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Lisa Kaldowski
Silberfische und Seepferdchen
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Ich sehe den Silberfischen beim Sterben auf dem Klebestreifen zu. Zweiunddreißig Tiere. Klein neben groß, neben klein, klein; ein Familienbild. Ein Fixpunkt. Bald ist der Klebestreifen voll. Ich zähle Atemzüge statt Silberfische. Bei eins einatmen, bei zwei ausatmen. Ein noch lebendes Exemplar biegt sich zu einem U: Embryonalstellung. Ich spüre die kalten Fliesen unter meinen Oberschenkeln. Mit den Fingern fahre ich die Fugen nach: das abgebrochene Stück, wo die Abwasserrohre der Badewanne zusammenlaufen, die Stelle ist genauso groß wie mein Zeigefinger. Ich bin zuhause und ich bin sicher. Bei eins einatmen, bei zwei aus. Er wird mich hier nicht finden. Ich trinke Wasser mit Wodka. Auf dem Klebestreifen sterben zweiunddreißig Tiere. Ich frage mich immer, wie sie es schaffen, mit dem Panzer kleben zu bleiben, die Beine nach oben. Aber das machen die Tierchen nur im Dunkeln, ganz in Ruhe, dafür brauchen sie mich nicht. Mit Toilettenpapier wische ich mir Tränen, Rotz, Mascara aus dem Gesicht. Dabei reibe ich mir das Kajal tiefer in die Augen. Ich höre auf und warte das Brennen ab. Ich strecke die Beine aus, lege den Kopf in den Nacken. Bei eins einatmen, bei zwei aus. Der Wodka macht meinen Bauch warm und meinen Kopf weich. Bei eins einatmen, bei zwei aus. Ein leichter Kopfschmerz vom Weinen. Mehr Wodka, der macht schön. [43 Minuten vorher] Ich binde mir die Brüste, ich schminke mir die Lippen und male mir schwarze Augen. Denn ich will aussehen, wie ich bin. Im Kopf der Satz der Mutter: »Wieso machst du das, du bist doch schön.« Überhaupt, die kurzen Haare und das Hemd. Meine Antwort immer: »Ich hab dich lieb.« Dann auflegen. Auf der Badarmatur steht ein Glas Weißwein, Kondensperlen laufen den Stiel hinab, mein Handabdruck dazwischen. Hintergrundmusik, die Lust aufs Ficken macht. Meine Augen werden eng; Selfies für die Ex.