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Tabea Zeltner
Erdfurcht Nach Tonis Anruf schaue ich zuerst auf Wikipedia. Ich will wissen, ob der Eintrag meines Opas schon geändert wurde, ob sie so schnell sind. Da steht sein Todesjahr, und auch der Text ist schon im Präteritum. Ich frage mich, wie das geht, auch wenn sein Artikel nicht lang ist, nur ein paar Abschnitte. Vielleicht gibt es ja einen Bot dafür, einen, der alles automatisch in die Vergangenheit setzt, immerhin muss es doch auf Wikipedia täglich tausende neue Leichen geben. Oder sitzen da welche, die nur darauf warten? Bei den wichtigen Leuten muss es beinahe einen Wettbewerb geben, jeder von denen möchte sicher mal einen ehemaligen Bundespräsidenten ins Präteritum setzen oder wenigstens einen Schauspieler. Online finde ich außerdem zwei Eilmeldungen, kleinere Regionalzeitungen, kurze, vorgefertigte Texte. Sowas wird lange vorher geschrieben, das weiß ich, die liegen in einer virtuellen Schublade, sobald du wichtig genug bist und alt genug, wird dein Nachruf geschrieben, wahrscheinlich im Sommerloch, wenn man gerade Zeit hat. Ich kann mir das nicht vorstellen, wie Toni den Rundfunk anruft, um zu sagen, sein Papa sei tot, das könne jetzt gemeldet werden. Aber vermutlich hatte auch er irgendwo eine Schublade mit einer Pressemeldung drin, oder Opa hat sie selbst vorformuliert, auf der Schreibmaschine, die er bis zuletzt benutzt hat, damit Toni sie sofort rausfaxen kann. Oder einer von den Freunden, die Toni jetzt gerade anruft, hat es gemeldet. Opa hatte viele Freunde, der Bürgermeister und der Schauspieldirektor waren darunter, einer von denen wird gesagt haben, lass, Toni, ich mach schon, irgendjemand muss ja. Oder auf Tonis Telefonliste war gleich ein Journalist, der hat sein Beileid ausgesprochen und war ehrlich betroffen und hat dann ehrlich betroffen den Kollegen angerufen, der gerade Newsroom für die Webseite macht. Ich gucke nach, getwittert wurde der Tod meines Opas nicht, dafür war er dann doch nicht bekannt genug. Mama ruft mich an, sagt, sie habe traurige Neuigkeiten, und da werde ich auch traurig. Sie hat angenommen, sie würde als eine der Ersten angerufen werden, immerhin ist sie die Tochter, und jetzt weiß ich es schon vor ihr. Ich sage ihr, dass ich es schon weiß, weil ich nicht mehr weiß, wie man angemessen auf diese Nachricht reagiert und ihr darum nicht vorspielen kann, ich würde es gerade erst erfahren. Von Wikipedia erzähle ich ihr aber nicht und auch nicht vom Rundfunk.