucherkneipen lassen weniger Junge damit anfangen. Rauchen bedeutet heute zuallererst: Krankheit. Im Rauchereck war es für unsere von der Zigarettenwerbung weich geklopften Hirne einfach nur Freiheit. Dabei hatte der Wandel schon damals eingesetzt. Wir merkten das daran, dass die Lehrer immer zuverlässiger dafür sorgten, dass sich keine minderjährigen Schüler im Rauchereck aufhielten, die sich an unserer Sucht ein Beispiel nehmen könnten. In unserem Eck wurden wir also gleichzeitig abgeschirmt und beschützt. Wie eine seltene, aber lästige Spezies, die sich hinter dem Haus eingenistet hatte und irgendwann, nach dem Abitur, schon verschwinden würde. Diese Abschirmung war für uns psychologisch enorm wichtig. Der Abstand zu den Kindern gab uns dienstältesten Schülern das erhabene Gefühl, doch irgendwie erwachsen zu sein. Das Schlimme an den letzten Schuljahren ist ja – bei aller Zielgeraden-Euphorie –, dass man zwar volljährig ist, aber trotz Führerschein, Auto oder Nasenpiercing noch immer fremdbestimmt durch so profane Dinge wie Pausengongs und Stegreifaufgaben aus der Mathematik. Im Rauchereck waren wir zwar auch noch Schüler. Aber immerhin die einzigen mit einer Lizenz zum Qualmen. Weshalb viele auch dann noch täglich im Rauchereck standen, als sie sich das Rauchen wieder abgewöhnt hatten. Natürlich hätten sie jetzt ihre Pausen auch mit den Nichtrauchern verbringen können, die auf der Vorderseite des Gebäudes in ihre Bierschinkenbrote bissen und Vokabelkärtchen blätterten. Aber will man das, nachdem man schon die nikotinschwangere Freiheit geschnuppert hat? Das Rauchereck war immer noch der beste Ort der Schule, unabhängig davon, ob man seinen funktionalen Zweck nun nutzte oder nicht. Schließlich geht man ja auch in einen Club, wenn man nicht tanzt. Wenn sich der Trend so fortsetzt wie bisher, dürfte in zwanzig Jahren kaum noch ein Jugendlicher rauchen. Aber es gibt längst neue Baustellen: Die Sucht der Zukunft, warnt man bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sei die Internet- und Computerspielsucht. Um ihr entgegenzuwirken, entwickelt man gerade Kampagnen und Aufklärungsseminare für Schüler. Wenn in ein paar Jahrzehnten die Raucherecke also endgültig in Vergessenheit geraten ist, werden sich die Schulen mit den Süchten der Zukunft arrangiert haben. Vielleicht wird es dann Internet- und Computerspielecken geben, in die sich die Oberstufenschüler zurückziehen dürfen. Womöglich werden diese Rückzugsorte zunächst neben den Tischtennisplatten beim Musiksaal installiert. Aber das wird nur der Anfang sein.


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VON CHRISTIAN HELTEN / PROTOKOLL & TANJA KERNWEISS / FOTOGRAFIE

Plan: los! ROMAN FLEISCHMANN HAT 2012 ABITUR GEMACHT. ZU DIESER ZEIT WOHNTE ER IN GROSSHADERN, EINEM STADTTEIL AM SÜDWESTLICHEN RAND MÜNCHENS. OB ER DORT EIN JAHR SPÄTER IMMER NOCH LEBEN WÜRDE, KONNTE ER DA NOCH NICHT SAGEN.

In einem Jahr kann viel passieren, besonders wenn man gerade Abitur gemacht hat. Nur: Was macht man mit der neuen Freiheit? Wir haben Roman zwölf Monate begleitet.


ERLEICHTERT: NACH DER LETZTEN ABI-PRÜFUNG „DEN SOMMER NACH DEM ABI WILL ICH EINFACH NUR GENIESSEN. NUR FEIERN UND WEGFAHREN. ICH HABE MIR VORGENOMMEN, MIR JETZT GAR KEINE GEDANKEN DARÜBER ZU MACHEN, WAS ICH DANACH MACHE. DIE LETZTE PRÜFUNG WAR EINE GROSSE ERLEICHTERUNG. ABER AUCH KOMISCH, WEIL ICH DACHTE, ICH HÄTTE MUSIK, EIGENTLICH MEIN STECKENPFERD, IN DEN SAND GESETZT. ICH BIN MIT 1,7 AUS DEM ABI RAUS. ICH WÄRE MIT 2,4 ZUFRIEDEN GEWESEN, WEIL ICH KEIN BESTIMMTES FACH ANGESTREBT HABE UND KEINEN BESTIMMTEN SCHNITT BRAUCHTE.“

„Ich will kein ganzes Jahr versandeln. Ich will an die Uni.“

UNENTSCHLOSSEN: VOR DEN REISEN IM SOMMER „ICH WILL KEIN GANZES JAHR VERSANDELN. ICH WILL AN DIE UNI, AUCH WENN ICH NOCH NICHT WEISS, WAS ICH STUDIEREN WILL. EINE AUSBILDUNG WILL ICH AUF KEINEN FALL MACHEN. MEINE BRÜDER HABEN DAMIT KEINE GUTE ERFAHRUNG GEMACHT, UND NACH ALLEM, WAS ICH VON MEINEN FREUNDEN DARÜBER GEHÖRT HABE, IST DAS NICHTS FÜR MICH. ICH ARBEITE GERNE PHASENWEISE, TEILE MIR DIE ZEIT SELBST EIN. DANN KANN ICH AUCH GAS GEBEN UND VIEL ARBEITEN. ABER DIESES STARRE WÄRE NICHTS FÜR MICH.“

ZUVERSICHTLICH: NACH DEN REISEN „ICH BIN ZUFÄLLIG AUF DIE HOCHSCHULE FÜR PHILOSOPHIE IN MÜNCHEN GESTOSSEN. PHILOSOPHISCHE TEXTE ZU LESEN HAT MIR SCHON WÄHREND DES ABITURS SPASS GEMACHT. JETZT, NACHDEM ICH DEN SOMMER UNTERWEGS WAR, HABE ICH ENTSCHIEDEN: DA SCHREIBE ICH MICH MAL EIN. DIE ENTSCHEIDUNG GETROFFEN ZU HABEN FÜHLT SICH GUT AN. AUCH WENN DAS NUR DER PLAN FÜR DAS NÄCHSTE JAHR IST UND NICHT UNBEDINGT FÜR DIE NÄCHSTEN DREI.“

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VERWURZELT: IM MÜNCHNER SOMMER „NACH STUDIENGÄNGEN IN ANDEREN STÄDTEN HABE ICH MICH NICHT UMGESCHAUT. ES GIBT MOMENTAN ZU VIELE DINGE, DIE MICH HIER HALTEN: ICH HABE EINE BAND, MIT DER ES SEHR GUT LÄUFT UND DIE MIR VIEL SPASS MACHT. ICH BIN BEI DEN PFADFINDERN UND WERDE DA JETZT EINE GRUPPE LEITEN. EIN PAAR FREUNDE UND ICH ÜBERLEGEN, EINE WG ZU GRÜNDEN, ABER ICH GLAUBE NICHT, DASS DARAUS SOFORT WAS WIRD. ICH WILL GAR NICHT SO UNBEDINGT AUSZIEHEN, ICH HABE VON MEINEN ELTERN AUS NUR 20 MINUTEN IN DIE INNENSTADT UND WÜSSTE AUCH GAR NICHT, WIE ICH DAS FINANZIEREN SOLL.“

RUHELOS: VOR SEMESTERBEGINN „ES WAR EIN SEHR GUTER SOMMER. ABER JETZT MERKE ICH, DASS ICH SCHON ZU LANGE NICHTS TUE UND BEI MIR SO EIN INNERER DRUCK ENTSTEHT. MOMENTAN IST ES BESONDERS SCHLIMM, WEIL ICH AUCH NOCH STURMFREI HABE. ICH MUSS NICHTS TUN, MICH AUF NICHTS VORBEREITEN, MICH UM NICHTS KÜMMERN. ICH HABE KEIN WIRKLICHES ZIEL. ICH SCHREIBE VIELLEICHT MAL EIN LIED, ABER MACHE NICHTS HANDFESTES. DESHALB IST ES GUT, DASS DIE UNI BALD LOSGEHT. WEIL ICH GERADE STILL STEHE. UND DAS IST ETWAS, WAS ICH NICHT BESONDERS MAG.“

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„Ich stehe gerade still – und das mag ich nicht besonders.“

ERNÜCHTERT: NACH DEM ERSTEN UNI-TAG „DIE ERSTE VORLESUNG WAR ERSCHRECKEND. RELIGIONSPHILOSOPHIE. STAUBTROCKEN. UND DER PROF IST NICHT SANFT EINGESTIEGEN, HAT KEINE RÜCKSICHT AUF ERST-SEMESTER GENOMMEN. DA HABE ICH GEDACHT: HOPPLA, ICH SITZE IM FALSCHEN STUDIUM. ICH KANNTE AUCH NOCH NIEMANDEN, MIT DEM ICH MICH HÄTTE UNTERHALTEN KÖNNEN.“


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SELBSTBESTIMMT: IN DEN SEMESTERFERIEN „NACH DEM ERSTEN SEMESTER MUSS ICH SAGEN: DAS PHILOSOPHIESTUDIUM IST GANZ ANDERS, ALS ICH ES ERWARTET HABE. ICH WUSSTE JA NICHT WIRKLICH, WORAUF ICH MICH EINLASSE, ABER ES IST VIEL KONKRETER, ALS ICH ES MIR VORGESTELLT HABE. IM ENDEFFEKT IST ES DOCH EIN LERNSTUDIUM. DU LERNST DAS, WAS DER MEINUNG DEINES PROFS ENTSPRICHT, UND DAS GIBST DU DANN WIEDER. ICH GENIESSE ES TOTAL, DASS ICH MIR DIE ARBEIT SELBST EINTEILEN KANN. EINE ZEIT LANG WAR ICH ZUM BEISPIEL VIEL MIT DER BAND IM STUDIO, WIR HABEN INTENSIV GEPROBT UND AUFGENOMMEN. DA HABE ICH DIE UNI OFT SAUSENLASSEN. ICH WEISS ABER, DASS ICH DAS AM ENDE VOR DER PRÜFUNG WIEDER AUFHOLEN KANN. IM ERSTEN SEMESTER HAT DAS JEDENFALLS GUT FUNKTIONIERT.“

„Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich im ersten Semester nur Glück hatte.“

VERWIRRT: IM ERSTEN SEMESTER „ICH BIN OFT AUF HILFE ANGEWIESEN, AUCH WEIL ICH OFT NICHT DA BIN. ICH BIN NIE DER, DER GENAU WEISS, WANN UND WO WELCHE VERANSTALTUNG IST UND WANN ETWAS AUSFÄLLT. ICH HABE ABER SCHNELL LEUTE GEFUNDEN, DIE MICH EIN BISSCHEN AUF DEM LAUFENDEN HALTEN. ICH WAR DER EINZIGE AN MEINER UNI, DER MIT SO EINER SCHAU-MER-MAL-MENTALITÄT INS STUDIUM GEGANGEN IST. DAFÜR HABE ICH EIN BISSCHEN SPOTT ABBEKOMMEN, AUCH WEIL ICH DER JÜNGSTE BIN UND DANN AUCH NOCH OFT FEHLE.“

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UNBEKÜMMERT: VOR DEN HAUSARBEITEN „WENN ICH SAGE, DASS ICH PHILOSOPHIE STUDIERE, KOMMT EIGENTLICH IMMER EIN SCHELMISCHES GRINSEN ZURÜCK, UND MANCHE FRAGEN SOFORT, WAS MAN DENN DAMIT GENAU MACHT. AM ANFANG HABE ICH MIR NOCH ETWAS ZURECHTGELEGT UND SO GETAN, ALS WÜSSTE ICH DAS. ABER TATSACHE IST JA, DASS ICH KEINE AHNUNG HABE. VIELLEICHT FANGE ICH AUCH EIN ZWEITES STUDIUM AN UND MACHE PHILOSOPHIE NUR AUF MINIMALFLAMME WEITER. ODER ICH SETZE SPÄTER EINEN HANDFESTEREN MASTER DRAUF, JOURNALISMUS WÜRDE MICH INTERESSIEREN. DIESE ENTSCHEIDUNGEN VERTAGE ICH ABER ERST MAL, BIS NACH DEN SEMESTERFERIEN, WENN ICH PRÜFUNGEN UND HAUSARBEITEN GESCHRIEBEN HABE UND WEISS, OB DAS WIRKLICH ALLES SO FUNKTIONIERT ODER OB ICH IM ERSTEN SEMESTER BLOSS GLÜCK HATTE.“

ERWEITERT: NACH EINEM JAHR „MEIN FREUNDESKREIS HAT SICH EIN BISSCHEN VERÄNDERT IN DEM JAHR SEIT DEM ABI. MEINE ALTE CLIQUE HAT SICH EIN BISSCHEN AUFGESPLITTET, WEIL MANCHE WEGGEGANGEN ODER VERREIST SIND. ABER DIE MEISTEN ENGEN FREUNDE SIND NOCH DA. DIE LEUTE VON DER UNI BILDEN EINE ART ZWEITE EBENE. DA ÜBERSCHNEIDET SICH FAST GAR NICHTS. AN DER UNI HABE ICH AUCH VIEL WENIGER FREUNDE, DAS IST EINE GANZ ANDERE DIMENSION. WAHRSCHEINLICH, WEIL ICH NICHT DARAUF ANGEWIESEN BIN, MIR AN DER UNI NEUE FREUNDE ZU SUCHEN. ICH BIN NICHT IMMER DABEI, WENN DIE UNI-LEUTE WAS MACHEN, ABER EIN PAAR GIBT ES SCHON, ZU DENEN ICH DIE BEZIEHUNG AUCH ECHT PFLEGE. AUSGEZOGEN BIN ICH IMMER NOCH NICHT. WIR HABEN IMMER NOCH UNSERE WG-PLÄNE, ABER SIE SIND NOCH NICHT VIEL KONKRETER GEWORDEN.“

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VON KATHRIN HOLLMER / TEXT

Mach das Nebelhorn! Wenn Fußballer nach dem Spiel Interviews geben, ist das so ähnlich wie das Ausgefragtwerden in der Schule: Sie stehen unter Druck und wissen oft nicht, was sie sagen sollen. Markus Hörwick, Pressesprecher des FC Bayern, bringt ihnen bei, wie sie auf fiese Fragen reagieren müssen. Er hat uns zehn Tipps gegeben, die an der Tafel genauso gut funktionieren wie vor dem Mikro des Reporters.

1 2 3 4 5 Bleib nicht bei der Sache! Fußballer sind, wie alle Prominenten, Meister darin, zu reden und dabei nichts zu sagen. Auf bestimmte Fragen wollen sie einfach nicht antworten. In der Schule ist es eher so, dass man auf manche Fragen die Antwort einfach nicht kennt. Da hilft trotzdem dieselbe Strategie. „Viel reden“, empfiehlt Markus Hörwick: Wenn man über alles, was man weiß, möglichst weit ausschweift, vergehen kostbare Minuten, und man verbirgt, dass man nicht vorbereitet ist. Zur Not kann man vielleicht noch etwas an der Tafel aufmalen.

Beobachte die Konkurrenz! Fußballer sehen sich immer wieder andere Interviews an, sagt Markus Hörwick. „Von guten wie schlechten Beispielen kann man viel lernen, manchmal sehe ich mir ein Interview mit einem Spieler noch einmal gemeinsam mit ihm an und sage ihm, was ich gut fand und was nicht. Oder wir analysieren in der Runde, was man besser machen kann.“ In der Schule hat man meistens keine Kamera zur Hand, aber viel Zeit, um die Mitschüler beim Ausgefragtwerden zu beobachten.

Schau in die Zukunft!

„Vor Pressekonferenzen und Spielen überlege ich mir zusammen mit den Spielern, was die Journalisten fragen könnten“, so Hörwick, „über das nächste Auswärtsspiel, Doping, Streits.“ Lehrer sind meistens auch relativ einfach zu durchschauen. Wenn man sich beim Lernen überlegt, welche Fragen sich anbieten, und im Unterricht ein wenig aufpasst, wie der jeweilige Lehrer Fragen stellt, kann man sich die meisten schon denken und ist dann nicht mehr so überrascht.

Zähl bis zehn!

„Wir haben junge Spieler mit 20 und 25 Jahren, die vor Spielen vor 70 000 Menschen im Stadion oder einem Interview sehr aufgeregt sind. Dann atmet man sehr flach und wird hektisch. Mir hilft es immer, wenn ich vor einem Auftritt zehnmal bewusst tief durchatme“, sagt Markus Hörwick. In der Schule beginnt man damit am besten, sobald der Lehrer sein Klassenheft zückt.

Leg die Stimme tiefer!

„Wenn man angespannt ist, bekommt man eine sehr hohe Stimme, was dem anderen erst zeigt, dass man nervös ist“, sagt Markus Hörwick. „Vor zwanzig, dreißig Jahren hat mir ein Rhetoriktrainer geraten, vor einem Auftritt Geräusche wie ein Nebelhorn zu machen. Das macht die Stimme wirklich tiefer.“ Im Klassenzimmer könnte das allerdings Fragen aufwerfen. Vor einem Referat oder dem Kolloquium hat man aber manchmal ein paar Minuten für sich, in denen man die Übung ausprobieren kann.

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Halt mal still!

„Nach dem Spiel werden die Fußballer manchmal noch auf dem Platz interviewt. Ich sage immer: Steht aufrecht, Schultern durchdrücken, und wippt nicht von einem Fuß auf den anderen, steht mit beiden Sohlen auf dem Boden!“, so Hörwick. „Das macht auch vorn an der Tafel einen besseren Eindruck.“ Wer sitzen bleiben darf, dem rät Markus Hörwick: Nicht zu tief im Stuhl sitzen! „Viele stützen sich mit beiden Ellenbogen ab und sinken zusammen, das sieht nicht gut aus. Gesten, die das Gesagte unterstützen, lassen einen dagegen sicherer wirken, im Sitzen wie im Stehen.“

Mach einen Punkt!

„Ich rate immer, kurze Sätze zu machen. Die anderen – ob Interviewpartner und Zuschauer im Fernsehen oder Lehrer und Mitschüler – sollen ja kapieren, was man meint. Schachtelsätze sollte man deshalb vermeiden. Wenn man kurze Sätze macht, spricht man automatisch langsamer, das ist immer überzeugend, außerdem geht dann die Stimme auch wieder nach unten. Am besten zwingt man sich nach jedem Punkt zu einer kleinen Pause.“

Sei ehrlich!

„Wenn man einen Hänger hat, sagt man das am besten ganz offen“, so Hörwick, „das versteht jeder Journalist und bestimmt auch der Lehrer. Wenn man das offen zugibt, bekommt man immer einen zweiten Versuch. In der Schule kann man ehrlich sagen: Ich habe gelernt, aber ich habe einen kurzen Hänger, geben Sie mir zehn Sekunden? Dann noch das Fenster öffnen, kurz die Augen schließen – und weiter geht’s.“

Werd mal laut!

Auch wenn es dir vor dir selbst peinlich ist, den Lernstoff laut zu wiederholen – es hilft! Markus Hörwick rät auch den Spielern, Interviewsituationen durchzuspielen. Sein Tipp: „Ich sage immer: Stell dir vor, du sprichst mit deinem besten Freund, dem erzählst du die Dinge ganz normal. Das hilft, natürlich zu bleiben.“

Verschaff dir Zeit!

Fußballer können mit Standardsätzen wie „Wir kennen unsere Stärken“ und „Die Saison ist noch lang“ Zeit schinden, in der Schule hat man diese Möglichkeit leider nicht. „Man kann aber immer fragen: Entschuldigung, ich habe die Frage nicht verstanden, könnten Sie sie noch einmal anders formulieren?“, so Hörwick. „Dadurch gewinnt man auf jeden Fall einen kurzen Moment zum Nachdenken und Gedankensammeln.“

MARKUS HÖRWICK, 57, ist seit dreißig Jahren Pressesprecher des FC Bayern und hat schon viele Fußballer auf Interviews und andere öffentliche Auftritte vorbereitet. Die Tipps, die er heute den Spielern gibt, hätte er gern schon während seiner Schulzeit gekannt, sagt er. „Ich habe keine guten Erinnerungen an die Schule. Ich war ein schlechter Schüler, außer im Sportunterricht war ich nicht gerade der Fleißigste.“

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Weg damit Wer bei den Eltern auszieht, sollte seinen alten Kram nicht im Kinderzimmer lagern. Auch wenn es manchmal ein bisschen wehtut: Wegschmeißen muss sein.

In der ersten Klasse hatte ich ein grünes Heft, das war mein Lieblingsheft. Jedes Mal, wenn wir einen neuen Buchstaben lernten, bekamen wir die gleiche Aufgabe: Wir sollten Dinge malen, die mit diesem crazy neuen Buchstaben beginnen. Als wir das A lernten, malte mein Mitschüler Toni Enten. Bei ihm zu Hause in unserem oberbayerischen Kaff sprach man Enten eben so aus: „Antn“. Er war völlig fassungslos, dass er etwas Falsches gemalt hatte, und den Tränen nahe. Dieser Vorfall hat mich damals so gerührt, dass ich ihn heute noch bildlich vor Augen habe. Das dazu passende grüne Heft liegt in einem Karton auf dem Speicher meiner Eltern. Es musste unbedingt aufgehoben werden! Die Antn! Ich habe es seit 24 Jahren nicht mehr angefasst, meine Mutter dafür umso öfter. Regelmäßig fragte sie nach meinem Auszug: „Du sag mal, ich hab da auf dem Speicher dies und das gefunden. Kann das eigentlich weg?“ Immer verneinte ich, obwohl völlig klar war, dass ich weder das Barbie-Campingmobil brauchte noch jemals diese quietschgelbe Schlag-Jeans wieder anziehen würde. Ziemlich wahrscheinlich würde ich auch nie mehr meine ganzen Abi-Lernunterlagen brauchen. Sicher war ich mir da aber nicht. Man weiß ja nie! Vielleicht würde ich mich irgendwann in der Uni darüber freuen. Man hat ja direkt nach der Schule keine Ahnung, wie lächerlich einem schon im ersten Unisemester Dinge vorkommen, die man in der Schule für unüberwindbare Aufgaben hielt. Facharbeit? Abi-Colloquium? Pah! Trotzdem hängt man ein bisschen an den Unterlagen – die Ordner symbolisieren den Wissensberg, den man sich erarbeitet hat. Sie sind die greifbaren Beweise, dass man sich das Ticket in die weite Welt rechtmäßig verdient hat. Ich bin auf dem Land groß geworden. Da war Platz für all das, was ich zwar nicht in mein neues Leben mitnehmen, aber auch nicht wegschmeißen wollte. Stadtkinder haben diese Wahl seltener. Wenn sie aus der Wohnung ihrer Eltern ausziehen, erobern die schon aus Kostengründen schneller den Lebensraum zurück und machen aus dem alten Kinderzimmer ein „Büro“. Was nicht in das kleine Kellerabteil

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passt, wird an Verwandte verschenkt oder zu einer karitativen Einrichtung gebracht. Mit einiger Zeitverzögerung erobern aber auch in der Provinz die Eltern ihre fast abbezahlten Quadratmeter zurück. Schließlich hinterlassen die ausgezogenen Kinder eine Lücke, die auch sie irgendwie füllen müssen. Zur Not eben mit einem Bügelbrett, das sie vor die Pressspan-Schreibtisch-Regal-Konstruktion mit den Hanuta-Aufklebern stellen. Die Eltern kommen natürlich nicht auf die Idee, etwas falsch gemacht zu haben. Sie haben ja auch recht: Das Mitochondrien-Referat aus der neunten Klasse wird niemand mehr in die Hände nehmen. Wir schauen doch eh alles im Internet nach. Das Kinderherz quetscht es trotzdem ein bisschen. Obwohl man selbst beschlossen hat auszuziehen, fühlt es sich fast wie ein Rausschmiss an. Die eigene Leistung und auch die eigene Vergangenheit wirken plötzlich so unwichtig, fast negiert. Und wenn die alten Sachen im Kinderzimmer bleiben, hat das ja auch was Beruhigendes. Man weiß, dass man im Notfall, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert, zurück nach Hause kann. Unsere zurückgelassenen Sachen sind eine Art Rückversicherung, die man jedes Mal sehen kann, wenn man bei den Eltern zu Besuch ist. Trotzdem: Fairerweise müsste man vernünftig ausmisten beim Auszug. Objektiv betrachtet, benutzt man sonst die elterliche Wohnung als Schrottplatz und verhält sich wie die berühmten drei Affen: Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen. Das ist nicht fair. Außerdem hat es etwas Kathartisches, den alten Mist loszuwerden. Sich von den alten Schulsachen zu trennen ist befreiend – wie das Ausziehen selbst: sich endlich nicht mehr rechtfertigen müssen, wenn man mittags noch im Bett liegt. Morgens Chips essen können, ohne missbilligende Blicke. Selbst entscheiden! Überhaupt: neue Möbel, neue Wände, neue Leute. Der alte Scheiß? Den hat man achtzehn Jahre ertragen, aus den Augen damit! Aufräumexperten raten allerdings, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und so herauszufinden, welche Emotionen er hervorruft – nur Glücklichmacher dürfen bleiben. Das Stochastik-Buch ist bestimmt kein Glücklichmacher, oder? Am besten kramt man zusammen mit den Eltern. Was einem selbst unwichtig erscheint, ist für sie möglicherweise mit einer schönen Erinnerung besetzt. Außerdem tut es vielleicht auch gut, gemeinsam alte Zeiten Revue passieren zu lassen. Dann kann man wirklich leichtfüßig in das neue Leben starten. Und merkt zum Beispiel: Ich muss dieses grüne Heft gar nicht aufheben, ich denke auch so jedes Mal an Toni aus der Fensterreihe, wenn ich Enten sehe. Entschuldigung, ich meine natürlich: Antn.

FOTO TESTFIGHT / PHOTOCASE.COM

VON MICHÈLE LOETZNER / TEXT


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Die Sch端ler von Trakt C2 VON FIONA WEBER-STEINHAUS / TEXT & KATHRIN SPRIK / FOTOS

F端r sie ist ein Schulabschluss nicht nur ein Schulabschluss. Er ist vielleicht ihre letzte Chance. Zu Besuch in einer Klasse hinter Gittern.


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Freibadwetter ist das Schlimmste. Wenn die Hitze in der Luft schwirrt, dann will Jonas * nach draußen, auf die Wiese oder ans Wasser. „Aber es bringt nichts, sich das zu wünschen“, sagt er, schiebt sein Kinn nach vorn und verschränkt die Arme. Seit dem Frühjahr sitzt er im Gefängnis, seit einer Woche im Realschulkurs, erste Reihe ganz links. Der Kurs hat mit einem Sommer im Freibad nicht viel gemein. Trotzdem macht er Jonas an solchen Tagen das Leben leichter: „Da geht zumindest die Zeit schneller vorbei“, sagt er. Ein Jahr lang lernen die neun Schüler hier in der JVA Vechta zusammen. Bis zur Prüfung. Einer der wichtigsten ihres bisherigen Lebens – auch wenn sie das vielleicht gar nicht einsehen. „Wenn sie hier nicht die Kurve kriegen, wird es eng“, sagt Schulleiter Manfred Tiemerding, ein großer Mann mit einem ergrauten Prinz-Eisenherz-Haarschnitt, einem freundlichen Gesicht und dreißig Jahren Arbeitserfahrung im Justizvollzug. Die JVA Vechta ist ein besonderes Gefängnis. Hier sitzen nur Männer, die bei der Verurteilung unter 25 waren, sogenannte Jungtäter. Die 330 Männer sind zu

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alt für den Jugendvollzug, aber noch so jung, dass sie mit einer Ausbildung oder mit einem Schulabschluss nach ihrer Entlassung auf dem Arbeitsmarkt eine reelle Chance haben. Der Schulabschluss im Knast ist also nicht nur ein Schulabschluss. Das Zeugnis kann ein Ausweg aus dem sich drehenden Kreisel der Straftaten sein. Die Gefangenen sollen darauf vorbereitet werden, in Zukunft straffrei zu leben, und es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und Kriminalität: Ein Schulabbrecher wird mit einer mehr als doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit straffällig wie eine ansonsten vergleichbare Person mit mittlerer Reife oder Abitur. Natürlich ist Bildung nur einer von vielen Faktoren einer erfolgreichen Resozialisierung – aber einer, den man im Gefängnis beeinflussen kann. 7.30 Uhr. Deutschunterricht. Jonas füllt einen Lückentext in

Jungsschrift aus. Der 23-Jährige sitzt breitbeinig mit Kapuzenpullover und Jogginghose auf dem Stuhl. Seine blonden Haare trägt er wie Bushido – an der Seite raspelkurz geschoren, oben ein paar Millimeter länger, wie die meisten in der Klasse. Auf seinem kleinen Finger ist ein rundes Tattoo zu sehen, selber gestochen mit einer Haarschneidemaschine und einem Kugelschreiber. Ein Glückspilz soll es sein. Oleg, sein Banknachbar und Zellenmitbewohner, hat das gleiche. Irina Luft, eine energische Lehrerin mit kurzen roten Haaren und Perlenkette, steht vor den neun Schülern im kleinen Klassenzimmer und schreibt Beispiele aus der Rechtschreibreform auf. Majonäse statt Mayonnaise, behände statt behende, dass statt daß. Es ist frontaler AuswendiglernUnterricht, mit grüner Tafel und Kreide. Mit zusammengezogenen Augenbrauen vergleicht

Jonas trägt ein Tattoo auf seinem kleinen Finger: einen Glückspilz

*ALLE NAMEN VON HÄFTLINGEN WURDEN VON DER REDAKTION GEÄNDERT.

ERSTE REIHE, GANZ LINKS, DAS IST JONAS’ PLATZ IM KLASSENZIMMER DER JVA VECHTA. DIESES JAHR WIRD ER HIER SITZEN UND FÜR SEINEN REALSCHULABSCHLUSS LERNEN.


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Der Süddeutsche Verlag ist eine Tochterfirma der Südwestdeutschen Medienholding GmbH, einem der größten Medienhäuser Deutschlands. An über 30 Standorten im In- und Ausland ist die Südwestdeutsche Medienholding in den Geschäftsfeldern Tageszeitungen, Fachinformationen, Digitale Medien, Anzeigenblätter, Druck und Logistik sowie weiteren Dienstleistungen im branchennahen Umfeld aktiv. Wir stellen nicht nur höchste Qualitätsansprüche an unsere Redaktionen, Produkte und Dienstleistungen, sondern auch an die Berufsausbildung in den verschiedenen Unternehmensbereichen. In der intensiven und praxisorientierten Ausbildung erhalten die Auszubildenden Einblick in die spannenden Abteilungen unseres Medienunternehmens, übernehmen Verantwortung bei anspruchsvollen Aufgaben und Ausbildungsprojekten und werden von qualifizierten Ausbildern individuell betreut. Wenn Sie unsere Begeisterung für publizistisch, gestalterisch und technisch erstklassige Information und Meinungsbildung teilen, über Organisationstalent und hohe kommunikative Fähigkeiten verfügen, Spaß an Teamarbeit und Kundenkontakt haben und ein hohes Maß an Lernbereitschaft und Engagement mitbringen, freuen wir uns auf Ihre Bewerbung. Wir bieten zum 1. September 2014 folgende Ausbildungsmöglichkeiten in München an:

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Jonas die Tafel mit seinem Übungsbogen, er wirkt interessiert. „Was soll denn ein Reihentanz sein?“, fragt er und dreht sich nach hinten. „Eine Polonäse“, sagt Sergey in der zweiten Reihe. „Ach, stimmt!“, sagt Jonas und lacht. „Ist schon etwas her, dass ich feiern war.“ Jonas ist zu 19 Monaten Haft verurteilt, wegen Diebstahls. Das dritte Mal sitzt er hinter Gittern, vorher zweimal Jugendgefängnis in Hameln, jetzt ist er hier. Draußen rutschte er immer wieder ab, nahm Drogen – Heroin, Cannabis, Alkohol. In sein hübsches, jungenhaftes Gesicht haben sich Augenringe eingegraben. Jonas hat, wie ein Drittel der Insassen, die Hauptschule draußen abgeschlossen. Ein weiteres Drittel hat die Schule abgebrochen – normal für ein deutsches Gefängnis. „Aber das Zeugnis bringt mir nicht viel. Ich hatte nur Vieren und Fünfen, damit hätte ich eh keine Chance gehabt“, sagt er. Schließt er nächsten Sommer die Realschule ab, wird später wahrscheinlich kaum jemand nach seinem Haupt-

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schulzeugnis fragen. Aber warum genau er im Unterricht sitzt, was ihm das Lernen bedeutet, darauf antwortet Jonas nur schwammig. Er zuckt mit den Schultern. „Ist halt sinnig.“ „Warum nicht?“ „Was denn sonst?“ Floskeln. Dann sagt er: „Vielleicht bekomme ich dadurch Hafterleichterung.“ Er weiß genau: Schulbesuch und gutes Benehmen werden positiv in der Sozialprognose vermerkt. Alle Gefangenen müssen arbeiten oder an Bildungsangeboten teilnehmen. Wer sich weigert, muss seine Haftkosten selbst zahlen, pro Tag 13 Euro. Das macht kaum einer. Nichts zu tun sei sowieso langweilig, sagt Jonas. Die rund zehn Quadratmeter kleine Zelle engt ein, der Tag zieht sich in die Länge. Die Schüler verdienen pro Tag 11,64 Euro, für einfache Arbeiten wie Flurewischen oder Essenausteilen gibt es 1,39 Euro weniger. Hochgerechnet macht das eine

Dose Tabak Unterschied pro Monat. Ein Anreiz, Kaffee und Zigaretten sind im Gefängnis limitiert und begehrt. Aber das Allerwichtigste für Jonas: Die Zeit, diese endlose Zeit hinter Gittern, geht schneller beim Lernen vorbei als beim Flurewischen. Also lieber Schule. Zum Unterrichtsbeginn läutet keine Klingel. Nur die riesigen Schlüsselbunde am Gürtel der Lehrer und Justizbeamten rasseln in der Stille zwischen den Stunden. Wenn die Schüler von Trakt C2 in Badelatschen und mit einem Ordner unter dem Arm ins Schulgebäude schlurfen, interessiert es nicht mehr, was drüben im Gefängnis passiert ist, wie krass oder wie stark sie sind. Sie lernen den Satz des Pythagoras, müssen wissen, wann Gutenberg den Buchdruck erfand. 8 Uhr. Eine Mischung aus Männerparfüm und Rauch hängt in der Luft. Die Gitterstreben

In der Schule vergeht die endlose Zeit hinter Gittern schneller.


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unterteilen die Aussicht auf den Freihof in Rechtecke, die 5,30 Meter hohe Betonmauer mit Stacheldraht ist immer in Sicht. Nach einer halben Stunde Deutsch werden die Schüler unruhig. „Guck mal“, raunt Oleg Jonas zu und zeigt in den Duden. „Kanake. Bedeutet: Bewohner der Südsee.“ Gelächter. Sascha und Andi in der letzten Reihe schreiben voneinander ab. Irina Luft ermahnt sie: „Jeder arbeitet für sich allein!“ Die Lehrerin geht von Schüler zu Schüler, beugt sich über die Hefte, klopft mit ihrem Fingernagel in die Duden. Alles ganz normal. Außer einem Alarmknopf und einer Art Sicherheits-Walkie-Talkie in ihrer Hosentasche gibt es keine Sicherheitsvorkehrungen. Angst habe sie gar nicht, sagt Irina Luft, Pöbeleien kämen selten vor. „Es sind kleinere Klassen, und es ist viel ruhiger als an einer normalen Schule.“ Außerdem sind die Regeln im Kurs streng. „Wenn man Scheiße baut, fliegt man raus“, sagt Jonas. Manfred Tiemerding, der Schulleiter mit dreißig Jahren Erfahrung, kann sich nicht erinnern, dass in seiner Laufbahn jemals ein Lehrer angegriffen worden wäre. Er weiß genau, aus welchen

Tinh N., Azubi, Bönen „Meine Erwartungen, die ich vor meiner Ausbildung an KiK hatte, wurden total übertroffen. Wenn mich jemand nach KiK als Arbeitgeber fragt, kann ich nur sagen: Daumen hoch!“

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EINMAL PRO WOCHE DÜRFEN DIE SCHÜLER IN DEN KRAFTRAUM. WENN ER ENTLASSEN WIRD, IST JONAS JEDES MAL FIT UND DURCHTRAINIERT.

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Gründen die Männer sitzen, ob sie in Freiheit Menschen bedrängt, ausgeraubt und verprügelt haben. „Aber was die Jungs vorher angestellt haben, interessiert mich erst mal nicht“, sagt er. „Die Gefangenen merken auch schnell, wenn jemand auf sie herabblickt.“ Tiemerding hat sich sein Arbeitsmotto ausgedruckt und über den Schreibtisch gehängt: „Lernen kann man stets nur von jenem, der seine Sache liebt. Nicht von dem, der sie ablehnt.“ Er plant die Ausbildungen, stellt die Stundenpläne zusammen und achtet darauf, wie die Klassen zusammenpassen. Und er entscheidet, wer in die Gefängnisschule gehen darf. Sechs Plätze in der Realschulklasse sind noch unbesetzt, sie werden frei gehalten für diejenigen, die in den nächsten Monaten ins Gefängnis kommen. Die Voraussetzung: Sie müssen zur Schule gehen wollen, das Niveau der jeweiligen Klasse schaffen können und für das Schuljahr inhaftiert bleiben. Auf der Aufnahmestation, wo die Neuhäftlinge die ersten drei Wochen verbringen, wird ihr Schulstand geprüft, sie müssen Wissenstests machen. „Viele hatten noch nie ein Positiverlebnis in der Schule“, sagt Tiemerding. „Wenn die hier nach einem Jahr Lernen durchfallen, dann ist das nur ein weiterer Beweis für sie, dass das alles nichts bringt.“ Das will er unbedingt verhindern. Vergangenes Jahr haben alle 39 Schüler in Vechta ihren Real-, Haupt- oder Förderschulabschluss geschafft. Die Prüfungsanforderungen sind dieselben wie an den Schulen draußen. Für Jonas ist „draußen“ weit entfernt. Er legt sich 75 Kilo zum Bankdrücken auf, sein Muskelshirt saugt sich dunkel mit Schweiß, er

presst seine Lippen aufeinander, stemmt die Stange hoch. Es ist die Sportstunde der Realschüler. In der Turnhalle unten im Schulgebäude scheppert Trancemusik aus den Boxen. Beim Krafttraining konzentrieren sich die Schüler, sie wollen pumpen. Jonas und seine Mitschüler haben ein breites Kreuz und Oberarme dick wie Autoreifen – obwohl sie bloß einmal pro Woche an die Geräte dürfen und im Sport sonst Fuß- oder Basketball spielen. „Jedes Mal, wenn ich in den Knast gekommen bin, war ich so“, sagt Jonas und hält seinen kleinen Finger hoch. Der Drogenkonsum hatte ihn ausgemergelt. „Raus komme ich immer wieder fit und durchtrainiert“, sagt er. Vielleicht wird er diesmal nicht rückfällig: Jonas überlegt, zu seiner Mutter zu ziehen. Auf keinen Fall will er zurück in die Stadt. „Sonst geht das Spiel von vorn los – ich kenne da ja alle Leute in der Szene“, sagt er. Im Herbst 2014 soll er entlassen werden. Zu spät für Freibadwetter und den Sommer. Aber früh genug für den nächsten.

„Viele hatten noch nie ein positives Erlebnis in der Schule.“

Studium oder Ausbildung?

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Wir nannten ihn Darius Müll VON BERND KRAMER / TEXT & GABRIEL HOLZNER / ILLUSTRATION

Gewissensbisse: Vor vielen Jahren hat unser Autor einen Mitschüler gemobbt. Heute fragt er sich: Wie konnte ich so gemein sein? Eigentlich war ich froh, dass es nicht mich traf. Ich kannte niemanden, meine Grundschulklasse hatte sich zerstreut, und ich meinte, schiefe Blicke auf die bunten Strickpullis zu bemerken, die ich immer noch so gedankenlos trug. Alles war plötzlich größer, waschbetonfunktionskalt und unpersönlicher, die Lehrer, die Räume. Fachleute nennen das Sichfremdfühlen nach dem Wechsel auf eine weiterführende Schule den „Sekundarstufenschock“. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, nicht automatisch zu einer Klasse dazuzugehören. Aber es traf Darius. Er wurde derjenige, der nie dazugehören durfte. Und wahrscheinlich nur, weil er noch eine Spur fremder war als ich mit meinen Strickpullis. Darius hatte diesen unaussprechlichen polnischen Nachnamen, der geschrieben so verknotet aussah, wie sich die Zunge anfühlte, wenn man sich bemühte, ihn richtig auszusprechen. Die Lehrer bekamen es nicht hin. Wir bemühten uns erst gar nicht. Wir nannten ihn Darius Müll. Das klang so ähnlich und war fünfmal gemeiner. Ich nannte ihn auch so. Nicht sofort, glaube ich, aber bald und dann ganz selbstverständlich. Ich machte Scherze über Darius, irgendwann baute ich sie zu einer Dauerschleife aus, in den Pausen fragten mich

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die starken Jungen der Klasse, ob ich „einen neuen Darius-Witz“ erzählen könnte, irgendeinen abgewandelten Ostfriesenwitz, den wir alle kannten. Warum nimmt Darius einen Stein und eine Schachtel Streichhölzer mit ins Bett? Mit dem Stein wirft er das Licht aus, mit den Streichhölzern sieht er dann nach, ob er auch wirklich getroffen hat. Ich dachte nicht daran, wie verletzend das war. Ich war viel zu erstaunt darüber, dass nicht ich derjenige war, auf den man eintrat. Ich war nicht der, der mit allem anfing, aber einer, der die Munition nachreichte. Ganz munter, ohne darüber nachzudenken. Ich glaube, manchmal verspürten wir eine regelrechte Lust am Gemeinsein, irgendeinen sadistischen Kitzel, einige von uns mehr, andere weniger. Man wagt kaum, es sich einzugestehen. Aber es kann so irre viel Spaß machen, nach den Worten und Gesten zu suchen, die am meisten wehtun. Die Lehrer machten es nicht besser. Einmal sprachen wir in der Klasse darüber, warum wir Darius nicht integrieren. Der Klassenlehrer versuchte, Verständnis für beide Seiten aufzubringen. Was fatal war.


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„Darius mischt sich immer in alles ein“, sagte jemand. Unser Lehrer nickte. Das Einmischen, sagte er zu Darius, könne man ja ändern. Darius nickte auch. Ich wüsste nicht, dass er sich je in irgendwas eingemischt hätte. Nicht mehr als ich. Aber haften blieb: Es ist auch seine Schuld, dass wir ihn nicht mögen. Die Sympathieverweigerung hat ihre Berechtigung. Irgendwann beging Darius den großen Fehler und versuchte, sich beliebt zu machen. Er brachte ein Büchlein mit, das er seinen Eltern aus dem Schlafzimmer geklaut hatte, darin freizügige Bilder irgendwelcher Frauen und Männer. Die Jungs bildeten eine Traube und starrten auf die Seiten. Darius war der Star der Pubertierenden. Am nächsten Tag hatte er unter all denen, die selbst noch geglotzt hatten, den Ruf des fiesen Lüstlings weg. Vor dem Sportunterricht in der Umkleide zogen einige von uns ihm die Hosen runter und warfen ihm Exhibitionismus vor. In den Pausen auf dem Gang schubste man ihn mit voller Wucht auf die Mitschülerinnen. Die angerempelten Mädchen schimpften: „Darius, du bist ekelhaft.“ Warum passiert so was? Weil es sich richtig anfühlt, wenn es alle machen, vor allem diejenigen, zu denen man aufschaut? Weil man immer irgendwie sagen kann, dass es nie so gemeint war? Ich halte mich für überlegt, kollegial. Jemand zu sein, der draufhaut, passt nicht zu meinem Selbstbild. Ich hatte nie das Gefühl, so zu sein. Umso verstörender wirkt diese Erinnerung. Ich weiß nicht, wo ich noch geschmunzelt habe und wann es mir zu drastisch wurde. Richtig leid tat mir alles erst viel später, als Darius längst nicht mehr auf unserer Schule war. Es scheint, als wäre die Empathie einfach lahmgelegt, manchmal über Jahre, solange nur genügend andere mitmachen. Heute frage ich mich, ob man das, was wir Darius angetan haben, wiedergutmachen kann. Oder ob jeder Versuch späteren Bedauerns nur alte Wunden aufreißt. Wie lange nach der Schule tun diese Demütigungen noch weh? Was machen sie mit einem? Ich habe Darius gegoogelt und ein Hochzeitsbild auf den Standesamtseiten meiner alten Heimatstadt gefunden. Laut Facebook, wo ich ihm nach mehr als zehn Jahren Schweigen eine Freundschaftsanfrage geschickt habe, gefällt Darius der Film „Stirb langsam“, in einem Posting regt er sich darüber auf, dass Deutschland so viel Entwicklungshilfe zahle. Ich denke insgeheim: was für ein Prolet! Und plötzlich kommen mir, nur vage, aber doch schon böse genug, Gedanken, für die ich mich sofort schäme. Ich überlege, ob es Darius nicht doch zu Recht traf damals. Ob mein Wunsch nach Wiedergutmachung überhaupt angemessen ist. Warum kann unser Mobbingopfer mir Reumütigem nicht den Gefallen tun, wenigstens ein cooler Typ geworden zu sein? Und wieso denke ich das, woher kommt diese Gehässigkeit, die da in mir schlummert? Ich habe den Impuls, die Freundschaft wieder zu beenden. So wie ich früher nicht mit ihm befreundet sein wollte. Der Anfang der Schikane. Wahrscheinlich entspringen unsere Vorurteile und Antipathien einfach einem Bauchgefühl. In der Schule, leider wohl auch noch später, vielleicht sogar für immer. Man kann sie nur klug oder weniger klug managen und sich mit aller Vernunft dagegenstemmen, dass man ihnen verfällt. Ich habe Darius bei Facebook geschrieben. Ich habe ihn gefragt, ob er mir erzählen möchte, wie das damals war, in dieser Hölle, die unsere Klasse gewesen sein muss. „Gesehen: 23.42 Uhr“, teilt Facebook mir mit. Eine Antwort bekomme ich nicht.


Elternbeirat VON MERCEDES LAUENSTEIN / PROTOKOLLE & JURI GOTTSCHALL / FOTOS

Sie wissen alles besser. Glauben sie. Dann müssten unsere Eltern doch auch sagen können, wo es nach der Schule hingehen soll.

MARIE, 18, GEHT AUFS GYMNASIUM UND MACHT NÄCHSTES JAHR ABITUR.

Was kannst du besonders gut? Mit Menschen umgehen und Theater spielen. Ich spiele dreimal die Woche im Nachwuchs der Münchner Kammerspiele. Was willst du nach der Schule machen? Ich möchte gern etwas mit Theater machen, am liebsten Theaterschauspiel, ich liebe die Bühne. Leider ist dieser Lebensplan so unsicher, und bei der Schauspielschule genommen zu werden ist nicht einfach. Und was ist danach mit Geldverdienen? Vielleicht wäre Regieassistenz eine Alternative? Oder Theater in Verbindung mit Sozialpädagogik? Psychologie? Ich bin noch nicht sicher.

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HEIDI, 58, HEILPRAKTIKERIN

Was kann Marie besonders gut? Mit Menschen umgehen. Sie ist ein Magnet für Menschen, die Sorgen haben. Es ist verrückt: Selbst in der U-Bahn kommen manchmal wildfremde Menschen zu ihr und vertrauen ihr an, was sie belastet. Ich glaube deshalb, sie könnte ein Talent für Heilberufe oder Pädagogisches haben. Und dann hat sie natürlich große Ambitionen für das Theater. Sie geht dreimal die Woche zur Probe in die Kammerspiele und steckt dafür vieles zurück. Wie finden Sie ihre Zukunftspläne? Ich finde sie okay. Sie soll machen, was sie möchte. Mir ist nur wichtig, dass sie eines Tages selbst für sich sorgen kann. Finanziell unabhängig zu sein hat viel mit dem eigenen Selbstwertgefühl zu tun: Wenn du weißt, du kriegst dein Leben allein auf die Reihe, geht’s dir besser. Wenn man jung ist, denkt man nicht so viel über so etwas nach. Dann springt man ins kalte Wasser und denkt: Das wird schon alles. Aber die Arbeit im Theater ist schon extrem. Die leben dafür. Und haben eigentlich kein Privatleben mehr. Ich weiß aber auch nicht, was Marie stattdessen machen sollte. Ich will ihr nichts vorschreiben. Sicherlich, Medizin, Menschen heilen, so etwas könnte sie gut. Aber sie hat schon einmal ein Praktikum in die Richtung gemacht, und das war nichts für sie.


JOHANNES, 15, GEHT AUF DIE HAUPTSCHULE UND MACHT IM NÄCHSTEN JAHR SEINEN QUALI.

BEATE, 48, KAUFMÄNNISCHE ANGESTELLTE

Was kann Johannes besonders gut? Auf andere aufpassen, kleine Kinder zum Beispiel, das hat er schon immer gern gemacht. Ansonsten kann er gut radeln und gut mit Holz und Werkzeug arbeiten. Schon als kleines Kind hat er überall Nägel reingehauen, alles angesägt und irgendwo Schrauben hineingedreht. Davon habe ich heute noch Löcher im Parkettfußboden. Wie finden Sie seine Zukunftspläne? Hervorragend. Grundsätzlich ist die Schreinerei doch ein toller Beruf. Ich wollte das auch mal machen. Ich habe es geliebt, mit Holz zu arbeiten, schon in der Schule. Er soll es ruhig erst mal lernen, wer weiß, er kann dann ja immer noch etwas ganz anderes machen. Allerdings finde ich, dass er an seinen Abschluss noch die mittlere Reife dranhängen sollte. Da geht es mir gar nicht um Prestige oder den Abschluss an sich. Ich denke nur, dass es nicht schaden kann, noch ein wenig Bildung mitzunehmen. Ich kenne mein Kind und weiß, dass er ein wenig faul ist und sich von selbst dann doch nichts mehr an Allgemeinbildung draufschafft.

Was kannst du besonders gut? Ich kann gut reden, und ich kann gut reparieren. Wenn irgendwo etwas kaputt ist, suche ich so lange nach einer Lösung, bis es wieder funktioniert. Ich kann auch sehr gut mit Leuten zusammenarbeiten. Was willst du nach der Schule machen? Eine Schreinerlehre. Ich arbeite gern mit Holz. Als ich im letzten Jahr ein Praktikum in dem Bereich gemacht habe, dachte ich erst, da macht man ja immer das Gleiche, immer nur zuschneiden und rumstehen. Aber dann durfte ich immer mehr machen und wusste: Das ist es. Das passt für mich.

PATRIZIA, 17, GEHT AUFS GYMNASIUM UND MACHT IM NÄCHSTEN JAHR ABITUR.

Was kannst du besonders gut? Mit anderen umgehen. Und mit Sprache. Was willst du nach der Schule machen? Eigentlich wollte ich immer Ärztin werden. Aber der NC für Medizin ist so hoch, ich weiß noch nicht, ob das klappt. Ich würde halt gerne etwas Sinnvolles machen. Jeden Tag in ein Büro zu gehen und Akten oder Geld hin- und herzuschieben, kann ich mir nicht vorstellen. Trotzdem sind mir Geldverdienen und eine gewisse Sicherheit im Leben sehr wichtig. Ich habe auch schon überlegt, ob ich vielleicht Logopädin werden sollte. Aber vielleicht reise ich erst mal und schaue mir die Welt an. Als ich in der elften Klasse ein Jahr in Kanada war, habe ich gemerkt, wie cool das ist.

MANFRED, 47, BANKER

Was kann Patrizia besonders gut? Sie ist sehr genau, sehr gewissenhaft und sehr ausdauernd. Wie finden Sie ihre Zukunftspläne? Wenn sie das machen will, soll sie es machen. Ich glaube nur, dass es ein sehr langwieriger, aufwendiger und schwerer Weg ist, bis man richtig selbstständig arbeiten darf. Ein Bekannter von mir hat, als er endlich Arzt war, alles umgeschmissen und gesagt: Mir reicht’s, ich mache jetzt was anderes. Ich glaube, dass Patrizia gut mit Kindern umgehen kann. Und sie ist sehr sprachbegabt. Meine Frau sagt immer, Patrizia würde sicherlich eine gute Logopädin werden. Meinetwegen soll sie nach der Schule ein Jahr Auszeit nehmen und sich einfach mal in Ruhe umsehen. Woher soll sie auch jetzt schon hundertprozentig wissen, was sie machen will? Mir ist nur wichtig, dass sie, wenn sie sich für etwas entscheidet, dann auch richtig überzeugt davon ist. Sie soll bitte nicht einfach irgendwas studieren, BWL oder VWL, nur weil das alle machen und ihr nichts Besseres eingefallen ist.

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EVA, 18, GEHT AUF DIE WALDORFSCHULE UND MACHT IM NÄCHSTEN JAHR ABITUR.

Was kannst du besonders gut? Ich bin musikalisch. Und ich gestalte gern Dinge, das habe ich von meinem Vater geerbt, der baut sich immer irgendwelche Dinge – Möbel, Lampen und so. Was willst du nach der Schule machen? Ein Jahr Pause, jobben und sparen. Danach möchte ich das YIP-Jahr machen, ein anthroposophisches Projekt in Schweden, bei dem Jugendliche aus aller Welt zusammenleben und sich in verschiedenen Social-Entrepreneurship-Workshops mit Zukunfts- und Nachhaltigkeitsfragen beschäftigen. Das mit der Musik soll ein Hobby bleiben, glaube ich. Ziemlich sicher möchte ich mal eine Tischlerausbildung machen. Ich war aber auch immer sehr gut in Physik und im Gartenbauunterricht. Vielleicht will ich eines Tages auch meinen eigenen Biobauernhof haben, eventuell in einem Entwicklungsland oder in Zusammenarbeit mit Behinderten. Mein Freund und ich haben gerade einen Schrebergarten gepachtet, den wir nun selbst bewirtschaften.

HELMUT, 57, HEILPRAKTIKER

Was kann Eva besonders gut? Sie hat viele Talente. Sie ist musikalisch, hat ein sehr gutes Farbempfinden und ein Gespür für Einrichtung. Sie kann gut mit Materialien umgehen und hat bildhauerische Talente. Außerdem hat sie ein gutes Sprachgefühl und mag Poetry-Slams. Sie kann gut Konflikte lösen und für andere da sein. Außerdem hat sie ein großes Interesse an der Welt und an zukunftsweisenden Technologien. Wie finden Sie ihre Zukunftspläne? Ich habe all meinen drei Töchtern immer gesagt, dass ich es gut fände, wenn sie irgendetwas studieren oder lernen, womit sie mal zu den Vereinten Nationen gehen und die Zukunft mitgestalten können. Aber ich lasse sie machen, was sie möchte. Mein oberstes Gebot ist: Bloß niemanden einzwängen. Sie könnte sicherlich eine gute Lehrerin werden, aber ich schätze, das wird sie nicht machen, denn sie braucht viel Freiraum. Sie ist so vielseitig interessiert und so selbstständig, dass ich mir sicher bin, dass etwas aus ihr wird. Und je mehr sie macht, desto besser finde ich das. Denn erstens weiß ich, dass man viel ausprobieren muss, um den richtigen Weg zu finden, und zweitens finde ich es gut, multifunktional ausgebildet zu sein und sich viele Möglichkeiten offen zu halten.

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SUSANNE, 47, STADTFÜHRERIN

Was kann Simon besonders gut? Er besitzt eine unglaublich große Sozialkompetenz, kann super Streit schlichten. Außerdem ist er sehr zuverlässig und für sein Alter ziemlich vernünftig. Wie finden Sie seine Zukunftspläne? Super! Ich bin davon total begeistert. Erstens bin ich sehr davon beeindruckt, dass das für ihn vollkommen feststeht und es für ihn keine Alternativen gibt. Zweitens finde ich, dass es sowieso wesentlich mehr männliche Erzieher braucht. Ich glaube, dass er das sehr gut machen wird. Finanziell ist diese Entscheidung sicherlich nicht die lukrativste. Aber erstens finde ich, er sollte das machen, was ihm Spaß macht, zweitens weiß man nie, was in fünf Jahren ist – vielleicht verdienen Erzieher dann ja auch schon viel mehr Geld. Und vielleicht macht er ja doch eines Tages noch mal etwas ganz anderes, Abi, studieren, wer weiß. Das Potenzial hat er, bisher ist er halt immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Selbst wenn nicht: Mit diesem Beruf wird er bestimmt nie arbeitslos. Dann lieber weniger verdienen, aber einen sicheren Job, als einen Job in der IT-Branche, von dem man nicht weiß, ob er in fünf Jahren überhaupt noch gefragt ist.

Was kannst du besonders gut? Mit Kindern umgehen. Ich mache außerdem viel Sport, und in der Schule waren meine Lieblingsfächer Geschichte, Sport und Englisch. Was wirst du nach deinem Abschluss machen? Eine Erzieherausbildung. Als wir Ende der achten Klasse auf Klassenfahrt waren, hatte meine Klassenlehrerin ihr dreijähriges Kind dabei, auf das ich dann die ganze Zeit aufgepasst habe. Mir hat das total viel Spaß gemacht, und ich habe gemerkt, dass ich das echt gut kann. Gleich anschließend habe ich dann ein Praktikum im Kindergarten gemacht, und seither steht für mich fest, dass das absolut mein Ding ist.

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Konstantin, ärgere Dich nicht!

Man erwartet, dass gleich Graf Dracula zur Tür hereinkommt. Jedenfalls wenn man liest, wie Konstantin Gropper bislang beschrieben wurde: „Parade-Emo“, „morbid“, „blass geschminkt“. Die Bilder haben sich wohl verselbstständigt, seit der 30-Jährige mit seiner Band Get Well Soon bekannt wurde. Tatsächlich tritt ein Typ ein, der auch Volvo fahren könnte: gemütlichfreundliches Wesen, gesunde Bräune, etwas Bauch. Er wählt „Blau, nein, Gelb“ und antwortet auf die Frage, wann er das letzte Mal richtig gescheitert ist, nach langem Überlegen: „Ich bin relativ verwöhnt, was das anbelangt. So richtig auf die Schnauze geflogen bin ich noch nie.“ Wie zum Beweis würfelt er genau da die erste Sechs des Spiels und darf eine Figur aufs Brett ziehen – los also. Kannst du Scheitern für dich definieren? Ich würde sagen: ein selbst gestecktes Ziel nicht zu erreichen. Wirklich scheitern kann man also nur an eigenen Ansprüchen? Auf jeden Fall. Scheitern ist etwas sehr Persönliches. Ich bin bei meiner Arbeit sehr lange nur meinem eigenen Urteil unterworfen, bevor ich überhaupt externe Ansprüche an mich heranlasse. Und dabei erlebst du nie Rückschläge? Es passiert natürlich schon mal, dass ich Mist mache. Aber ich stecke mir meistens sehr früh ein Ziel und arbeite drauf hin. Irgendwie bin ich bislang noch immer dort angekommen – oder wenigstens in der Nähe. Kunst ist da außerdem sehr dankbar. Man kann sich vieles schönreden. Du benutzt in Interviews oft Begriffe wie „Recherche“ oder „Analyse“, wenn du über deine Arbeit sprichst. Die gehören zu der Phase, bevor ich mit dem Schreiben anfange. Zur Themensuche. Ich schöpfe sehr ungern aus meinem Privatleben. Deshalb brauche ich ein Thema, an dem ich alles aufhängen kann. Oder vielleicht besser: eine Sprache. Ich mag einfach keine Tagebuchtexte. Warum? Weil’s mich bei anderen auch nicht interessiert. Ich kenne keinen Künstler, der ein so spektakuläres Leben hat, dass man davon die ganze Zeit singen müsste. Ich habe im Alltag genau die gleichen Probleme wie alle anderen auch. Zum Beispiel? Ich glaube, wenn ich keine Familie hätte, würde ich auf einen Bauernhof ziehen und innerhalb von drei Jahren zum Messie werden. Und dann würde irgendwann RTL 2 klingeln, weil sich hinter meiner Tür die Briefe stapeln. Weil ich vor allem Angst habe, was mit Rechnungen und Buchhaltung zu tun hat. Wenn ein Brief mehr als zwei Zahlen beinhaltet, mache ich den gar nicht erst auf. In diesem Moment schlägt er die erste Figur – und überlegt sehr lange, was er anpreisen soll: „Ich habe gerade das Casper-Album produziert.

Ein Gespräch über Rückschläge, bei einer Partie „Mensch, ärgere Dich nicht‟. Sonderregel: Schmeißt der Reporter eine Figur des Interviewten, darf er eine unangenehme Frage stellen. Umgekehrt darf der schamlos bewerben, was er will, wenn er es schafft, eine Figur des Reporters zu schmeißen.

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Aber der hat es nicht wirklich nötig, dass ich für ihn werbe. Also: Muso, ein Rapper aus Heidelberg. Einer der Relevantesten im Augenblick.“ Das kann ja sehr gefährlich werden, mit der Post. Allerdings. Steuerhinterziehung, obwohl man’s gar nicht weiß. Aber das erkläre mal einem Richter. Zack! Endlich schlage ich eine Figur. Und packe meine Frage zum schlechten Ruf der Popakademie aus, an der er gelernt hat: Wie cool findest du die Popakademie wirklich? Na ja, das ist ja genau ihr Hauptproblem: dass sie eben überhaupt nicht cool ist. Aber das muss sie ja auch nicht sein. Sie ist eine ernst zu nehmende Bildungseinrichtung, der ich viel zu verdanken habe. Schon weil ich über sie in meinen Beruf gefunden habe. Moment: Stand der Wunsch, Musiker zu werden, nicht schon fest, als du dort angefangen hast? Nein, nein. Die Popakademie kam nur als Idee auf, um es mal zu versuchen mit der Musik. Ich bin ja Schwabe. Ich brauche immer eine offizielle Ausrede. Aber ich habe nie geglaubt, dass ich je von dem leben kann, was ich da mache. Es ist spannend zu verfolgen, wie Gedanken bei Gropper zu Sätzen werden: vom Ziel her geplant, bedächtig arrangiert. Hat er einen Gedanken gefasst, lässt er sich bei dessen Formulierung nicht unterbrechen. Als könne er die Außenwelt dimmen – die Fragen, die Spielfiguren, die er bewegt, die Sechs, die er würfelt. Vermutlich komponiert er auch so. Hat unsere Generation ein größeres Sicherheitsbedürfnis als frühere? Auf der einen Seite schon. Allerdings steht dem ein Übermaß an Möglichkeiten gegenüber. Ich habe das Gefühl, dass aus dem Selbstverwirklichungsdrang beinahe ein Selbstverwirklichungszwang geworden ist. Ein Druck, etwas Besonderes zu machen. Hier schlägt er noch eine Figur – und überlegt wieder lange. Selbstvermarktung ist nicht seine Stärke. „Ich empfehle meinen aktuellen Lieblingsautor: Arnold Stadler – ‚Der Tod und ich, wir zwei’. Sehr lustig. Aber auch sehr deprimierend.“ Ist Musiker heute ein bürgerlicherer Beruf als früher? Es ist auf jeden Fall einer, der Disziplin braucht wie jeder andere. Ob das früher wirklich anders war, weiß ich nicht. Aber nimm Nick Cave: Der hat jahrelang Heroin gespritzt, und inzwischen hat er ein Büro, in das er um neun Uhr geht, um Songs zu schreiben. Und schon droht Gefahr! Soeben zieht Konstantin Gropper die letzte Figur vor die Zielfelder! Dein Vater ist Musiklehrer. Musstest du deshalb weniger kämpfen, als du gesagt hast: Ich probiere das jetzt wirklich mit der Musik als Beruf? Nein, nein. Mein Vater ist auch in erster Linie Schwabe und dann Musiker. Nicht direkt nach diesen Worten, aber sehr bald danach gewinnt Gropper das Spiel mit deprimierenden drei Figuren Vorsprung.


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