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Henrik Hoose
Die Wohlfühlkampagne
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Das Viertel, das war Collins Welt. Er lebte dort schon immer und er kannte kaum noch etwas anderes. Zwar war er ursprünglich mal hierhin umgezogen, doch das musste eine Weile her sein, denn sonst würde er sich nicht daran erinnern können, wie er damals vom Bobbycar aus an den Fassaden der Zwölfgeschosser emporgestarrt hatte. Davor, als Papa noch da war, hatten sie in einem großen Haus, weit außerhalb der Stadtgrenzen gelebt. Da waren sie immer mit dem Auto gefahren, um Besorgungen zu tätigen. Aber das war lange her. Jetzt lebte er im Viertel. Im Prinzip ein sehr belebtes Viertel, in dem niemand lange fahren musste. Wenn man überhaupt ein Auto hatte, war man nicht dazu gezwungen, es zu benutzen, denn hier gab es ja alles. Einen Lebensmittelladen, einen Park, sogar eine Schule, in die Collin aber nicht sehr gerne ging. Es war ein altes Gebäude, modrig und aschgrau bis auf verblichene Fenstergraffitofarbreste unter zerfledderten Rollläden, hinter denen es, trotz des dünnen Stoffs, jetzt im Hochsommer geradezu unerträglich heiß wurde. Eigentlich ging niemand gern in diese Schule, und wer wie Collin in der Mensa aß, dem sah der Schimmel von der Decke zu. Heute musste er erleben, wie ihm ein kleines Stück in die Tomatensoße platschte. Collin wurde übel. Er gab den letzten Berg an trockenen Nudeln in den kesselgroßen Bottich für die Essensreste, schnappte sich seine Jacke und ging – wie jeden Mittwoch – in den Discounter. Er hatte den Wocheneinkauf zu erledigen und musste sich ein neues Mittagessen besorgen. Der Supermarkt im Viertel sah der Schulmensa sehr ähnlich. Die Innenwände hatten den gleichen Farbton: uringelb. Und dass jemand dort gerne einkaufe, das hatte er auch noch nie gehört. Er war zum Glück nach zehn Minuten fertig und konnte flink zur Kasse eilen. Vor ihm standen zwei seiner Schulkameraden an, zwei Tunesier, sie diskutierten energisch auf Französisch. Im Discounter kam es oft vor, dass Collin die Leute nicht verstand. Natürlich, Fremdsprachen waren ihm sowieso ein Rätsel, aber auch rein menschlich fragte er sich oft, woher die Leute seines Viertels ihre passive Gereiztheit hatten, ihren Hang zum Wahnsinn. Er hörte Herrn Jeschau hinter sich, einen im Stadtviertel berühmt-berüchtigten Frühverrenteten, der mit dem prall gefüllten Einkaufswagen Formel 1 spielte. Regale wackelten, die Menschenschlange wankte. Auf dem Kassenband platzte ein Bier und