Finale – Die Abschlusspublikation zum Literatur Labor Wolfenbüttel

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Max Deibert

Hunger Eine Mutter und ihre Tochter laufen mir entgegen. Die Schultasche hängt der Kleinen an einem Riemen von der Schulter. Ihre Mutter hält eine Tupperdose in der Hand und isst im Gehen die Schulbrote ihres Kindes. Hunger tut weh, das will ich niemandem absprechen. Den schlimmsten Hunger meines Lebens hatte ich im Urlaub 2009. Mit meinen Eltern und Lana, in deren Klasse die Jungs kurz vor den Ferien herausgefunden hatten, dass sie ›Anal‹ hieß, wenn man ihren Namen verkehrt herum schrieb. Meine Mutter hatte nächtelang das Internet nach Antworten durchsucht, woher Sechstklässler wissen konnten, was ›anal‹ außerhalb eines medizinischen Kontextes bedeutete und was sie daran so witzig fanden. Meinen Vater hatte sie ausgesandt, um ein sehr unangenehmes Gespräch mit der Klassenlehrerin und den Eltern der entsprechenden Jungen zu führen, in dessen Verlauf er wiederholt dafür kritisiert wurde, dass er seiner jüngsten Tochter den Namen Lana gegeben hatte, was seiner Ansicht nach grob am eigentlichen Thema vorbeiging. Die Klassenlehrerin meiner kleinen Schwester zeigte sich im Verlauf des Gesprächs wortkarg, den Blick auf den Schritt meines Vaters gerichtet. Wenn das Wort ›anal‹ fiel, errötete sie leicht an den Spitzen ihrer hohen Wangenknochen und zog ihren Rock zurecht, als könne dessen Länge etwas über ihre Haltung zu diesem Thema aussagen. Als mein Vater an jenem Abend nach Hause kam, hatte er keine Einigung mit den Eltern der anderen Kinder erreichen können, wirkte aber ungewöhnlich gut gelaunt und frisch. Ganz anders meine Mutter. Der Ausflug in die weniger bürgerlichen Ecken des Internets hatte sie ihre Gelassenheit gekostet und der fremde Duft, der aus dem Hemdkragen meines Vaters stieg, ihr Vertrauen in seinen ehelichen Eid. Ich war ein aufmerksamer Junge und erkannte schnell, dass die Möglichkeit eines frühzeitigen Bruchs der Ehe meiner Eltern nicht allzu unrealistisch erschien. Kurz: Wir hatten alle einen Urlaub bitter nötig. Unser Ferienhaus in Südfrankreich grenzte auf der Westseite an ein kleines Wäldchen, im Osten an Rapsfelder und im Süden ans Meer. Nach Norden hin verlief ein Lehmpfad, dessen Untergrund von den Reifenprofilen tonnenschwerer Traktoren wie ein grober Kamm den Weg in das 45 Kilometer entfernte Saint-Julienen-Born wies. Der Pfad schüttelte unseren alten Citroën so gründlich durch, dass die Flasche Schampus, die mein Vater für unsere Ankunft im Ferienhaus eingepackt hatte, im Kofferraum explodierte und


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