21014_Destillate_RZ.qxp_Layout 1 26.08.21 17:22 Seite 86
Louisa Scherer
Dekade ohne Titel
86 87
Durch das Fenster im Bad scheint das Licht erbarmungslos auf meine Arme und Beine. Der Rest wabert unter Wasser, ist umhüllt und geschützt. Aber Schwerelosigkeit will sich nicht einstellen. Dafür trifft zu viel Körper auf Boden und Wände der Wanne. Im Wasserdampf fällt das Atmen schwerer als sonst. Etwas pocht im Hinterkopf, drückt sich nach vorne. Bleibt hängen. Ich beobachte Haare unter Wasser, wie sie wogen. Über Wasser legen sie sich eng an die Haut. Schwarzer Flaum klebt sich nass um die Gliedmaßen. Die Wasserfläche zieht mir eine Grenze um die Knie. Zwei Inseln. Es schwappt milchig gegen die Wanne. Ich kneife die Augen zu, tauche den Kopf unter Wasser und entblöße dafür anderes. Ich stelle fest: Wärme ist nie allumfassend. Später Kontrastprogramm. Barocke Wölkchen ziehen träge vorüber und die Dämmerung taucht ganze Straßenzüge in goldenen Glow. Farben erstrahlen in Neon-Pastell. GTA-Vice-City-Ästhetik auf beschaulichen Straßen. Ich treffe A., der mich mit seiner analogen Kamera zuprollt. Er erklärt mir die blaue Stunde und hat dabei Unrecht. Denn noch ist sie golden. Und er stört das Bild. Wie wir so laufen, redet A. über das Flanieren und spricht von ›weiblichen‹ Erfahrungen, sagt: Frauen fehle die Möglichkeit, sich im Stadtgeschehen unsichtbar zu machen. Spricht von männlichem Blick in bester Uniboi-Manier. Distanz zum Pöbel bleibt gewahrt. Ich sage wenig und denke an eklige Blicke, im Vorbeigehen gemurmelte Beleidigungen. Gesten, aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Daran, dass das Wort Flaneur ja sowieso ein männliches ist. Und ob Flaneur als Schimpfwort taugt. A. redet weiter, während wir in die Vorstadt laufen, in der im Frühjahr die Wahlplakate besonders hoch hingen. In mir regt sich etwas, drückt sich nach vorne. Bleibt hängen und schafft es nicht raus. Ich erinnere mich an letztes Frühjahr. Ich schaute den Tauben beim Nestbau auf dem Balkon zu und trieb dann ihre Eier ab. Beobachtete sie bei unermüdlicher Arbeit, urteilte über ihre Gebilde. Stöckchen auf Fliesen. Dabei wog ich ab, ob eine Freundschaft mit A. weiterhin möglich wäre, und kam zu keinem Schluss. Ich suchte im Netz: Tauben auf dem Balkon was tun