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VERMISSEN VERMISSEN VERMISSEN

23 VERMISSEN VERMISSEN VERMISSEN

Wo ich herkomme, kennt keiner meinen Namen. Wir nennen uns alle Annette oder Rainer, sehen uns aufmerksam an und lächeln dann. Unsere Häuser sind weiß wie Andorra, wir passen gegenseitig auf uns auf, geben gut auf uns Acht, damit keiner verloren geht, jeden Samstag wird gegrillt, Schweinshaxe, Bratwurst oder Tofuschnitzel für die Vegetarier. Schwarze Menschen heißen bei uns ›überpigmentiert‹.

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Manchmal habe ich das Gefühl zu fallen, und dann muss ich laut lachen. Wir waschen unsere Hände mit scharf riechendem

Zitronenspüli und

Desinfektionsmittel.

Mein Liebster ist komplett wahnsinnig, er hat seinen Verstand in einem weißen Raum verloren.

Ich habe ihn auf einer Ausstellung für Solarleuchten und

Gartenzwerge kennengelernt, also ihn, meinen Geliebten. Seinem

Verstand bin ich irgendwann mal an einer Raststätte begegnet, zwischen Croissanttheke und Kippenautomat.

Er hatte ein stockfleckiges Unterhemd an, trug eine feingliedrige

Goldkette und hielt eine angebissene Tankstellenschrippe in der linken Hand. Er warf mir einen langen Blick zu, nahm schließlich langsam die

Kette von seinem Hals, reichte sie mir und sagte, das wäre die

Seele meines Liebsten. Ich solle sie ihm zurückgeben, das wäre ein wichtiger Teil von ihm. Ich sagte: »Hier drin darf man nicht essen.« Er nahm noch einen Bissen von seinem Brötchen und Krümel fielen auf den Boden. Er sah traurig aus.

Als ich heimkam, fesselte ich meinem wahnsinnigen Liebsten die Hände, band ihm ein schwarzes Tuch vor die Augen und legte ihm die Kette an. Als ich ihm das Tuch abnahm und das Seil um seine Hände entknotete, sah er mich erschrocken an, schlug mir ins Gesicht und rannte zu unserem Kamin. Ich sah, wie er sich niederkniete, mit zitternden Fingern die Kette von seinem Hals löste und sie ins Feuer hielt; ich sah, wie das Gold in den Flammen schmolz, bis nur noch eine schmale Pfütze übrig blieb, ein schmieriger Schimmer Gold auf unserem Parkett, mehr nicht.

Dort, wo ich herkomme, fragen wir um Erlaubnis, bevor wir jemanden berühren, und wir ziehen schon seit Jahren steril abwaschbare Schonbezüge über unsere Sofas, Betten, Liegestühle,

Sessel und das Gartenmobiliar. Wir lächeln immer, wenn ein neuer Tag anbricht, und alles was wir essen, schmeckt nach Zahnpaste.

Wenn ich allein zuhause bin, mache ich Musik.

Ich spiele auf der Gitarre meines Großvaters, die allein in der dunkelsten Ecke unseres Hauses steht, die einzige Ecke bei uns, die schäbig ist, und manchmal mache ich dabei den Mund auf und schreie. Dann starre ich erstaunt auf die Töne, die sich von mir losgelöst haben und wie Seifenblasen an die Zimmerdecke schweben, zitternd, sanft, grün und rosa schillernd, und dann muss ich plötzlich lachen, weil ich weiß, dass das auch noch ein Teil von mir ist.

Das Brot, das wir essen, wurde hergestellt aus ökologisch angebautem Dinkel, unsere Bananen, unsere Erdbeeren, Äpfel und Pflaumen stammen von Fairtradebauern – wenn wir über Theater, Opern, Fernsehsendungen oder Musikstücke sprechen, benutzen wir Wörter, die sonst keiner kennt, ein Geheimcode, wir grenzen uns bewusst ab von denen unter uns. Wir lachen zu hell und zu schrill über unsere eigenen Witze.

Dort, wo ich herkomme, ist mein Liebster der Einzige, der mich anfasst, ohne vorher um meine Erlaubnis zu fragen. Manchmal überbetont er Wörter oder betont sie falsch, und dann fängt er laut an zu lachen. Als wir neulich Sex hatten, kniete er sich plötzlich auf mich, brach in ein heiseres Husten aus und zog mir ein Kissen über den Kopf. Er hielt es so lange mit beiden Händen fest, bis auch ich anfing, erstickt zu husten, weil ich keine Luft mehr bekam. Da klopfte eine Frau, die ich kenne, an die Tür, öfnete sie und balancierte ein Silbertablett, auf dem ein Teller mit Schokokeksen und zwei Gläser warmer Milch standen, in mein Zimmer. Sie stellte das Tablett neben unserer Matratze ab und verschwand wortlos.

Sie sagt immer, sie wäre meine Mutter. Ich glaube nicht, dass sie meine Mutter ist. Ich nenne sie Annette. Manchmal spüre ich einen Schäferhund in meinem Kreuz, der mir die Bänder zusammenzieht, bis keine Luft mehr zum Atmen da ist, und ab und zu höre ich ihn laut bellen, aber das darf ich nicht weiterverraten. Denn wir mähen jeden zweiten Samstag unseren Zierrasen und tragen Goldschmuck aus hochkarätigem Silber, es ist gut so, dass wir nicht so sind wie die anderen.

Dort, wo ich herkomme, raucht mein Liebster selbstgedrehte Zigaretten, er darf das, er ist nämlich schon 18, und manchmal raucht er so viel, eine halbe Packung auf Kette, dass ich das Knistern in

25 seinen Lungen hören kann, und dann lege ich mich neben ihn und er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und wir schauen gemeinsam an die Decke.

In unserem Badezimmer hängen Aquarelle an den Wänden, die habe ich selbst gemalt, als ich vier war, und meine Eltern sagten, dass aus mir irgendwann mal ein zweiter Picasso würde. Mein Liebster ist wahnsinnig und er hat Anarchy-Zeichen auf seine Schuhe gemalt, schwarzer Edding auf weißen Nikes. Seine Augen leuchten, als er die zwei Benzinkanister über unserem Tante-Emma-Laden ausleert. Meine Hände zittern, als ich das brennende Streichholz in eines der eingeworfenen Fenster schmeiße. Dann nimmt er mich in die Arme und wir gehen zum Kindergarten zwei Straßen weiter. Später noch zu den ganzen Einfamilienhäusern im Spielplatz-Neubau-Gebiet. Er greift immer nach meinen Händen, wenn ich Angst kriege, streicht mir übers Haar und verspricht flüsternd, dass alles wieder gut wird.

Ich weiß nicht, wie viele Tote es gab. Ich denke, vier. Eine von ihnen kannte ich gut, die Kleine mit den blassen Zöpfen. Ich habe ihr Fahrradfahren beigebracht. Sie hat im Nachbarhaus gewohnt. Ihr Vater hat sich zwei Wochen später erhängt. Also fünf. Eigentlich sechs, die alte Frau aus dem Reihenhaus in der Straße nebenan erlag am nächsten Tag im Krankenhaus ihren Verbrennungen.

Die Frau, die sich Mutter nennt, balanciert immer noch jeden Tag ein silbernes Tablett in meinen Raum, aber diesmal liegen dort statt Keksen und heißer Milch drei kleine, verschiedenfarbige Tabletten.

Was auch seltsam ist: Ich kann sie nicht mehr unter der Zunge verstecken, weil die Frau, die ich kenne, mit einem Löfel kontrolliert, ob ich alles artig runtergeschluckt habe. Das war früher anders.

Dort, wo ich herkomme, bringen sie mich irgendwann zu einem großen Gebäude, wo ich lange Zeit zusammen mit einer anderen Person in einem weißen Zimmer wohne. Als ich wieder zurückkomme, ist mein Geliebter verschwunden. Sofort sperre ich mich in meinem Zimmer ein, schließe die Tür hinter mir ab, mache Musik mit Großvaters Gitarre und blase so lange Seifenblasen an die Decke, bis ich alles verschwommen sehe. Aber irgendwann zwingen sie mich wieder zurück nach draußen, ins Tageslicht, in die Schule. Wo mein Liebster hin verschwunden ist, weiß keiner, einige meinen, dass er irgendwo hingezogen ist, wo es

ganz weit weg ist. Die Zwillingsschwester von dem kleinen Mädchen, dem ich Fahrradfahren beigebracht habe, sagt, dass sie ihn gefesselt an einem Baum aufgehängt haben, dort unten am Fluss, und dann angezündet. Aber ich glaube ihr nicht. Sie ist ja erst sechs.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle morgens um sieben Uhr sehe ich zum ersten Mal seit langer Zeit die anderen wieder. Sie tragen ihre Hände zu Fäusten geballt in den Taschen und beißen die Zähne fest zusammen. Ich spüre die Verachtung in ihren Blicken auf meiner Haut, ich wende das Gesicht ab, als sie die ersten Namen rufen. Ich bin keine Annette mehr. Sie nennen mich Eva, Birgit, Rosalie. Mir wird schwindelig, ich spüre etwas Warmes, Flüssiges in meine Augen laufen. Sie haben angefangen, mit Steinen nach mir zu werfen. Wenige Sekundenbruchteile später liege ich in der Ecke vom Bushaltestellenhäuschen und spüre die Tritte in meinem Bauch, Spucke in meinem Gesicht. Aber der Schäferhund in meinem Kreuz bindet meine Bänder fest zusammen und gibt mir Kraft und ich lache und spucke Blut. Wenig später sind die anderen mit dem Bus in die Schule gefahren oder zu ihrer Ausbildungsstelle, und ich liege in meinen Körperflüssigkeiten, während über mir die Sonne aufgeht, es ist immer noch Winter, ich bin ganz allein.

Nein, nicht ganz. Weiter hinten steht im Schatten ein dunkelhäutiges Mädchen mit Dreadlocks, ihre Klamotten sind dreckig, und als sie ein Feuerzeug hochhebt, um ihr Gesicht anzuleuchten, sehe ich, dass ihre Haut von Brandnarben und tiefen Einkerbungen gezeichnet ist. Sie nimmt bedächtig eine feingliedrige Goldkette von ihrem schmalen Hals, legt sie mir mit langsamen Bewegungen um und nimmt mir das Versprechen ab, gut darauf aufzupassen.

Sie sagt, das sei meine Seele.

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