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Philipp Neudert
Wintersonnenwende
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Auf dem Weg hierher hat es sich noch seltsam angefühlt. Erst, als wir zu trinken anfangen, ist es wieder wie früher. Für einige Sekunden. Normal. Das Spiel ist immer gleich. Nur die Umstände haben sich geändert. Wir sind mit dem Auto da statt mit dem Bus, wir sind älter, aber die letzten vierhundert Meter gehen wir zu Fuß – wie früher. Ich hasse es, so denken zu müssen, irgendein Gedanke, Gedankenstrich, und dann – wie früher. In dieser neuen alten Sicht ist alles Wiederholung, alles ungläubige Bekräftigung von Erinnerungen, die weitaus mehr mit den immer wieder neuen Nacherzählungen als dem ursprünglichen Erlebnis zu tun haben. Immer noch gehen wir bei Rot über die Ampel, immer noch schieben wir uns unvorsichtig an Passanten vorbei, wo es gar nicht nötig ist. Immer noch ist die Zeit ein großer Kreis. Immer noch drehen wir uns, zum Vergnügen ungnädiger Götter, für die unsere Geschichte nur ein Witz ist. Die verblichenen Holzfiguren, Krippenszenen, echtes Stroh in den Glasvitrinen unter gelblichem Licht, sie würden unsere Hoffnungen nur verhöhnen. Wenn wir welche hätten. Hundert Meter vor dem Eingang sieht man die Engel, die jedem einen Flyer in die Hand drücken und am vierten Advent sogar ein Teelicht mit einer Segensbotschaft. Und wir drängeln und drängeln, als hätten wir es eilig, dabei könnte nichts gleichgültiger sein. So ist das, die wahre, die einzige Geschichte, die ich erlebt habe. Wir fangen an mit ehrlichem, ungekühltem Dosenbier. Bevor wir den Wintermarkt stürmen, ziehen wir einen durch. Das Zeug ist mit irgendwas gestreckt, sodass es einen überhaupt nicht sanft und langsam macht, nur stumpf und unkonzentriert. Wenn ich sage, dass ich mich für die ganze Aktion schäme, dann bin ich nicht ganz ehrlich, denn etwas in mir ist auch stolz darauf, dass ich innerlich immer noch so naiv bin wie früher, das heißt, dass ich es alles sehe und mitmache, als würde ich von richtig und falsch nichts wissen. Und da ist noch etwas anderes in mir, und das will gänzlich ungerührt sein. Es betrachtet das sensorische System, an das es unwillkürlich angeschlossen ist, mit maximal distanziertem Insektenforscherblick, durch eine dicke Lupe, mit Bleistift, Notizbuch und einer Packung Chips in Reichweite. Mal sehen, wie sich das Objekt in der vertrauten Umgebung unter veränderten Umständen verhalten wird. Auf dem Markt steuern wir direkt den Glühweinstand an, drängeln uns, nicht ungeschickt, aber doch hauptsächlich roh, vor