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Die Wohlfühlkampagne

58 59 Die Wohlfühlkampagne

Das Viertel, das war Collins Welt. Er lebte dort schon immer und er kannte kaum noch etwas anderes. Zwar war er ursprünglich mal hierhin umgezogen, doch das musste eine Weile her sein, denn sonst würde er sich nicht daran erinnern können, wie er damals vom Bobbycar aus an den Fassaden der Zwölfgeschosser emporgestarrt hatte. Davor, als Papa noch da war, hatten sie in einem großen Haus, weit außerhalb der Stadtgrenzen gelebt. Da waren sie immer mit dem Auto gefahren, um Besorgungen zu tätigen. Aber das war lange her.

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Jetzt lebte er im Viertel. Im Prinzip ein sehr belebtes Viertel, in dem niemand lange fahren musste. Wenn man überhaupt ein Auto hatte, war man nicht dazu gezwungen, es zu benutzen, denn hier gab es ja alles. Einen Lebensmittelladen, einen Park, sogar eine Schule, in die Collin aber nicht sehr gerne ging. Es war ein altes Gebäude, modrig und aschgrau bis auf verblichene Fenstergraftofarbreste unter zerfledderten Rollläden, hinter denen es, trotz des dünnen Stofs, jetzt im Hochsommer geradezu unerträglich heiß wurde.

Eigentlich ging niemand gern in diese Schule, und wer wie Collin in der Mensa aß, dem sah der Schimmel von der Decke zu. Heute musste er erleben, wie ihm ein kleines Stück in die Tomatensoße platschte. Collin wurde übel. Er gab den letzten Berg an trockenen Nudeln in den kesselgroßen Bottich für die Essensreste, schnappte sich seine Jacke und ging – wie jeden Mittwoch – in den Discounter. Er hatte den Wocheneinkauf zu erledigen und musste sich ein neues Mittagessen besorgen.

Der Supermarkt im Viertel sah der Schulmensa sehr ähnlich. Die Innenwände hatten den gleichen Farbton: uringelb. Und dass jemand dort gerne einkaufe, das hatte er auch noch nie gehört. Er war zum Glück nach zehn Minuten fertig und konnte flink zur Kasse eilen. Vor ihm standen zwei seiner Schulkameraden an, zwei Tunesier, sie diskutierten energisch auf Französisch. Im Discounter kam es oft vor, dass Collin die Leute nicht verstand. Natürlich, Fremdsprachen waren ihm sowieso ein Rätsel, aber auch rein menschlich fragte er sich oft, woher die Leute seines Viertels ihre passive Gereiztheit hatten, ihren Hang zum Wahnsinn.

Er hörte Herrn Jeschau hinter sich, einen im Stadtviertel berühmt-berüchtigten Frühverrenteten, der mit dem prall gefüllten Einkaufswagen Formel 1 spielte. Regale wackelten, die Menschenschlange wankte. Auf dem Kassenband platzte ein Bier und

ergoss sich über sämtliche Einkaufswaren, alles hinter, neben, vor Collin begann zu toben. So etwas halte den Verkehr doch auf, wer habe wen wann wie geschubst, und überhaupt, ein hitzig-heikles Stimmgewirr.

Doch Collin war das gewohnt. Er wusste, was es hieß, von Zeit zu Zeit tief durchatmen zu müssen. »Manche Tage kannst du einfach nur im Klo herunterspülen.« Das hatte ihm Mama schon als kleines Kind erklärt. Mit Schulranzen und Einkaufsbeuteln stürzte er aus dem Geschäft. Hofentlich konnte er ihr erklären, warum die Möhren, die Äpfel und der Salatkopf so ein merkwürdiges Alkoholaroma bekommen hatten.

Er kam zum Viertelspark, der gleichfalls keine Augenweide darstellte. Aus dem Blätterdickicht lugte angebranntes Sperrholz, ein letztes Überbleibsel eines Kinderspielplatzes. Der Park war als Marihuana-Umschlagplatz bekannt – sogar am helllichten Tag. Zwölfährige waren bei so etwas nicht erwünscht, und Collin machte einen großen Bogen.

Es war aber auch sonst niemand zu sehen, die Straßen schienen wie leergefegt. Dafür war es jedoch unerträglich laut. Collin hätte gern gewusst, woher der Lärm kam. Er hörte Megafonstimmen schreien, »Wir kommen von Norden!« und »Wir ziehen gen Süden!«

Er schaute sich um. Er wusste nicht, wo Norden und wo Süden war. Er sah nur die großen Häuser, und die sahen alle gleich aus. Vielleicht waren es nur ein paar verwirrte Fußballfans, die volltrunken herumkrakeelten. Schnurstracks zur Wohnblocktür, den Schlüssel zweimal umgedreht, er stolperte über einen heruntergerissenen Aushang. Den hatte er zuvor nicht bemerkt. Er hatte aber keine Lust zu lesen, dachte sich nichts dabei und stieg wie immer in den Fahrstuhl. Er drückte den Knopf für Stockwerk zwölf, und die Türen schlossen sich.

Das war der Augenblick, als die Panzer kamen. Sie machten auf den engen Straßen ein gewaltiges Getöse. Collin schmiss die Einkaufstüten in den Flur. Er musste sich das ansehen, eilte zum Esszimmerfenster und staunte. So etwas kannte er nur aus Videospielen, und er fragte sich, ob das wirklich Krieg war. Denn diese Panzer sahen freundlich aus. Nichts und niemanden wollten sie vernichten, im Gegenteil. Statt tödlicher Geschütze feuerten sie bunte Farbpatronen auf alle umliegenden Hauswände. In Rot, Gelb, Blau und Violett glänzte trister Stahlbeton von einem auf den anderen Moment. Die Farbe spiegelte das Sonnenlicht wie frischer

60 61 Autolack durch Collins Fensterscheiben. Ein feigengrüner Klecks schlug über der Markise ein, und er hörte Jeschau, der direkt unter ihm wohnte, laut herumbrüllen: »Diese neumodischen Ideen! Wie die Farbe auf die Fensterbretter tropft!« Aber er beruhigte sich erstaunlich schnell und sagte kein Sterbenswort mehr.

Die beiden Tunesier saßen ein paar Häuser weiter auf ihrem Balkon und schienen den Sommer zu genießen. Sonnenschein, ein leichter Wind, ein leerer Himmel und ein Mischpalettenfarbgewitter, das sogar hier oben ihre abgetragenen Sachen im aufälligsten Schlumpfblau glänzen ließ. »Ils sont fous ces allemands!«, rief der eine zum anderen. Die spinnen, die Deutschen. Dann lachten sie.

Am Ende des Tages war so vieles anders. Keines der vierundsechzig Häuser sah noch aus wie drei Stunden zuvor. Der Supermarkt hieß »Colorado-Centrum«, die Schule »Villa Kunterbunt«. Nur der Park war noch ein Häufchen tristes Elend. Da rollte ein Panzer plötzlich rückwärts, wendete langsam und fuhr direkt hinter den Parkspielplatz. Ein zweiter gleich daneben, neben ihm noch einer und gleich ein weiterer, bis schließlich der ganze Park von Panzerrohren umzingelt schien. Alles war haargenau zum Mittelpunkt justiert. Collin konnte sich nicht daran erinnern, je etwas Befreienderes gesehen zu haben. Er grinste breit, ein scharlachroter Klecks rutschte die Scheibe hinab. Dann wurde es laut.

Aus allen Panzern sprossen riesige Fontänen, die sich allesamt auf die Parkstatue ergossen. Ganz so, als wollten sie den schweren Steinkoloss zum Einsturz bringen. Die Farbe schien sich selbständig zu machen, ein regelrechter Farbtornado, der den ganzen Park umgrub und schließlich alles, wirklich jeden Ast und jedes Blatt mit einer dicken Schicht zukleisterte. Fünf Minuten dauerte der Wahnsinn, dann tropften nur noch letzte Reste aus den schweren Stahlrohren. »Ein Park der Zukunft muss nicht mehr spazierbar sein«, sprach auf einmal eine Stimme durch ein Megafon. Ganz leise hatte sich ein Feuerwehrwagen hinter den Panzern durchgemogelt, der Olaf Steute, den Oberwohlfühlbürgermeister, auf seiner riesengroßen Leiter trug. Nun hing der Kommunalbeamte in der Luft, hoch über dem großen dicken Farbklecksrest, der einmal die Statue gewesen war. »Ihr habt unserer Stadt einen außerordentlichen Dienst erwiesen! Das, was heute wie eine kurze Arbeit aussah, war die Leistung eines Jahres, ach was, eines ganzen Jahrzehnts, sage ich, und hat Hofnung auf eine glänzende Zukunft gestiftet. Doch es gibt noch

viel zu tun. Eine Stadt ist immer eine Baustelle, und das ist es, was uns motiviert. Umso schöner, und damit spreche ich für alle Bürger, dass unser Werk in diesem Viertel nun endlich seine Vollendung findet!«

So schnell, wie der Bürgermeister über dem Regenbogenpark erschienen war, so schnell war er wieder weg. Und doppelt so schnell, wie die Panzer am Nachmittag auftauchten, fuhren sie wieder davon. Und nie, nie wieder verkaufte irgendjemand Drogen, schon gar nicht am helllichten Tag, nie wieder stritten sich Rentner und Tunesier in der Einkaufsschlange, und niemals mehr schmiss jemand das Essen in der Schulkantine weg. Kein einziges schlechtes Wort verlor Collin über das Viertel. Er fühlte sich wohl, und das war gut so. Der letzte Idiot fühlte sich wohl. Und eigentlich war das ja alles prinzipiell schon immer so gewesen.

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