Finale – Die Abschlusspublikation zum Literatur Labor Wolfenbüttel

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Cornelia Travnicek

Lost in Transformation

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Es war halb vier Uhr morgens und Lou wanderte zum wiederholten Mal schlaflos durch die Zimmer des Apartments. Um diese Uhrzeit war der Schein der leuchtwürmchenprozessionsgleichen Straßenlampenbänder längst verglüht. Bald würden die Sonnen aufgehen. Beim Blick aus dem Fenster sah Lou sich selbst am Himmel stehen, zwischen den Sternen. Unten blinkten nur wenige der Lichter der planetenumspannenden Großstadt, die Parks und die Wildflächen mit ihren raumgreifenden Pflanzen wie dunkles Fell in scharf umrissenen Flecken darin eingebettet. Lou drehte den Kopf zur Seite und das Spiegelbild im Glas verschwand. Wieder sah sich Lou im beinahe leeren Schlafzimmer um. Neben der Tür warteten die beiden bronzen glänzenden Reiseschatullen auf den anbrechenden Tag. Es war Zeit nach Hause zu fahren. Lou hätte sich gerne darauf gefreut, nach Hause zu fahren. Aber da war keine Vorfreude. Zwar bereiteten weder die kurzfristige Existenz als Negativmaterie während des Hyperraum-Sprungs noch das Gefühl der Entleibung bei dessen Start und Ende Lou Sorgen – und am wenigsten der einfache Flug in einem Interplanetar-Schiff. All das hatte Lou bereits vor fünf Terrajahren einmal durchlebt. Fünf Terrajahre – so lange war Lou nun schon von Familie und Freunden getrennt. Aber anstatt sich nun auf ein lang ersehntes Wiedersehen zu freuen, war Lou nervös. Lou hatte es zuvor noch niemals mit der Angst zu tun bekommen. Lous übergroße Neugierde verstellte von jeher der Angst die Sicht auf potenziell besorgniserregende Dinge. Auch diesmal war es nicht Ängstlichkeit, die Lou verspürte, sondern eine gewaltige Unsicherheit. Und nicht die Reise an sich war es, die Lou wachhielt. Zumindest nicht die anstehende, die beinahe greifbar und zeitlich begrenzt vor Lou lag, und ein definiertes Ziel hatte. Sondern das, was danach kommen sollte, ließ Lou mit verschränkten Armen am Fenster stehen und in die niemals vollkommene Finsternis starren: Lous Reise zu sich selbst. In bereits einer Woche sollte Lou ein bestimmtes Geschlecht haben und damit auch ein behördlich erfasstes Alter. Der Zweck von Lous Heimflug war die Mit-Gezda, der Zeitpunkt, an dem Lou ein Mann oder eine Frau werden würde und ab dem man die Lebensjahre als erwachsenes Mitglied der Gesellschaft zählte. Jetzt drückte Lou eine Handfläche gegen die Fensterscheibe. Das waren weder die Finger einer Frau noch der Handrücken eines Mannes. Das war Lous Hand, war immer Lous Hand gewesen. Wem würde


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