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Nicita Baum
VERMISSEN VERMISSEN VERMISSEN
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Wo ich herkomme, kennt keiner meinen Namen. Wir nennen uns alle Annette oder Rainer, sehen uns aufmerksam an und lächeln dann. Unsere Häuser sind weiß wie Andorra, wir passen gegenseitig auf uns auf, geben gut auf uns Acht, damit keiner verloren geht, jeden Samstag wird gegrillt, Schweinshaxe, Bratwurst oder Tofuschnitzel für die Vegetarier. Schwarze Menschen heißen bei uns ›überpigmentiert‹. Manchmal habe ich das Gefühl zu fallen, und dann muss ich laut lachen. Wir waschen unsere Hände mit scharf riechendem Zitronenspüli und Desinfektionsmittel. Mein Liebster ist komplett wahnsinnig, er hat seinen Verstand in einem weißen Raum verloren. Ich habe ihn auf einer Ausstellung für Solarleuchten und Gartenzwerge kennengelernt, also ihn, meinen Geliebten. Seinem Verstand bin ich irgendwann mal an einer Raststätte begegnet, zwischen Croissanttheke und Kippenautomat. Er hatte ein stockfleckiges Unterhemd an, trug eine feingliedrige Goldkette und hielt eine angebissene Tankstellenschrippe in der linken Hand. Er warf mir einen langen Blick zu, nahm schließlich langsam die Kette von seinem Hals, reichte sie mir und sagte, das wäre die Seele meines Liebsten. Ich solle sie ihm zurückgeben, das wäre ein wichtiger Teil von ihm. Ich sagte: »Hier drin darf man nicht essen.« Er nahm noch einen Bissen von seinem Brötchen und Krümel fielen auf den Boden. Er sah traurig aus. Als ich heimkam, fesselte ich meinem wahnsinnigen Liebsten die Hände, band ihm ein schwarzes Tuch vor die Augen und legte ihm die Kette an. Als ich ihm das Tuch abnahm und das Seil um seine Hände entknotete, sah er mich erschrocken an, schlug mir ins Gesicht und rannte zu unserem Kamin. Ich sah, wie er sich niederkniete, mit zitternden Fingern die Kette von seinem Hals löste und sie ins Feuer hielt; ich sah, wie das Gold in den Flammen schmolz, bis nur noch eine schmale Pfütze übrig blieb, ein schmieriger Schimmer Gold auf unserem Parkett, mehr nicht. Dort, wo ich herkomme, fragen wir um Erlaubnis, bevor wir jemanden berühren, und wir ziehen schon seit Jahren steril abwaschbare Schonbezüge über unsere Sofas, Betten, Liegestühle,