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Dekade ohne Titel
87 Dekade ohne Titel
Durch das Fenster im Bad scheint das Licht erbarmungslos auf meine Arme und Beine. Der Rest wabert unter Wasser, ist umhüllt und geschützt. Aber Schwerelosigkeit will sich nicht einstellen. Dafür trift zu viel Körper auf Boden und Wände der Wanne.
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Im Wasserdampf fällt das Atmen schwerer als sonst.
Etwas pocht im Hinterkopf, drückt sich nach vorne. Bleibt hängen.
Ich beobachte Haare unter Wasser, wie sie wogen.
Über Wasser legen sie sich eng an die Haut. Schwarzer Flaum klebt sich nass um die Gliedmaßen.
Die Wasserfläche zieht mir eine Grenze um die Knie. Zwei Inseln. Es schwappt milchig gegen die Wanne. Ich kneife die Augen zu, tauche den Kopf unter Wasser und entblöße dafür anderes. Ich stelle fest: Wärme ist nie allumfassend.
Später Kontrastprogramm.
Barocke Wölkchen ziehen träge vorüber und die Dämmerung taucht ganze Straßenzüge in goldenen Glow.
Farben erstrahlen in Neon-Pastell. GTA-Vice-City-Ästhetik auf beschaulichen Straßen. Ich trefe A., der mich mit seiner analogen Kamera zuprollt. Er erklärt mir die blaue Stunde und hat dabei Unrecht. Denn noch ist sie golden. Und er stört das Bild.
Wie wir so laufen, redet A. über das Flanieren und spricht von ›weiblichen‹ Erfahrungen, sagt: Frauen fehle die Möglichkeit, sich im Stadtgeschehen unsichtbar zu machen. Spricht von männlichem Blick in bester Uniboi-Manier. Distanz zum Pöbel bleibt gewahrt.
Ich sage wenig und denke an eklige Blicke, im Vorbeigehen gemurmelte Beleidigungen. Gesten, aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Daran, dass das Wort Flaneur ja sowieso ein männliches ist. Und ob Flaneur als Schimpfwort taugt.
A. redet weiter, während wir in die Vorstadt laufen, in der im Frühjahr die Wahlplakate besonders hoch hingen. In mir regt sich etwas, drückt sich nach vorne. Bleibt hängen und schaft es nicht raus.
Ich erinnere mich an letztes Frühjahr. Ich schaute den Tauben beim Nestbau auf dem Balkon zu und trieb dann ihre Eier ab. Beobachtete sie bei unermüdlicher Arbeit, urteilte über ihre Gebilde. Stöckchen auf Fliesen.
Dabei wog ich ab, ob eine Freundschaft mit A.weiterhin möglich wäre, und kam zu keinem Schluss.
Ich suchte im Netz: Tauben auf dem Balkon was tun
Ich kaufte Tischtennisbälle und fotografierte die Taube, die sich darauf niederließ. Schwankend zwischen Sympathie und Herablassung teilte ich ihr Elend mit dem Internet. Ich kam mir schäbig vor.
Als A. mir später von zuhause aus schreibt, antworte ich erst nicht und dann mit Nein.
Und mit uns fällt am Marktplatz das CityCenter.
Sie nagen am Beton, und fangen an, der Brücke ihre letzten Pfeiler zu nehmen.
Staub legt sich über Haare, Haut und Dasein. Setzt sich fest.
Unruhe mischt sich in die Luft, die Stadt windet sich aus ihrem alten Gewand nicht ohne Widerstand. Hält inne. Stimmen werden eins. Stetiges Summen, kollektives Trauern um alte Utopie. Sie wissen nicht, wohin mit sich.
Doch die Stadt weiß ob der verlorenen Liebesmüh, trägt ihr neues Kleid und wartet geduldig, bis balzende Tauben sie wieder umringen.
Abends, fast nachts beobachte ich, wie Mauersegler ihre Runden ziehen. In Erinnerungen erzählt mir jemand, dass diese Tiere selbst beim Schlafen fliegen. Ich bin skeptisch, aber schlage es nicht nach. Stattdessen sehe ich dem Tag beim Sinken zu, bin Zeugin der Schatten, die jeden Tag aufs Neue im Zimmer rotieren. Sehe zu, wie sie sich im Goldlicht über den Hof schleppen und statt Weite nur weitere Wände finden. Ich sehe zu, wie mein Schatten sich auszieht, stehe zwischen Schatten und Spiegelung, und ich sehe, wie die Zeit nicht stehen bleibt. Dass jetzt immer auch gleich und gerade eben heißt.