Finale – Die Abschlusspublikation zum Literatur Labor Wolfenbüttel

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Nefeli Kavouras

Darwin Es ist Donnerstag, und ich muss wieder zu meinem Bruder. Jedes Mal, wenn ich meinen Bruder besuche, laufe ich am Gong Asia Imbiss vorbei. Ich sehe da nie jemanden essen oder arbeiten. Aber ich sehe den Asia-Boss, wie er am Windows XP sitzt und Solitär spielt. Wenn der Asia-Boss beim Solitär gewinnt und auf dem Bildschirm das animierte Feuerwerk erscheint, habe ich das Gefühl: Es wird ein guter Tag. Ich habe ihn ein paar Mal gewinnen sehen und immer gehofft, er würde sich freuen. Aber es regt sich nichts in seinem Gesicht. Mein Bruder sagt, dass sich der Asia-Boss generell nicht freuen kann. Bestimmt stecke die Mafia hinter der Imbissbude, sonst könne die sich eh nicht halten. Und wenn man so viel mit der Mafia zu tun habe, helfen auch nicht tausend gewonnene Solitärspiele. Dieses Mal sehe ich beim Vorbeilaufen, wie der Asia-Boss die Pik sieben zur restlichen Pik-Gruppe schiebt. Ich glaube, heute wird er nicht gewinnen. Und dass es wieder kein guter Tag wird. Ein guter Tag, an dem ich bei meinem Bruder bin, ginge so. Bei meiner Ankunft würde er sagen: »Komm rein, mach es dir schon mal bequem, ich muss noch kurz etwas in der Küche vorbereiten.« Es würde gut riechen in seiner Wohnung. Ein guter Tag bei meinem Bruder wäre: Ich komme an, und da ist nichts, das mir Sorgen bereitete. Ein Lächeln. Ein Witz vielleicht. Wie man das eben zwischen Brüdern macht. Es gibt sie nicht oft, die guten Tage. Ich nenne meinen Bruder Darwin. Eigentlich heißt er Jonathan, aber unsere Mutter meinte damals, aus Jonathan würde etwas Großes werden, ein Darwin, mindestens. Mein Bruder, er ist sieben Jahre jünger als ich, war schon immer verschroben – als Kind viel in der Natur, immer allein. Er lachte zu laut und stets ein wenig zu lang. Darwin war anders als die anderen Kinder, und meine Mutter deutete das als erstes Zeichen dafür, dass er ein Genie werden würde. Als ich ihr irgendwann als Jugendlicher erklären wollte, dass er sich nur nicht anpassen könne und eben kein Genie sei, schaute sie mich an und fragte: »Und was hast du davon, dass du dich so gut anpasst?« Ich habe nicht gern mit Darwin gespielt. Am meisten mochte ich ihn, wenn wir als Kinder sonntags auf dem Sofa lagen, beide Comics lasen und uns wortlos die Hefte hin- und herreichten. Wenn wir versuchten, ein Gespräch zu führen, war ich schnell genervt. Ständig verhaspelte er sich, immer wirkte er nervös. Unsere Mutter forderte mich auf, Geduld mit ihm zu haben. Dazu ermahne ich


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