Finale – Die Abschlusspublikation zum Literatur Labor Wolfenbüttel

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Martin Piekar

Der Junge im Altersheim oder: Übergabe Mit acht Jahren habe ich gelernt, was Arbeit bedeutet. Meine Mutter war Altenpflegehelferin in einem Pflegeheim. Wir standen morgens auf, wenn sie Frühschicht hatte. Sie bereitete mir Frühstück zu, das ich meist nicht aß, und packte Pausenbrote für die Schule ein, die meine Großmutter am Vorabend zubereitet und in den Kühlschrank gelegt hatte. Mama ging vor, meine Schicht begann eine Stunde später. Ich schmollte morgens meist, wenn ich eine Stunde länger schlafen durfte als meine Mutter, da ich mit ihr aufstehen wollte, um noch Zeit mit ihr zu verbringen. Aus Liebe tat sie manchmal so, als wären wir gemeinsam aufgestanden. Sowohl ihre Arbeitsstelle als auch meine Schule waren circa drei Minuten von unserer Wohnung entfernt. Erstere nach Norden, Letztere nach Süden. Es gab immer Schulbrot, reichlich zu trinken und ausreichend Obst, das ich häufig aufgrund seiner Übermenge nach Hause nahm und dort aß. Oder an aufregenden Tagen nach der Schule im Schulranzen vergaß. Als ich in die erste Klasse gekommen war, hatte meine Großmutter beschlossen, dass ich immer noch nicht groß genug sei, um wenige hundert Meter alleine zur Schule zu gehen, und so stand sie jeden Morgen diszipliniert auf und begleitete mich. Danach ging sie einkaufen oder heim und kochte mein Mittagessen. Valentina Laurecki lebte bei uns, solange ich mich erinnern kann, drei Generationen in einer Zweizimmerwohnung, Küche, Bad. Jeden Morgen spazierte sie neben mir zur Schule und ich fand das albern, wozu brauchte ich eine Begleitung, immerhin war ich jetzt ein Schulkind. Kam ich aus der Schule, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder Großmutter kochte für mich, weil Mutter bald von der Arbeit käme. Sie achtete darauf, dass das Essen nicht zu heiß war, aber dennoch frisch (also eigentlich immer noch zu heiß). So schmeckt es am besten, sagte sie. Die Frauen meiner Familie haben die beeindruckende Eigenschaft, ein frisch heißes Gericht ohne Verbrennungen genießen zu können. Zum Nachtisch gab es Obst. Häufig Bananen, die meiner Mutter und Großmutter schmeckten, die durch Deduktion schlossen, dass sie mir genauso schmeckten. Und so musste ich häufig Bananen essen, die mir nicht schmeckten. Ich sagte meiner Mutter, die Bananen würden mir nicht schmecken. Sie sagte, dann solle ich sie nicht essen. Meine Großmutter allerdings beharrte darauf, dass Bananen lecker seien und ich als Kind doch keine Bananen verabscheuen könne, und gesund seien sie zudem. Und so


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