Argumente 1/2013 Arbeiterjugendtag

Page 1

Argumente 1/2013 Arbeiterjugendtag Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin April 2013

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

Argumente 1/2013 Arbeiterjugendtag


ARGUMENTE 1/2013 Arbeiterjugendtag

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


INHALT

Intro: 150 Jahre SPD – Ein Grund zum Feiern ........................................................ 4 von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

Magazin Auf auf zum Wahlkampf .......................................................................................... 7 von Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD Jugend macht Ansagen ........................................................................................ 11 von Florian Haggenmiller, DGB-Bundesjugendsekretär Knapp, Knapper, Niedersachsen. ......................................................................... 16 von Daniel Brunkhorst, Vorsitzender des Juso-Bezirk Hannover Rezension: Nationalitätenfrage und Autonomie ................................................. 21 von Thilo Scholle, aus Lünen Die Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit und ihre Folgen .......................... 25 von Marie-Christine Reinert und Robin Roth, Jusos Göttingen

Schwerpunkt „Die Zukunft hat Geburtstag! 100 Jahre Arbeiterjugend“ ................................. 32 Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Juso-Jubiläumsfeier am 15. Mai 2004 in Berlin

2

Inhalt Argumente 1/2013


"I THINK SO, BECAUSE I HOPE SO" Socialism and international solidarity: our way to change the world. ................ 41 by Viviana Piñeiro, President of the International Union of Socialist Youth (IUSY ) Parteijubiläum und tagespolitische Agenda Plädoyer für eine aktive sozialdemokratische Geschichtspolitik ......................... 46 von Dr. Andrea Hoffend, Historische Kommission der SPD Baden-Württemberg Interview mit Wilhelm Bußmann (geb. 1932) ...................................................... 53 Das Interview führte Thilo Scholle Sozialdemokratische Friedenspolitik ................................................................... 59 von Dr. Ute Finckh-Krämer, Co-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung und SPD-Direktkandidatin im Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf für die Bundestagswahl 2013. Das kleine Einmaleins der SPD: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ............ 65 von Simone Burger, Vorsitzende des Kreisverbands München des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB Die Konstante der Parteigeschichte ist der Streit .............................................. 69 von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender Seit‘ an Seit‘? Gewerkschaften und SPD-Linke ................................................... 74 von Björn Brennecke, ehemaliger Bezirksvorsitzender der Jusos Braunschweig „Können wir nur selber tun…!“ Die „Jungen Europäischen SozialistInnen – YES“ machen sich auf den Weg, Europa zu verändern ............ 80 von Andro Scholl, Vizepräsident der Young European Socialists – YES Kleine Leseliste „Parteigeschichte der SPD“ ...................................................... 85 von Jonathan Roth, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

3


INTRO: 150 JAHRE SPD – EIN GRUND ZUM FEIERN von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

2013 feiert die deutsche Sozialdemokratie ihren 150sten Geburtstag. Wir Jusos begehen diesen Anlass mit unserem Workers Youth Festival im Mai in Dortmund. Dort wird es wie immer nicht nur um Party und Geselligkeit gehen, sondern vor allem um Politik. Wir wollen sowohl einen Blick in unsere Geschichte werfen, als auch unsere Anforderung an die zukünftige Gesellschaft formulieren. Gemeinsam mit den Falken und anderen Bündnispartnern werden wir diskutieren, Aktionen durchführen und feiern. Wir zeigen der Welt beim Workers Youth Festival, wofür wir stehen. Besonders freuen wir uns über den internationalen Charakter des Festivals. Wir werden unserer Tradition entsprechend unsere Überzeugungen mit Genossinnen und Genossen aus der ganzen Welt erarbeiten. Wir Jusos kämpfen für Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit. Wir sind eine der größten und traditionsreichsten politischen Jugendorganisationen Europas. Wir setzen uns für die konkreten Interessen junger Menschen ein und verbinden dieses Engagement gleichzeitig mit der Überzeu-

4

gung, dass ein anderes Leben, Arbeiten und Wirtschaften möglich ist. Wir Jusos sind die Jugendorganisation der SPD. Als Teil der SPD engagieren wir uns für unsere politischen Vorstellungen und wollen die SPD nach unseren Maßstäben gestalten. Wir sind aber mehr als das: Als politischer Richtungsverband sind wir Teil der jungen Generation und kämpfen für politische Mehrheiten. In Wahlkämpfen streiten wir für fortschrittliche Reformen und gegen Marktradikale und Konservative. Wir Jusos treten für einen solidarischen Staat ein, der ungezügelten Märkten soziale Grenzen setzt. Wir glauben nicht an die Allmacht freier Wirtschaft, sondern sind der Überzeugung, dass soziale und ökologische Regeln nötig sind. Denn wir wollen, dass alle am wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben. Wir kämpfen für gesellschaftlichen Wandel und eine Welt der Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit. Für eine sozialistische Welt, in der Menschen, nicht Profite zählen. Für eine demokratische Welt, in der junge Menschen mitwirken und entscheiden. Wir haben viel erreicht. Ein

Intro: 150 Jahre SPD – Ein Grund zum Feiern Argumente 1/2013


Blick zurück lohnt sich – den wollen wir wagen. Doch nicht nur das. Als SozialistInnen wollen wir eine solidarische Zukunft gestalten. Wir zeigen, dass es auch anders geht und schreiben die Geschichte weiter. Unser Kampf ist noch längst nicht am Ende! Mit diesem Heft wollen wir dazu anregen, sich in diesem Sinne mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen. Diese Auseinandersetzung dient dabei nicht dem Zweck, nostalgisch in Erinnerungen zu schwelgen oder in Traditionen zu verharren. Vielmehr wollen wir Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Dabei wissen wir auch: Im Blick zurück entstehen die Dinge. Geschichte wird in der Retrospektive oft zu einer linearen Erzählung verdichtet, die so und gar nicht anders hätte von statten gehen können. Diese Versuchung, Geschichte gradlinig auf einen Weg in die Gegenwart hin zu instrumentalisieren, ist gerade dann besonders groß, wenn die Historie als Ressource in gegenwärtigen Auseinandersetzungen dient. Wir wollen euch daher mit diesem Heft – Wahljahr hin oder her – auch die Chance bieten, die Widersprüchlichkeit der Geschichte der deutschen und internationalen Sozialdemokratie in den Blick zu nehmen. Denn nicht alles in der Entwicklung der SPD verlief nach einem Masterplan, kein historischer Zweck hat die Geschicke der sozialistischen Bewegung geleitet. Vielmehr ist die Geschichte der SPD (wie eben auch die Geschichte der Gesellschaft insgesamt) eine Aneinanderreihung mal lose verketteter, mal eng aufeinander bezogener sozialer und ideologischer Kämpfe. Schweigen wir auch nicht permanent von denen, die darin unterlegen waren.

In den vergangenen 150 Jahren gab es trotz allen internen Widerstreits immer wieder Menschen, die die gleichen Grundwerte teilten, die auch heute noch unser politisches Bewusstsein bestimmen. Gemeinsam haben wir viel erreicht. Vieles liegt noch vor uns. Wir wollen nicht noch einmal 150 Jahre warten. United we make history – solidarity now!

Zu den einzelnen Beiträgen Der Beitrag von Niels Annen geht auf einen Vortrag zurück, den er 2004 im Willy-Brandt-Haus anlässlich des 100. Geburtstages der Jusos gehalten hat. Er führt durch die Geschichte und das Selbstverständnis der Jusos. Viviana Piñ eiro wagt einen Blick zurück auf die von Willy Brandt am Ende des Kalten Krieges formulierten Herausforderungen. und widmet sich in einem zweiten Schritt den Entwicklungen, die wir seit dem beobachten. Sie legt dar, dass nur SozialistInnen und SozialdemokratInnen heute wirklich gemeinsame Antworten auf globale Fragen haben. Mit der Kraft der Utopie und der Stärke der Internationalen Solidarität geht die sozialistische Bewegung den Weg aus den Krisen in eine solidarische Welt. Andrea Hoffend setzt sich in ihrem Beitrag mit dem Umgang mit Geschichte auseinander. Sie plädiert dafür, nicht nur zu Jubiläen an die Parteispitze zu erinnern, sondern sich ständig mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Dabei sollte es vor allem auch um die Auseinandersetzungen und nicht nur um das historische Ergebnis gehen. Des Weiteren fordert sie

5


ein, sich in die Geschichtsschreibung einzumischen und die Leistungen der Sozialdemokratie und ihrer einzelnen VertreterInnen mehr zu würdigen. Thilo Scholle hat ein Interview mit dem Lüner Sozialdemokraten Wilhelm Bußmann geführt. Er berichtet von seinen Erfahrungen unter der Naziherrschaft und der entstehenden Bundesrepublik. Er erzählt von der Verfolgung seiner Familie und Erlebnissen mit den Tätern nach dem Krieg. Des Weiteren erinnert er an den Wiederaufbau der SPD und seine Erlebnisse bei den Falken und dem Arbeiterjugendtag 1947 in Stuttgart. Ute Finckh-Krämer wirft ein Schlaglicht auf den ambivalenten Kurs der SPD in der Friedensfrage. Als Partei des friedlichen Internationalismus der Völker gegen den Imperialismus der herrschenden Klassen gegründet, schwenkte die SPD mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten im 1. Weltkrieg auf den nationalistischen Kurs ein. In der Zwischen- und Nachkriegszeit wurden Debatte um Internationalismus und Rüstung heftig geführt. Heute steht neben der Debatte um Auslandseinsätze ein umfassendes Konzept im Vordergrund: Friedensförderung und Konfliktprävention. Simone Burger widmet sich den Grundwerten der Sozialdemokratie. Sie beschreibt, wie nach Ende der Orientierung auf den Klassenkampf die Frage der Werte an Bedeutung gewann. Sie zu definieren und mit Leben zu füllen blieb immer ein Konfliktgegenstand in der SPD. Ein wichtiger Punkt dabei: Wie viele Kompromisse dürfen wir machen, wenn wir noch glaubwürdig sein wollen?

6

Jan Schwarz skizziert das Selbstverständnis der SPD und ihren Umgang damit. Der Stolz und die Identifikation der Sozialdemokratie als Ganzes entspringen eben nicht aus einzelnen Positionen oder Handlungen, sondern aus der Gemeinschaft derjenigen, die um den richtigen Weg in eine bessere Gesellschaft ringen. Dabei gibt es viele Konstanten und Ansätze, die sich durch alle 150 Jahre unserer Geschichte ziehen, aber mindestens ebenso viele Brüche und Neuausrichtungen. Björn Brennecke behandelt in seinem Beitrag das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften. Er reflektiert dabei kritisch die errungenen Erfolge und vergleicht den Weg der Arbeiterbewegung in Deutschland mit anderen europäischen Ländern. Er stellt insbesondere die Frage, inwieweit die Gewerkschaften einen gesamtpolitischen Anspruch vertreten haben. Den Kampf der Young European Socialists (YES) für eine Alternative in Europa beschreibt Andro Scholl. In einer Zeit, in der viele junge Menschen die EU mit Sparzwang und Massenarbeitslosigkeit gleichsetzen, in der in Ungarn die Demokratie ausgezehrt wird, zeigt YES: Dieses Europa ist nur das Europa der Rechten! YES will ein soziales und demokratisches Europa. Der Wandel der Organisation von einem lose koordinierten Dachverband aus EG-Mitgliedsorganisationen zu einer europaweit kampagnenfähigen Bewegung soll dabei helfen. Das Heft schließt mit einem Überblick über wichtige Bücher zur sozialdemokratischen Parteigeschichte von Jonathan Roth. l

Intro: 150 Jahre SPD – Ein Grund zum Feiern Argumente 1/2013


AUF AUF ZUM WAHLKAMPF von Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD

Magazin

Noch knapp ein halbes Jahr ist es bis zur Bundestagswahl. Wir haben alle Chancen, am 22. September zusammen mit den Grünen einen Regierungswechsel zu erreichen. Die wollen wir nutzen. Deshalb legen wir jetzt eine Schippe drauf und schalten konsequent auf Angriffsmodus um. Aus vielen vergangenen Landtagswahlen haben wir Rückenwind. Schwarz-Gelb hat bei allen zurückliegenden Entscheidungen der letzten Jahre keine Mehrheit mehr gewonnen. Stattdessen hat die SPD die Regierung in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und zuletzt Niedersachsen zurück erobert. In den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin, aber auch in Frankfurt a.M., in Wiesbaden, in München, Leipzig, Nürnberg, Mannheim, Karlsruhe und in vielen weiteren Städten stellt die SPD die Bürgermeister und Oberbürgermeister. Gerade aus der Wahl in Niedersachsen können wir eine Menge lernen. Zuerst: Wir brauchen uns durch Beliebtheitswerte anderer Spitzenkandidat/innen nicht kirre machen lassen. David McAllister war laut

Umfragen sogar beliebter als die Kanzlerin. Gewählt aber haben die Bürgerinnen und Bürger Stephan Weil. Weil es dafür gute Gründe gab und die Menschen klug zwischen Sympathie und politischem Urteil zu unterscheiden wissen. Die niedersächsische SPD hatte das richtige Wahlprogramm. Die Sozialdemokratie hat die Themen in den Vordergrund gestellt, die die Menschen beschäftigen, allen voran Fragen von Gerechtigkeit. Insbesondere für gute Bildungschancen von Kindern und für Bedingungen guter Arbeit haben die Wählerinnen und Wähler auf die SPD gesetzt. Den entscheidenden Schritt zum Erfolg hat jedoch kein Papier geliefert, sondern das waren die niedersächsischen Genossinnen und Genossen. Sie haben die Menschen gezielt und überzeugend angesprochen, an der Haustür, auf den Straßen und Plätzen und in den sozialen Netzwerken. Das gibt die Richtung für den Bundestagswahlkampf vor. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass Rot-Grün eine echte Alternative bietet. Dass es im September nicht nur um einen Regierungswechsel geht, sondern um einen Politikwechsel. Ein bisschen wechseln wird es

7


dabei nicht geben. Wer wirklich will, dass es in diesem Land besser und gerechter zugeht, muss zur Wahl gehen und muss sein Kreuz bei der SPD machen. Die jetzige Bundesregierung ist fix und fertig. Es wird nichts mehr entschieden. Sie kümmert sich nicht um das, was den Menschen unter den Fingernägeln brennt. Sie hat vor allem ihr eigenes Wählerklientel vor Augen; der Großteil der Menschen, die hier hart arbeiten, zieht den Kürzeren. Das gilt auch und gerade für viele junge Leute. Selbst wenn unsere Situation mit Ländern wie Italien oder Spanien nicht vergleichbar ist, so fehlt doch auch hierzulande vielen jungen Menschen eine sichere Perspektive. Dagegen sagen wir: Kein Abschluss ohne Anschluss. Wer eine zweite oder dritte Chance braucht, soll sie auch bekommen. Ausbildungsberufe sollen durchlässiger werden, müssen die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bieten. Am Geld darf es an keiner Stelle scheitern, von der Kita bis zur Hochschule nicht. Die Studiengebühren sind mit der Wahl in Niedersachsen und dem Volksbegehren in Bayern zum Glück vom Tisch. Aber auch das BAföG muss dringend weiter entwikkelt werden. Der Übergang von einer Ausbildung oder einem guten Studium in den Beruf muss ebenfalls leichter werden. Hürden gibt es nicht nur für gering Qualifizierte. Viele werden über Jahre mit schlecht bezahlten Praktika oder Kurzzeit-Verträgen abgespeist. Vielleicht habt Ihr Anfang des Jahres den Fall von Mario Schenk verfolgt, der sich auf ein anspruchsvolles Praktikum in einem Südamerika-Projekt bewerben wollte, ausgeschrieben von einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Berlin. Auf Nachfrage erfuhr er, dass ein Kandidat gesucht wurde, der idealerweise

8

Auf auf zum Wahlkampf Argumente 1/2013

ein halbes Jahr mitarbeitet – bei einer 40Stunden-Woche für 250 Euro im Monat. Das entspricht einem Stundenlohn von 1,50 Euro! Mario Schenk wollte sich nicht nur ärgern und schrieb schließlich eine Nicht-Bewerbung mit der Begründung, dass er sich ein solches Praktikum nicht leisten kann. Für diejenigen, die den Zuschlag für eine Stelle erhalten haben, ist es nicht automatisch leichter. Denn jeder zweite neue Arbeitsvertrag ist befristet – auch das müssen wir ändern. Die Möglichkeit sachgrundloser Befristung gehört abgeschafft. Wir wollen gute Arbeit mit fairen Löhnen – das werden wir stark machen. Genau den gleichen jungen Leuten, denen Praktika und befristete Jobs angeboten werden, sagen wir übrigens, sucht euch einen Partner oder eine Partnerin, gründet eine Familie. Das passt erst recht nicht zusammen. Mit unserem Regierungsprogramm haben wir eine gute programmatische Grundlage, um zu zeigen, dass es uns Ernst ist mit einer besseren und gerechteren Politik. Es ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit der letzten Jahre. Ihr Jusos habt dazu eine Menge beigetragen. Zuletzt habt Ihr nochmal deutlich gemacht, dass wir uns in Asylfragen und Humanitärer Flüchtlingspolitik ganz klar positionieren müssen – um der betroffenen Menschen willen. Eure Forderungen haben wir aufgenommen und das Ergebnis der Arbeitsgruppe findet Ihr jetzt als Teil unseres Programms. Doch es wird für die SPD nicht reichen, Recht zu haben. Für einen Wahlsieg müssen wir mobilisieren, für eine hohe


Wahlbeteiligung werben, unser gesamtes Wählerpotenzial erreichen. Die gute Nachricht ist: Es gibt sie, die Menschen, die wir für die Politik der SPD und RotGrün gewinnen können. Die SPD hat das größte Wählerpotenzial von allen Parteien. Es umfasst etwa 6,2 Millionen Wahlberechtigte – zusätzlich zu den etwa 18 Millionen, die uns jetzt schon wählen – wenn wir sie richtig ansprechen. Wir setzen dazu im Bundestagswahlkampf 2013 ganz klar auf Menschen statt auf Materialschlacht und Marketing. Die Politik vom Sockel holen, mehr Dialog suchen, weniger Propaganda – darum wird es gehen. Wir setzen dazu auf unsere Mitglieder. Wir setzen auf Euch, die Jusos, als Teil der zentralen bundesweiten Kampagne. Unsere Aktiven sind die besten Botschafterinnen und Botschafter vor Ort. Ihr Jusos könnt jungen Leuten erklären, warum die Politik der SPD ihre Zukunft wirklich verbessern wird. Ihr könnt Bilder über die SPD in den Köpfen junger Frauen und Männer verändern. Wenn die Sprache, in der wir unsere Ideen formulieren, nicht diejenige ist, die für Eure Generation attraktiv ist, könnt Ihr übersetzen. Lasst uns gemeinsam weitere Unterstützerinnen und Unterstützer gewinnen, die als Überzeugte wiederum andere überzeugen. Juso-CampaignerInnen werden zusammen mit anderen Campaignerinnen und Campaignern ganz nah an den jeweiligen BundestagskandidatInnen dran sein. Sie werden in Wahlwerkstätten geschult und bilden den engen Draht zur Kampa im WBH. Gerade Euer Feedback als Jusos wird ein entscheidendes Element im Wahlkampf sein. Ihr könnt direkt berichten, was vor Ort ankommt und was floppt, was man verändern muss.

Unser Ziel ist es, in den kommenden Wochen und Monaten mit möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern direkt ins Gespräch zu kommen. Barack Obama in den USA und Francois Hollande in Frankreich, aber auch Peter Feldmann in Frankfurt, Frank Mentrup in Karlsruhe und Sven Gerich in Wiesbaden haben vorgemacht, dass persönliche Kontakte Wahlkämpfe entscheiden können. Dabei geht es nicht darum zu agitieren. Sondern darum, zu überzeugen, Vertrauen zu gewinnen. Unsere tatsächlichen und möglichen Wählerinnen und Wähler müssen das Gefühl haben, dass wir ihre Anliegen aufnehmen und dass wir für ihre Probleme und für die Herausforderungen des Landes die besseren Lösungen anbieten. Wir müssen also Kommunikation organisieren, auf moderne, intelligente Weise. Die Kampa im Willy-Brandt-Haus mit der Plattform „Kampa.Netz“ für alle ProfiWahlkämpferInnen und der öffentlichen Plattform „mitmachen.spd.de“ will alle haupt- und ehrenamtlichen WahlkämpferInnen dabei bestmöglich unterstützen. Jede Idee ist willkommen: ein pfiffiger Info-Stand, 30 Sekunden bei Facebook, zwei Stunden von Tür zu Tür, alles trägt zum Erfolg bei. Im Wahlkampf 2013 geht es im Bund, aber auch in Bayern und Hessen nicht mehr um analog versus digital, um konkrete versus virtuelle Wege. Wir nutzen die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten, um den Frauen und Männern zu sagen, wofür wir ihre Stimme wollen. Damit alle die gleichen Chancen und die gleiche Freiheit haben, das zu tun, was sie wollen. Ihr Jusos habt in der heißen Phase mit eurem Tourbus eine spannende Strecke vor euch. Ihr könnt die jungen Menschen genau da erreichen, wo sie sich

9


im Sommer aufhalten und vor Ort mit ihnen ins Gespräch kommen. Vor uns liegt ein Marathon. Schon jetzt allen von Euch, die Zeit und Ideen investieren, herzlichen Dank! Euer Engagement ist nicht selbstverständlich. Mit Peer Steinbrück, mit dem Parteivorstand verspreche ich Euch aber: Wir werden vom Willy-Brandt-Haus aus nach Kräften alles tun, dass wir am 22. September gemeinsam feiern und dann zusammen mit den Grünen einen Politikwechsel in Deutschland durchsetzen können. l

10

Auf auf zum Wahlkampf Argumente 1/2013


JUGEND MACHT ANSAGEN von Florian Haggenmiller, DGB-Bundesjugendsekretär

Die DGB-Jugend tritt in eigener Sache zur Bundestagswahl an: Für einen Wechsel in der Politik hin zur Solidarität hat sie sechs Forderungen aufgestellt. Sie wird ihre Erwartungen für die junge Generation in die Öffentlichkeit tragen. Die Politik muss grundsätzlich jugendgerechter werden. Das heißt vor allem: bessere Ausbildungsqualität, sichere Beschäftigung und eine solide finanzierte Bildung. Am 22. September 2013 wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Ein Politikwechsel ist mehr als angesagt. Die DGB-Jugend wird die Diskussion über die Zukunft der jungen Generation nicht den Politikerinnen und Politikern allein überlassen, sondern sich aktiv in diesen Wahlkampf einbringen. Die Forderungen der jungen Generation werden laut und deutlich durch die jungen Wählerinnen und Wähler formuliert. Es geht um eine soziale und arbeitnehmerfreundliche Politik für junge Menschen, die sich in den Parteiprogrammen, im Wahlkampf und in den Koalitionsverhandlungen sowie in der politischen Gestaltung wiederfindet. Dazu hat die Gewerkschaftsjugend sechs Anforderungen aufgestellt.

1) Für eine solidarische Alterssicherung In den letzten Jahren wurde das Leistungsniveau der gesetzlichen Rente immer stärker gekürzt und gleichzeitig der Aufbau privater, kapitalgedeckter Vorsorge mit staatlichen Mitteln unterstützt. Doch das sinkende Leistungsniveau belastet auch die Jüngeren. Die Finanzkrise hat deutlich gezeigt: Die Privatisierung der Alterssicherung ist der falsche Weg. Gleichzeitig greift Erwerbsarmut immer weiter um sich. Der Niedriglohnsektor wächst, von Equal Pay sind wir weit entfernt – in der Leiharbeit ebenso wie zwischen Männern und Frauen – und gerade junge Leute sind besonderes oft von prekärer Beschäftigung betroffen. Und wir wissen: Erwerbsarmut ist der häufigste Auslöser für Altersarmut. Und zu allem Überfluss sollen wir alle deutlich länger arbeiten. Aber die Rente mit 67 war und ist eine fatale sozialpolitische Fehlentscheidung, die dringend korrigiert werden muss. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden es nicht schaffen, so lange zu arbeiten. Wer aber nicht bis 67 durchhält, muss enorme Verluste hinnehmen. Das ist und bleibt ungerecht.

11


Wir brauchen eine Rentenpolitik für junge Menschen. Das heißt: Statt kurzfristiger Beitragssenkungen müssen wir langfristig Rücklagen im Rentensystem aufbauen, damit auch noch kommende Generationen eine sichere gesetzliche Rente haben. Einerseits argumentiert die Regierung immer, man dürfe keine öffentlichen Schulden machen, um künftige Generationen nicht zu belasten. Andererseits tut sie in der Rentenpolitik genau das. Sie macht mit Rentenbeitragssenkungen Wahlkampfgeschenke, die massive Auswirkungen auf die Zukunft des Rentensystems und damit auf kommende Generationen haben werden. Das passt nicht zusammen. Wir fordern: • eine armutsfeste solidarische Alterssicherung und die Abschaffung der Rente mit 67 • die Sicherung des heutigen Rentenniveaus – Armut im Alter nach einem erfüllten Arbeitsleben muss ausgeschlossen werden • den Aufbau einer Demografie-Reserve und einer nachhaltigen Rentenpolitik mit Perspektive • abgesicherte, flexible Übergänge in die Rente – rentennahen Jahrgängen den Ausstieg aus dem Erwerbsleben erleichtern und so jungen Menschen Beschäftigungsperspektiven eröffnen • eine paritätische Finanzierung der Alterssicherung und eine Erwerbstätigenversicherung, in der alle arbeitenden Menschen solidarisch für das Alter abgesichert sind. 2) Für eine solidarische und offene Gesellschaft Seit 1990 sind laut der Amadeo-Antonio-Stiftung mehr als 180 Menschen durch neonazistische Gewalttaten ums Le-

12

Jugend macht Ansagen Argumente 1/2013

ben gekommen. Menschen, die nicht in ihr rassistisches Weltbild passen, werden von den Nazis verfolgt, verprügelt, umgebracht. Nazis zünden Einrichtungen an. Sie sprechen Morddrohungen aus und führen ihre politischen Gegner in Hasslisten auf. Und sie schreiten zur Tat – auch bis zum Tod. Nazis sind nicht nur in Parteien, sie sind mit ihrem Gedankengut längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Antifaschistisches Engagement fängt daher nicht am Wahltag an und hört auch danach nicht auf. Trotzdem ist es wichtig, Nazis und ihren Sympathisanten am Wahltag die rote Karte zu zeigen. Keine Stimme für Nazis. Wir fordern: • Nazis keinen Raum für ihre Parolen, Vorurteile und Menschenverachtung zu lassen • Sich Nazis aktiv in den Weg zu stellen und nicht schweigend zuschauen, wenn sie marschieren, hetzen, Menschen angreifen • keine Nazis in die Parlamente – für eine solidarische und offene Gesellschaft zu dulden • eine umfassende Aufklärung des NSUSkandals • ein Verbot aller faschistischen Parteien und Organisationen • Demokratie von Anfang an – in Schule, Betrieb, Hochschule und Politik. 3) Für eine bessere Ausbildung Überstunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten und fehlende Betreuung sind für viele Azubis Alltag. In vielen Branchen herrschen schlechte Ausbildungsbedingungen, und oftmals wird gegen klare gesetzliche Regelungen verstoßen. Durch


Verstöße werden sowohl die Gesundheit als auch der Ausbildungserfolg der Azubis gefährdet. In vielen Bereichen fehlt es an der nötigen Ausbildungsqualität. Aus der betrieblichen Arbeit ist mir bekannt, welche Anforderungen junge Menschen an Ausbildung und Arbeit haben, welche Bedingungen stimmen müssen, um eine gute Perspektive für die Lebensgestaltung zu haben. Als Jugendvertreter hatte ich mit zahlreichen Jugendlichen in Ausbildung und Studium in den unterschiedlichen Regionen zu tun. Doch anstatt Unterstützungsmaßnahmen, ausbildungsbegleitende Hilfen und die Möglichkeit einer Verlängerung der Ausbildung für schwächere Azubis auszubauen, werden von Teilen der Politik verkürzte Ausbildungsgänge gefordert. Noch schlimmer ist aber, dass jeder dritte Jugendliche nach der Schule in der Maßnahmenschleife landet. 2,2 Millionen junge Leute bis 35 Jahre haben keinen Berufsabschluss. Wir fordern: • die Verbesserung der Ausbildungsqualität • die Einhaltung und Verbesserung des Jugendarbeitsschutzgesetzes • gut geschulte Ausbilderinnen und Ausbilder • Ausbildung statt Ausbeutung • konsequente Kontrolle der Betriebe durch unabhängige Stellen – bei massiven Verstößen wirksame Sanktionen • ausreichende materielle und personelle Ausstattung der Berufsschulen • keine Einführung von Schmalspurausbildungen, weder durch Modularisierungen noch durch zweijährige Ausbildungsberufe, sondern den Ausbau von Unterstützungsmaßnahmen für schwächere Auszubildende

eine umfassend qualifizierende, qualitativ hochwertige betriebliche Ausbildung für alle.

4) Für gute und sichere Beschäftigung Um die 40 Prozent der Azubis werden nicht von ihren Ausbildungsbetrieben übernommen. Lediglich 37 Prozent der Beschäftigten unter 35 Jahren arbeiten unbefristet sowie ohne Zeitarbeit und beziehen dabei ein Bruttoeinkommen von mindestens 2.000 Euro. Über 50 Prozent der Leihkräfte sind jünger als 35 Jahre. In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen erhalten fast 52 Prozent einen Niedriglohn. Dauerbelastungen, Psycho-Stress und Druck im Job nehmen zu. 81 Prozent der Praktikantinnen und Praktikanten leisten vollwertige Erwerbsarbeit. Damit ersetzen Unternehmen durch Praktika geplant reguläre Beschäftigung. Die Hälfte aller Praktika, die noch nach einer Berufsausbildung oder einem Studium stattfinden, ist unbezahlt. Wir fordern: • gesetzliche Regelungen zur Verhinderung des Missbrauchs von Praktika (Dauer, Vergütung, Vertragsgestaltung etc.) • die Regulierung der Leiharbeit, gesetzliche Regelung zum Equal Pay, Begrenzung der Überlassungsdauer • die unbefristete Übernahme von Azubis nach der Ausbildung • einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. 5) Für eine gute Bildung Während Kinder aus Akademikerfamilien mit Beamtenstatus zu 84 Prozent stu-

13


dieren, gilt dies nur für 17 Prozent der Kinder aus Arbeitnehmerfamilien – ein Missverhältnis von fünf zu eins. Und: Auch junge Menschen aus Arbeiterfamilien müssen sich ein Studium leisten können – sie finden viel zu selten den Weg an die Hochschule. Gerade einmal 18,4 Prozent der Studierenden bekommen im Durchschnitt 452 Euro monatlich BAföG. Im Jahr 1972 erhielten hingegen noch 44,6 Prozent und im Jahr 1992 noch immerhin 25,2 Prozent aller Studierenden BAföG. An Hochschulen fehlen mindestens hunderttausende Studienplätze, und das Betreuungsverhältnis ist miserabel. Im Durchschnitt werden 63 Studierende durch eine Professorin oder einen Professor betreut. Über 60 Prozent der Studierenden kommen mit den Anforderungen und Belastungen nicht mehr alleine zurecht. Mit der Einführung der Bachelorstudiengänge stieg die Nachfrage in den psychologischen Beratungsstellen der Hochschulen um 20 Prozent an. Wenn man sich die Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) ansieht, erkennt man, dass die angebliche „Bildungsrepublik Deutschland“ viel zu wenig in Bildung investiert. Wir brauchen außerdem eine BAföG-Reform mit einer soliden Anpassung. Wir fordern: • mehr Geld für Bildung • Studienbetreuung, -qualität und -zugang (auch für den Master) durch bessere finanzielle Ausstattung zusichern • bedarfsdeckende, elternunabhängige öffentliche Förderung von schulischer Ausbildung und Studium • die Abschaffung aller direkten und indirekten Studien- und Bildungsgebüh-

14

Jugend macht Ansagen Argumente 1/2013

ren (auch Langzeit, Verwaltungs- und Rückmeldegebühren sowie Bildungskonten und Bildungsgutscheine) Bildungsfinanzierung und Verantwortung gehören in die öffentliche Hand: Sicherung der Grundfinanzierung, gegen marktförmige Mittelverteilung.

6) Für ein soziales Europa Die desaströse Sparpolitik spaltet Europa. In vielen europäischen Ländern leiden junge Menschen besonders unter den Auswirkungen der Schulden- und Wirtschaftskrise: Mindestens jeder fünfte Mensch in Europa unter 25 Jahren hat keine Arbeit. Allein in Griechenland sind schon über 60 Prozent arbeitslos, in Spanien über 50 Prozent, gefolgt von Portugal und Italien mit je 35,1 Prozent und Irland mit 34,5 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Knapp unter 30 Prozent beträgt sie in Zypern, Bulgarien und der Slowakei. Junge Menschen in Europa brauchen sichere Zukunftsperspektiven. Der Einstieg in das Berufsleben ist hierbei von zentraler Bedeutung. Dies ist besonders wichtig, um an der Gesellschaft gleichberechtigt teilzuhaben. Was lässt sich von Deutschland aus tun? Wir fordern: • einheitliche Regelungen für die Mitbestimmung von Auszubildenden und jungen Beschäftigten auf europäischer Ebene sowie in weltweit tätigen Unternehmen und Konzernen (Bildung von europäischen Jugend- und Auszubildendenvertretungen) • die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa durch ein EU-Programm zur Jugendbeschäftigung, das eine gute Ausbildung und Arbeit mit


• •

Perspektive für junge Menschen gewährleistet die soziale Gestaltung Europas eine Harmonisierung der Steuer- und Finanzsysteme und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (TobinTax) eine deutliche und dauerhafte Erhöhung und solidarische Finanzierung des EU-Haushaltes.

Die junge Generation will mitbestimmen, wie die Gesellschaft aussieht, in der sie lebt. Politik findet nicht nur im Parlament statt. Wir werden sie auf die Straße tragen, ins Internet, in die Betriebe, Schulen und Hochschulen und von dort wieder zurück. Politik von oben war gestern. Die Kampagnen-Homepage im Internet: www.jugend-macht-ansagen.de l

15


KNAPP, KNAPPER, NIEDERSACHSEN. von Daniel Brunkhorst, Vorsitzender des Juso-Bezirk Hannover

Für viele Leute ist Niedersachsen irgendwo an der Küste, voll mit Schweinebauern und irgendwo vor Berlin liegt zufällig an einem großen Bahnhof Hannover. Ehrlich gesagt: Landespolitik fühlte sich in Niedersachsen manchmal genauso an. CDU und FDP haben versucht – ähnlich wie im Bund – in vielen Themen keinerlei Angriffsfläche für die Opposition zu bieten. Trotzdem haben wir uns ins Ziel gezittert. Ich möchte hier einige der JusoDiskussionsstränge über die niedersächsische Landtagswahl skizzieren.

Hannover und Kandidat des Bezirks Hannover, Monika Griefahn, Ex-Umweltministerin, sie trat ohne Unterstützung eines Bezirks an. Stephan Weil gewann recht deutlich die Abstimmung, die nach mehreren Regionalkonferenzen bei einer UrnenWahl in den Ortsvereinen durchgeführt wurde. Maßgeblich dafür waren sicherlich die massive Unterstützung des Bezirks Braunschweig und die organisatorische Stärke des Bezirks Hannover. Inhaltliche Unterschiede oder gar eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung gab es dabei nicht.

Das Vorspiel KandidatInnenduell

Dialogprozess und Regierungsprogramm An die Abstimmung knüpfte ein „Dialogprozess“ an. Dabei sollten frühzeitig mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen „Dialogpapiere“ diskutiert werden und anschließend in einem offenen Prozess in das Regierungsprogramm fließen. Aus frühzeitig wurde in 2012 kurz vor knapp. Aus dem offenen Prozess wurden geheim-

Mitte 2011 beschloss der Landesvorstand einen Mitgliederentscheid über die Frage der Spitzenkandidatur. Ins Rennen gingen: Olaf Lies, damals Landesvorsitzender und Hoffnungsträger des Bezirks Weser-Ems, Stephan Weil, damals neu in der Landespolitik, Oberbürgermeister von

16

Knapp, Knapper, Niedersachsen. Argumente 1/2013


gehaltene AutorInnen. Am Ende stand ein Vorschlag für ein Programm, dass dann auf Antrag erst einmal gegendert werden musste. Ansonsten war das Programm durchwachsen: Keine Abschaffung des Verfassungsschutzes, sondern Reform. Polizeikennzeichnung nur mit Zustimmung der Gewerkschaften (also gar nicht), Studiengebühren Abschaffung erst 2014/15 statt früher. In anderen Bereichen, wie etwa der Asylpolitik, jedoch durchaus progressiv. Viele Kompromisse wurden erst durch Kampfabstimmungen auf dem Parteitag möglich. Als Fazit aus dem Vorspiel lässt sich zusammenfassen: Viel Wirbel, deren Wirkung nicht nachgewiesen werden kann. Am Ende hätten Parteitage die gleichen Ergebnisse geliefert. Lagerwahlkampf Die SPD-Kampagne Die SPD Kampagne war zugeschnitten auf Stephan Weil – die SPD und Themen wurden in den Hintergrund gedrängt. Es gab den Versuch, witzig zu sein (Ich wähle Stephan, WEIL [Irgendwas einfügen]) – an „Currywurst ist SPD“ kam aber niemand dran. In weiser Voraussicht der Landespartei, Inhalte im Wahlkampf zu verhindern, lag der Juso-Etat in Niedersachsen dermaßen niedrig, dass bis auf eine pfiffige Postkartenkampagne nichts mehr zu finanzieren war. Ansonsten war die Kampagne sehr zurückhaltend – es gab eben nur das Thema „Weil“. Auf den letzten Metern versuchte die Bundespartei noch ein Thema zu setzen: Mit den Sattel-Überziehern „Studiengebühren sind fürn Arsch“ wurden die Uni-

städte überzogen – die sind wohl nun auch Geschichte. Die Grünen Die Grünen hatten – für ihre Verhältnisse – ein langweiliges Programm. In den zentralen strittigen Fragen – Verfassungsschutz, Termin Studiengebühren, etc. – waren sie butterweich. Allein die Ablehnung einiger Autobahnprojekte wurde stark emotional diskutiert. Rot-Grün führte in der Folge einen solidarischen Lagerwahlkampf – zum Teil mit gemeinsamen Auftritten. Auf lokaler Ebene wurde sich aber stark beharkt, bis hin zu Erstimmenkampagnen für Grüne DirektkandidatInnen. Und das auch in „Swing“-Wahlkreisen. Insbesondere das hat sehr viel Porzellan zerschlagen. Vom Auftritt her waren die Grünen sehr, sehr jung und sehr, sehr weiblich: Im Gegensatz zur SPD, die voll auf alte Männer setzte. GegnerInnen Während die CDU einen präsidialen Wahlkampf mit modernem Antlitz führte („I am a Mac“), versuchte die FDP vieles, um zu polemisieren. Die CDU-Kampagne war – als Gegenstück zur SPD-Kampagne (oder umgekehrt) – komplett auf David McAllister zugeschnitten. Auch hier standen die Themen im Hintergrund. Die Auftritte der Kanzlerin wurden stark medial unterstützt – die „Affäre Wulff“ und die Berichterstattung dazu wochenlang ausgesetzt. Auf den letzten Metern des Wahlkampfes wurde noch eine hart umstrittene Abschiebung – der Fall „Salame“ – einstimmig mit großem Medientamtam per Landtagsbeschluss rückgängig gemacht und anschließend vom CDU-Innenminister nie vollzogen.

17


Die FDP war sich in Niedersachsen für nichts zu doof. Parteiveranstaltungen für Atomkraft, die Forderung, gleichzeitig Schulden und Steuern zu senken, und auch die Ankündigung, bei einem Ausscheiden aus dem Parlament notfalls mit einem Bürgerbegehren die Schuldenbremse in die niedersächsische Verfassung bringen zu wollen, sorgten bei uns für Heiterkeit und bei der CDU für helle Panik. Besagte Panik sorgte für die handwerklich geschickt angekündigte „Leihstimmenkampagne“. Letztere war so erfolgreich, dass beim Zweitstimmen-Ergebnis etliche „schwarze Hochburgen“ in „gelbe Hochburgen“ umgewandelt wurden. Offensichtlich war dort, wo die CDU sonst Traumergebnisse einfuhr, die Bereitschaft, diesmal FDP zu wählen, am höchsten. Inhaltliche Zuspitzung Zwischen den Lagern ergab sich eine Zuspitzung im Bereich Finanzpolitik, entzündet an der Frage, ob Niedersachsen vor dem durch das Grundgesetz vorgegebenen Zeitpunkt (2020) bereits 2017 eine eigene Schuldenbremse umsetzen sollte. Auch hat die inhumane Flüchtlingspolitik von Innenminister Schünemann für ordentlichen Ärger gesorgt. Die harte Ablehnung Weils, Gorleben bei einer Endlagersuche zu beteiligen, hat der SPD Sympathien und die CDU auf die Palme gebracht. Die Studiengebührenfrage wurde nur nicht zum zentralen Thema, weil SPD und Grüne dies vermieden. Weitere Parteien DIE LINKE Im Gegensatz zu 2008 hat DIE LINKE in Niedersachsen keinen flächendekkenden Wahlkampf gemacht. Während

18

Knapp, Knapper, Niedersachsen. Argumente 1/2013

vor fünf Jahren die Fläche voll war mit Plakaten und Veranstaltungen, waren es diesmal fast nur die städtischen Zentren. Bei den Themen gab es nichts Neues, nur die Anti-Afghanistan-Plakate waren nicht mehr überall zu sehen. Auch bei den WahlhelferInnen war abgesehen von den Hauptamtlichen der Partei und der Fraktionen nicht viel los. DIE LINKE in Niedersachsen ist dermaßen stark zerstritten, dass sie bereits über allgemeine Demobilisierung hinaus ist und Auflösungserscheinungen zeigt. Zwei in den Medien geschickt gesetzte „Themen“ – Sahra Wagenknecht wird Ministerin unter RotRot-Grün in Niedersachsen und Sigrid Leuschner, unterlegen im Wahlkreis gegen Doris-Schröder Köpf, tritt in DIE LINKE ein – verpufften völlig. DIE LINKE in Niedersachsen scheint nun noch stärker zerstritten zu sein und kurz vor Pleite zu stehen. Stephan Weil verweigerte schlicht die Antwort auf die Frage, ob er mit DER LINKEN zusammen arbeiten wolle, und verwies darauf, dass er als Ministerpräsident das Bundesland verändern wolle. Die angedeutete „Rote-Socken-Kampagne“ der CDU verpuffte schnell. Die Piraten Nachdem die Piraten vier Parteitage brauchten bis ihre Landesliste stand, machten sie mit verfremdeten Markenslogans („Ich wähle es“ im McDonalds-Look etc.) kurz auf sich aufmerksam. Auch die Piraten waren in der Fläche nicht besonders präsent, was – nebenbei gesagt – in einem Land, das fast nur aus Fläche besteht, immer eine doofe Idee ist. Der Wahlkampf selbst wurde durch einen Holocaust-LeugnerInnen-Verteidiger bei den Piraten


überschattet. Dem Wahlkampf fehlte es ansonsten an Ideen und Professionalität. Am Wahlabend fielen die Spitzenkandidat Innen um 18:00 Uhr aus allen Wolken: Sie hatten – wohl aufrichtig und ehrlich – bis lange nach den ersten Vorab-Prognosen, die sie nicht kannten, an einen Einzug geglaubt. Bleibt zu hoffen, dass dieses Vorgehen Vorbildcharakter für die Bundestagswahl hat. NPD Die NPD hat Niedersachsen mit ihrem „Flaggschiff“ vermehrt beglückt. Auch wurden flächig Plakate aufgehängt und im Nachklapp zu den Juniorwahlen, bei denen die NPD in mehreren Wahlkreisen die 5 Prozent knackte, Schulen besonders stark bespielt. Genützt hat es den Nazis nicht: Sie sind unter die 2-Prozent-Marke gefallen, erhalten also nicht einmal mehr die Wahlkampfkostenrückerstattung. Gut so. Das Ergebnis Das Ergebnis sollte bundesweit für Aufsehen sorgen: Rot-Grün hat mit einer Stimme Mehrheit Schwarz-Gelb abgelöst. Die CDU wurde stärkste Kraft. DIE LINKE flog aus dem Landtag, die Piraten sind meilenweit davon entfernt, hineinzukommen. Der Koalitionsvertrag Der Koalitionsvertrag hat im Ergebnis ebenso eine Menge Erfreuliches wie Ärgerliches ergeben. Erfreulich ist, dass in der Asyl- und Flüchtlingspolitik nun alles ausgeschöpft werden soll, was derzeit nach Bundesgesetzen möglich ist, um sie human zu gestalten. Allgemeine Studiengebühren werden abgeschafft, Gesamtschulen wieder ernsthaft zugelassen. Die Kennzeichnungspflicht wird kommen und der Verfas-

sungsschutz wird die Aufgaben der Landeszentrale für Politische Bildung abgeben. Die Blockade der Grünen bei zentralen Infrastrukturprojekten ist durchbrochen worden. Ärgerlich ist insbesondere der Zeitpunkt der Abschaffung der Studiengebühren (erst zum Wintersemester 2014/15). Zudem haben die Grünen die Abschaffung von Langzeitstudiengebühren verhindert; von der Verwaltungskostenpauschale ganz zu schweigen. Der Verfassungsschutz soll nicht abgeschafft – was die Grünen wollten –, sondern nur reformiert werden (Danke an unseren neuen Innenminister). Die Sache mit dem Personal Stephan Weil und die SPD-BezirksfürstInnen haben dann auch schon die Regierungsbildung genutzt, um ein erstes Wahlversprechen zu brechen. Statt der versprochenen paritätischen Besetzung der Landesregierung sind es nun mehr Minister als MinisterInnen. Bei den StaatssekretärInnen hat man es sogar fast ganz ohne Frauen geschafft. Fazit für die Bundesebene: 1. Schwarz-Gelb hat aus Niedersachsen gelernt wie es nicht geht. Die Leistimmenkampagne hat dafür gesorgt, dass die Landesliste nicht zieht – zu Gunsten der FDP. Das wird die MdBBasis der CDU nicht auf Bundesebene wiederholen wollen. 2. Ohne Juso-Themen geht es nicht. Rot-Grün konnte als Lager nur funktionieren, weil die SPD-Führung auf Parteitagen zu inhaltlichen Kompromissen mit den Jusos gezwungen wurde. Die wa-

19


ren dann häufig ziemlich kompatibel mit den Grünen. 3. Einen Schlafwagen-Wahlkampf kann man knapp gewinnen, wenn es sich um ein Vier-Parteien-Parlament handelt. Hätten DIE LINKE oder die Piraten die Fünfprozenthürde geknackt, sähe alles ganz anders aus. Folglich ist der Schlafwagen-Wahlkampf ungeeignet für die Bundesebene. Will Peer Bundeskanzler werden, wird er einen solchen Wahlkampf vermeiden müssen. 4. Beliebte GegnerInnen, kann man schlagen. So sehr ich persönlich die personifizierten Wahlkämpfe hasse: Offensichtlich kann man damit beliebte GegnerInnen in Bedrängnis bringen. 5. Rote Socken sind von gestern. Während die Frage „Wer mit wem?“ vor fünf Jahren wochenlang alle beschäftigte, war diese in diesem Wahlkampf kein Thema. Wer im Bund gewinnen will, muss dies kopieren. 6. Wer Ministerinnen und Staatsekretärinnen will, braucht mehr als ein Versprechen. Dass am Ende die Frage, wer in welchem Bezirk organisiert ist, wichtiger ist als die Frage der paritätischen Besetzung, überrascht nicht. Wir müssen im Bund darüber diskutieren, wie wir die Besetzung am Ende auch durchsetzen. Wir brauchen auch dafür ein Mechanismus, der nicht zu umgehen ist. l

20

Knapp, Knapper, Niedersachsen. Argumente 1/2013


REZENSION: NATIONALITÄTENFRAGE UND AUTONOMIE von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied des Juso-Bundesvorstandes aus Lünen

Holger Politt (Hrsg.): Rosa Luxemburg. Nationalitätenfrage und Autonomie, Karl Dietz Verlag, Berlin 2012, 302 Seiten, 24,90 €. Während Rosa Luxemburg als Person und vor allem als Symbol für unbeugsame sozialistische Überzeugung bis heute weltweit noch immer – auch in der (linken) Sozialdemokratie – gewürdigt und hervorgehoben wird, steht es um die Rezeption ihrer Texte wesentlich schlechter. Zwar sind die in den 1970er Jahren in der DDR edierten „Gesammelten Werke“ nach wie vor lieferbar und einzelne Schriften auch in Einzelbänden auf dem Markt. Eine breitere Rezeption ihrer Texte findet außerhalb von Fachkreisen jedoch kaum statt. Zudem ist auch die Publikationsgeschichte ihrer Texte nicht uninteressant, war doch zum Beispiel hoch umstritten, ob Paul Levi berechtigt war, aus ihrem Nachlass die kritische Einschätzung Luxemburgs zur Oktoberrevolution („Die Revolution in Russland“) zu veröffentlichen, und wurden auch zu DDR-Zeiten nicht

alle Texte Luxemburgs in die Gesammelten Werke aufgenommen. Dass sich die Lektüre der Werke Rosa Luxemburgs auch heute noch lohnt, zeigt der nun von Holger Politt herausgegebene Text zu „Nationalitätenfrage und Autonomie“, der zum ersten Mal seit Luxemburgs Tod vollständig publiziert wurde. Wahrgenommen wird Luxemburg in Deutschland zuerst als Aktivistin der Sozialdemokratie und Mitgründerin der KPD. Dass sie zu Beginn ihrer politischen Laufbahn vor allem in der polnischen Sozialdemokratie aktiv war, ist weniger präsent. Polen, bis zum Ersten Weltkrieg von der politischen Landkarte verschwunden und zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Russland aufgeteilt, besaß um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mehrere sozialdemokratische Parteien. Rosa Luxemburg gehörte zu den Gründerinnen der „Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen und Litauen“ (SDKPiL), die sozialdemokratische Partei

21


in dem zu Russland gehörenden Teil Polens. Zugleich war die Lage noch komplizierter, da in diesem Gebieten neben Polen auch Angehörige weiterer Ethnien ansässig waren und viele unterschiedliche Sprachen gesprochen wurden. Nicht nur Österreich-Ungarn, sondern auch das Deutsche Reich und Russland waren in diesem Sinne „Vielvölkerstaaten“. Im Organisationsbereich der SDKPiL war zudem auch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die Vorgängerorganisation der KPdSU, aktiv. Am politischen Leben des Landes teilnehmen konnten die Parteien im absolutistischen Russland jedoch nicht. Eine der wichtigsten Fragen der politischen Auseinandersetzungen in und zwischen den sozialdemokratischen Parteien bildete die nach dem „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“. Während einige den Klassenkampf und den Kampf um nationale Autonomie verbinden wollten, lehnte Rosa Luxemburg dies rigoros ab. Im Kontext dieser Diskussionen entstand die vorliegende Schrift als Artikelserie für die Zeitschrift Przeglad Socialdemokratyczny („Sozialdemokratische Rundschau“), das Theorieorgan der SDKPiL, die als Monatszeitschrift mit längeren Unterbrechungen zwischen 1902 und 1910 erschien. Den vorliegenden Text schrieb Luxemburg zwischen 1908 und 1909. Naturgemäß ist es aus der Rückschau nicht immer leicht, zwischen grundsätzlichen theoretischen Überlegungen und auf die konkrete historische Situation bezogenen Argumenten zu unterscheiden. Gerade bei diesem Text wird dies deutlich. Luxemburg hielt die Idee eines polnischen Natio-

22

nalstaats vor dem Hintergrund der Teilung sowie der ökonomischen Entwicklung in Polen für illusorisch. Wie wir heute wissen, hat sich diese These nicht bewahrheitet. Interessant bleiben aber ihre Thesen für den Weg hin zu dieser Erkenntnis. Luxemburg hielt zunächst fest, dass das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nichts mit Sozialismus zu tun habe. Entscheidend war für sie die Klassenfrage entlang der ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse. Die Bezugnahme der Arbeiterbewegung auf das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ bot zudem auch deshalb keinen politischen Nutzen, weil unter dieser Prämisse auch bürgerliche Parteien agierten, die schlicht ihre ökonomischen Interessen mittels und im Nationalstaat verwirklichen wollten. Einen nationalstaatlichen Rahmen durch einen anderen ersetzen zu wollen, bedeutete für Luxemburg keinen Fortschritt beim Kampf gegen ökonomische Ausbeutung. Der Kampf um die Nation ignoriere die Klassenverhältnisse und vernachlässige somit auch den Kampf gegen die Klassengesellschaft. Raum nimmt in ihrer Darstellung auch die Diskussion verschiedener Textstellen von Marx und Engels ein, in denen sie sich positiv zur Forderung nach Selbstbestimmung für die Polinnen und Polen verhielten. Luxemburg versuchte hier, die marxsche Methode der Gesellschaftsanalyse herauszuarbeiten. Sie lehnte es ab, jede Schlussfolgerung von Marx und Engels zum Kanon der Arbeiterbewegung zu erheben. Stattdessen versuchte sie, die Gesellschaftsanalyse von Marx und Engels als Grundlagen einer Methode darzustellen, die dabei helfen sollte, Schlussfolgerungen

Rezension: Nationalitätenfrage und Autonomie Argumente 1/2013


für jede neue gesellschaftliche Situation zu formulieren. Den Hauptteil des Textes nimmt die Darstellung der Entwicklung des modernen Staates in Europa ein. Dabei arbeitete sie u.a. am Beispiel Frankreichs und Englands heraus, dass letztlich nur die zentralstaatliche Ebene für fortschrittliche Politik offen sei, während die Verlagerung von Kompetenzen auf die regionale Ebene vor allem den dort herrschenden Gruppen zugutekomme. Sie plädierte daher dafür, auf der zentralstaatlichen Ebene alle für das Funktionieren des Kapitalismus relevanten Themen zu entscheiden, auf der lokalen Ebene hingegen Autonomie zur Selbstverwaltung der örtlichen Angelegenheiten zu schaffen. Zentral für Luxemburg waren die Zoll- und Handelspolitik, die modernen Kommunikationsmittel (Eisenbahn, Post, Telegrafie), das Militärwesen, das Steuersystem, das Zivil- und Kriminalrecht sowie die allgemeinen Grundlagen der öffentlichen Bildung. Im Ergebnis stellte sich Luxemburg gegen die Forderung nach Anerkennung eines allgemeinen „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“ und plädierte vielmehr für soziale, kulturelle und politische Rechte innerhalb des Nationalstaats. Die im Anhang abgedruckten Kommentare Lenins zu Luxemburgs Überlegungen sind hart – und greifen nicht nur den Text, sondern auch die Autorin selbst an. Wichtig und lesenswert ist die Einleitung des Herausgebers, ohne die wahrscheinlich den meisten Leserinnen und Lesern des Textes der zeitgenössische Kontext unklar wäre. Nach Luxemburgs Beitrag findet sich eine hilfreiche Zusam-

menstellung von Kommentaren Lenins zur Frage der nationalen Autonomie sowie kurze Lexikonartikel zu den Parteien, zu Zeitschriften und Zeitungen, zu den Länderbezeichnungen sowie zu den Personen. Der Leser muss bei dem Text daher die Geduld aufbringen, sich auch auf Anspielungen auf andere Parteien und den zeitgenössischen politischen und geografischen Kontext einzulassen. Letztlich erschließen sich die meisten Fragen aber aus dem Text selbst oder lassen sich mit Hilfe der Einleitungen und Anmerkungen problemlos einordnen. Der Text zeigt Luxemburg als historisch versierte Analytikerin gesellschaftlicher Verhältnisse. Ihre Überlegungen zum Zusammenspiel lokaler Autonomie und zentralstaatlicher Steuerung wären beim Blick auf die Verfasstheit der Europäischen Union auch heute noch lesenswert. Wenn Luxemburg davon ausgeht, dass die Ebene des Zentralstaats letztlich die einzige ist, auf der auch die schwächeren gesellschaftlichen Gruppen sich Durchsetzungsfähigkeit erkämpfen können, so ginge dies vor allem gegen jene Tendenzen auch bei Linken, die eine Re-Nationalisierung der Politik in Europa fordern. Anmerken ließe sich auch, dass Luxemburgs Kriterium, die Materien, die für die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems wichtig sind, auf zentralstaatlicher Ebene zu verankern, durchaus auch den aktuellen Diskussionen über die Kompetenzen der EU in der Folge der Finanzkrise entspricht. Im Hinterkopf zu behalten ist auch, dass Luxemburg zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes intensiv an den Debatten und Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie teilnahm

23


und dadurch zeitlich stark beansprucht war. Die Akribie ihrer Argumentation auch in der „polnischen Frage“ ist vor diesem Hintergrund umso beeindruckender. Zugleich zeigt der Text Luxemburg auch als eine Denkerin, die völlig frei von nationaler Attitüde und nationaler Romantik war, und die deshalb auch nüchtern der Frage nachgehen konnte, welche politischen Ebenen denn zur Befreiung der Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung die entscheidenden sein würden. Der Band macht deutlich, dass uns Rosa Luxemburg auch fast 100 Jahre nach ihrer Ermordung durchaus noch Impulse und Hinweise für aktuelle politische Diskussionen geben kann. l

24

Rezension: Nationalitätenfrage und Autonomie Argumente 1/2013


DIE REPRODUKTION VON ZWEIGESCHLECHTLICHKEIT UND IHRE FOLGEN von Marie-Christine Reinert und Robin Roth, Jusos Göttingen

Als wir im September die Argumente 2/2012 aufschlugen und einen Artikel mit dem Titel „Die Dekonstruktion von Geschlecht und ihre politischen Folgen“ fanden, war der erste Gedanke: Schön, dass auch die Jusos auf Bundesebene sich mal fundiert mit Queer-Politik bzw. mit Geschlecht als sozialem Konstrukt auseinandersetzen! Die anfängliche Begeisterung wich allerdings bereits nach den ersten Zeilen einer sich im Laufe des Artikels stetig steigernden Mischung aus Ungläubigkeit, Enttäuschung, Wut und auch einer gewissen Traurigkeit. Denn leider fehlte zum einen die (theoretische) Fundiertheit des Artikels, zum anderen müssen sich beim Lesen alle Menschen, die sich als queer, Trans*, Inter* oder sonstige Gender fern der binären „männlich“/„weiblich“-Logik definieren (sowie alle, die sich mit ihnen solidarisch erklären), mindestens massiv auf den Schlips getreten, teilweise aber mit Sicherheit auch diskri-

miniert gefühlt haben. Im Folgenden wollen wir daher analysieren, was genau an diesem Artikel unserer Ansicht nach anders hätte formuliert werden sollen und wo Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Positionen innerhalb unseres Verbands trotz Annäherungen auf dem Bundeskongress 2012 verlaufen. Queer ist kein „Sammelbecken“ Die Stimmen, die sich gegen die Akzeptanz eines konstruierten binären1 Geschlechtersystems wenden, werden von den Autorinnen des Artikels mit dem Begriff „Queer-Politik”2 bezeichnet. Queer wird dabei dadurch, dass es als „eine Art Sammelbecken“3 bezeichnet wird, aus unserer 1

2

3

auf der Annahme basierend, es gäbe genau und nur zwei Geschlechter (männlich und weiblich) Vgl. Katharina Oerder/Helene Sommer/Johanna Ueckermann: Die Dekonstruktion der Geschlechter und ihre politischen Folgen, in: Argumente 2/2012, S. 16. Ebd.

25


Sicht mit einer gewissen negativen Konnotation genutzt. Darüber hinaus mangelt es leider auch an einer Auseinandersetzung mit der Definition des Begriffs und dem was dahinter steht. Solch eine Auseinandersetzung ist zwar angesichts der Komplexität der Debatten und der Tatsache, dass eine einheitliche Definition des Begriffes queer nicht existiert, nicht einfach, muss aber trotzdem darüber hinaus gehen, queer mit „Sammelbecken“ von allem, was einem gerade so fernab von Mann, Frau und hetero einfällt, zu übersetzen. Gerade die Fluidität des Begriffs, die sich eben nicht auf eine Ansammlung bestimmter Gruppen begrenzt, führt dazu, dass sich dort viele Menschen wiederfinden können, die sich ansonsten eben nicht in irgendwelche (konstruierten4) Schubladen packen (lassen) wollen. Deshalb spricht mensch in den entsprechenden Gruppen auch nicht auf einmal von queer anstelle die „typischen“ Minderheiten in Bezug auf Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung aufzuzählen, sondern es reiht sich à la LGBT*IQ5 ein. Und manche Menschen identifizieren sich vielleicht „nur” als queer, andere sich als beispielsweise schwul aber nicht queer und wieder andere vielleicht als lesbisch und trans* und queer. Fakt ist, dass unter dem Begriff queer vieles zusammenläuft, was der aktuellen (Herrschafts-)Ordnung Widerstand entgegensetzen will. Es geht hier nicht um Toiletten in Brandenburg, aber es geht genau um Dinge wie die Toilettenfrage Der besagte Artikel vom September hängt die gesamte Thematik an der Debatte um Toiletten in Brandenburg auf.6 Natürlich geht es in dieser Debatte nicht in erster Linie um Toiletten, auf die bereits in den ersten Zeilen des genannten Artikels –

26

recht oberflächlich, sarkastisch und undifferenziert – eingegangen wird, auf der anderen Seite geht es aber genau darum. Die Toilettenfrage, so belächelt und herabgespielt sie oft wird, ist für einige Menschen tatsächlich ein großes Problem. Blöderweise kann mensch den Gang zur Toilette nun einmal nicht einfach sein lassen. Wenn es für das eigene Gender keine Toilette gibt, oder aber andere in einem ein anderes Geschlecht sehen als das der eigenen Identifikation, wenn ein Mensch, egal durch welche der beiden Türen sie*er geht, schief angeguckt oder angepöbelt wird, dann ist das Diskriminierung! An der Toilettenfrage manifestiert sich genau das Problem, welches in unserer Gesellschaft in Bezug auf Gender besteht: Es gibt keinen Platz für die, die sich nicht in der konstruierten (!) binären Ordnung wiederfinden. Und dabei geht es nicht darum, dass diese Menschen, wie es in dem Artikel so unzutreffend (und trans*phob) heißt, „nicht wissen, ob sie sich männlich oder weiblich fühlen sollen“7 – als wären sie schlicht verwirrt und hätten noch nicht zu ihrem „wahren“ Geschlecht gefunden – sondern darum, dass die meisten von ihnen sich anstatt als „Mann“ oder „Frau“ als Trans*, Inter* oder andere Gender identifizieren.

4

5 6

7

Mit „konstruiert” meinen wir, dass Gender und damit verbundene Einteilungen nicht natürlich, sondern von der Gesellschaft geschaffen, also konstruiert werden. Lesbian, Gay, Bi, Trans*, Inter*, Queer* Vgl. Katharina Oerder/Helene Sommer/Johanna Ueckermann: Die Dekonstruktion der Geschlechter und ihre politischen Folgen, in: Argumente 2/2012, S. 14. Ebd.

Die Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit und ihre Folgen Argumente 1/2013


Die zweigeschlechtliche Ordnung ist ein soziales Konstrukt Leider herrscht jedoch in unserer Gesellschaft heutzutage immer noch in weiten Teilen die Überzeugung vor, es gäbe genau zwei Geschlechter („männlich“ und „weiblich“). Es wird von vielen angenommen, diese seien biologisch festgelegt und unveränderlich, jeder Mensch gehöre einem dieser Geschlechter an und es könne anhand der Genitalien eindeutig erkannt werden. In den entsprechenden wissenschaftlichen sowie politischen (queer-feministischen) Kreisen ist die Erkenntnis, dass Zweigeschlechtlichkeit keine „natürliche“ Einteilung ist und vermeintlich Unterschiede zwischen diesen beiden (konstruierten) Geschlechtern auf gesellschaftliche Sozialisationserfahrungen zurückzuführen sind, mittlerweile glücklicherweise recht unstrittig. Gender und das zweigeschlechtliche System haben sich historisch entwikkelt und sind gesellschaftlich und kulturell konstruiert. Diese Konstruktion wird so kontinuierlich reproduziert, dass den meisten Menschen Zweigeschlechtlichkeit wie eine unveränderliche Naturtatsache vorkommt. Selbst auf einer biologischen Ebene (chromosomal, gonadal, hormonell, genital) existiert jedoch keinerlei (wissenschaftliche) Grundlage für ein zweigeschlechtliches System. Es werden dennoch alle Menschen in dieses System gepresst, sei es dadurch, dass das Geschlecht im Personenstand angegeben werden muss und es dort nur zwei Möglichkeiten gibt, oder auch, wenn Inter* immer noch in frühester Kindheit, also ohne die Möglichkeit eigener Einflussnahme, äußerlich operativ an ein willkürlich ausgewähltes Geschlecht „angeglichen“ werden. Sowohl Inter* und Trans* als auch die völlig unterschiedlichen Gender, die außerhalb der beiden gesell-

schaftlichen Kategorien „männlich“ und „weiblich“ existieren, verdeutlichen jedoch immer wieder, dass Zweigeschlechtlichkeit und ein von Natur aus festgelegtes und unveränderbares Geschlecht nicht existieren. Damit wollen wir nicht wegdiskutieren, dass Zweigeschlechtlichkeit aktuell das Konstrukt ist, auf dem unsere Gesellschaft basiert, und dass dies Auswirkungen hat. Wir leben immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft und Gleichstellung existiert lediglich formal. Weiblich sozialisierte Menschen sind männlich sozialisierten gegenüber strukturell benachteiligt – mit vielfältigen nicht akzeptablen Konsequenzen. Die Debatte um Gender, Zweigeschlechtlichkeit und die (De-)Konstruktion von Geschlecht ist keineswegs eine rein theoretische Die sozial konstruierte Geschlechterordnung zieht Benachteiligungen und Diskriminierungen nach sich, die wir als Jusos nicht akzeptieren dürfen – und dabei geht es eben nicht nur um Toiletten. Opfer sind dabei alle Geschlechter, die vom männlichen abweichen. Weiblich sozialisierte Menschen sind dabei eine besonders große Gruppe, gegen deren Benachteiligung und Diskriminierung wir seit langem kämpfen – sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb unserer eigenen Strukturen. Aber auch alle Menschen, die sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren, sondern als das andere im Personenstand mögliche, oder auch als zwischen den beiden Geschlechtern „männlich“ und „weiblich“ oder aber auch ganz außerhalb dieses Systems einordnen, sind vielen Diskriminierungen ausgesetzt. „Überschreitungen“ der Zweigeschlechtlichkeit werden bedauerlicher-

27


weise nicht als Auslöser genommen, diese zu hinterfragen. Stattdessen werden Menschen, die nicht in dieses System passen bzw. sich dort nicht einordnen können oder wollen, als „anormal“ dargestellt. Das führt zu einer nicht hinnehmbaren Abwertung und Ausgrenzung. Diskriminierung findet dabei unter anderem statt durch eine dominierende Normierung durch Sprache, durch Benachteiligung im Berufsleben, durch offene Diskriminierung auf der Straße bzw. im öffentlichen Leben oder dem Zwang, sich an vielen Stellen einem der vermeintlich zwei möglichen Geschlechtern zuordnen zu müssen, z.B. beim Ausfüllen von Formularen oder – wie bereits erwähnt – dem Gang zur Toilette. Es muss jedoch jedem Menschen selber überlassen sein, die eigene Geschlechtsidentität zu definieren. Das ist in einem System mit nur zwei Kategorien für eine Vielzahl von Gendern nicht möglich. Niemand darf aufgrund seines Geschlechts diskriminiert werden; das gilt für Frauen genauso wie für Trans*, Inter* und alle Menschen, die sich nicht im binären System wieder finden. Doch selbst bei den Jusos wird an einigen Stellen durch die Forderung nach einer Geschlechtsangabe und die Tatsache, dass es dort nur die bereits erwähnten zwei Optionen gibt, diskriminiert. Diskriminierungen passieren immer wieder, doch am schlimmsten ist es, wenn diese weder wahrgenommen noch reflektiert werden und sich keinerlei Handlungswille erkennen lässt. Als ein Verband, der sich auf die Fahnen schreibt, sich mit benachteiligten und diskriminierten Minderheiten zu solidarisieren und für die Gleichstellung aller Menschen in unserer Gesellschaft zu kämpfen, müsste das aber eine Selbstverständlichkeit sein.

28

Die Benachteiligung von nicht-männlich-sozialisierten Menschen wird so lange weiter geschehen, wie mensch das zweigeschlechtliche System akzeptiert und dadurch reproduziert und verstärkt. Wenn wir nicht in unseren eigenen, (vermeintlich) progressiven Strukturen damit anfangen, wie soll das langfristige Ziel, dass die Kategorie Geschlecht keine Rolle mehr spielt in Bezug auf Teilhabe, Chancen, Lebenswege etc. jemals erreicht werden? Dabei wollen wir nicht negieren, dass unserer heutigen Gesellschaft die Vorstellung eines binären Geschlechtersystems zugrunde liegt und dies natürlich gewisse (z.B. Verteilungs-) Konsequenzen hat. Wir wollen das jedoch nicht zum Anlass nehmen, uns ebenfalls dem Machtgefüge der vermeintlichen Zweigeschlechtlichkeit und der durch die Konstruktion dieser Geschlechter manifestierten patriarchalen Strukturen zu unterwerfen. Queer- und Gleichstellungspolitik sind kein Widerspruch! Im besagten Artikel aus den Argumenten 2/2012 wird versucht, einen Widerspruch zwischen Queer- und Gleichstellungspolitik aufzuzeigen, indem beispielsweise die Diskussion um Unisex-Toiletten als „an der gesellschaftlichen Realität vorbei“8 in Frage gestellt wird – die (queer-)Theorie beiße „die Praxis in den sprichwörtlichen Schwanz“9. Es wird problematisiert, in wie weit „wir als Jusos überhaupt noch Gleichstellungs- und Frauenpolitik machen [können], wenn alle Geschlechter bereits abgeschafft und de-

8 9 10

Ebd. Ebd. Ebd., S. 15.

Die Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit und ihre Folgen Argumente 1/2013


konstruiert“ seien.10 Dieser vermeintliche Widerspruch existiert aber nicht, da queere Debatten zwar davon ausgehen, dass Geschlechter konstruiert sind, nicht jedoch, dass wir diese automatisch durch diese Erkenntnis dekonstruieren (können). So ist es kein Widerspruch, die Dekonstruktion von Geschlecht als Ziel zu haben und trotzdem, so lange die konstruierte Zweigeschlechtlichkeit noch als Grundlage unsere Gesellschaft entsprechende Auswirkungen hat, Gleichstellungs- und Frauenpolitik zu betreiben. Wie bereits dargelegt, ist queer viel mehr als eine Butlersche Theorie. Eine Gleichsetzung mit dem Treiben der Piratenpartei, die für sich beansprucht, „postgender“ zu sein, weil das Geschlecht innerhalb ihrer Strukturen keine Rolle mehr spiele, ist nicht nur verkürzt, sondern grundsätzlich falsch. Die Idee, dass mensch die Dekonstruktion der Geschlechter mit einem Beschluss durchführen kann, lehnen wir kategorisch ab. Vielmehr sind wir Jusos ein feministischer Richtungsverband, der vor Diskriminierung qua Geschlecht nicht die Augen verschließen kann. Das stellt der Artikel zu Recht hervor. Dennoch ist er von einer Fehlannahme geleitet: der Fehlannahme, dass Diskriminierung aufgrund eines Geschlechts („weiblich“) anstatt aufgrund der Abweichung von einem Geschlecht („nicht-männlich“) erfolgt. Die große Mehrheit der hiervon betroffenen Menschen, aber eben nicht alle, definieren sich als „Frau“. Ihrer Diskriminierung entgegenzuwirken ist zwingend notwendig, allerdings darf das nicht dazu führen, dass die ebenso diskriminierte Minderheit anderer geschlechtlicher Identitäten unter den Teppich gekehrt wird. Wer meint, dies

tun zu können, ignoriert und verfestigt Diskriminierung zugleich, und handelt demnach unseren Idealen entgegen. Ziel einer jungsozialistischen Genderpolitik muss es sein, zweigleisig vorzugehen und Queer- und Gleichstellungspolitik zu verbinden, statt sie gegeneinander auszuspielen. Vollkommen richtig wird in dem Artikel festgestellt, dass „die immer noch vorhandene gesellschaftliche Aufteilung in Zweigeschlechtlichkeit wirkmächtig [ist] und sich nicht wegdiskutieren [lässt].“11 An dieser Analyse kann nichts bezweifelt werden, die Frage ist aber, was dagegen getan werden kann. Hierbei gilt es Lebensrealitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit aufzuzeigen und ebendiese Zweigeschlechtlichkeit als Konstrukt zu entlarven und nicht andere Menschen von ihrem Geschlecht „weg zu missionieren”. Ziel muss es sein, eine Akzeptanz anderer Gender herbeizuführen. Dieser Kampf wird ein sehr langer und schwieriger und genau deshalb ist es notwendig, mittels Gleichstellungspolitik die Macht des Patriarchats zu brechen und konkrete Veränderungen im Hier und Jetzt zu erreichen. Die Instrumente der Gleichstellungspolitik, wie sie die Jusos schon lange benutzen, sind hierfür ein geeignetes Handwerkszeug, dennoch liegt es auch an uns Jungsozialist*innen, erste Schritte zu gehen, eine progressive Queerpolitik in unseren Verband und die Gesellschaft zu tragen. In Anlehnung an die Konsequenzen, die die Autorinnen des Argumente-Beitrags ziehen, möchten wir daher diese erweitern.

11

Ebd.

29


1. Die gesellschaftliche Gleichstellung aller Menschen ist eine tragende Säule der Jusoarbeit „Frauendiskriminierung ist nicht nur Theorie, sondern ganz real und tagtäglich“12, wird in besagtem Artikel vollkommen richtig hervorgehoben. Das gleiche gilt aber auch für Inter*, Trans* und alle anderen Menschen. Realpolitik heißt also für die Gesellschaftliche Gleichstellung von Menschen zu kämpfen. Dass das, so lange Geschlecht bei uns in ein binäres System gepresst wird, vielfach die Gleichstellung männlich und weiblich sozialisierter Menschen ist, will wohl niemand bestreiten. 2. Politik ist mehr als Selbstreflektion Diese Aussage ist vollkommen richtig, sie setzt aber auch eine Selbstreflektion voraus. Wenn im Zusammenhang mit Queer-Aktivist*innen ein Streben nach Unordnung hervorgehoben wird, zeigt das nur allzu deutlich, dass wir im Bereich der Selbstreflexion noch viel Nachholbedarf haben. Gleichstellungpolitik geht über diese Selbstreflektion hinaus, sie kann aber nur dem Ziel nachkommen, die „konkrete Lebensrealität von Menschen zu verändern“, wenn sie auch die Lebensrealität von Inter*, Trans* und anderen Menschen erfasst. 3. Wir machen Politik für Menschen Zustimmung. Wir müssen es aber auch – wie bereits dargelegt – umsetzen. Wir dürfen nicht, wie beispielweise anhand einer „Klos-in-Brandenburg“-Debatte geschehen, die realen Probleme einiger unserer Mitmenschen marginalisieren. Im konkreten Beispiel müsste also überlegt werden, wie ein erweitertes Angebot an Sanitäranlagen geschaffen werden kann

30

ohne dabei Menschen, egal welchen Geschlechts, Schutzräume zu nehmen. 4. Beim Sex-counting brauchen wir mindestens eine dritte Option Abgesehen davon, dass die Autor*innen dieses Beitrags einhellig festgestellt haben, dass in ihren Personalausweisen gar kein Geschlecht angegeben ist, sollte auch im Rahmen unserer eigenen Veranstaltungen die Möglichkeiten bestehen, dass Teilnehmer*innen sich anmelden können, ohne sich zwingend als „weiblich” oder „männlich“ definieren zu müssen. Hierfür reicht es, optional eine Kategorie „Anderes“ oder „keine Angaben” einzufügen. Hierbei geht es weniger darum, die „Frauenplätze“ mit anderen Geschlechtern zu belegen, als einfach der Diskriminierung von Menschen, die sich nicht in der Zweigeschlechtlichkeit verorten können, entgegenzuwirken. Abgesehen davon sollte mensch Kategorien wie „Geschlecht“ auch nur abfragen, wenn diese Information wirklich erforderlich ist, weil es beispielsweise um Quoten geht. 5. Wir halten an der Frauenquote fest Die Frauenquote ist ein Förderinstrument der Gleichstellungpolitik und kein Selbstzweck. Solange auch in unserem Verband die Machtverhältnisse männlichdominiert sind, halten wir an ihr bei der Besetzung von Listen, Posten und Redelisten fest. Mittelfristig kann geprüft werden, ob eine Erweiterung auf andere Gruppen, die aufgrund ihres Abweichens von Geschlecht „Mann“ diskriminiert werden, sinnvoll sein kann.

12

Ebd. S. 18

Die Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit und ihre Folgen Argumente 1/2013


6. Autonome Frauenstrukturen sind auch in unserem Verband notwendig Bedauerlicherweise ist das so. Nichtsdestotrotz muss es aber möglich sein, auch anderen Menschen wie beispielsweise Trans*Personen Schutzräume für Debatten zu gewähren. Dass diese dringend nötig sind, zeigt sich (leider) auch und gerade an dem Niveau, auf dem die queer-Debatte bislang in unserem Verband geführt wird. l

31


„DIE ZUKUNFT HAT GEBURTSTAG! 100 JAHRE ARBEITERJUGEND“ Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Juso-Jubiläumsfeier am 15. Mai 2004 in Berlin

Schwerpunkt

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Gäste.... Vor einhundert Jahren trieb die Verzweiflung über die schlechten Lebensbedingungen und seine Rechtlosigkeit den jungen Handwerkslehrling Paul Nähring im Berliner Grunewald in den Tod. Sein Selbstmord rief Empörung hervor. Er erweckte aber auch Kraft und Entschlossenheit, um für eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu streiten und sich zu organisieren. Und genau das geschah: Überall in Deutschland bildeten sich Vereine und Verbände junger Lehrlinge. Und die schlossen sich dann zusammen. Das war die Geburtsstunde der Arbeiterjugendbewegung – heute wollen wir sie gemeinsam feiern. Die Arbeiterjungendbewegung besteht bis heute aus vielen unterschiedlichen Organisationen. Diese Vielzahl haben wir immer als Stärke verstanden und ich freue

32

mich hier heute die Vorsitzenden unserer Schwesterorganisation SJD Die Falken, Veit Dieterich und den Bundesjungendsekretär der Gewerkschaftsjugend, Christian Kühbauch begrüßen zu können. Ich denke, ihr werdet es mir nachsehen, wenn ich in meiner Rede einen Schwerpunkt auf die Geschichte der Jusos legen werde. Heute, hundert Jahre nach dem Freitod von Paul Nähring, haben Jugendliche in diesem Land verbriefte Rechte. Sie können sich gewerkschaftlich organisieren, bekommen eine Ausbildungsvergütung und verfügen mit 18 Jahren über das allgemeine und freie Wahlrecht. Wir sind stolz darauf, dass die Jugend dies heute als das ansieht, was es lange Zeit nicht war: eine Selbstverständlichkeit. Wenn aber heute die CDU fordert, die Ausbildungsvergütung drastisch zu kürzen, dann zeigt dies nur, dass es nicht ausreicht, auf das Erreichte stolz zu sein. Wir müssen es täglich aufs Neue verteidigen.

Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Jubiläumsfeier Argumente 1/2013


Die Arbeiterjugendbewegung wuchs rasch. Und sie wurde für viele Jugendliche zu einer zweiten Heimat. Es ging nicht nur um die große Politik, auch die gemeinsame Gestaltung der Freizeit war wichtig. Die Festigung des eigenen Milieus, durch gemeinsame Wanderung, Zeltlager – ja bis hin zum proletarischen Fahrradfahren und Briefmarkensammeln – war eine große Stärke der Arbeiterjugendbewegung. Sie festigte das Zusammengehörigkeitsgefühl derer, die von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Willy Brandt beschreibt dies in seinem Buch „Links und Frei“: „Mir hat die Jugendbewegung viel bedeutet: Durch die Gemeinschaftserlebnisse, wohl auch als Familienersatz und gewiss als Boden persönlicher Erprobung. Aus ihren Reihen gingen später viele der Menschen hervor, denen später eine besondere politische Verantwortung anvertraut wurde. (...) Die Gruppen boten denen, die aus beengten Verhältnissen kamen, auch eine neue Art von Zuhause: mit Heimabenden und Zausestunden, bei Gesang und Volkstanz, auf Fahrten und am Lagerfeuer.“ Allerdings wurde diese Stärke zu einer Schwäche, als sich die Gesellschaft, nicht zuletzt durch die Erfolge der eigenen Politik veränderte. Die SPD entschied sich nach 1945 für den Weg zur Volkspartei. Sie öffnete sich für andere Schichten und veränderte damit auch ihre Jugendorganisation. Die politischen Voraussetzungen im Kaiserreich waren schwierig. Die Reaktion sah in dem Versuch von Jugendlichen, sich zusammenzuschließen, zu Recht ein subversives Unterfangen und tat alles, um die neuen Vereine zu zerschlagen. Aber auch

in der SPD selbst stieß die Initiative der Jungen keineswegs nur auf Gegenliebe. Im Gegenteil: Sie wurden misstrauisch beäugt. Der Konflikt über die Frage der Organisation der Jugend stellt bis heute eine Konstante in unserer einhundertjährigen Geschichte dar. Als der Kaiser 1908 ein neues Vereinsgesetz erließ, dass Jugendlichen unter 18 Jahren eine politische Betätigung untersagte, wurden die Vereine der Arbeiterjugend aufgelöst und organisatorisch unter dem Dach der Partei zusammengefasst. Verhältnis zur Partei Nach Ende des ersten Weltkrieges mussten die Strukturen mühsam wieder aufgebaut werden. Als Friedrich Ebert 1919 Reichspräsident wurde, hatten sich viele tausend junger Mitglieder bereits vom Kurs des Parteivorstandes verabschiedet. Die Sozialistische Arbeiterjugend unter ihrem Reichsvorsitzenden, dem späteren SPD-Chef Erich Ollenhauer, entwickelte keine ausreichende Integrationskraft, um die Spaltung zu verhindern. Die Jungsozialisten, die die 18-25jährigen organisierten, forderten Ende der 1920er Jahre eine härtere Gangart der SPD gegenüber den erstarkenden Nationalsozialisten ein. Die zunehmende Radikalität ihrer Jugend beantwortete die SPD 1931 mit einer drastischen Maßnahme: Sie löste die Jungsozialisten auf. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Parteiführung zu repressiven Maßnahmen gegenüber ihrer Jugendorganisation griff. Klaus Uwe Benneter kann darüber sicher lebhaft berichten. Sein Ausschluss aus der SPD im Jahr 1977 – wegen mangelnder Abgrenzung zu kommunistischen Or-

33


ganisationen – sollte die Jusos disziplinieren. Nicht verschweigen sollte man an dieser Stelle, dass es sich die SPD leistete, zwei ihrer Studierendenverbände, den SDS und den SHB zu verstoßen. Den Aufstieg der Grünen und damit den Verlust fast einer ganzen Generation hat die SPD mit solchen Entscheidungen leider mit befördert. In der Auseinandersetzung um die Politik der Regierung Schmidt trieben die Jusos nicht nur den eigenen Kanzler das ein oder andere Mal zur Weißglut, sie trieben auch die programmatische Erneuerung der SPD voran. Die Forderungen nach dem Ausstieg aus der Atomenergie und nach dem sozial-ökologischen Umbau der Industriegesellschaft wurden zu Forderungen der gesamten Partei. Die Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses machte die SPD Jugendorganisation für die Friedensbewegung zu einem glaubwürdigen Partner. Die Reibungen mit der Partei waren also keineswegs nur destruktiven Charakters. Ohne den Einsatz der Jusos hätte die SPD so manche gesellschaftliche Entwicklung schlicht verschlafen. Das Verhältnis der Jusos zur Partei allerdings blieb schwierig. Und es war auch innerverbandlich stets ein Diskussionsthema: Wie weit kann man in der Kritik an den eigenen Leuten gehen? Was ist die richtige Strategie? In manchen Situationen wurde sogar darüber diskutiert, ob die Jusos sich bei Wahlen für die Sozialdemokratie einsetzen könnten. Der sogenannte Asylkompromiss der SPD mit der Kohl-Regierung 1993 stellte

34

den Verband vor eine Zerreißprobe. Insbesondere nach den Gewalttaten gegen Asylbewerber stieß die Position der Parteiführung, mit der Union einen Kompromiss zu suchen, bei den Jusos auf erbitterten Widerspruch. Aber auch viele SPD-Gliederungen lehnten die Haltung von Björn Engholm und anderen ab. Die Jusos entwickelten auf einem turbulenten außerordentlichen Bundeskongress in Bonn eine eigene Losung: „Engholm geht, wir bleiben“ lautete das Motto, mit dem vermutlich viele tausend Mitglieder überzeugt werden konnten, der Partei nicht den Rücken zu kehren. Auch die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, sich am Kosovo-Krieg zu beteiligen, wurde von den Jusos heftig kritisiert. Eine Kommission des Parteivorstands zu den Hintergründen des KosovoKrieges sollte später die Position der Jusos bestätigen: Der Einsatz der Bundeswehr war völkerrechtswidrig. Zweiter Weltkrieg Doch diese Fragen spielten im Januar 1933 noch keine Rolle. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verteidigten junge Sozialisten die Demokratie. Im Gegensatz zu den bürgerlichen und liberalen Parteien stimmten die Sozialdemokraten als einzige Fraktion am 23. März geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz. In seiner letzten Rede begründete Otto Wels eindrucksvoll diese Entscheidung. Kurz darauf, am 22. Juni 1933, wurde die SPD verboten. Aber trotz der Einschüchterungen und dem Terror bestand die Sozialistische Bewegung weiter. Und viele junge Genossen verteidigten unter schwierigsten politischen und persönlichen Bedingungen ihre Überzeugungen.

Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Jubiläumsfeier Argumente 1/2013


Schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik stellten die ehemaligen SAJ und Juso-Mitglieder einen Großteil des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Tausende unserer Genossen mussten ins Ausland fliehen und setzten von dort, wie der junge Willy Brandt in Norwegen, ihre Arbeit fort. Auch die nächste Etappe seines Exils ist symbolhaft für viele. Brandt begab sich in das republikanische Spanien, wo er den Kampf gegen die frankistischen Truppen unterstützte. Ein letzter, wie wir heute wissen, vergeblicher Versuch, den Vormarsch des Faschismus in Europa zu stoppen.

handlungen auf dem Appellplatz starb Willy Aron am 13. Mai 1933. Seine Leiche wurde in einem Schuppen verbrannt. Die Eltern Arons kamen 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt um. Wir werden Willy Aron und seine Genossinnen und Genossen niemals vergessen.

Willy Aron Geb. 3. Juni 1907 in Bamberg Gest. 13. Mai 1933 im Konzentrationslager Dachau

Internationale Solidarität Internationalismus gehörte von den ersten Tagen der organisierten Arbeiterbewegung zu den Grundsätzen unserer Politik. Über viele Generationen hinweg haben die Jusos dazu beigetragen, junge Menschen für die Probleme zwischen Nord und Süd zu sensibilisieren. Neben konkreten Projekten wie Spendensammlungen für Nicaragua gehört bis heute der direkte Kontakt zu unseren Genossinnen und Genossen überall auf der Welt dazu. In der Sozialistischen Jugendinternationalen IUSY und in der ECOSY übernehmen Jusos auch personell Verantwortung. Dass bei unserer Feierstunde junge Sozialisten aus vielen europäischen und außereuropäischen Ländern anwesend sind, zeigt, dass Internationalismus für uns keine Phrase geblieben ist.

Im Alter von 14 Jahren trat der Sohn eines jüdischen Justizrates 1921 in die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) ein. Willy Aron studierte Jura in Erlangen und Würzburg und zählte zu den Aktivisten der SAJ in Bamberg und den Mitbegründern des „Reichsbanners Schwarz-RotGold“, dessen Gauleitung er als Referendar übernahm. Anfang März 1933 kam Willy Aron in „Schutzhaft“, weil er öffentlich geäußert hatte: „Die Nazis haben den Brand im Reichstag selbst gelegt.“ Er wurde in das Konzentrationslager Dachau überführt. Nach zwei Tagen schwerster Miss-

Aber auch dies ist wahr: International lebt die SPD in vielen Bereichen nur noch von der Substanz. Bis heute überdeckt der Name Willy Brandt, dass sich unsere Partei insbesondere im Bereich der Dritten Welt nicht mehr mit der gleichen Energie engagiert wie früher. Dabei bietet die Debatte um die demokratische Gestaltung der Globalisierung gerade den Gliederungen der SPD die Möglichkeit, die Internationalität unserer Bewegung zu leben. Dieses Potential sollten wir stärker nutzen. Gleichzeitig könnten wir so die Diskussion mit den sozialen Bewegungen intensivie-

Viele junge Sozialisten ließen im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben. Ich möchte an dieser Stelle stellvertretend für alle anderen aus dem „Buch der Erinnerung“ des SPD-Parteivorstandes das Schicksal des jungen Willy Arons verlesen:

35


ren, deren Arbeit insbesondere von jungen Menschen getragen wird. 1946 Als die Jusos 1946 Jusos als Arbeitsgemeinschaft wiedergegründet wurden, bestimmten zunächst heimgekehrte Frontsoldaten das Bild der Organisation. In der sowjetischen Zone dominierte schon bald die Freie Deutsche Jugend. Im Westen waren die „Jusos“ ein parteitreuer Jugendverband, der dadurch auffiel, dass er eben nicht auffiel. Es war der SPD-Parteivorstand, der den Juso-Vorstand einsetzte und einen Zentralsekretär bestimmte. (Ich habe etwas gezögert diesen Teil in Anwesenheit des Parteivorsitzenden zu sagen – ich hoffe es kommt niemand auf dumme Gedanken?) Der erste Zentralsekretär, Hans Hermsdorf, der vor seiner Flucht in den Westen in Chemnitz gegen die Vereinigung zwischen SED und KPD gekämpft hatte, war ein treuer Gefolgsmann Ollenhauers. Die Jusos sollten dem Parteiapparat dienen. Eigenständige Politik stand nicht auf der Tagesordnung. Dies änderte sich erst, als Hans-Jürgen Wischnewski 1959 von Werner Buchstaller die Führung der Jusos übernahm. Er bestand auf einer demokratischen Wahl. Und so wurde der erste Juso-Bundesvorsitzende gewählt. Ich freue mich sehr, dass sowohl Hans-Jürgen, als auch sein Nachfolger im Amt, Holger Börner, heute bei uns sind. Die 1960er Jahre veränderten die Republik. Viel ist darüber geschrieben worden und viele der Akteure von damals sind die Akteure von heute. Ende der 1960 Jahre erschütterte die Studentenbewegung die im Mief der 1950er Jahre verharrende

36

Bundesrepublik. Tausende junger Menschen begannen sich für die Demokratisierung der Gesellschaft zu engagieren. Und viele von ihnen trafen eine Entscheidung, über deren Tragweite sich nicht alle bewusst waren: Sie traten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei. Demokratie Das Motto von Willy Brandts Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ hat für uns Jusos bis heute Gültigkeit. Dafür steht der Einsatz der 68er für eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft. Dafür steht das Engagement unzähliger Jusos in Schüler- und Studierendenvertretungen und dafür steht der Kampf für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Aber auch der Anspruch an die eigene Partei, die Spielregeln der innerparteilichen Demokratie einzuhalten, ist aktueller denn je. Die Debatte um die Agenda 2010 und der Versuch, innerparteiliche Willensbildung über die Medien und sogenannte „Machtwörter“ zu umgehen, sind uns noch in frischer Erinnerung. Es geht bei der Frage der innerparteilichen Demokratie ja nicht nur um die Rechte eines Teils der Partei, sich zu artikulieren. In Wirklichkeit stellt sich damit eine existentielle Frage für die SPD als Volks- und Mitgliederpartei: Wer entscheidet in Zeiten der Mediendemokratie? Scheitern wir vor der Aufgabe, unseren Mitgliedern und ihren gewählten Vertretern wirkliche Entscheidungskompetenz einzuräumen, wird die SPD als Mitgliederpartei auf Dauer unattraktiv. Ich bin überzeugt: Als reiner Wahlverein hat die Sozialdemokratie keine Zukunft. Die Zeit der Jusos als braver Verbund parteitreuer Nachwuchspolitiker neigte

Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Jubiläumsfeier Argumente 1/2013


sich seinem Ende entgegen. Schon auf dem Bundeskongress 1969 in München verfügte der bisherige Vorsitzende Peter Corterier über keine Mehrheit mehr. Sein Nachfolger sitzt hier heute in der ersten Reihe: Mit der Wahl von Karsten Voigt leiteten die Delegierten die legendäre „Linkswende“ der Jusos ein. Dies war die Geburtsstunde des modernen Juso- Verbandes. Der Anspruch, als eigenständiger Jugendverband die Interessen der Jugend zu artikulieren und wenn nötig auch im Konflikt mit der Mutterpartei durchzusetzen, hat bis heute Gültigkeit. Die damals entworfene Doppelstrategie für die Arbeit in sozialen Bewegungen und innerhalb der Partei, gehört noch immer, trotz einiger Modifikationen, zum Selbstverständnis unseres Verbandes. Und die neue Strategie hatte Erfolg: Das politische Gewicht der Jusos stieg und der Verband wurde größer. Gleichzeitig verschärfte sich der Konflikt um den richtigen Kurs. Die Auseinandersetzungen um die richtige Strategie zur Überwindung des Kapitalismus führten zur Bildung von verschiedenen politischen Flügeln. Noch 1989, als ich in die SPD eingetreten bin, konnte man sich ohne einen Grundkurs in „Verbandsgeographie“ schwerlich in unserer Arbeitsgemeinschaft zu Recht finden. Und gemeint war damit nicht nur das Grundwissen über die verschiedenen Theorien. Ich weiß nicht, ob ich noch alle Gruppierungen zusammenbekomme, die mir in meinen mittlerweile 15 Mitgliedsjahren untergekommen sind (Mehrfachnennungen sind wegen gelegentlicher Umstrukturierung möglich): Stamokaps, Refos, Undogs, Antirevis, Göttinger, Hkler,

Juso-Linke, Duisburger, Y, Koblenzer Kreis, Karfreitagsrunde, Bonner Runde, Nord-Linke, Netzwerk linkes Zentrum... Es ging auch um die richtige Zuordnung der Strömungen zu Bezirken und Landesverbänden. Denn nicht immer waren Vertreter des „Hannoveraner Kreises“ auch in Hannover zu finden. Und wer Ende der 1980er am Niederrhein nach „Duisburgern“ suchte, wurde fast immer enttäuscht. Die Strömungsauseinandersetzungen waren für Außenstehende schon bald nicht mehr nachzuvollziehen. Auf der einen Seite haben die zum Teil abenteuerlichen Formen der Auseinandersetzung bei einigen Beteiligten bis heute Wunden hinterlassen. Auf der anderen Seite denke ich aber auch, dass der Parteienforscher Franz Walter nicht ganz Unrecht hat, wenn er schreibt: „Alle großen Sozialdemokraten sind in solchen innerparteilichen Religionskriegen gestählt worden: ob Lassalle oder Bebel, Brandt oder auch (...) Schröder, der damals stolz darauf war, zu den besonders entschiedenen Antirevisionisten unter den Jungsozialisten zu gehören. Offenkundig sind solche Exaltiertheiten und wüsten Diskussionsschlachten gar keine schlechte Schule für eine später erwachsene und reife Führung.“ Personelle Kontinuität „Frecher als die Partei erlaubt“ – dieser Titel einer Juso-Kampagne der 1980er spiegelt bis heute unser Selbstverständnis wieder. Die Jusos verorten sich spätestens seit dem Kongress 1969 in München auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie. Aber was hieß es 1969 links zu sein? Und was bedeutet es heute? Diese Fragen haben

37


Juso-Kongresse in unzähligen Strategiediskussionen zur jeweiligen Zeit unterschiedlich beantwortet. Aber nie ist die Antwort ohne einen klaren Bezug zu den Grundwerten des demokratischen Sozialismus – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – ausgefallen. Mich interessiert, welche Bedeutung die aktive Juso-Zeit eigentlich für die handelnden Personen und ihren jeweiligen Lebensweg gehabt hat. Wir werden später Gelegenheit haben, darüber zu sprechen. Unser Verband hat über viele Jahre politische Generationen von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geprägt. Wer sich einmal die Mühe macht und die Namen der Juso-Vorstände der letzten 58 Jahre durchblättert, wird auf viele vertraute Namen stoßen und sicher einige Überraschungen erleben. Alle haben sie Politik bei den Jusos erlernt. Nicht alle sind in der Politik geblieben. Aber prägend dürften die Jahre in der sozialistischen Jugend für alle gewesen sein. Ich hoffe, dass wir Jusos heute dazu beitragen können, eine Form der Auseinandersetzung untereinander zu entwickeln, die uns auch in fünfzig Jahren einen zufriedenen Blick zurück erlaubt. Denn dieselben zermürbenden Kämpfe wie sie die Jusos in der Vergangenheit häufig praktiziert haben, können und dürfen wir uns nicht leisten. Ostdeutschland Man kann sich also in etwa vorstellen, wie schwierig es nach 1989 für die ostdeutschen Genossinnen und Genossen gewesen sein muss, sich nach der Gründung der „Jungen Sozialdemokraten“ in der DDR in einem gemeinsamen Verband zu Recht zu finden. Und trotz einiger Geburtswehen gelang dieser Prozess. Auf dem Bundes-

38

kongress 1991 wurde in Potsdam die Vereinigung zu einem gesamtdeutschen JusoVerband vollzogen. Im Vorsitz folgte Ralf Ludwig auf Susi Möbbeck und der bisherige Vorsitzende der Jungen Sozialdemokraten, Arne Grimm, wurde zu einem seiner Stellvertreter gewählt. In der ebenfalls in Potsdam beschlossenen und noch immer gültigen Grundsatzerklärung bekennen sich die Jusos zu ihren sozialistisch-feministischen Wurzeln. Frauen Wer es heute wagt, einen Blick auf die Wahlergebnisse der SPD zu werfen, der stellt fest, dass berufstätige, junge Frauen zu unseren treusten Unterstützerinnen zählen. Dies ist kein Zufall. Denn junge Frauen haben schon früh selbstbewusst das Bild der Jusos und damit die politische Agenda mitbestimmt: Von unserer ersten Vorsitzenden Heidemarie Wieczorek-Zeul bis zu Andrea Nahles. Und dennoch müssen wir feststellen, dass die hoch gesteckten Ziele der Frauenbewegung auch innerhalb der SPD noch lange nicht erreicht sind. Wir feiern in diesem Jahr nicht nur hundert Jahre Arbeiterjugendbewegung, wir erinnern auch an die Einführung der Frauenquote bei den Jusos vor 20 Jahren. Für uns Jusos und für die SPD wird die Zukunftsfähigkeit entscheidend davon abhängen, ob wir es schaffen, unseren Verband für junge Frauen wieder attraktiver zu machen: In seinem Selbstverständnis, seiner Arbeitsweise und in der Berücksichtigung frauenspezifischer Sichtweisen in allen Politikfeldern. Die Quote, die bei den Jusos in ihrer „harten Form“ bis heute praktiziert wird, bleibt dafür ein nicht hinreichendes, aber notwendiges Instrument.

Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Jubiläumsfeier Argumente 1/2013


Meine Juso-Generation ist wie kaum eine andere von den Erfahrungen der sechszehn Jahre Helmut Kohl geprägt worden. Bis 1998 kannten wir keinen anderen Kanzler als den „Dicken“. In diesen Jahren diskutierten Jusos u.a. über die Zukunft der Arbeit und verkündeten „Schluss mit der Enkelpartei“. Immer wieder standen auch die eigenen Arbeitsformen im Mittelpunkt. „Kampagnenorientierung“ hieß das Stichwort, das zu intensiven Diskussionen und Auseinandersetzungen führte. Die Forderung einer Ausbildungsplatzumlage wurde, wie ich inzwischen nicht ohne Genugtuung sagen kann, zum lebendigen Beispiel für eine erfolgreiche Kampagne, und Andrea Nahles verlieh den Jusos eine neue, selbstbewusste Stimme. Jusos heute – solidarisch, praktisch, gut – das alles sind wir. Demokratie braucht Partei, Engagement und Partizipation an Entscheidungen. Angesichts der demografischen Entwicklung geht es nicht um ein gegeneinander der Generationen. Aber ein erfolgreiches „Miteinander“ setzt Teilhabe der Jugend an politischen Prozessen voraus. Die anhaltende ökonomische Krise, aber auch der sich radikal verändernde Kapitalismus fordern von uns andere Formen der Jugendansprache und Organisation von Politik. Diese zu entwickeln, wird eine zentrale Aufgabe der Jusos in den nächsten Jahren sein. Aber auch die SPD muss erkennen, dass sie sich engagierter um den eigenen Nachwuchs kümmern muss. Wir können es uns heute buchstäblich nicht mehr leisten, Ressourcen zu vergeuden und engagierte junge Leute links liegen zu lassen. Dass die Jusos heute keinesfalls, wie Gabor Steingart vom Spiegel schreibt, un-

bedeutend sind, hat auch etwas mit der „Agenda“ zu tun, die mein Vorgänger Benjamin Mikfeld in zähem Ringen bei den Jusos durchsetzen konnte. Die Bedingungen für die eigene Arbeit hatten sich dramatisch verändert und die Jusos mussten „Neue Zeiten denken“. Sie waren plötzlich der Jugendverband der Regierungspartei. Wichtige Entscheidungen mussten getroffen werden, und so mancher wollte dies nicht wahr haben. Junge Menschen machen heute anders Politik als die Jusos vor 20 Jahren. Ich habe in den letzten Jahren von vielen Altvorderen häufig Sätze gehört wie „damals waren wir Jusos aber radikaler“. Ich glaube nicht, dass dies stimmt. Offen gesagt: Die politischen Ausdrucksformen der Studentenrevolte sind 36 Jahre nach 1968 in der heutigen Gesellschaft kein ausreichend wirksames politisches Instrument mehr. Meine Generation und vor allem diejenigen, die heute zum Teil schon mit 14 Jahren zu den Jusos stoßen, werden ihre eigenen politischen Ausdrucksformen entwickeln müssen. Es ist einfach zu beklagen, dass sich heute, in einer Zeit, in der Parteien und Politik insgesamt als diskreditiert gelten, zu wenige Jugendliche für sozialistische Politik engagieren. Etwas dagegen zu tun ist manchmal mühsam. Aber unsere Geschichte zeigt: Es lohnt sich! Vieles ist in den vergangenen hundert Jahren erreicht worden. Aber schon ein Blick in die Tageszeitung zeigt, dass unser Einsatz für eine gerechtere Welt nicht zu Ende ist. Der alte Ruf der Arbeiterjugend „Dem Morgenrot entgegen!“ beschreibt das Zutrauen auf die eigene Stärke, die unsere Bewegung von den ersten Tagen an

39


geprägt hat. Wenn wir, wie es bei Willy Brandt heißt „auf der Höhe der Zeit“ bleiben, haben wir allen Grund zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. l

40

Rede des Juso-Bundesvorsitzenden Niels Annen anlässlich der Jubiläumsfeier Argumente 1/2013


"I THINK SO, BECAUSE I HOPE SO" SOCIALISM AND INTERNATIONAL SOLIDARITY: OUR WAY TO CHANGE THE WORLD. by Viviana Pi単eiro, President of the International Union of Socialist Youth (IUSY )

"We know where we come from, we know where we are going to", that was the slogan of our last IUSY Festival, and it was the phrase that circled in my head days after the last Congress of the Socialist International (SI) some months ago. During the Congress, representing IUSY, we emphasized the need for a debate on the future of our movement, and we made a call to build a strong, progressive and truly global movement for the socialist family, that provides the necessary tools to build a world more just and equal. The way they passed the debates, and then the results of the election of the leadership of the organization, said that we had not been entirely successful in the call that we made. Shortly after, I met again with Willy Brandt, with his speech in June 1989 in

Stockholm, during the XVIII Congress of the SI, after being re-elected for what would be his last term as President of the International. A speech of an incredible leader who was showing us a socialist envisioning the world we lived in, but especially confronting us with a truly internationalist, who was proud of it. Brandt started wondering: "Who can tell what the world will look like in the years to come? Who knows ... what will endure and will accompany humanity in the future? ... Where will we find the answers to the challenges we face? Where do we find, if not in our joint experience of democratic socialists?" 13 13

Willy Brandt: La Internacional Socialista ante el nuevo milenio. Acceptance Speech after his reelection as President of the Socialist International, in: Nueva Sociedad 103 (1989), pp. 82-87. URL: http://www.nuso.org/upload/articulos/1799_1.pdf . [25.03.2013] Translation by the author.

41


Our values have not changed over time. Equality, solidarity, and freedom are more necessary than ever, and many mistakes are proving that we were right. But politics is not just about being right. Politics is above all putting into practice our political message. Our movement has a great history, but above all it has a great future. And to make that future possible it is vital that young people of today become the leaders of tomorrow, lined with our principles of freedom, justice, democracy, solidarity, peace, and equality for all. A new type of leadership that proposes real solutions to the great challenges we face in today's world. It is time for change and it is time to fill it with our ideas. Young people must reclaim politics, must reclaim political organizations. In that speech Brandt reflected that freedom, justice, and especially the establishment of peace requires efforts that lasted more than a century, and the actions to be taken to achieve these objectives are a daily challenge. Almost a quarter century later, we believe that democratic revolutions and changes could lead us to a democratic global economy. It may be the beginning of a new era for Socialism and social democracy worldwide. Today, no one doubts about something Brandt attached importance to in 1989, and that was, that socialism without democracy does not work, and that there is no democracy without socialism. Our struggle for equality cannot be stopped. The values underpinning socialism and social democracy are freedom, equality, and solidarity. In order to develop our project to change

42

the world, ensuring equal opportunities for all, it is essential to ensure a freedom that relies on equal opportunities, and global awareness, establishing the basis of a solidary social responsibility. As socialists and social democrats we must work for the continued democratization of the economy and the society. We must rely on our values, in our political ideas, and in the radical reforms that our political agenda proposes for a just and equal world. We come from an ideal of freedom that includes much more than respect for human rights and political freedoms. People need to have resources and opportunities to make decisions about their own future and enjoy real freedom to find their way in the context of a group that builds the basis for solidarity in multicultural and democratic societies. This means extending the rights of individuals to the economic, social, and cultural fields. It is not easy to find solutions to every crisis we are experiencing. But only social democratic and socialist ideas ensure that measures are taken for justice and equality. "We, as democratic socialists want to eliminate the gap between rich and poor, both within countries and between different nations. We are against the cynics who oppress entire societies. Those cynics for whom international solidarity is a dirty word and who seek to undermine social welfare where it exists ... Those cynics who want to reduce welfare to charity, both nationally and internationally ... If I oppose this greedy mentality, is not only for moral reasons, but also because of the dangerous economic and political consequences it entails, and the disastrous ecological effects that it will have in the long run". (Willy Brandt, 1989).

"I THINK SO, BECAUSE I HOPE SO" Argumente 1/2013


Unfortunately time proved him right, so far. The global financial system has been on the verge of collapse. The crisis threatens both, developed and developing countries, established and stable countries or countries in transition. Despite the considerable uncertainty surrounding the future of international economic issues, it is clear that the current economic and financial agreements are not sustainable, and the effects of the crisis will be long lasting. We see every day how a younger generation is losing its future in successive budget cuts, in short-term solutions which only benefit the market rather than focusing on people. Too many generations of young people have lived their entire lives in crisis and there is little hope that this will change. We are facing global problems, and to address them we need to implement common solutions. Social inequality, injustice and unemployment – especially among young people – are growing. If this goes along with an increasingly pessimistic view among the people, of what the future has in store for them, this paves the way for the acceptance of right, populist, racist, and authoritarian practices. The financial and economic crisis has intensified the class struggle worldwide. Austerity programs have further worsened the situation. More than ever, the world is divided into rich and poor. A small elite has benefited greatly from the crisis by accumulating wealth. We need to get rid of a system that makes only a few people becoming rich while impoverishing the masses. We must get rid of a system that concentrates wealth and power in the hands of men instead of promoting gender equality. We

must get rid of a system that seeks to maximize short-term profits rather than fight against climate change. Our fight against these trends must therefore begin to adequately address the economic and social problems facing our societies while proposing solutions. We must strengthen the public sphere against those who insist on the privatization of the commons. The major effects of the current crisis concern most notably the most vulnerable sectors of society. Young people, women, migrants, and minorities, and the poor and homeless are the most affected. These injustices will remain in place while the global economy is not democratized. The costs of the crisis must be paid by those who caused the crisis in the first place. Therefore, our demand is the redistribution of global wealth and our battle cry is still "tax the rich!" Back in 1989 the discussion on the reform of international organizations and institutions was already on the table: "I guess one of the main points on the agenda of the 90s will be the determination of the powers to be granted to the regional and international agencies (and institutions), that must of course be legitimate and properly controlled ... Isn’t it time to thoroughly examine the institutional, regional and international levels, which in operability concerns? We must discuss how international organizations can be strengthened”. (Willy Brandt) It's clearly time for United Nations to take an effective position to deal with the issues that arise in the midst of dramatic change in world politics and new global challenges.

43


It is time for a UN Economic Security Council. International financial institutions should be socially responsible and democratic, in order to be legitimate and effective. The current global economic crisis has given a renewed mission to the international financial institutions. They should organize the international financial system on a foundation of legitimacy that allows each nation to be represented, regardless of their current economic and political power. A tax on international financial transactions should be the beginning of a series of global regulations and the beginning of the distribution of the world's resources. It's time to bring democracy to the financial system. We need a democratic and global economic system that serves the people. It is clear that the right wing has no solutions, and more than ever it is time for socialism and social democracy to show that we can lead the way out. In another part of the speech, Willy Brandt warned: "The number of problems that affect all of humanity is steadily increasing. To solve them, we need to move to "global politics", whose reach extends far beyond national boundaries ...It demands of our parties to develop a new understanding of internationalism. Common problems require coordinated policy responses�. Today we would say, to face the global crisis, the answer must be global. So Internationalism must be a fundamental part of everyday political practice of our organizations, with the understanding that only acting under the principle of international solidarity we can build a just, free, and equal world. A peaceful world, in which we

44

could build our life projects on these principles, a world where we could live a fulfilled life, and human and civil rights are protected in the context of a democratic society. We will be able to reach this goal only if socialists and social movements act in a coordinated and systematic way. For this we need most representative international organizations, more visible, more democratic, and more influential. This is a complex, but exciting task, that will lead us to build our future every day, changing the world. Brandt envisioned that the next decade would be dominated by problems that go beyond the different political systems and affect the life of humanity as a whole. And meeting the challenges this posed to our movement he said: "Nothing is impossible, unless one is resigned. But the resignation is excluded from our goals and obligations�. Why should we rely on socialism when we talk about solving the problems that the globalized world faces? Not because the story is written in a deterministic manner, but for two reasons: First, we are convinced that only socialist societies can save humanity and that only socialism can solve the profound contradictions of the planet. And secondly, there are ethical reasons and values that lead us to affirm that assumption. If we talk about utopia it must remain a post-capitalist utopia, with the objective of continuing to build a new society, deeply democratic in all its dimensions. The biggest problem we face today is a kind of theoretical-ideological impasse. We were able to reach the contradiction of coming to power in many places, but at the cost of losing our paradigms. In any case, the paradigm is democracy, the road to de-

"I THINK SO, BECAUSE I HOPE SO" Argumente 1/2013


mocracy, a democracy deeply extended, which roots in political areas and reaches into all areas of life in society. Had it been possible to ask how Brandt imagined the socialists and social democrats in the XXI century, surely we had always talked about critics and reformers socialist, socialists fighting for a society that is able to provide freedom and equality, socialists thinking and acting on the whole globe as a battleground in the struggle for a better world. In 1989, the SI President Willy Brandt closed his speech by saying: "I think we will succeed. And if you ask me if I'm sure, I will answer with repeating the last sentence wrote by Leon Blum, the leader of the French Socialists between the two world wars, having survived the Buchenwald concentration camp: ‘I think so, because I hope so’�. Almost 25 years later, a President of the International Union of Socialist Youth from a small country like Uruguay, but gazing at the entire world, concludes by quoting Willy: "I think we will succeed", I think so, because I know that another world is possible, and worth fighting for it. We will succeed. Together. l

45


PARTEIJUBILÄUM UND TAGESPOLITISCHE AGENDA PLÄDOYER FÜR EINE AKTIVE SOZIALDEMOKRATISCHE GESCHICHTSPOLITIK von Dr. Andrea Hoffend, Historische Kommission der SPD Baden-Württemberg

Das 150-jährige Parteijubiläum steht vor der Tür – und damit zugleich die Zeit großer Sonntagsreden zum stolzen Erbe der SPD. Auch unzählige einschlägige Publikationen sind im Vorfeld erschienen. Müssen wir um unsere ellenlange Geschichte aber wirklich so viel Gewese machen? Sehen wir, wenn wir beständig auf unsere 150 Lenze verweisen, im Gegenteil nicht einfach nur „ganz schön alt“ aus? Kommt darauf an. Mit pathetischen Ansprachen allein jedenfalls ist es nicht getan. Vielmehr müsste es gelten, die Parteihistorie in den eigenen Reihen ebenso intensiv wie spannend und anschaulich zu vermitteln. Es wäre dies ein wichtiger Beitrag zur eigenen Selbstvergewisserung und Selbstverortung – und

46

zugleich eine zentrale Voraussetzung für eine aktive und selbstbewusste sozialdemokratische Geschichtspolitik, die sich als substanzieller Beitrag zu Demokratie-Erziehung und Extremismusprävention versteht. Starker Tobak? Im Folgenden will ich aufzeigen, dass es die SPD-Historie in der Tat in sich hat. Parteigeschichte, ja bitte! Von der schleichenden „Sozialdemokratisierung“ zum aktiven DemokratieLernen Monarchistischer Klassenstaat, extremer Nationalchauvinismus, Wahlrecht nur für eine besitzende männliche Minderheit, unmenschliche Arbeitsbedingungen, un-

Parteijubiläum und tagespolitische Agenda Argumente 1/2013


überwindbare Bildungsprivilegien, Kinderarbeit und Elendsquartiere – so sah die deutsche Realität vor anderthalb Jahrhunderten aus. Seit ihren ersten Anfängen ist die politisch, gewerkschaftlich und kulturell organisierte Sozialdemokratie der entscheidende Treiber gewesen, der diese Verhältnisse zum Tanzen brachte: Seit anderthalb Jahrhunderten haben Sozialdemokrat/innen deutschlandweit für eine gerechte und demokratische Gesellschaft sowie für eine gleichberechtigte Teilhabe aller an Lebenschancen und Lebensglück gestritten. Und seit anderthalb Jahrhunderten haben sie dabei zugleich gegen Unterdrückung, Ignoranz und Hass angekämpft, haben für ihren Einsatz existenzielle berufliche Nachteile in Kauf genommen oder Gefängnis- und Zuchthausstrafen erduldet. Im Angesicht der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gar haben Zehntausende von ihnen ihren Einsatz für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft mit Lager-Haft, Folter und häufig genug mit dem Leben bezahlt. Allen Rückschlägen zum Trotz haben die Werte und Forderungen der SPD im Zuge einer allmählichen „Sozialdemokratisierung“ im Laufe der Zeit mehr und mehr Niederschlag in Politik und Gesellschaft gefunden und sind mittlerweile vielfach längst zu Standards geronnen. Ob Arbeitsschutz, Tariflöhne, Frauenrechte, betriebliche Mitbestimmung, Arbeitslosenversicherung und vieles mehr, ob Sozialstaats-, Rechtsstaats- und Demokratieprinzip oder der relative materielle und kulturelle Wohlstand, in dem eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung trotz sich öffnender Armutsschere immer noch lebt –

den wenigsten Menschen ist heute noch klar, dass all diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten nicht einfach vom Himmel gefallen sind, sondern von unseren politischen Ahnen gegen erbitterte Widerstände erkämpft werden mussten. Schon klar, niemand wird heute SPD wählen, weil unsere Partei vor vielen Jahrzehnten für humanere Arbeitszeiten gestritten, die Republik gegen die Nazis verteidigt oder den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz durchgesetzt hat. Und trotzdem ist es richtig und wichtig, die Erinnerung an diese und an viele andere zuvor wie hernach ausgefochtene Kämpfe und Konflikte zu beleben und wach zu halten – und zwar aus einem Grund, der über den puren parteipolitischen Nutzen weit hinausgeht: Gilt es doch, die Menschen in unserem Land immer und immer wieder daran zu erinnern, dass Freiheit, Demokratie und sozialer Zusammenhalt nur dann auf Dauer bewahrt werden können, wenn wir sie stets aufs Neue erringen. Demokratie sei die einzige Staatsform, die gelernt werden müsse, hat der Sozialphilosoph Oskar Negt einmal zu Recht festgestellt. Den hohen Wert der Demokratie einschätzen und ihre Gefährdungen erkennen aber kann nur, wer um ihre geschichtliche Bedingtheit weiß. Integraler und zentraler Bestandteil eines Demokratie-Lernens im Sinne Negts muss deshalb das historische Lernen sein. Die SPD-Geschichte bietet einen Schlüssel, um die unserer „sozialdemokratisierten“ Gesellschaft zugrunde liegenden Werte und Ziele zu vermitteln und deutlich zu machen, dass nur in organisierter und solidarischer Gemeinschaft etwas zum Wohle der breiten Masse erreicht werden kann.

47


Vom Pausenclown-Status zum Top Act: Parteiinterne Geschichtsvermittlung als Mittel der Selbstvergewisserung Vermitteln kann man nur, was man kennt. Tatsächlich aber ist das Wissen um die Geschichte der Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten auch in den Reihen der SPD kontinuierlich zurückgegangen, und auch das anstehende Parteijubiläum läutet keine „historische“ Wende ein. Die zahlreichen Publikationen, die man uns im Jubeljahr präsentiert, wird nur konsumieren, wer ohnehin schon für die Parteihistorie sensibilisiert und im Umgang mit schwerer literarischer Kost geübt ist. Um in der Partei ein wirkliches breites Interesse an der eigenen Geschichte zu wekken, bedürfte es anderer Formate sowie einer anderen Aufbereitung der Inhalte. Nicht zuletzt aber müsste die Parteihistorie endlich wieder als ein wirklich integraler Bestandteil der Parteiarbeit begriffen und dementsprechend wertgeschätzt werden – quantitativ wie qualitativ. Wohl alle in der SPD beheimateten Arbeiterbewegungshistoriker/innen können ein Lied davon singen, wie wenig ihre Expertise in der eigenen Partei wiegt. Obwohl heute weit rarer als noch vor wenigen Jahrzehnten gestreut, wird das parteihistorische Fachwissen häufig genug ignoriert – sei es, dass Hinweise der Expert/innen auf die politisch-gesellschaftliche Relevanz einzelner historischer Themen verpuffen, sei es, dass geschichtspolitische Entscheidungen gefällt oder Pressemitteilungen zu historischen Gegenständen herausgegeben werden, ohne dass man es im Vorfeld für nötig befunden hätte, Expert/innen aus den eigenen Reihen hinzuzuziehen. Wer heute in der SPD ernsthaft Geschichtsar-

48

beit zu betreiben versucht, findet sich unvermittelt in der Rolle eines Pausenclowns wieder, der der „eigentlichen“ Politik hin und wieder ein paar Versatzstücke für Sonntagsreden liefern, ja vielleicht sogar zu dem einen oder anderen „historischen“ Anlass einen kleinen Geschichtsvortrag halten darf, ansonsten aber nur wenig mitzureden hat. Die Parteigeschichte erscheint damit als ein nettes Apercu, als Nice-to-have, als bloße Dekoration. Hinter all dem steht nicht zuletzt die irrige Annahme, dass historische Inhalte ebenso „unpolitisch“ wie austauschbar seien. Während niemand ein Haus bauen würde, ohne vorab einen Statiker zu Rate zu ziehen, ist die Geschichte zugleich ein Feld, das viele Menschen alleine und ohne Hinzuziehung von Expert/innen bestellen zu können meinen. Die parteiinterne Vermittlungsarbeit gerät damit häufig genug zum Tummelplatz pensionierter Oberstudienräte und nostalgischer Altpolitiker – mit inhaltlich wie didaktisch oftmals schiefem Ergebnis, was freilich angesichts der oben konstatierten Wissenslücken stets nur wenigen auffällt; alle anderen begnügen sich mit der „Hausmannskost“. Würde man der Parteihistorie jedoch den gebührenden Wert beimessen, dann könnte sie einen substanziellen Beitrag zur Selbstverortung und Selbstvergewisserung der SPD leisten. Denn auch und gerade angesichts der vielbeschworenen Krise der Volksparteien sowie des zunehmenden Legitimitätsverlusts der repräsentativen Demokratie vermag die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte maßgeblich zur Klärung der Frage beizutragen, welche Werte, Positionen und Ziele uns als Sozialdemokrat/innen einen und

Parteijubiläum und tagespolitische Agenda Argumente 1/2013


auszeichnen: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – was bedeuteten diese Begriffe für unsere politischen Ahnen vor 150 Jahren, was bedeuten sie für uns heute, und wohin muss es in Zukunft mit der SPD weitergehen? Ebenso wie die sozialdemokratischen Grundwerte und die auf dem Wege ihrer Umsetzung erzielten Erfolge gehören auch die dabei erlittenen Rückschläge und die von der Partei gemachten Fehler auf den historischen Prüfstand – von der Mitbewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion im Jahr 1914 über das Zurückschrecken vor physischem Widerstand im Jahr 1933 und die Marginalisierung der innerparteilichen ökologischen Avantgarde sowie der Gegner/innen des NATO-Doppelbeschlusses in der Ära Schmidt bis hin zur Agenda-Politik der Regierung Schröder. Nur wenn wir uns offen und ernsthaft mit all diesen zum Teil noch schwelenden Konfliktthemen auseinandersetzen, werden wir die „Seele“ der Partei nachhaltig retten können. Neue historische Inhalte für unser Land! Die SPD und die deutsche Geschichtspolitik Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, so heißt es zu Recht. In Friedenszeiten sind „Sieger“ in diesem Sinne all diejenigen, die Einfluss auf die Vergabe einschlägiger Forschungs- und Fördermittel sowie auf die Setzung der zu vermittelnden Inhalte auszuüben vermögen, die zugleich das mediale Begleitinstrumentarium beherrschen – und die sich bei alledem überhaupt der Relevanz geschichtspolitischen Handelns bewusst sind!

Helmut Kohl hatte ein überaus feines Gespür für die Wirkungsmacht von Geschichtspolitik: Als Historiker wusste er nur zu genau, dass eine objektive Geschichtsarbeit ein Ding der Unmöglichkeit ist. Bereits die Themenauswahl ist stark von subjektiven Faktoren abhängig, ihre Interpretation und Aufbereitung sind es umso mehr. Mit dem Haus der Geschichte in Bonn und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin wurden während der Kanzlerschaft des Pfälzers in diesem Sinne „Leuchttürme“ errichtet, die seither ein konservativ geprägtes Geschichtsbild in die Weiten des Landes aussendeten. Gerhard Schröder hat nach der Regierungsübernahme durch Rot-Grün der Historie – gelinde gesagt – weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet und nicht einmal ansatzweise einen Versuch zum ausgleichenden Gegensteuern unternommen. Dies hatte zur Folge, dass sich die tradierten Leitbilder unbemerkt und unhinterfragt sogar in vielen „roten“ Köpfen festsetzen konnten. Während die auf nationaler Ebene betriebene konservative Geschichtsinterpretation in traditionell SPD-geprägten Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen immerhin eine Brechung durch anders lautende regionale Narrative erfuhr, hatte und hat sie in den süddeutschen Unionshochburgen vielfach bis heute unwidersprochen Bestand – und das bis hinein in vermeintlich progressive politische Milieus. In Baden-Württemberg etwa muss man nach dem Ende fast 60-jähriger CDU-Dominanz erst mühsam lernen, das konservative Erbe überhaupt als solches zu identifizieren, um es auf den Prüfstand stellen und um emanzipatorische Inhalte ergänzen zu können. So bedurfte es etwa nach dem Re-

49


gierungswechsel vom Frühjahr 2011 eines nicht geringen bürgerschaftlichen Engagements, um die Umwidmung des seit 1996 vergebenen einzigen Literaturstipendiums des Landes zu bewirken, das bislang der Erforschung des Werks des einstigen „Stahlhelm“-Aktivisten Ernst Jünger gewidmet war. Während er und andere nationalkonservative „Helden“ von einschlägig befassten Landeseinrichtungen gefeiert wurden und werden, führen viele hochverdiente Demokrat/innen in der Geschichtsforschung und -vermittlung des Landes bis heute ein Schattendasein, und die emanzipatorischen Aspekte der Landesgeschichte sind vielfach noch immer unterbelichtet. In dem Maße, in dem wir der Parteigeschichte intern ein nachhaltig höheres Augenmerk widmen, werden auch die sozialdemokratischen „Entscheider/innen“ auf kommunaler, auf Landes- und hoffentlich bald wieder auch auf Bundesebene zumindest mittelfristig ein besseres Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Relevanz geschichtspolitischer Weichenstellungen und Entscheidungen entwickeln. Angesichts der gerade jüngst wieder in der neuesten „Mitte“-Studie der Friedrich-EbertStiftung festgestellten rechtsextremistischen Einstellungstendenzen in der deutschen Gesellschaft gerät ein geschichtspolitisches Umdenken zugleich zunehmend zu einer zentralen Zukunftsfrage, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Für einen Paradigmenwechsel in der historisch-politischen Bildungsarbeit! Die SPD-Geschichte und der heutige Kampf gegen rechts Wenn das gängigste Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen mittlerweile „Du

50

Opfer!“ lautet, dann muss uns dieser Sachverhalt alarmieren – und er verweist darauf, dass es mit Blick auf die schulische wie außerschulische Vermittlung des Themas „Nationalsozialismus“ dringend neue Wege zu beschreiten gilt. Die Erinnerung an die von Deutschland unter der NSHerrschaft ausgegangenen Menschheitsverbrechen kann nur dann wirklich zu einer Vermeidung künftiger politischer Fehlentwicklungen und Verbrechen beitragen, wenn diese Zeit nicht allein von ihrem Ende her begriffen und aufgearbeitet wird, sondern auch und vielleicht sogar vor allem von vorne her. Holocaust-Mahnmale, KZ-Gedenkstätten und andere Orte, an denen an die Nazi-Gräuel erinnert wird, sind ebenso unerlässlich wie die wachsende Zahl an Stolpersteinen auf den Straßen unserer Städte und vieles andere, das auf eine Distanzierung von den nationalsozialistischen Verbrechen und auf Empathie für die Opfer abzielt. Aus Distanzierung und Empathie allein aber erwächst noch nicht die Fähigkeit zum Widerstehen und erst recht nicht die zum aktiven Handeln. Zu den Distanzierungsangeboten müssen sich deshalb positive Identifikationsangebote gesellen, die aufzeigen, dass der Aufstieg des Nationalsozialismus durchaus vermeidbar gewesen wäre, dass für politisch mündige Menschen die Gefahren früh erkennbar waren und dass es durchaus Möglichkeiten gab, sich diesem Aufstieg entgegenzustemmen. Die frühen Nazi-Gegner aus den Reihen der deutschen Arbeiter-, Friedensund Menschenrechtsbewegung müssen in diesem Sinne auch und vor allem als aktiv Handelnde statt nur als drangsalierte Opfer nationalsozialistischen Terrors gezeigt

Parteijubiläum und tagespolitische Agenda Argumente 1/2013


werden. Die Botschaft dazu muss lauten: Diese Menschen waren weitsichtig, mutig, stark – und sie waren viele! Allerdings waren sie leider zu wenige, als dass sie die endgültige Machtübergabe an die Nazis im Jahr 1933 hätten verhindern können. Das viel beschworene „Lernen aus der Geschichte“ – mit Blick auf den Nationalsozialismus muss es sich im Sinne politischer Präventionsarbeit auch und vor allem auf die Frage konzentrieren, warum die einen bereits lange vor 1933 wussten, dass die Nazis Krieg und Verderben bringen würden, während andere die Gefahren systematisch herunterredeten, und warum diese Ersteren sich der Entwicklung couragiert entgegenstellten, während die Letzteren ihr ihren Lauf ließen, wenn nicht gar aktiv die Einbindung der Nazis und ihrer Helfershelfer betrieben. In diesem Zusammenhang muss auch und vor allem das Verhalten weiter Teile des sogenannten „Bürgertums“ und der sogenannten „bürgerlichen“ Parteien in den Jahren vor 1933 diskutiert werden. Wer weiß heute etwa noch, dass die katholische Zentrumspartei und die liberalen Parteien schon 1925 eine antidemokratisch-antisemitische Partei in die Reichsregierung geholt und so maßgeblich mit dazu beigetragen haben, den Rechtsextremismus salonfähig zu machen? Indem wir von dieser und anderen Fehleinschätzungen und Fehlentwicklungen erzählen und ihnen zugleich den Abwehrkampf von Sozialdemokrat/innen, Gewerkschafter/innen und anderen Menschen gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus entgegenstellen, können wir dazu beitragen, Wiederholungen zu vermeiden. Wie aber ist es in Deutschland tatsächlich um die kollektive Erinnerung an den

frühen Widerstand der Wenigen gegen rechts und an das Versagen der Vielen vor wie nach 1933 bestellt? Nach einer gewissen Blüte in den 1970er und frühen 1980er Jahren hat der gesamte Themenkomplex rasch spürbar an Strahlkraft verloren, um schließlich nur noch als Marginalie zu firmieren. Über Otto Wels‘ Rede gegen das Ermächtigungsgesetz hinaus, die just heuer zum 80. Jahrestag wieder zu zahlreichen schönen Sonntagsreden gereicht, ist selbst in den Reihen der SPD nur noch wenig über das so reiche historische Erbe des sozialdemokratischen Widerstands bekannt. Freilich muss nicht nur parteiintern weit stärker an dieses Erbe angeknüpft werden. Vielmehr muss der sozialdemokratische Kampf gegen rechts und für die Weimarer Republik über die parteihistorische Dimension hinaus endlich auch als ein integraler Bestandteil der gesamten deutschen Geschichte begriffen werden – und wir selbst vor allem sind es, die ihm zu dieser Bedeutung verhelfen müssen: o Lasst uns dafür streiten, dass neben dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und dem Liberalen Walter Rathenau auch die frühen sozialdemokratischen Opfer rechter Gewalt wie der bayrische Ministerpräsident Kurt Eisner oder der SPD- und USPD-Vorsitzende Hugo Haase in der kollektiven Erinnerung als Märtyrer der demokratischen Sache firmieren. o Lasst uns dafür streiten, dass neben dem „Vernunftrepublikaner“ Gustav Stresemann auch der langjährige SPDVorsitzende Hermann Müller als bedeutender Außenpolitiker und vor allem als der große Friedens- und Europapolitiker wahrgenommen wird, der er war.

51


o Lasst uns dafür streiten, dass jungen Menschen in Deutschland, wenn sie nach den Namen von Widerstandskämpfern befragt werden, nicht nur der Antidemokrat Claus Graf Schenk von Stauffenberg und andere Militärs in den Sinn kommen, sondern auch ihre sozialdemokratischen Mitverschwörer wie Julius Leber und Wilhelm Leuschner, die schon lange vor 1933 aktiv gegen die Nazis gekämpft hatten. o Lasst uns dafür streiten, dass den deutschen Heimatvertriebenen des Jahres 1933 – darunter Tausende von Sozialdemokrat/innen – die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird wie den Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkriegs und der Jahre danach. o Lasst uns dafür streiten, dass der erste SPD-Nachkriegsvorsitzende Kurt Schumacher, der sein mutiges Eintreten gegen die Nazis mit mehr als zehnjähriger Lager-Haft gebüßt hatte, zu ähnlicher Bekanntheit gelangt wie sein politischer Widerpart Konrad Adenauer, der sich in der Weimarer Republik für eine Regierungseinbindung der Nazis stark gemacht hatte und sich als Kanzler ungeniert mit Altnazis umgab. Der SPD harren viele geschichtspolitische Aufgaben. Wir werden dem Jubiläumsjahr 2013 durch nichts besser gerecht, als sie konsequent anzugehen. l

52

Parteijubiläum und tagespolitische Agenda Argumente 1/2013


INTERVIEW MIT WILHELM BUßMANN (GEB. 1932) Das Gespräch führte Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied des Juso-Bundesvorstandes aus Lünen

Die Lüner Familie Bußmann verfügt über eine lange sozialdemokratische Tradition. Heinrich Bußmann (1896 – 1942) gehörte in der Weimarer Republik zu den führenden Köpfen der örtlichen SPD: Seit 1923 im Rat (damals „Stadtverordnetenversammlung“), war er von 1927 bis 1929 Stadtverordnetenvorsteher, das Vorläuferamt des heutigen Bürgermeisters, und gehörte der Stadtverordnetenversammlung bis zu deren Auflösung durch die Nazis im Jahr 1933 an. Zu seinen politischen Schwerpunkten zählte vor allem der Bereich der beruflichen Bildung. So ging der Bau der Lüner Berufsschule u.a. auf seine Initiative zurück. Heinrich Bußmann wurde von Beginn der NS-Herrschaft an verfolgt und mehrfach inhaftiert. 1936 aufgrund des Vorwurfs der Weitergabe sozialdemokratischer Schriften wegen Hochverrats verurteilt, wurde er nach Ableistung der Haftstrafe u.a. im Emslandla-

ger Esterwegen von der Gestapo Anfang 1938 in sogenannte Schutzhaft genommen, zunächst im Polizeigefängnis in Dortmund, der Steinwache. Anschließend wurde er nacheinander in die Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Dachau verschleppt. In Dachau starb er im August1942, offiziell an einer nicht näher bezeichneten Erkrankung. Nach den Recherchen seines Bruders Karl wurde er wohl erschlagen. Auch Heinrich Bußmanns Frau Elfriede engagierte sich in der SPD. Ihre Mutter, Maria Falk, war 1919 als erste Frau in den Rat der Stadt Lünen gewählt worden. Im Gedenken an Heinrich Bußmann trägt eine Hauptschule in Lünen den Namen „Heinrich-Bußmann-Schule“. Die SPD Lünen vergibt seit 1996 den „Heinrich-Bußmann-Preis“ zur Würdigung von Engagement für Demokratie und Menschenrechte. Auch Heinrichs Sohn Wilhelm war getreu der Familientradition aktiv in der SPD.

53


Nach seiner Lehre auf dem Lippewerk war er später unter anderem bei der Stadt Lünen beschäftigt und übte verschiedene Funktionen im SPD-Ortsverein Lünen-Osterfeld aus, u.a. lange Jahre als stellvertretender Vorsitzender. Nach dem Krieg gehörte er zu den Gründern der „Falken“ in Lünen und nahm am Arbeiterjugendtag in Stuttgart 1947 teil.

gegen die Nazis, oder versuchte es über Mund-zu-Mund-Propaganda. Im Verfahren selbst gab es keine Zeugen. Was die Gestapo dem Gericht meldete, galt. Von irgendjemandem muss mein Vater angezeigt worden sein. Das soll einer aus Lünen gewesen sein, ein Genosse. Nur, keiner weiß, ob es stimmt.

Lieber Willi, welche Erinnerungen hast Du noch an deinen Vater? Ich bin geboren am 29. April 1932 hier im Wiesengrund, wo ich jetzt noch wohne. Kurz nach meiner Geburt ging der NaziTerror ja schon los, da der Vater schon von 1933 an verfolgt wurde. Mitgekriegt habe ich das so ab 1936, da war ich vier Jahre alt. Die Verhaftung meines Vaters, als nachts die Gestapo kam und ihn abholte, habe ich wohl mitgekriegt.

Durftet Ihr Euren Vater in der Haft besuchen? In der „Steinwache“ in Dortmund durften wir ihn besuchen, und im Konzentrationslager Aschendorfer Moor in Papenburg. Und da wir im Grunde kein Geld hatten, fuhr uns ein Bekannter mit dem Motorrad da hin. Ich bin auch mal mit gewesen, aber nicht in das Lager reingekommen. Ich weiß auch nicht mehr, ob unsere Mutter den Vater besuchen konnte, oder gar keiner mehr. Mein Onkel ist da auch mitgefahren, der hatte damals ein Dreirad für seinen Gemüseladen. Aber in Dortmund bin ich noch ein paar Mal mit gewesen.

Was waren denn genau die Vorwürfe gegen Deinen Vater? Der Vorwurf lautete „Hochverrat“, begangen durch das Verbreiten der Zeitschrift „Die sozialistische Aktion“, die von der Exil-SPD aus der Tschechoslowakei kam. Das war Parteiarbeit gegen Hitler, gegen den Nationalsozialismus. Denn Hitler hat ja ganz klar gesagt, was er will. Wenn Du „Mein Kampf“ gelesen hast, dann wusstest du, was die wollten. Da stand alles drin, etwa dass er die slawischen Völker vernichten will, weil das Untermenschen sind. Und das Buch hatte ja fast jeder, und deshalb kann keiner sagen, er wusste nicht, was Hitler wollte. Also der Krieg, der war vorprogrammiert, und darum ist er ja auch von der Großindustrie gefördert worden. Direkten Widerstand kann man das, was mein Vater getan hat, auch nicht nennen, direkten Widerstand gab es ja nicht. Man verteilte Flugblätter

54

Interview mit Wilhelm Bußmann Argumente 1/2013

Und wie habt Ihr dann Nachrichten von Eurem Vater aus dem KZ bekommen? Durch Bekannte oder durch Mithäftlinge? Erfahren haben wir wenig, das meiste erst nach dem Ende der Nazi-Zeit. Im KZ Aschendorf kannten wir niemanden. Auch nach dem Krieg konnten wir keinen Überlebenden auftun, der mit unserem Vater Kontakt gehabt hatte. In Buchenwald waren auch Bekannte aus Lünen wie der Pastor Gerhard Masshänser und der frühere Oberbürgermeister von Dortmund, Fritz Henßler, die beide mit unserem Vater bekannt waren. Mein Vater ist dann nicht direkt nach Dachau gekommen, sondern erst nach Ravensbrück. In Dachau ist er dann gestorben.


Wie habt ihr vom Tod Eures Vaters erfahren? Das lief so, dass ein SA-Mann zu uns in den Hof kam und schrie: „Frau Bußmann, Ihr Mann ist tot.“ Und dann war er weg. Später kam auch ein offizielles Schreiben, weil er ja eingeäschert worden war. Das verlief ziemlich nach Rechtsstandard. Die Beurkundung war vom Standesamt Dachau, das Lager durfte so etwas ja gar nicht machen. Dann kriegten wir seine Sachen zugeschickt. Mein Onkel hat gesagt: „Da fehlt eine Brille.“ Wir haben dann an die Verwaltung geschrieben, weil wir angenommen haben, er wäre da auch geschlagen worden, und dass die Brille deshalb weg sein könnte. Wir haben später erfahren, dass er eventuell durch die Schläge zu Tode gekommen sein könnte. Sehr kraftlos war er wohl auch. Geschrieben haben sie, er habe was am Magen gehabt. Das stimmte natürlich auch, weil sie nichts zu fressen kriegten! Aber beerdigt wurde Dein Vater in Lünen? Uns wurde mitgeteilt, dass er in Lünen beigesetzt werden kann, aber es dürften keine Todesanzeige in die Zeitung gesetzt und keine Traueranzeigen versandt werden. Meine Mutter hat die Nachricht trotzdem in Lünen in die Zeitung gesetzt. Da hatte keiner mit gerechnet. Wir haben auch, so gut es ging, Karten verschickt. Und dann haben wir uns gewundert: Es sind über 50 Beileidskarten gekommen. Die Karten kamen sowohl aus der näheren Umgebung, aber auch von weiter her, von der Ostfront zum Beispiel. Das waren überwiegend Genossen. Hier aus Lünen haben auch welche geschrieben, die keine Genossen waren, nur aus dem „Bürgertum“ ist nichts gekommen.

Auch die Beerdigung selbst stand unter Auflagen. Am Grab durften zum Beispiel keine Kränze abgelegt werden. Und trotzdem kam unsere Nachbarin mit einem großen Kranz, auch wenn es verboten war. Dann kamen auch etliche Leute, überwiegend Genossen oder die uns sehr gut kannten, und die Gestapo stand natürlich auch wie immer versteckt hinter den Sträuchern, weil die ja wissen wollten, wer so kam. So konnten sie ja sehen, wer noch zur SPD stand. Es ist aber nichts gegen uns passiert. Hat es denn nach 1945 in Lünen irgendwelche Verfahren gegen Täter oder Mitläufer gegeben? Oder wurden die ehemaligen Nazis zumindest im Alltag gemieden? Nein, gar nicht. Es waren aber auch kaum Menschen hier, die was machen konnten oder wollten. Diejenigen, die aktiv gegen die Nazis gewesen waren, wie mein Vater, die waren ja tot. Das wäre auch sinnlos gewesen. Wir wussten ja selber nicht, wer die Leute da ans Gericht geliefert hat. Wir wussten zwar, wer in der NSDAP war, aber konkret konnte man niemandem etwas nachweisen. Wichtig war uns, das Urteil gegen unseren Vater rückgängig zu machen. Und da kriegten wir schon Probleme, da er nicht als politischer Verfolgter anerkannt war, weil das Urteil ja kein politisches Urteil gewesen sei. Auch der Familie wurden Schwierigkeiten bereitet. Unsere Mutter hat auch erst keine Rente gekriegt, weil überall in allen Fachbereichen die alten Nazis noch drin saßen. Wir als SPD hatten ja keine Leute, die die Verwaltung hätten übernehmen können. Die, die es vor dem Krieg gab, waren entweder tot, alt, gefallen, oder im KZ umgebracht worden. Gerade Justiz und Verwaltung versuchten also immer, uns die Wiedergutmachung zu verwehren.

55


Letztlich wurden wir vor allem von Otto Denkert, der in Düsseldorf als Regierungsrat angefangen hatte, dabei unterstützt, die Rente für die Mutter zu bekommen und das Urteil durch das Oberlandesgericht in Hamm aufheben zu lassen. Wie war das für Deine Mutter und Dich? Im Alltag musstet ihr ja Leuten begegnen, die bei den Nazis mitgemacht hatten und eure Familie schikaniert und den Vater an die Gestapo ausgeliefert hatten. Die taten dann so, als ob gar nichts war, oder suchten sogar unsere Nähe. Es wurden ja sofort „Entnazifizierungskommittees“ gebildet, und die haben dann nachgeprüft, ob sich jemand was hat zuschulden kommen lassen oder nicht. Wir haben mit vielen auch nicht mehr gesprochen. Die Kinder kamen dann langsam wieder zusammen. Mein Onkel Karl bekam nach dem Krieg den ersten LKW, der wieder in deutscher Produktion entstand, weil er gegen die Nazis gewesen war. Und dann hattest Du noch keinen Sprit. Da musstest du Gutscheine haben. Und da saßen natürlich wieder die alten Nazis. Die wollten ja jetzt mit uns gut Freund sein. Mein Onkel konnte also Sprit kriegen, so viel er wollte. Den LKW habe ich dann gefahren, ich war 14 oder 15 Jahre und hatte keinen Führerschein, weil das ja damals nicht notwendig war. Verpflegung und Essen, und, dass das Leben wieder aufgenommen wurde, ging ja vor. Als sich das Leben normalisierte, sagte ein Mitarbeiter des Straßenverkehrsamtes, Brauner, dann zu meinem Onkel Karl: „Der Junge darf jetzt nicht mehr fahren, der muss einen Führerschein machen. Wir haben die Polizei jetzt wieder aufgebaut und fangen an zu kontrollieren“. Karl sagte: „Was machen wir denn da?“ Der Beam-

56

Interview mit Wilhelm Bußmann Argumente 1/2013

te antwortete: „Sondergenehmigung“. Und dann hat der Beamte Brauner eine Sondergenehmigung besorgt, dass ich schon ab 16 fahren durfte und nicht erst ab 18 oder 21. Dann durfte ich mit 16 Jahren den Führerschein machen. Und der Fahrlehrer, zu dem ich hinging, war natürlich auch wieder ein alter Nazi. Im „Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps“ (NSKK), wie sie sich nannten, war der gewesen. Du hast Dich nach dem Krieg sofort politisch engagiert, erst in der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ), dann bei den Falken. Zuerst waren Liesel, meine Schwester, und ich in der Freien Deutschen Jugend. Ich weiß nur, dass in der FDJ sehr viele Kommunisten waren. In Lünen sind ja sehr viele Kommunisten umgebracht worden. Also deren Kinder waren dabei. Hier aus Lünen haben die Nazis ja in der Dortmunder Bittermark an Karfreitag 1945 noch etliche Leute erschossen. Die Kommunisten wollten dann in der FDJ aber alles an sich reißen. Daher haben wir dann schon sehr bald 1945 die Falken gegründet. Wann und wie wurden die Falken genau gegründet? Mein Mitgliedsausweis nennt den 8. Dezember 1945. Wann aber die Gründung der Falken an sich erfolgte,, das kann man nicht genau sagen. Das hat sich alles ergeben. Die politischen Parteien waren ja noch verboten, und die Jugendorganisationen auch. Aber zur FDJ sagten sie damals, sie wäre schon wieder genehmigt gewesen. Ich glaube das nicht. Damals wusstest du das aber nicht. Wir wussten nur, dass wir als SPD keine Jugend gründen durften. Aktiv waren wir also schon lange wieder, bevor die SPD wieder zugelassen war.


Was waren eure Aktivitäten? Bei der FDJ trafen wir uns zu Gruppenabenden. Da waren hinter dem alten Rathaus zur Viktoriastraße hin so ein paar Baracken, da hatte sich die HJ auch getroffen, und da trafen wir uns nun zu Gruppenabenden. Da wurden Lieder gesungen, aber wenig Politik diskutiert. Vielleicht habe ich mich damals zu wenig dafür interessiert, weil ich noch zu jung war. Natürlich wurde aber besprochen, was so politisch lief. Es gab auch Theateraufführungen. Im „Südstern“, wo sich der Ortsverein Osterfeld heute noch trifft, gibt es eine Bühne. Ich schätze, dass bei den Falken so zwischen 50 und 100 Mann aktiv waren. Das wechselte aber auch immer sehr schnell. Hattet ihr denn noch Materialien aus der Zeit vorher? Wir hatten noch alte Liederbücher, und auch die anderen, die Kommunisten, die brachten was mit, also versteckt hatte jeder was. Das waren viele Liederabende, und auch Volkstanz, das war damals ja modern, oder wieder im Kommen. Grete Windau leitete den Volkstanz, die hatte Ahnung davon. Ab wann seid ihr wieder zu Zeltlagern gefahren? Wir hatten 1946 schon wieder ein großes Lager in Lüdenscheid, nur von Lünen aus, da waren bestimmt 50 oder 60 Mann dabei. Die Mutter hat gekocht. Da hatten wir eine Küche, die wir aus Lünen mitgenommen hatten. Der „raue Fritz“ Störmer aus Lünen, der auch einen LKW hatte, den er, glaube ich, von der Wehrmacht dabehalten hatte, hat uns nach Lüdenscheid gebracht. Da hatten wir einen großen hundert- oder zweihundert-Liter Kessel drauf,

und dann war das alles unter freiem Himmel. Den Platz hatte uns dann – das war ein Militärgelände – ein Genosse aus Lüdenscheid, den sie von früher noch kannten, besorgt. Das war praktisch das erste Lager. Später habe ich dann die Gruppe mit dem LKW meines Onkels gefahren. Bis zur Möhne, zur Sorpe, nach Hullern, so 30 bis 40 Mann passten da drauf. Der war voll, der Wagen. Viele der älteren, die schon vor dem Krieg aktiv waren, haben in der praktischen Arbeit wieder mitgeholfen. Unsere Mutter war auch lange mit dabei. Wie liefen die Zeltlager ab? Weil wir ja schon überwiegend wieder in der Lehre waren oder arbeiten mussten, hatten wir nicht so viel Zeit. Wir fuhren freitags oder samstags runter, meistens so für ein oder zwei Nächte. Oder Pfingsten oder Ostern, an Feiertagen also. In Nottuln waren wir in der Jugendherberge. In der Hullerner Heide war es schwieriger. Da waren die Brücken noch gesprengt. Da sind wir mit dem Zug – die Züge fuhren ja sehr früh schon wieder – bis Lüdinghausen, da die Eisenbahnbrücke über den Dortmund-Ems-Kanal gesprengt war, und von da in die Heide. Bis du dann da warst, war es schon Nacht. Da haben wir dann gepennt. Und am andern Tag konntest du fast schon wieder abhauen. Und wie die Brücke wieder fertig war, sind wir bis Ondrup gefahren, von da waren es ja nur drei vier Kilometer bis in die Heide. Gab es auch überregionale Aktivitäten? Ich bin nicht weiter mitgefahren, weil ich dann auch in der Lehre war und es zeitmäßig nicht mehr ging. Dann gab es auch Streitigkeiten mit der Führung und so weiter, so dass ich langsam aufgehört habe.

57


Einige sind aber weit gereist. In Wien waren die zum internationalen Treffen, in Schweden sind die zig Mal gewesen. Und ein paar Leute haben bis heute Kontakt dorthin. Ein paar Leute aus der Gruppe sind auch dort geblieben. Meine einzige überregionale Fahrt ging zum Arbeiterjugendtag nach Stuttgart 1947. Mit dem „Allo“-Kreuz bin ich da mit der Bahn hingefahren, weil einmal ein internationales Lager mitmachen wollte. So große Sachen kannten wir überhaupt nicht. Das Größte für uns war ja der Unterbezirk, weiter kamst du ja gar nicht raus. Und das Lager, das hast du damals alles nicht genau hinterfragt. Aber so wie ich das weiß, wurde es vom Amerikaner aufgezogen. Wir wurden verpflegt vom Amerikaner, und auch die Zelte und alles, das waren alles Armee-Sachen. Das hatte die Armee aufgebaut. Das war ein riesiges Gelände. Aber da waren tausende Leute da und es gab auch eine große Abschlusskundgebung. Das war schon bewegend. Welche Delegationen aus anderen Ländern da waren, weiß ich nicht mehr. Beflaggt war das mit allen Fahnen der Welt. Ob viele Ausländer da waren, weiß ich aber nicht genau: Ich weiß nicht, ob die sich das schon wieder erlauben konnten, denen ging es allen bald noch schlechter wie uns.

58

Interview mit Wilhelm Bußmann Argumente 1/2013

Das Gespräch führte Thilo Scholle, Stv. Vorsitzender des OV Lünen-Osterfeld, Mitglied im SPD-Stadtverbandsvorstand Lünen. Er arbeitet als Referent im Referat „Politische Koordinierung“ des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes NRW in Düsseldorf. Eine ausführliche Darstellung des Lebenswegs von Heinrich Bußmann bietet das Buch von Ludwig Bußmann: Der Kommunalpolitiker Heinrich Bußmann (1896 – 1942). Sein Leben und Wirken, Düsseldorf 1992. l


SOZIALDEMOKRATISCHE FRIEDENSPOLITIK von Dr. Ute Finckh-Krämer, Co-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung und SPD-Direktkandidatin im Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf für die Bundestagswahl 2013.

Die offizielle Position der SPD zu Militär und Rüstung war immer zwiespältig. In den sehr kurzen ersten Parteiprogrammen (Eisenacher Programm von 1869, Gothaer Programm von 1875) findet sich die Forderung, statt eines stehenden Heeres eine Volkswehr einzurichten. Das klingt nicht sehr pazifistisch, hieß im damaligen Kontext jedoch, dass die SPD davon ausging, dass dadurch zwischenstaatliche Kriege wirksam verhindert würden, weil sie nicht im Interesse der Völker sind. Im Erfurter Programm von 1891 finden sich zusätzlich die Forderungen: „Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“14 Auf dem Internationalen Sozialistenkongress am 24. und 25. November 1912 in Basel, auch Friedenskongress der Zweiten Internationale genannt, wurde unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Sozialde-

mokratInnen ein Friedensmanifest verabschiedet. Darin heißt es: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Bureaus, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäss ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalisti-

14

Zitiert nach URL: http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/ deutsch/spd/1891/erfurt.htm [28.3.2013].

59


schen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“15 Von den Kriegskrediten zum Völkerbund Die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg am 4. August 1914 stand allerdings in scharfem Widerspruch zu diesem Friedensmanifest. Zum ersten Mal in der Geschichte der SPD gab es eine Mehrheit, die sich für die Unterstützung von Krieg und Militär einspannen ließ und eine Minderheit, die fest zu ihrer antimilitaristischen bzw. pazifistischen Grundüberzeugung stand. Zu dieser Minderheit gehörten Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Eduard Bernstein, aber auch der Parteivorsitzende Hugo Haase, der sich gegen seine eigene Überzeugung überreden ließ, die Zustimmung zu den Kriegskrediten im Reichstag zu begründen. In den folgenden Kriegsjahren wuchs die Zahl der Kriegsgegner in der Fraktion an, was zu Ausschlüssen der Kriegsgegner aus der Fraktion und zur Gründung der USPD führte. Im Görlitzer Programm von 1921, das sichtlich unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges geschrieben wurde, findet sich ein ganzer Abschnitt mit dem Titel „Völkerbeziehungen und Internationale“. Darin heißt es: „Internationaler Zusammenschluß der Arbeiterklasse auf demokratischer Grundlage als beste Bürgschaft des Friedens. Ein Völkerbund, der kein die Völkerbundsatzungen anerkennendes Volk ausschließt und in dem die Parlamente aller Länder durch Delegierte nach der Stärke der Parteien vertreten sind. Ausbau des Völkerbundes zu einer wahrhaften Arbeits-,

60

Rechts- und Kulturgemeinschaft. Entscheidung aller internationalen Streitigkeiten durch ein internationales Gericht. (…) Internationale Abrüstung unter Garantie des Völkerbundes, Herabsetzung der Wehrmacht in allen Staaten auf das Maß, das die innere Sicherheit der Staaten und die Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen des Völkerbundes erfordert. (…) Revision des Friedensvertrages von Versailles im Sinne wirtschaftlicher Erleichterung und Anerkennung der nationalen Lebensrechte.“16 Dieses Programm galt jedoch nur vier Jahre. Im Heidelberger Programm von 1925 wird unter dem Titel „Internationale Politik“ weniger scharf formuliert: „Sie [die sozialdemokratische Partei Deutschlands] fordert die friedliche Lösung internationaler Konflikte und ihre Austragung vor obligatorischen Schiedsgerichten. (…) Sie verlangt die internationale Abrüstung. (…) Sie fordert die Demokratisierung des Völkerbundes und seine Ausgestaltung zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik.“17 Friedenspolitik in der Bundesrepublik Durch Verbot und Verfolgung in der NS-Diktatur war im Zweiten Weltkrieg klar, dass die SPD und ihre Mitglieder aus der Zeit der Weimarer Republik allesamt auf der Seite der Kriegsgegner standen.

15

16

17

Sozialdemokratische Friedenspolitik Argumente 1/2013

URL: http://www.tageswoche.ch/attachment/2076/Quellenmaterial%20Friedenskongress.pdf [28.3.2013]. URL: http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1921/goerlitz.htm [28.3.2013]. URL: http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1925/heidelberg.htm [28.3.2013].


Dementsprechend war die SPD nach Gründung der Bundesrepublik klar gegen eine Wiederbewaffnung und beteiligte sich an der „Kampf dem Atomtod!“-Bewegung. Als allerdings nach über 30 Jahren das Heidelberger Programm durch das Godesberger Programm von 1959 abgelöst wurde, hatten die „Realpolitiker“ vier Jahre nach Gründung der Bundeswehr bereits wieder erheblichen Einfluss. Daher finden sich in diesem Programm unter dem Titel „Landesverteidigung“ einerseits ein grundsätzliches Bekenntnis zur Landesverteidigung, andererseits Sätze wie: „Die Sozialdemokratische Partei fordert die völkerrechtliche Ächtung der Massenvernichtungsmittel auf der ganzen Welt. Die Bundesrepublik Deutschland darf atomare und andere Massenvernichtungsmittel weder herstellen noch verwenden. Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Einbeziehung ganz Deutschlands in eine europäische Zone der Entspannung und der kontrollierten Begrenzung der Rüstung, die im Zuge der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit von fremden Truppen geräumt wird und in der Atomwaffen und andere Massenvernichtungsmittel weder hergestellt noch gelagert oder verwendet werden dürfen.“ Und zusätzlich beinhaltet es ein klares Bekenntnis zur Kriegsdienstverweigerung: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands stellt sich schützend vor jeden Bürger, der aus Gewissensgründen den Dienst mit der Waffe oder an Massenvernichtungsmitteln verweigert.“ Die SPD trat also von diesem Zeitpunkt an gleichzeitig für die Existenz der Bundeswehr und für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein und akzeptierte de facto, dass trotz der „Kampf dem Atomtod!“-Proteste inzwischen US-ame-

rikanische Atomwaffen in Deutschland stationiert worden waren. Sie verweigerte sich allerdings mehrheitlich dem harten Kalten-Kriegs-Kurs der Union. Und Teile der Partei, insbesondere die Jusos, nahmen in den folgenden Jahren an den Protesten gegen den Vietnamkrieg teil. Mit der sozial-liberalen Koalition 1969 wurde die Entspannungs- bzw. Ostpolitik Willy Brandts möglich, für die er 1971 zu Recht den Friedensnobelpreis erhielt. Es folgte ab 1973 die aktive Beteiligung am so genannten KSZE-Prozess (KSZE = Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), der auch von Willy Brandts Nachfolger Helmut Schmidt aktiv unterstützt wurde (Schmidt unterzeichnete für Deutschland am 1. August 1975 die Schlussakte von Helsinki). Aber Bundeswehr, NATO-Mitgliedschaft und die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf deutschem Boden wurden von der Mehrheit der Partei nicht mehr in Frage gestellt, und so hatte diese Mehrheit zunächst nichts dagegen, dass Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss vom 12.12.1979 mit herbeiführte. Ein Teil der Partei fühlte sich jedoch nach wie vor der Anti-Atomwaffenbewegung oder der kirchlichen Friedensbewegung verbunden, was zu heftigen parteiinternen Auseinandersetzungen führte. In Organisationen wie der Gustav-Heinemann-Initiative, im legendären Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung, der die großen Demonstrationen in Bonn im Herbst 1981 und Sommer 1982 organisierte, bei gewaltfreien Blockaden an Atomwaffenstandorten, bei der Menschenkette von Stuttgart nach Ulm – überall waren SozialdemokratInnen dabei. Darunter Prominente wie die ehemalige Juso-Bundesvorsitzende Heide-

61


marie Wieczorek-Zeul, wie Erhard Eppler, Herta Däubler-Gmelin oder Henning Scherf. Andere verließen allerdings die SPD und wechselten in die neu gegründete Grüne Partei, die mit dem Slogan „ökologisch – basisdemokratisch – gewaltfrei – sozial“ antrat. Jusos und die Wehrpflichtfrage Bei den Jusos waren spätestens Mitte der 1970er Jahre die Kriegsdienstverweigerer in der Überzahl gegenüber denen, die ihren Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ableisteten. Dementsprechend wurden die Jusos Mitglied in der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V. (später kurz: Zentralstelle KDV). Die Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer hatten den – von der Bundesregierung wohl nicht direkt beabsichtigten – Effekt, dass Kriegsdienstverweigerer sich intensiv mit möglichen Alternativen zum Militär beschäftigen mussten. Dazu gehörte das Konzept der Sozialen Verteidigung, das darlegte, wie mit gewaltfreien Mitteln Widerstand gegen einen Putsch von innen oder einen Angriff von außen geleistet werden kann. Bei der Entwicklung dieses Konzeptes standen unter anderem der erfolgreiche, von Gewerkschaften und Sozialdemokratie getragene Widerstand gegen den Kapp-Putsch 1920 und der Widerstand der tschechischen Bevölkerung gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag 1968 Pate. Als 1988 in Minden/Westfalen ein bundesweiter Kongress unter dem Titel „Ohne Waffen – aber nicht wehrlos“ stattfand, waren die Jusos – und etliche ältere SozialdemokratInnen – dabei; ebenso bei der Gründung des Bundes für Soziale Ver-

62

teidigung im Frühjahr 1989. Konsequenter Weise fanden sich im „Berliner Programm“ vom 20. Dezember 1989, das das Godesberger Programm ablöste, in einem längeren Kapitel mit dem Titel „Frieden in gemeinsamer Sicherheit“ folgende Sätze: „Wir achten das Engagement von Pazifisten, die für die Utopie einer gewaltfreien Völkergemeinschaft einstehen. Sie haben einen legitimen Platz in der SPD.“18 Die SPD zwischen ziviler Krisenprävention und Auslandseinsätzen Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Paktes am 1. Juli 1991 sah es zunächst so aus, als sei die Friedensbewegung fast am Ziel angelangt. Die NVA wurde aufgelöst, die Bundeswehr drastisch verkleinert. Als allerdings in den 1990er Jahren nicht nur in zahlreichen Ländern der ‚Dritten Welt‘, sondern auch in Jugoslawien Konflikte zu Bürgerkriegen eskalierten, begann die Debatte darum, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen die Bundeswehr in Auslandseinsätze geschickt werden darf. Diese Debatte gewann innerhalb der SPD an Schärfe, als kurz nach dem rot-grünen Wahlsieg 1998 über die Teilnahme an einem eventuellen Einsatz im Kosovo entschieden wurde – und dieser Krieg dann tatsächlich im Frühjahr 1999 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats unter US-amerikanischer Führung und mit deutscher Beteiligung begonnen wurde. Wieder gab es Austritte von friedenspolitisch engagierten GenossInnen (für die die Grünen inzwischen allerdings keine Alternative mehr

18

Sozialdemokratische Friedenspolitik Argumente 1/2013

URL: http://www.spd-schleswigholstein.de/docs/1118733935_programmdebatte_grundsatzprogramm.pdf [28.3.2013].


waren). Auch die Zustimmung der Abgeordneten zur Beteiligung an der „Operation Enduring Freedom“ am 16. November 2001, die von Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Hilfe einer Vertrauensfrage erzwungen wurde, führte zu heftigen Diskussionen und zu Parteiaustritten. Andererseits stieß es auf große Zustimmung in der Partei und unter den WählerInnen, als Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 verkündete, dass er im Falle seiner Wiederwahl keine Beteiligung der Bundeswehr an einem eventuellen Krieg der USA im Irak zulassen würde. Am 15. Februar 2003 demonstrierten 500.000 Menschen in Berlin gegen den bevorstehenden Irakkrieg – und wieder waren viele SPD-Mitglieder dabei. Parallel zur Debatte um Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden von der rotgrünen Regierung konkrete friedenspolitische Projekte umgesetzt: Die Einführung des Zivilen Friedensdienstes als Fachdienst der Entwicklungszusammenarbeit 1999, die Unterstützung konkreter friedenspolitischer Projekte aus dem Bundeshaushalt durch das „Förderprogramm zivik“ (zivik = Zivile Konfliktbearbeitung), die Gründung des „Zentrum für internationale Friedenseinsätze“ (ZIF), das ebenfalls aus dem Bundeshaushalt finanziert wird, die Verabschiedung des ressortübergreifenden Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ am 12. Mai 2004.19 Darin wurde ressortübergreifend dargestellt, mit welchen Maßnahmen die Eskalation von Konflikten zu massiver Gewalt oder Krieg/Bürgerkrieg verhindert werden, in eskalierten Konflikten zur Deeskalation beigetragen oder nach Ende der heißen Konfliktphase der Friedensprozess unterstützt werden kann. Allerdings wurde dafür wenig Geld

zur Verfügung gestellt, so dass weiterhin de facto nicht die Prävention, sondern die Reaktion und nicht das zivile, sondern das militärische Handeln die Politik bestimmte – auch in der auf Rot-Grün folgenden Großen Koalition und im Abstimmungsverhalten der SPD-Abgeordneten nach der verlorenen Bundestagswahl 2009. In Afghanistan sah es zunächst nach einem schnellen Sieg über die Taliban aus – gut 12 Jahre später ist Ernüchterung eingekehrt. Während die einen sich in ihrer Einschätzung bestätigt sehen, dass Militär keinen Frieden schaffen kann, verweisen die anderen auf militärische Fehler bzw. darauf, dass es an Begleitung durch zivile Aktivitäten des Staatsaufbaus gefehlt habe. Daraus ergab sich eine intensive Auseinandersetzung um „zivil-militärische Zusammenarbeit“ oder „vernetzte Sicherheit“ inner- und außerhalb der SPD. Und die Frage, wie sozialdemokratische Friedenspolitik konkret aussehen könnte, wurde neu aufgeworfen. Auf Anregung der Bundestagsabgeordneten Edelgard Bulmahn wurde daher Ende 2011 ein Arbeitskreis „Zivile Krisenprävention“ bei der Friedrich-Ebert-Stiftung eingerichtet, in dem gut 30 Personen intensiv darüber diskutierten, wie die „Eckpunkte einer Strategie für Friedensförderung und Konflikttransformation“ aussehen könnten. Im Februar 2013 wurde von der FES ein Papier dazu vorgelegt20, in dem dargestellt wird, was benötigt wird, um „Friedensbemühungen

19

20

Ist auf der Webseite des Auswärtigen Amtes zu finden, ebenso wie die bisher drei Umsetzungsberichte. URL: http://www.fes.de/GPol/pdf/20120220_Eckpunktepapier-friedenspolitik.pdf [28.3.2013].

63


umfassend, solidarisch und nachhaltig zu unterstützen.“21 Weiter heißt es in dem Papier: „Friedensförderung und Konflikttransformation sollen als strategische Querschnittsaufgaben der deutschen Politik – insbesondere der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik – verankert werden. Die Strategie hat hierzu Grundlagen, Interessen, Ziele und Prioritäten deutschen Handelns zu bestimmen und Sorge dafür zu tragen, dass die erforderlichen Ressourcen bereitgestellt werden.“ Und es wird konkret dargestellt, welche finanziellen Mittel dafür in der kommenden Legislaturperiode benötigt werden. Auch 150 Jahre nach Gründung der SPD gibt es also immer wieder neue Impulse für ein friedenspolitisches Profil der Partei. Hoffen wir, dass diese Impulse nach der Bundestagswahl 2013 in Regierungshandeln umgesetzt werden können. l

21

64

Sozialdemokratische Friedenspolitik Argumente 1/2013

Vgl. Einleitung des Papiers.


DAS KLEINE EINMALEINS DER SPD: FREIHEIT, GERECHTIGKEIT UND SOLIDARITÄT von Simone Burger, Vorsitzende des Kreisverbands München des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB

Ohne sie geht nichts in der SPD. Sie bilden das Fundament, den Maßstab, den Leitstern der Politik der Sozialdemokratie. Sie sind die Kriterien zur Beurteilung der politischen Wirklichkeit. Und doch: Im Eisenacher-, Gothaer-, Erfurter-, Görlitzer- und Heidelberger Programm wird man sie vergeblich suchen. Auf der Traditionsfahne des ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein) von 1873 prangt das Motto der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Einigkeit macht stark“. Natürlich spielten die Ziele Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität immer eine wichtige Rolle in der SPD. Allerdings hielt vor 1945 ein anderer Grundkonsens die Partei zusammen: die Überwindung der herrschenden Verhältnisse, die Überwindung der Klassengesellschaft mit dem Ziel, eine Gesellschaft ohne Klassen zu schaffen.

Den zentralen Platz, den die Grundwerte heute in der SPD einnehmen, haben sie erst mit dem Godesberger Programm von 1959 erhalten. In Godesberg verabschiedete sich die Partei endgültig von der Revolution und vom Glauben, dass der Fortschritt automatisch kommt. Der demokratische Sozialismus soll durch den schrittweisen Umbau der Gesellschaft, durch Reformen verwirklicht werden. Für so ein Konzept brauchte es Leitplanken: die Grundwerte. Wie radikal darf es denn sein? Grundsätzlich sind die Grundwerte nicht die Antwort auf eine Frage, sondern der Ausgangspunkt für jede Debatte. Ist der Vorschlag gerecht und solidarisch, führt er zu mehr oder weniger Freiheit? Die Grundwerte sind der Maßstab für eine bessere Ordnung. Was gleich zur ersten Frage führt: Was verstehen wir unter einer besseren Ordnung? Wie sieht dieser

65


demokratische Sozialismus denn aus? Und kann dieser innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung verwirklicht werden? Kann es Gerechtigkeit geben in einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit aufgebaut ist, in der es Gewinner und Verlierer gibt, weil es Gewinner und Verlierer geben muss? Viele Jusos haben diese Frage mit „nein“ beantwortet und Reformen eingefordert, welche die heutige Gesellschaft in ihren Grundfesten verändern. In der Partei gab es hier immer kontroverse Diskussionen, zuletzt bei der Frage, wie die Krise auf den Finanzmärkten zu lösen ist. In den Reden wurde oft davon gesprochen, das Casino auf den Finanzmärkten zu schließen. Dennoch gab es wenige Diskussionen darüber, was die Finanzmärkte leisten und welche Rolle sie spielen sollen. Man muss Grundsatzdebatten nicht schon zum Frühstück führen. Aber im aktuellen Erneuerungsprozess der SPD wurden viele Themen neu geklärt: Was fordert die SPD zur Rente? Wie sieht unser Konzept zur Bürgerversicherung genau aus? Wie stehen wir zu Hartz IV? Welche Reformen während der Regierungszeit müssen wir verändern? Diese Diskussion hat der SPD gut getan. Dennoch merkt man an der einen oder anderen Stelle, dass eine Diskussion über unsere Grundsätze fehlt. Gibt es hier noch den Konsens, den wir brauchen? Wie sieht zum Beispiel das Menschenbild der SPD aus und welche Rolle spielt es in der Praxis? „Die gleiche Würde aller Menschen ist Ausgangspunkt und Ziel unserer Politik. Menschen tragen verschiedene Möglichkeiten

66

in sich. Sie sind weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt. Sie sind vernunftbegabt und lernfähig. Daher ist Demokratie möglich. Sie sind fehlbar, können irren und in Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Jeder Mensch trägt Verantwortung für sein Leben. Niemand kann oder soll sie ihm abnehmen. Menschen dürfen nie zum Mittel für irgendwelche Zwecke erniedrigt werden, weder vom Staat noch von der Wirtschaft. Wir widersprechen jedem politischen Allmachtsanspruch über die Menschen. Wenn Politik selbst Glück und Erfüllung verspricht, läuft sie Gefahr, in totalitäre Herrschaft abzugleiten.“ (Hamburger Programm) Dieses sehr positive Menschenbild fand sich in der Diskussion um Hartz IV selten wieder. Die Diskussion um Hartz IV gipfelte in dem Satz von Franz Müntefering „Wer nicht arbeitet soll nicht essen.“ Damit wurde versucht, Menschen im Niedriglohnsektor gegen Hartz IV-Empfänger auszuspielen. Hier auf der einen Seite die Hilfeempfänger, die nicht arbeiten (können), und dort auf der anderen Seite die Menschen, die arbeiten und von ihrem Lohn nicht Leben können, und in weiten Teilen der Partei und der Öffentlichkeit die fehlende Einsicht, dass es nicht gerecht ist, wenn es jemandem noch schlechter geht als mir. Die gleiche Würde aller Menschen war in dieser Diskussion nicht immer zu erkennen. Auch nicht die Frage, ob es gerecht ist, Hartz IVEmpfängerInnen einem stärkeren Kontrollsystem zu unterwerfen als jeden Steuerhinterzieher und den meisten Unternehmen. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber Hartz IV-EmpfängerInnen widersprach dem Menschenbild der SPD fundamental.

Das kleine Einmaleins der SPD: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität Argumente 1/2013


Verbunden mit den Grundwerten war auch immer die Diskussion darüber, wie schnell und wie weit wir vorwärts gehen sollen. Wollen wir lieber den Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach? Kommen wir in Trippelschritten wirklich vorwärts? Diese Frage bewegte die Partei vor allem direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, nach der Abdankung der Monarchie und zu Zeiten der Räterepubliken. War dies das zeitliche Fenster, eine andere Gesellschaft zu verwirklichen, oder sollte man alle Abkommen, die man in dieser Zeit treffen kann, mitnehmen? Die sozialdemokratischen Gewerkschaften zu dieser Zeit beantworten die Frage ziemlich schnell, indem sie am 15. November 1918 das Stinnes-Legien-Abkommen abschlossen. In diesem Abkommen erkannten die Arbeitgeber die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmer an, Arbeitsbedingungen sollten durch Kollektivverträge (Tarifverträge) geregelt und Arbeiterausschüsse (Betriebsräte) gegründet werden. Diese Vereinbarung prägt – trotz vieler Rückschläge, die bald folgten – bis heute das Wirtschaftsleben. Dennoch: Mit diesem Abkommen schlossen die Gewerkschaften das Fenster dahingehend, grundsätzlich über Eigentum in unserer Gesellschaft zu diskutieren. Das war der Preis, den die Linke dafür zahlen musste. Die Arbeitgeber waren zu diesem grundsätzlichen Schritt nur bereit, da sie die Sozialisierung ihrer Fabriken und ihres Eigentums fürchteten. Mit dem Stinnes- Legien-Abkommen erkannten die Gewerkschaften die Eigentumsverhältnisse an. Und sie haben gemeinsam mit der Wirtschaft eine Entscheidung getroffen, die eigentlich dem Primat der Politik zustand.

Dieser nur sehr kurze Ausschnitt der Geschichte zeigt deutlich, wie schwierig diese Entscheidungen sind und welche Folgen sie haben können. Vom Kompromiss „Schließen wir nen kleinen Kompromiß! Davon hat man keine Kümmernis. Einerseits – und andrerseits – so ein Ding hat manchen Reiz ...“ (das Lied vom kleinen Kompromiss – Kurt Tucholsky 1919) Kein Politiker, keine Bürgerin, und schon gar kein radikaler junger Mensch mag den Kompromiss und dennoch bedingt eine Konstruktion wie der demokratische Sozialismus mit seinen Grundwerten strategische Entscheidungen. Wo werden Schwerpunkte gesetzt? Was ist unser zentraler Ansatzpunkt um die Gesellschaft zu verändern? In diesem Teil des Artikels soll es darum gehen, warum man sich nicht durchwursteln kann und warum man am Ende nicht mit einem „Kompromiss“ dastehen sollte. Auf den ersten Blick legt ein Konzept wie das der Grundwerte nahe, dass man sich durchwursteln muss. Dass man jeden Tag aufs Neue definiert: Was ist gerecht, was ist Freiheit, was ist solidarisch? Das würde aber bedeuten, dass wir Politik in einem Hamsterrad machen. Wir gehen immer nach vorn, ohne dass wir uns von der Stelle bewegen. Deshalb sind die Grundwerte nicht nur der Maßstab der Politik, sondern auch die Kriterien, wie wir die Gesellschaft beurteilen. Eine radikale Kritik der Gesellschaft, in der wir leben, muss der Ausgangspunkt jeder sozialdemokratischen Gesellschaft sein. So ist es innerhalb der SPD vollkommen unbestrit-

67


ten, dass die Vermögensverteilung in Deutschland zutiefst ungerecht ist. Es gibt aber verschiedene Ansatzpunkte dieses Problem zu lösen und unterschiedliche Schwerpunkte, was als erstes angegangen werden muss: Sind es die Boni und Einkommen der Manager, die exorbitant angestiegen sind? Müssen diese gesetzlich begrenzt werden, weil es eine Frage der Gerechtigkeit innerhalb eines Unternehmens ist? Oder brauchen wir ein gerechteres Steuersystem, in dem die „Stärkeren“ wirklich ihren Beitrag leisten? Denn selbst wenn Manager weniger verdienen, dann ist immer noch nicht gesichert, dass sie über Steuern ihren gerechten Beitrag zur Gesellschaft leisten. Außerdem kommen die Kürzungen der Managergehälter nicht den anderen Mitarbeitern zu Gute, sondern sie steigern den Profit der Eigentümer. Damit ändert sich nichts an der ungerechten Einkommensverteilung. Was soll im Mittelpunkt der Politik der SPD stehen? Wofür soll die SPD all ihre Kraft einsetzen?

Wie geht es weiter? Solange es Diskussionen über die Auslegung der Grundwerte und Positionen gibt, ist das gut. Nichts ist tödlicher für die Verwirklichung der Grundwerte als eine Friedhofsruhe. l

Aber inzwischen ist schon längst im Kopf eines jeden die Frage aufgetaucht: Kann man nicht Beides machen? Ja und Nein. Beide Vorschläge widersprechen sich nicht. Beide Vorschläge zielen darauf ab, mehr Gerechtigkeit zu verwirklichen. Aber im Zweifel muss Politik einschätzen können, welches Projekt wichtiger ist, welches Projekt zu mehr Gerechtigkeit führt und welches Projekt ein Nebenschaukriegsplatz ist. Drückt sich Politik vor dieser oft sehr schwierigen Entscheidung, dann landet man am Ende bei einem „Kompromiss“, der wenig erreicht und viele Nebenwirkungen beinhaltet.

68

Das kleine Einmaleins der SPD: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität Argumente 1/2013


DIE KONSTANTE DER PARTEIGESCHICHTE IST DER STREIT von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Das Jahr 2013 ist für die deutsche Sozialdemokratie ein Jahr der Jubiläen. Die Partei feiert nicht nur ihren 150sten Geburtstag, sondern zu den runden Jahrestagen, wie zum Beispiel der Tod August Bebels oder die Geburt Willy Brands, jährt sich auch zum 80sten Mal der Beschluss zu Hitlers Ermächtigungsgesetz. Dies alles bietet viel Anlass, sich mit der Geschichte der ältesten Partei Deutschlands zu beschäftigen, sich die eigenen Traditionen und Werte vor Augen zu führen und sich ihrer Aktualität zu vergewissern. Es gibt zahlreiche Aktivitäten aller Gliederungen der Partei und vieler anderer Initiativen. Das Gedenken um des bloßen Gedenkens willen, mit meist sehnsüchtigen Blicken zurück, sollte dabei aber nicht der Anspruch sein. Der Blick in die Geschichte ist von großer Bedeutung, um den eigenen aktuellen Standpunkt zu begreifen und sich auf Zukunftsvorstellungen hin zu orientieren.

Zu jeder Zeit bezogen sich alle SozialdemokratInnen auf die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, und Solidarität (teilweise stand dort anstatt der Gerechtigkeit auch Gleichheit). Es ging um die Emanzipation, die Ertüchtigung des Einzelnen, um gemeinsam eine besserer Gesellschaft zu erreichen. Was jedoch zu verschiedenen Zeiten verschiedene Gruppen und einzelne Parteimitglieder genau unter den Grundwerten verstanden und welche Forderungen sie daraus ableiteten, war und ist auch immer unterschiedlich. Denn auch die Sozialdemokratie und erst recht die Arbeiterbewegung wurde gespeist aus den verschiedensten Erfahrungen und Überzeugungen. Somit ist die Geschichte der SPD auch immer eine Geschichte der Auseinandersetzung innerhalb der Partei und der Gesellschaft. Man darf unsere Historie nicht als gradlinige Entwicklung betrachten und erstrecht nicht als immer logische Konsequenz und alternativlos. Die Sozialdemokratie hat die Geschichte endscheidend beeinflusst, Brüche mitgestaltet und ertragen. Sie stand dabei aber auch im-

69


mer vor der Frage, wie dies geschehen sollte, und nie gab es nur die eine Meinung in der Partei. Doch leider kommt dies in vielen Aktivitäten der Partei in diesem Jahr des Gedenkens nicht zum Ausdruck. Sicherlich ist Bundestagswahljahr, in dem man den Stolz auf die eigene Geschichte nutzen möchte und die „Unfehlbarkeit der Sozialdemokratie“ in den Vordergrund stellt, aber das genügt aus meiner Sicht nicht. Der Stolz und die Identifikation der Sozialdemokratie als Ganzes entspringen eben nicht aus einzelnen Positionen oder Handlungen, sondern aus der Gemeinschaft derjenigen, die um den richtigen Weg in eine bessere Gesellschaft ringen. Dabei gibt es viele Konstanten und Ansätze, die sich durch 150 Jahre unserer Geschichte ziehen, aber mindestens ebenso viele Brüche und Neuausrichtungen. Dies ist auch notwendig, ohne dies wäre das Überleben unserer Partei nicht möglich gewesen, denn – frei nach Willy Brandt – jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten. Wenn man nun aber die vielen Publikationen und Festreden anlässlich des 150sten Geburtstages betrachtet, fällt auf, dass es zumeist um die bloße Organisationsgeschichte geht. Ich möchte daher den Versuch unternehmen, einige Brüche und entscheidende Momente für die Sozialdemokratie aufzugreifen und eben keinen lückenlosen Ergebnisbericht abliefern, sondern die jeweiligen Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Standpunkten darstellen. Denn wie auch heute, gab es nie die Situation, dass alle SozialdemokratInnen auf der Seite der Beschlüsse und Handlungen der Parteispitze standen. Aber genau dies ist eben auch elementarer Bestandteil der

70

sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Dabei kommt man immer wieder zu den gleichen grundsätzlichen Fragen – Wie kann die Gesellschaft verändert werden? Mit wem und für wen machen wir Politik? Wie stehen wir zu Krieg und Frieden? Immer wieder wurden die Differenzen so groß, dass es zu Spaltungen der deutschen Arbeiterbewegung gekommen ist. Unterdrückt im Kaiserreich Die großen inhaltlichen Auseinandersetzungen beginnen schon in der Gründungsphase der organisierten Sozialdemokratie. Lassallianer gegen Eisenacher, Dogmatiker gegen Revisionisten, oder das Verhältnis zu den Gewerkschaften in der Massenstreikdebatte. Im Kern steckte hinter allen diesen Auseinandersetzungen die Frage nach der Erreichung des Sozialismus. Um diese Diskussionen auch heute noch verstehen zu können, muss die damalige Situation beachtet werden. Die gescheiterte Revolution von 1848, die Gründung des deutschen Reiches, Monarchie und Industrialisierung. Am 23.05.1863 wurde in Leipzig der ADAV und am 07.08.1869 in Eisenach die SDAP gegründet. Aus diesen entstand auf dem Gotharer Parteitag im Mai 1875 die SAP. Obwohl die Partei bei Wahlen nur geringe Stimmenzahlen erringen konnte, wuchs sie stetig und wurde von den Herrschenden als Gefahr für ihre Stellung erkannt, so dass durch die sogenannten Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 ein öffentliches in Erscheinung treten verboten wurde. Trotzdem wurde sie auch unter den Sozialistengesetzen zur mitgliederstärksten Partei im Reich. Nach dem Ende der Repressionen blühte die Sozialdemokratie immer weiter auf und gab sich endgültig den Namen Sozialdemokratische Partei Deutsch-

Die Konstante der Parteigeschichte ist der Streit Argumente 1/2013


lands. In dieser Zeit setzte sich eine revolutionäre, marxistisch orientierte Linie durch, die sich auch im Erfurter Programm widerspiegelte und vor allem auf Klassenkampf ausgerichtet war. Diese Parteidoktrin wurde dann um die Jahrhundertwende herum im Revisionismusstreit angegriffen. Dabei stand im Vordergrund die Frage, ob der Kapitalismus durch eine große Revolution oder allmähliche Reformen überwunden werden konnte. Dahinter verbarg sich aber auch ein Streit über die Bewertung der aktuellen Situation und die zu erwartende Entwicklung des Kapitalismus. Gilt es sich auf den historischen Augenblick vorzubereiten, an dem der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zusammenbricht, oder müssen die Lebensverhältnisse der Arbeiter immer weiter und weiter verbessert werden? In der theoretischen Debatte setzten sich bei diesem immer wiederkehrenden Streit bis in die Mitte der 1920er Jahre die Vertreter des orthodoxen Marxismus durch, obwohl vielerorts eine andere politische Praxis vollzogen wurde. Daran schloss sich der nächste grundlegende Streit, die Massenstreikdebatte, an. Im Kern handelte es sich dabei um die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften, wer einen Massenstreik ausrufen konnte und wofür dieser als Kampfmittel eingesetzt werden sollte. Konkret ging es darum, ob der Generalstreik einzusetzen war, um ein gleiches Wahlrecht für alle durchzusetzen. Die Partei fand zunächst über alle Flügel hinweg einen Kompromiss, der dies beinhaltete, aber diese Position wurde von der Gewerkschaftsseite abgelehnt. Man einigte

sich dann nach langem und zähem Streit 1906 mit dem Mannheimer Abkommen. Dies beinhaltete, dass politische Aktionen ohne aktiven Rückhalt in den Gewerkschaften keine Aussicht auf Erfolg haben könnten, er also nur von den Gewerkschaften selbst initiiert werden könne. Damit hatte nicht die Partei, sondern die Gewerkschaftsführung in der Massenstreikfrage das letzte Wort. Dies bedeutete faktisch eine klare Absage an einen offensiven politischen Massenstreik und eine Emanzipation der Gewerkschaften von der Parteiführung – keine Trennung, aber unabhängige Organisation. Aus dem Krieg in die Demokratie Was in vielen Debatten zuvor oft vor allem Theorie und Haltung der Sozialdemokratie betraf, wurde im Jahr 1914 zu einer großen Schicksalsfrage – Zustimmung oder Ablehnung der Kriegskredite. Noch 1907 und wiederholt 1912 bekannte sich die internationale Arbeiterschaft zur Internationalen Solidarität und zur Ablehnung nationaler Kriege. Doch sowohl in Deutschland, als auch in anderen europäischen Ländern schwenkten die Arbeiterparteien auf den Kriegskurs ein. Bei der Abstimmung im Reichstag verweigerte einzig Karl Liebknecht die Zustimmung zu den Kriegskrediten. In Reihen der Sozialdemokratie gab es viele verschiedene Gründe für diesen Umschwung: vom Verfallen in patriotische Parolen, dem Glauben an einen notwendigen Verteidigungskrieg bis hin zu der Überzeugung, dadurch neue Rechte und Vorteile für die Arbeiterschaft erreichen zu können. Erst mit den zunehmenden Greul des Krieges wuchs wieder eine ablehnende Haltung. Die Auseinandersetzung zwischen Kriegsgegnern und -befürwortern

71


spitzte sich immer weiter zu, bis es zur Spaltung in MSPD und USPD kam. Dabei fällt auf, dass alle Wortführer der früheren Auseinandersetzungen über alle Flügel hinweg, von Bernstein bis Luxemburg, den Weg in die USPD wählten. Dabei kam es in Teilen des Reiches, wie zum Beispiel in Berlin, Sachsen und Braunschweig, zu einer Dominanz der USPD. Über die Gründung der Weimarer Republik und deren Ausgestaltung differenzierte sich die Arbeiterbewegung weiter aus. Aus der USPD löste sich der Spartakusbund, aus dem schließlich die KPD entstand, und im Laufe der Jahre 1921/22 spalteten sich die Mitglieder der USPD erneut und vereinigten sich mit der KPD oder kehrten zur SPD zurück. In zahlreichen Auseinandersetzungen verschärfte sich die Situation zwischen KPD und SPD, bis auf wenige regionale Koalitionsversuche verfestigte sich die unversöhnliche Spaltung der Arbeiterbewegung immer mehr und schlug auch immer wieder in blanken Hass aus. Die Auseinandersetzungen in der Zeit der Weimarer Republik, sowohl innerhalb der Gesellschaft, als auch in der Arbeiterbewegung und in der SPD selbst, umfassten alle Bereiche der Politik, von den schon früher diskutierten Grundsatzfragen bis zu kleinteiligen Alltagspolitik. Auch daraus resultierte die Ohnmacht, der Machtergreifung Hitlers nichts Wirksames entgegensetzen zu können. Es bleibt die historische Situation, aus der noch heute die Sozialdemokratie ihre Identifikation und ihren Stolz bezieht, dem „Nein“ zum Ermächtigungsgesetz, im Reichstag von Otto Wels eindrucksvoll vorgetragen. Dem folgte Verbot, Verfolgung, Folter und Ermordung durch das NS-Regime, aber auch Widerstand.

72

Von der Klassenpartei zur regierenden Volkspartei Die Nachkriegsjahre und Frühphase der BRD waren zwar nicht Konfliktfrei, aber doch geprägt von den Bestrebungen des Wideraufbaus der Partei, zumindest im Westen. In der Ost-Zone wurde die SPD unter Druck der Sowjets mit der KPD zur SED zwangsvereinigt, aber noch bis 1963 bestand zumindest in Ost-Berlin eine organisierte SPD. Mit den ausbleibenden Wahlerfolgen wuchs der Druck innerhalb der SPD, sich zu reformieren. Noch einer Anpassung der Organisationsstruktur folgte die prägende Debatte über eine neue Programmatik – das Godesberger Programm. Damit wurde der Wandel von Klassenpartei zur Volkspartei vollzogen. Dabei waren die Inhalte weit umstrittener, als es das Ergebnis der Abschlussabstimmung vermuten lässt. Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen erarbeiteten Gegenentwürfe zum Vorschlag des Parteivorstandes. Die entscheidenden Unterschiede zur früheren Programmatik waren weniger in den Zielen, als vielmehr in ihrer Herleitung verändert. Ins Zentrum wurde die Wertetrias Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gerückt und der marxistische Klassenkampf gestrichen. Damit wurde die Programmatik der SPD der Alltagspraxis angepasst und den nach dem Krieg neu in die Partei strömenden Gruppen angepasst. Mit dem Godesberger Programm wurde die Debatte um Reform oder Revolution endgültig entschieden und die Sozialdemokratie auf die verfassungsmäßige Grundordnung der BRD festgelegt. Auch wenn es um die „68er“ herum gerade bei den Jüngeren eine Renaissance des Marxismus gab, wurde diese Festlegung nicht wieder infrage gestellt.

Die Konstante der Parteigeschichte ist der Streit Argumente 1/2013


Mit der neuen Programmatik und einer neuen Generation von sozialdemokratischen Spitzenfunktionären kam die SPD aus ihrem Wahltief heraus, trat 1966 in die Große Koalition ein und konnte 1969 mit Willy Brandt den ersten SPD-Kanzler nach dem Krieg stellen. Auch wenn heute die Erinnerung an diese Zeit zumeist als die Phase der größten Einigkeit der Partei aufgefasst wird, war gerade das Verhältnis zu Staat und Obrigkeit, wie in der gesamten Gesellschaft, heiß diskutiert. Dies fand seinen Ausdruck in den Debatten um Berufsverbote und Notstandsgesetze. Dabei wurde die Öffnung der Partei wirklich deutlich, die Diskussionen drehten sich nun nichtmehr um strittige Themen innerhalb der Sozialdemokratie, sondern spiegelten die in der gesamten Gesellschaft entscheidenden Fragen wider. 16 Jahre Opposition und endlich Rot-Grün, aber dann… Dies wurde in den 1980er Jahren besonders deutlich, als die Frage von Krieg und Frieden angesichts der Blockkonfrontation wieder ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Eine der umstrittensten Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit betraf den Nato-Doppelbeschluss. Der Riss zog sich nicht nur durch die Mitgliedschaft, sondern auch durch Parteivorstand und Bundestagsfraktion. Dieser Streit setzte sich auch nach dem Verlust der Regierungsbeteiligung fort. Mit der nicht enden wollenden Kanzlerschaft von Helmut Kohl und der neuen Konkurrenz durch die Grünen machte sich zunehmend Hilflosigkeit breit. Auch die deutsche Einheit und die Wiedervereinigung mit der neuentstandenen SDP in Ostdeutschland brachten kaum Impulse zur Revitalisierung der Partei. Es wurden

vor allem viele innerparteiliche Auseinandersetzungen geführt, die aber kaum den Puls der Zeit berührten. Eine große Ausnahme war der Streit um die Grundgesetzänderung zum Asylrecht. Dies änderte sich erst wieder mit der Bundestagswahl 1998 und dem rot-grünen Projekt unter Gerhard Schröder. Die Euphorie des Wahlsieges hielt nicht lange an, mit der Regierungsübernahme wurden viele alte Grundsatzfragen wieder hoch aktuell. Es folgten hoch umstrittene Diskussionen über Bundeswehreinsätze, Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und Sozialreformen. Dies verschärfte sich so sehr, dass es zur Entstehung der Partei Die Linke kam. Der Streit um die Bewertung und den Umgang mit dem Erbe der Ära Schröder dauert bis heute an. Es bleibt abzuwarten, welchen Umgang die SPD vor und nach der Bundestagswahl im Jahr ihres 150sten Geburtstags finden wird. Die Geschichte der Sozialdemokratie bleibt gerade auch parteiintern eine Geschichte der Auseinandersetzungen, des Ausgleiches und historischer Anpassungen. Dies war und ist die Grundlage der SPD. Die Integration unterschiedlicher Ideen, Lösungsansätze und Überzeugungen vor dem Hintergrund gemeinsamer Werte und der Vereinigung auf gemeinsame Ziele ist das Wesen der Sozialdemokratie. Sie hat nur Erfolg, wenn dies gelingt und sich nicht einzelne Flügel immer auf Kosten von anderen durchsetzen. Dabei darf das Streben nach Macht nur Mittel zum Zweck sein. Die Sozialdemokratie lebt von der Idee, eine bessere Welt für die Menschen erreichen zu können. l

73


SEIT‘ AN SEIT‘? GEWERKSCHAFTEN UND SPD-LINKE von Björn Brennecke, ehemaliger Bezirksvorsitzender der Jusos Braunschweig

Ende des 19. Jahrhunderts war die deutsche Arbeiterbewegung auf Grund ihrer Organisation und ihrer Kampfkraft eine weltweit bewunderte Bewegung. Ihre TheoretikerInnen – von Marx und Engels über Luxemburg und Liebknecht bis hin zu Zetkin und Kautsky – waren in der Lage, Theorie und Praxis kritisch miteinander zu verbinden, wurden aber auch heftig wegen ihrer Staatsgläubigkeit kritisiert.22 Entscheidend für die Entwicklung der Arbeiterbewegung war jedoch stets das konkrete Verhältnis der Gewerkschaften zu dem Teil der Sozialdemokratie, der die Herrschaft des Kapitals in Frage stellte und stellt, kurzum: das Verhältnis der Gewerkschaften zur Parteilinken. Vor Weimar „Eine soziale Bewegung ist eine mobilisierende gesellschaftsverändernde Kraft –

74

und nur insofern sie diese Funktion bewahrt, ist sie Bewegung.“23 Bis zum Ersten Weltkrieg kann man von einer klassischen Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie sprechen, in der die Gewerkschaften die betriebliche Interessenvertretung übernommen hatten, die SPD als Arbeiterpartei hingegen die allgemeinpolitische Interessenvertretung. Nachdem die erste Phase, die Kämpfe beider um Anerkennung und Legalisierung, durch die Erringung des Koalitionsrechts und das Ende der Sozialistengesetze siegreich beendet worden war, war die Strategie der Partei mehrheitlich auf die revolutionäre Beseitigung der kapi22

23

Vgl. Arno Klönne: Thesen für eine Jahrhundertbilanz der SPD, in: ders. u.a. (Hrsg.): Der lange Abschied vom Sozialismus, Hamburg 1999, S. 9ff. Michael Schneider: Partner, Gegner – oder was?, in: Dieter Dowe (Hrsg.): Partei und soziale Bewegung, Bonn 1993, S. 12.

Seit‘ an Seit‘? Gewerkschaften und SPD-Linke Argumente 1/2013


talistischen Gesellschaft gerichtet. In den Gewerkschaften hingegen gab es neben den Anhängern einer Strategie des politischen Massenstreiks viele Anhänger einer „tradeunionistischen“ Politik, die durch kleine Schritte auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse Einzelner (und damit der Klasse insgesamt) hinwirken wollten.24 Die Arbeiterbewegung wurde zum erfolgreichsten Prototyp einer sozialen Bewegung, weil sie in ihrer Theorie und Politik mit dem Verweis auf den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit die konkret erfahrbaren Widersprüche des deutschen Kaiserreichs benennen konnte. Einbindung und Zerschlagung Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Errichtung der ersten Demokratie führten zur Blütezeit der deutschen Arbeiterbewegung, in der sich eine Arbeiterkultur mit eigenen Vereinen und Konsumgenossenschaften entwickelte. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten, die Rolle der SPD in der Novemberrevolution sowie die folgende Einbindung der Sozialdemokratie in den bürgerlichen Weimarer Staat führten aber auch indirekt zur Spaltung dieser Arbeiterpartei. Große Teile der SPD gaben in diesem Prozess – häufig unter Beibehaltung der Klassenrhetorik – die revolutionäre Ausrichtung auf die Überwindung des Kapitalismus auf; die Linke innerhalb der Partei hatte ihre Hegemonie verloren. Die klassische Arbeitsteilung von Gewerkschaften und Partei war durch die Spaltung der Arbeiterpartei nicht mehr durchführbar. Die revolutionären Teile der Gewerkschaften entwickelten in dieser Zeit mit dem Konzept der Rätedemokratie26 erstmals eine eigene sozialistische Or-

ganisationsform – getrennt von den Zielen der Partei.27 Trotz Spaltung gelang es der Arbeiterbewegung dennoch bis Anfang 1933, die Straßen der Republik gegen die Faschisten zu verteidigen. Mit der Erstürmung der Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933 wurde auch die weltweit größte organisierte Arbeiterbewegung mit einer auf die Selbstorganisation einer Klasse gerichteten Arbeiterkultur zerschlagen. Das Versprechen von Gewerkschaften und Arbeiterparteien, dem Faschismus niemals kampflos das Feld zu überlassen, wurde erst im Widerstand gegen die faschistische Diktatur eingelöst. Nach 1945 Nach dem Ende des Faschismus waren die Gewerkschaften – und mit ihr zunächst alle demokratischen Parteien – der Überzeugung, dass Kapitalismus und Demokratie langfristig miteinander unvereinbar seien. Die Gewerkschaften wollten als Einheitsgewerkschaft aktiv ein politisches Mandat wahrnehmen und als systemüberschreitende Gegenmacht nach der Errichtung der politischen Demokratie auch die Demokratisierung der Wirtschaft erkämpfen. Die rasche Restauration der alten Eliten, die mangels umfassender Entnazifizierung wieder politische und wirtschaftliche Machtpositionen besetzten, verhinderte 24

25 26

27

Vgl. Horst Schmitthenner: Das Ende einer „klassischen Arbeitsteilung", in: Klönne u.a.: Der Lange Abschied, S. 187f. vgl. Schneider: Partner,, S. 14. vgl. Peter von Oertzen: Arbeiterbewegung, Arbeiterräte und Arbeiterbewußtsein, in: ders.: Demokratie und Sozialismus, Hannover 2004, S. 320ff; ders.: Betriebsräte in der Novemberrevolution, Bonn 1976. vgl. Schneider: Partner, S. 16ff.

75


eine Neuordnung der Gesellschaft und führte zur Niederlage im Kampf um das allgemeine Mitbestimmungsgesetz und das politische Streikrecht.28 Nach 1945 organisierten sich viele ehemalige Kommunisten und Linkssozialisten – auch in Ermangelung praktischer Alternativen – wieder in der SPD. Dennoch vollzog die SPD mit dem Godesberger Programm 1959 den Wandel hin zur Volkspartei und leitete die Abkehr von ihrem Selbstverständnis als Arbeiterpartei ein. In der Folge ist es nur noch der linke Flügel, der, stetig in der Minderheit verbleibend, die Sozialdemokratie in der Tradition der Arbeiterbewegung verortet sowie Gewerkschaft und Partei als Einheit im Kampf für den sozialistischen Umbau der Gesellschaft begreift. Diese Sichtweise innerhalb der SPDLinken wurde jedoch zunehmend anachronistisch, weil sich mit ihrem Grundsatzprogramm 1963 auch die Gewerkschaften von dem Ziel einer Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft verabschiedeten. Der deutsche Korporatismus ist mit der Integration der Gewerkschaften in die Betriebs- und Unternehmensführung weitreichender als andere Modelle in Europa, wo sich die Gewerkschaften nicht auf tarifpolitische Auseinandersetzungen reduzieren lassen, um ihre allgemeinpolitische Handlungsfähigkeit nicht durch einen ungesunden Betriebsegoismus zu gefährden. In Zeiten von Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung war der deutsche Weg der Mitbestimmung ökonomisch sehr erfolgreich29, ging jedoch auf Kosten politischer Einwirkungsmöglichkeiten, sodass die Bewertung als große Erfolgsgeschichte durch die Gewerkschaften und die heutige Idealisierung des rheinischen Kapitalismus

76

durch die Parteilinke kritisch hinterfragt werden müssen. Die Chance 1968 „Die Revolution begann nicht in der Fabrik, aber sie stand fast überall in Relation zu diesem Ort.“30 Um 1968 bildete sich erstmals eine eigenständige gesellschaftliche Linke jenseits der etablierten Parteien und Gewerkschaften. Die Kämpfe der „68er“ waren in erster Linie mit Herrschaftskritik und Emanzipation verbunden; sie werden selten mit Arbeitskämpfen assoziiert, obwohl ihre Kritik gegen die Arbeit in ihrer aktuellen gesellschaftlichen Form gerichtet war. Die Gewerkschaften waren zu sehr in den Korporatismus eingebunden, um diese Kritik aufzugreifen. In Deutschland – anders als in Frankreich oder England – kann von revolutionärer Stimmung unter den ArbeiterInnen zu dieser Zeit nicht gesprochen werden. Jenseits der angeblichen Ruhe in den Fabriken gab es aber auch in Deutschland wilde Streiks, insbesondere außertarifliche Auseinandersetzungen von Frauen und Migranten, die erst durch die Streiks im Montansektor 1969 sowie durch die mi28

29 30

Vgl. Wolfgang Abendroth: Die Verwirklichung des Mitbestimmungsrechts als Voraussetzung einer demokratischen Staatsordnung, in: Gesammelte Schriften, Band 2, Hannover 2008, S. 358ff; Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften?, Göttingen 2005, S. 56ff; Wilfried Gaum/Marcus Hawel/Gregor Kritidis: Der erblindete Prometheus, URL: http://www.sopos.org/aufsaetze/49b5b5c016db5/ 1.phtml. [28.3.2013] Vgl. Negt: Wozu noch Gewerkschaften, S. 59ff. Peter Birke: Unruhen und „Territorialisierung“, in: Peter Birke u.a. (Hrsg.): Alte Linke – Neue Linke? Berlin 2009, S. 69.

Seit‘ an Seit‘? Gewerkschaften und SPD-Linke Argumente 1/2013


grantischen Streiks 1973 die Öffentlichkeit erreichten. Die Streikwelle der 1970er Jahre war insofern die Antwort der Gewerkschaften auf die wilden Streiks der 1960er, die so wieder unter gewerkschaftliche Kontrolle gebracht wurden. In den wilden Auseinandersetzungen liegt jedoch der Ursprung des tertiären Wandels bis hin zu Arbeitskämpfen um öffentliche Güter; ein Kampf, der notwendig die Grenze der Fabrik und damit auch die Grenzen industriellen Gewerkschaftshandelns überschreitet. In der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung gelang es, ein Bündnis zwischen Gewerkschaften, Parteilinken und Außerparlamentarischer Opposition zu schmieden. Darin zeigte sich die Mobilisierungsfähigkeit einer breiten gesellschaftlichen Linken. Die „68er“Proteste gaben den Gewerkschaften neue Angriffspunkte für die Rückgewinnung des politischen Mandats und der SPD die Möglichkeit einer Öffnung hin zur gesellschaftlichen Linken, gegen die sie sich 1961 mit dem Ausschluss des SDS noch gewehrt hatte. Die Öffnung kam erst mit Willy Brandt und dauerte an bis Helmut Schmidt; die Gewerkschaften hingegen hatten sich entschieden, unter Bekämpfung der wilden Streiks, ihre Machtstellung in direkten Konsultationen von Gewerkschaftsspitzen mit Arbeitgeberspitzen zu sichern.31 Neoliberalisierung Nach dem Ende der sozial-liberalen Koalition rückte die SPD, im Einklang mit dem neoliberalen Zeitgeist, in der Opposition weiter nach rechts und verlor – aus Hochmut gegenüber den neuen sozialen Bewegungen – einen nicht unerheblichen

Teil ihres linken Potenzials an die Friedens- und Umweltbewegung sowie die neu entstandene Grüne Partei. Das Potenzial für eine alternative linke Politik innerhalb der SPD war weiter gesunken. Das Ende der Vollbeschäftigung machte eine strategische Neuausrichtung der Gewerkschaften notwendig: Das politische Mandat musste wieder aktiv wahrgenommen werden.32 Beflügelt vom neoliberalen Zeitgeist machten sich jedoch Arbeitgeber und Politik in den 1980er Jahren daran, die industrielle Basis – und damit auch die Wurzel der Gewerkschaften – zu zerschlagen. Die Gewerkschaften gerieten dadurch in die Defensive; ihre eigentlichen Umbauprojekte traten in den Hintergrund. Im Gegensatz zu England schafften es die deutschen Gewerkschaften aber, eine Deindustrialisierung erfolgreich zu verhindern. Trotzdem gelang es den Gewerkschaften auf lange Sicht nicht, die große Zahl ungelernter Arbeiter, die als erste von Massenarbeitslosigkeit betroffen waren, zu schützen. Die Gewerkschaften zogen sich mehr und mehr auf den Schutz von Facharbeitern und gut ausgebildeten Kernbelegschaften zurück. Ära Schröder und Folgen Nach der Bundestagswahl 1998 schien aus Sicht der Parteilinken die Voraussetzung für eine Politikwende zunächst gegeben. Eine rot-grüne Regierungsmehrheit – flankiert von der PDS als zusätzlicher linker Partei im Bundestag – sollte den Still31 32

Vgl. ebd.,. S. 73ff; Schneider: Partner, S.21ff. Vgl. Gaum/Hawel/Kritidis: Der erblindete Prometheus.

77


stand von 16 Jahren konservativer Politik unter Kohl beseitigen. Aber bereits mit dem Rückzug Lafontaines war der letzte Widerstand innerhalb der SPD gegen das neoliberale Durchregieren gebrochen: Die verbliebenen linken Teile der Partei konnten weder die Militarisierung der deutschen Außenpolitik noch die soziale Kahlschlagpolitik der Agenda 2010 verhindern; desillusioniert verließen viele Parteilinke und Gewerkschafter die SPD. Die Mehrheit der Gewerkschaftsfunktionäre hat die Politik der Regierung Schröder weitgehend mitgetragen und versucht, den Korporatismus vergangener Tage fortzuführen, obwohl die Arbeitgeber die Auseinandersetzung massiv verschärften und die geregelten Aushandlungsformen aufkündigten.33 Offenkundig wurde dies im Streik der Metaller in Ostdeutschland 2003 um die flächendeckende Einführung der 35-Stunden-Woche. Der innere Zusammenhalt der Gewerkschaften – die Gewerkschaft als Vertreter des sozialen und politischen Gesamtinteresses der organisierten Mitglieder – schwand zunehmend: „Die überwiegende Mehrheit der Betriebsratsfürsten im Westen hat den Streik im Osten sang- und klanglos absaufen lassen […]“34 und so die Erosion des Flächentarifvertrages verstärkt. Erst danach schafften es die linken Teile der Gewerkschaften, zeitweise die Wahrnehmung des politischen Mandats durchzusetzen. In den Auseinandersetzungen bei Opel in Bochum 2004 sowie bei AEG in Nürnberg ab 2005 hat sich gezeigt, dass die Belegschaften durchaus bereit waren, Standortlogiken zu hinterfragen, mit denen vorher Konflikte um Arbeitsplatzabbau befriedet wurden.35 Bis zur Funktionärsebene

78

war diese Erkenntnis aber noch nicht vorgedrungen. So schloss die IGM als Folge der Finanzkrise mit den Arbeitgebern ein Stillhalteabkommen: „Der Verzicht auf stabile Löhne wurde gegen die Sicherung der Arbeitsplätze der Kernbelegschaften getauscht, wobei dem Staat die Aufgabe zugewiesen wurde, diesen Tausch extern [...] abzusichern und zu regulieren.“36 Mit der Kurzarbeiterregelung und der Abwrackprämie wurden klassische Instrumente des Korporatismus wiederbelebt, der die Kernbelegschaften ruhig stellte, dafür aber die LeiharbeiterInnen massiv freisetzte. Mittlerweile hat Ver.di erste Schritte unternommen, um durch Organizing-Projekte bisher vernachlässigte Arbeitergruppen gewerkschaftlich zu politisieren; die IG Metall hat sich auf ihrem Kurswechselkongress 2012 gegen die neoliberale und nationalstaatliche Lesart der aktuellen Krise positioniert. Aktuelle Perspektiven Die einzige verbliebene Perspektive für die Parteilinke, um wenigstens Ansätze einer alternativen, sozialistischen Politik umzusetzen, ist aktuell eine von den Gewerkschaften flankierte Rot-Rot-Grüne Koalition. Dies wird – abgesehen von den Auflösungstendenzen innerhalb der Linkspartei – schon am Widerstand innerhalb der SPD scheitern. Auch stehen nur noch ge33

34

35 36

Vgl. Peter Birke: Macht und Ohnmacht des Korporatismus, in: Sozial.Geschichte.Online 5 (2011), S. 152ff. Gregor Kritidis: Aus Niederlagen lernen?, URL: http://www.sopos.org/aufsaetze/3f05a9ddc52d0/1 .phtml. [28.3.2013] Vgl. Birke: Macht und Ohnmacht, S. 152ff. Ebd., S. 158.

Seit‘ an Seit‘? Gewerkschaften und SPD-Linke Argumente 1/2013


ringe Teile der Funktionärsebene der Gewerkschaften überhaupt der SPD oder der Linkspartei nahe; der größere Teil hat sich von der Parteipolitik gänzlich verabschiedet. Die hohe Integrationskraft der SPD als Volkspartei nach 1945 hing eng mit dem Sozialmodell der BRD zusammen, welches nach Jahrzehnten des Sozialabbaus faktisch nicht mehr existiert. Der linke Parteiflügel konnte einzig 2008 im Wahlkampf Andrea Ypsilantis mit dem Dreiklang „gerechte Bildung“, „Energiewende durch erneuerbare Energien“, „soziale Gerechtigkeit und gute Arbeit“ und mit dem Dreigestirn Ypsilanti, Domisch, Scheer ein ausstrahlungsfähiges, modernes Projekt initiieren. Bundespolitisch ist der linke Parteiflügel jedoch marginalisiert.

erkennen, die historisch nur noch von Lassalles ADAV übertroffen werden. Die SPD wurde zum servilen Anhängsel angeblich charismatischer Führungsfiguren herabgewirtschaftet, deren einzige reale Machtoption die erneute Juniorpartnerschaft in einer großen Koalition ist – eine Perspektive, die weder den Gewerkschaften noch der Parteilinken gefallen kann. l

Der rechte Flügel hat nicht nur die Wahl Ypsilantis verhindert – tatkräftig unterstützt von den Industrialisten innerhalb der hessischen Gewerkschaften –, sondern zeichnet sich auch für die hohen Wählerverluste der SPD seit 1999 verantwortlich. Die SPD erreicht nicht einmal mehr das konservative Arbeitnehmermilieu, obwohl die Programmatik des rechten Flügels seit Jahren die Ausrichtung der Partei bestimmt. 37 1998 war Rot-Grün noch ein Zukunftsprojekt – die denkbare Koalition einer neoliberal durchtränkten SPD mit einer konservativ-grünen Wertepartei hingegen verkörpert nur noch das autistische Beharren zweier Parteien darauf, das kleinere Übel im Vergleich zu Schwarz-Gelb zu sein. Die Ausrufung Peer Steinbrücks zum Kanzlerkandidaten durch die Troika lässt autoritäre und patriarchale Strukturen

36

Vgl. Horst Peter/Michael Vester: Zwischen autoritärer und partizipatorischer Demokratie, in: Heiko Geiling (Hrsg.): Die Krise der SPD, Berlin 2009, S. 341ff.

79


„KÖNNEN WIR NUR SELBER TUN…!“ DIE „JUNGEN EUROPÄISCHEN SOZIALISTINNEN – YES“ MACHEN SICH AUF DEN WEG, EUROPA ZU VERÄNDERN von Andro Scholl, Vizepräsident der Young European Socialists – YES

Die Schwäche der ArbeiterInnenbewegung und der SozialistInnen Europas ist die Grundlage der Stärke des Kapitalismus. Und die Krise, die wir in Europa erleben, schwächt diese Bewegung. Doch es ist unsere Bewegung, die dem Kapitalismus immer wieder das Prinzip der internationalen Solidarität, des Widerstands und des Kampfs um Alternativen entgegengesetzt hat. Was, wenn es uns gelingt, zu neuer Stärke zu finden? Notwendig ist diese Stärke, denn… Europa ist gespalten Die Auswirkungen der Krise Europas sind verheerend. Nach dem Bericht der Europäischen Kommission sind 11,8% (Stand:

80

„Können wir nur selber tun…!“ Argumente 1/2013

November 2012) der Menschen in Europa arbeitslos (konkret: 18,82 Millionen), vor fünf Jahren lagen Nord und Süd in den Arbeitslosenstatistiken noch gleichauf, heute sehen wir eine Spreizung von 7,5%. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist von 2009 bis 2012 von 3 auf 4,6% gestiegen, in 2/3 der Länder sind die Realeinkommen gesunken, Familien in Griechenland haben 17% weniger Geld im Vergleich zu 2009 (8% Spanien, 7% Zypern), die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Griechenland und Spanien mittlerweile bei 56% bzw. 57% (26% im EU-Durchschnitt). Europa wird gespalten in Nord und Süd, aber auch in Nord-West und Ost. Europas Gesellschaften spalten sich immer


weiter, gerade innerhalb der besonders betroffenen Länder wie Spanien, Griechenland und Portugal steigt die Einkommensund Vermögensungleichheit rasant an; aber auch in Ungarn, was wenig beachtet wird, da es insbesondere der Demokratieabbau in die Schlagzeilen schafft. Dahinter stehen auch schnelle Job- und Einkommensverluste in den südlichen und östlichen Staaten Europas, die keine robusten Sozialsysteme haben. In Griechenland folgt nach 12 Monaten Unterstützung im Falle von Arbeitslosigkeit das Nichts. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien leiden die sozioökonomisch Schwächsten der Schwachen – viele Roma beispielsweise, die sowieso schon gesellschaftlich stigmatisiert werden, was bis hin zu Verfolgung und Ermordung führt.

und Finanzbranche, aber auch Unternehmen der Automobilindustrie (Beispiel Opel). Die Folgen sind vielfältig: ArbeitnehmerInnen an den verschiedenen Standorten der Betriebe werden gegeneinander ausgespielt, Staaten entscheiden sich aufgrund der schlechter werdenden Haushaltslage (Konjunkturprogramme, Kosten der Krisenbewältigung, Steuerausfälle, Steuervermeidung, Steueroasen) dazu, den Sozialstaat abzubauen und wichtige Sicherungen zu streichen. Die Staaten sind auch immer weniger in der Lage zu investieren, in der Krise die Nachfrage anzukurbeln, um nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Die soziale und umverteilende Funktion der Steuerpolitik geht – ganz im Glauben der neoliberalen Prediger – völlig verloren.

Das Armutsrisiko ist insbesondere bei jungen Menschen, arbeitslosen Frauen und alleinerziehenden Müttern hoch und die Zahl der Armutsgefährdeten liegt mittlerweile bei etwa 6 Millionen Menschen.

Die Folgen sind nicht erst seit der Krise zu erkennen: Eine Verlagerung der Belastung von Kapital auf Arbeit (beispielsweise durch die geringere Besteuerung durch Abgeltungssteuern auf Kapitaleinkommen im Vergleich zu höherer Besteuerung auf Einkommen aus Arbeit); eine Verlagerung hin zu mehr indirektem Steueraufkommen und weg vom direkten Steueraufkommen (Anhebung der Mehrwertsteuer in vielen Ländern zu Lasten sozioökonomisch Schwächerer); immer niedrigere Spitzensteuersätze; Ausweitung von Flat Tax-Modellen ohne progressive Steuersätze, die die Lasten proportional gerecht verteilt.

Steuerwettbewerb nach unten – keine Steuergerechtigkeit in Europa Dieser Krise liegt u.a. sehr zentral die aktuelle Beschaffenheit eines neoliberalen Projekts Europa zugrunde. Der Steuerwettbewerb in der Europäischen Union, der politisch von Neoliberalen und Konservativen gewollt ist und in der Vergangenheit von SozialistInnen und SozialdemokratInnen gewollt war und mitbetrieben wurde, schafft einen Standortwettbewerb unter den Staaten, indem eines gilt: Der niedrige Steuersatz auf Kapital und möglichst billige Arbeitskraft werden zum Aushängeschild, um Unternehmen zu locken. Dies sind insbesondere Unternehmen aus der Dienstleistungs-

All das vergrößert soziale Ungleichheit in Europa und in den Gesellschaften Europas. Und wegen dieser wachsenden Spaltung nimmt auch die Einstellung der Menschen zur Demokratie immer gefährlichere Züge an. Rechtes Denken und reaktionäre Einstellungen gewinnen an Zu-

81


stimmung. Rechte, Rechtskonservative und rechtspopulistische Parteien gelangen in einflussreiche und entscheidende Positionen. Sie bieten einfache Lösungen und identifizieren vermeintliche Sündenböcke für die sozialen Probleme: Raus mit den AusländerInnen, raus mit den ethnischen Minderheiten, raus mit den Obdachlosen – hoch die Nation, hoch der Nationalismus. Ungarn als Beispiel Ungarn ist 2005 der Europäischen Union beigetreten, zum damaligen Zeitpunkt noch von einer sozialistischen Regierung geführt. Heute ist die aus der rechts-konservativen Partei Fidesz und der radikal rechten Partei Jobbik gestellte Regierung vor allem wegen des Abbaus der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Verfolgung von Roma in den Schlagzeilen. Wie konnte es dazu kommen, dass europäische Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds heute national von Ungarn dafür verwendet werden, eine Art Arbeitszwang für Roma zu installieren, und die EU nichts Wirksames dagegen unternimmt? Wie kommt es zu diesem rechten antieuropäischen Nationalismus? Auf Ungarn trifft vieles des zuvor Beschriebenen zu: Ungarn hat seinen Sozialstaat über die letzten 20 Jahre massiv abgebaut, Ungarn ist einer neoliberalen Politik der Marktöffnung, beraten durch den internationalen Währungsfonds, gefolgt. Ungarn wollte attraktiv für Direktinvestitionen sein und hat sich weniger darauf konzentriert, die regionale Wirtschaft nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation zu fördern. Zwischen 1990 und 1993 brach das BIP um 20% ein. Viele Waren und Dienst-

82

„Können wir nur selber tun…!“ Argumente 1/2013

leistungen ungarischer Unternehmer wurden relativ schnell von westlichen Importen verdrängt. Die industrielle Produktion sank um 30%, Landwirtschaft um 33%, die Arbeitslosigkeit steigt dementsprechend auf über 13%. 1989 lebten 11 bis 12% unter dem Existenzminimum, 1993 schon 35% der Menschen in Ungarn. Die Anfangsjahre der Transformation hinterließen eine von offener und hoher Arbeitslosigkeit traumatisierte Gesellschaft. Unter der Schließung großer Staatsunternehmen und landwirtschaftlicher Kooperativen litten vor allem ungelernte ArbeiterInnen in den östlichen Landesteilen Ungarns, vor allem viele Roma versanken in Armut, aus der sie bis heute nicht rausgekommen sind. 1995 stellte der damalige Finanzminister seine Pläne vor. Es kam mit dem sogenannten „Bokros-Paket“ zu Einschnitten bei den Staatsausgaben, Reallöhne sanken relativ schnell um 12%, Staatsunternehmen wurden privatisiert, um die Auslandsschulden, die in den ersten Jahren nach 1990 entstanden waren, zu senken. Der Preis für die geringere Auslandsverschuldung war jedoch hoch. Es kam zu Unruhen bei der Bevölkerung wegen Inflation, sinkender Löhnen und starken Einschnitten bei öffentlichen Ausgaben. Es folgte eine kurze Phase, in der die Direktinvestitionen aus dem Ausland stark anstiegen, der Mindestlohn beispielsweise konnte kurzfristig, wenn auch auf niedrigem Niveau, angehoben werden. 2002 gewannen die SozialistInnen (MSZP) die Wahl. Zunächst erhöhten sie um 50% die Löhne im öffentlichen Dienst,


führten ein 13. Monatsgehalt ein. 2006 jedoch verschwieg die MSZP vor den Wahlen die wahre Schuldenhöhe, kündigte nach den Wahlen radikale Sparmaßnahmen an. Die Körperschaftssteuer wurde zwar zunächst von 16 auf 20% (nach wie vor sehr niedriges Niveau) angehoben, aber auch die Mehrwertsteuer von 15 auf 20%. Dies führte zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Energie, Nahverkehr, Gas und Wasser. Hinzu kam noch, dass staatliche Zuschüsse für Gas und Strom gestrichen wurden. In Folge konnte das Haushaltsdefizit damit von 10% 2006 auf unter 4% 2008 gedrückt werden. Der Abbau von Sicherungsstrukturen ging aber weiter und wurde auch auf das staatliche Gesundheitssystem ausgeweitet: Gebühren für Arztbesuche waren fällig, Tagessätze für Krankenhausaufenthalte wurden festgelegt und die Zahl der Krankenhäuser reduziert. Die Situation war bereits schwierig, als die Krise Mitte 2008 Ungarn traf. Der Markt für ungarische Staatsanleihen brach zusammen. Der IWF und die EU stellten Hilfspakete zur Verfügung, um Ungarn vor dem Staatsbankrott zu bewahren, mit erheblichen Auflagen zur Senkung des Haushaltsdefizits. In Folge kam es wieder zu einer Kürzungsflut: Abschaffung des 13. Monatsgehalts, Renten wurden nur noch entsprechend der Inflation angepasst, das Rentenalter von 60 auf 65 Jahre angehoben, es kam zu einer Krankengeldsenkung von 70% auf 60% und die Mehrwertsteuer wurde von 20 auf 25% (den Maximalsatz in der EU) angehoben. Das alles verstärkte die schlechte Konjunkturentwicklung. Zwar konnte sich die Regierung bald wieder an den internationalen Finanzmärkten finanzieren, aber um welchen Preis?

Die ideale Ausgangslage für den Erdrutschsieg der Fidesz war im Jahr 2010 geschaffen. Und diese betrieb weiteren Abbau von Staatlichkeit und Demokratie. Das Wachstum sollte durch radikale Steuersenkung angekurbelt werden, gemäß dem Prinzip „Erst Wirtschaftswachstum, dann ausgeglichener Haushalt“ – eine vertraute Parole, schaut mensch sich die Forderung der FDP in Deutschland bis in die Krise hinein an. Der Einkommensteuersatz wurde auf sehr niedrige, einheitliche 16% gesetzt, womit es keinerlei Stufen mehr gab. Zuvor hatte es immerhin noch zwei Sätze von 17 und 32% gegeben. Die Körperschaftssteuer wurde reduziert, insbesondere gegenüber nationalen ungarischen Unternehmen. Zwar wurde auch Kapital, etwa durch eine befristete Abgabe auf Finanzgeschäfte und eine temporäre Sondersteuer auf Großbetriebe des Energie- und Telekommunikationssektors (überwiegend im ausländischen Besitz), belastet. Allerdings wird hier dem Prinzip gefolgt, zwischen „bösem ausländischem Kapital“ und „gutem nationalem Kapital“ zu unterscheiden – wie es eben rechter Ideologie entspricht. Im Herbst 2011 kam es zu weiteren Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung und zur Zwangsreaktivierung von FrührentnerInnen, Offizieren, Feuerwehr und Polizei. Die Zahl der Universitäten sollte darüber hinaus verringert werden. Und als wäre all das nicht genug, ist Ungarn seit 2005 Teil einer Europäischen Union, die die Angleichung der Lebensverhältnisse und damit die Bekämpfung sozialer Spaltung und Ungleichheit fast ausschließlich dem Markt überlässt, darauf

83


hofft, dass die Angleichung über den Preis gelingt. Es ist schlimm zu sehen, dass es Europa bisher nicht gelungen ist, den sozioökonomischen Entwicklungen in Ungarn etwas entgegenzusetzen, obwohl sie immerhin über Instrumente wie den Kohäsionsfond und den Europäischen Sozialfond verfügt. Ungarn ist Europa Jede Entwicklung in den Regionen und Ländern Europas hat ihre Besonderheit, aber es gibt eben auch viele Gemeinsamkeiten. Überall in Europa erstarken Sezessionsbestrebungen, Regionalpatriotismen und rechte Bewegungen (Schottland, Baskenland, Katalonien, Südtirol). Nicht immer kommen sie völkisch daher, aber alle erhalten sie Auftrieb durch diese Krise. Sie alle hoffen, alleine besser dazustehen, als in dem Staat, dem sie angehören. Sie wollen sich aus der Solidarität mit schwächeren und anderen Regionen verabschieden oder aber stehen Europa negativ und aggressiv gegenüber. Das birgt enormes Sprengpotenzial für die Idee Europa und die Gefahr des Rückfalls in nationale Egoismen und Kleinstaaterei, die u.a. auf dem europäischen Kontinent in zwei Kriege geführt haben. Wer kann das ändern und wie? Wir SozialistInnen Europas müssen das ändern, wir JunsozialistInnen Europas vorweg. Und wir können das! Wir bieten eine Vision eines anderen, eines sozialen Europas. Aber wir haben auch Forderungen im Jetzt, um der drängenden sozialen Frage unsere Vorstellungen von ArbeitnehmerInnenrechte, Demokratie und Sozialstaatlichkeit in Europa entgegenzusetzen. Wir müssen die soziale Spaltung und Ungleichheit in Europa überwinden. Mit

84

„Können wir nur selber tun…!“ Argumente 1/2013

dem YES-Kongress 2013 starten wir mit Forderungen an die europäische Politik: 1. Wir wollen mehr Steuergerechtigkeit in Europa. Umverteilung muss europäisch diskutiert und angegangen werden. Eine europäische Vermögensabgabe wäre ein erster Schritt! Aber Steuergerechtigkeit ist mehr. 2. Wir fordern, dass das Europäische Parlament zum Dreh- und Angelpunkt der Europäischen Politik wird. Mehr Demokratie! 3. Wir fordern ein größeres Budget der Europäischen Union im Kampf gegen ( Jugend)Arbeitslosigkeit, für mehr informelle Bildung und nachhaltiges Wachstum. Mit der Verabschiedung einer Resolution zu den Europawahlen 2014 haben wir auf dem YES-Kongress die zentralen Themen der nächsten Monate und Jahre in Europa aus jungsozialistischer Sicht benannt: Gute Arbeit, demokratische Wirtschaft, inklusive Demokratie und Teilhabe. Jetzt gilt es, unter den Überschriften die Positionen zu diskutieren und festzulegen. Aus ECOSY wird YES – eine neue Epoche für den europäischen Jungsozialismus Die neue Rolle im Kampf um ein soziales Europa verlangt auch eine veränderte Organisation. Im Jahr 1992 wurde ECOSY („European Community Organisation of Socialist Youth“) gegründet. Zunächst sollten lose europäische Aktivitäten koordiniert wurden. Der damalige Streit bei der Gründung rankte sich um die Frage, ob die neue Organisation nur aus Mitgliedern der damalig Europäischen Gemeinschaft, oder auch aus Mitgliedern darüber hinaus bestehen sollte. 20 Jahre nach der Gründung –


damals hatten sich die BefürworterInnen der Mitgliedschaft der EG-Mitglieder durchgesetzt – umfasst die Organisation heute Mitglieder aus Irland bis in die Türkei, von Portugal bis Estland (und Beobachterstatus haben sogar Organisationen aus Nachbarstaaten wie Israel, Palästina, Russland, Ägypten oder Albanien). Sie erstreckt sich über die EU-Grenzen hinaus. Die Frage stellt sich also nicht mehr. Aus ECOSY wurde auch deshalb auf dem ECOSY-Kongress 2013 in Bommersvik (Schweden) YES-„Young European Socialists“.

mund versichern – um im Sinne unserer Ideen und der sozialen Frage, die da ist, stärker als jemals zuvor für ein anderes Europa, ein soziales, demokratisches und friedliches Europa in der Welt zu streiten. „Können wir nur selber tun…!“, so steht es in einem alten, aber zeitlosen Lied, welches wir gerne und oft singen. Gemeinsam Europa verändern! YES! l

Eine lose Koordinierung, wie sie 1992 angestrebt wurde, reicht nicht mehr. YES muss stärker werden – und demokratischer. Dafür gilt es sich in den nächsten zwei Jahren einzusetzen. Kampagnen müssen stärker von unten erarbeitet werden, Strukturen verändert und YES muss finanziell besser ausgestattet werden. Wenn wir Europa stärken wollen, dann müssen wir es bei unserer eigenen Organisation auch tun. Es geht um die Neubegründung einer Organisation und Bewegung. YES muss beispielweise in der Lage sein, den ungarischen GenossInnen und anderen auch praktisch in ihrem Kampf helfen zu können, vor Ort und auf den politischen Ebenen, auf denen es notwendig ist. Wir sehen uns auf dem WorkersYouth-Festival Dies alles anzugehen schaffen wir nicht zurückgezogen im stillen Kämmerlein, sondern nur, wenn wir rausgehen und internationale Solidarität mit Leben füllen, wie wir es immer als ArbeiterInnenjugendbewegung getan haben. Unserer internationalen Solidarität wollen wir uns auch auf dem Workers Youth Festival in Dort-

85


KLEINE LESELISTE „PARTEIGESCHICHTE DER SPD“ von Jonathan Roth, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Brandt, Peter & Lehnert, Detlef (2012). "Mehr Demokratie wagen". Geschichte der Sozialdemokratie 1830– 2010. Berlin: Vorwärts-Buch. Ein historischer Überblick, der die sozialdemokratische Bewegung als eine Geschichte von „generationsspezifischen Lernerfahrungen“ erzählt. Die Kapitel behandeln sechs Phasen zu je 30 Jahren und dokumentieren die Bedingungen und Forderungen der sozialen Demokratie in der jeweiligen Epoche. Coppi, Hans (2012). Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter. Berlin: Dietz. Die Beiträge beleuchten die zahlreichen Formen des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in linken Organisationen, die angesichts des populären Bildes der Stauffenberg-Verschwörer mitunter in Vergessenheit geraten. Ein fundierter Gesamtüberblick.

86

Faulenbach, Bernd (2011). Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969-1982. Bonn: Dietz. Band 2 des Dreiteilers „Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945“. Der Politologe und frühere Direktor des „Forschungsinstitutes Arbeit, Bildung, Partizipation“ widmet sich in diesem Band dem gesellschaftlichen und politischen Wandel in der sozial-liberalen Ära. Die wohl umfangreichste Darstellung der SPD unter Brandt und Schmidt. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.) (1982). Widerstand und Exil der deutschen Arbeiterbewegung 1933 – 1945. Bonn: Verl. Neue Ges. Rund 30 Jahre alt, aber dennoch eine lesenswerte Gesamtdarstellung. Die Beiträge sind als pädagogische Lehrmittel verfasst und beschreiben verschiedene Facetten des Widerstands anhand von einleitenden Texten und exemplarisch ausgewählten historischen Quellen.

Kleine Leseliste „Parteigeschichte der SPD“ Argumente 1/2013


Goch, Stefan (1990). Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Eine Untersuchung am Beispiel Gelsenkirchen 1848 – 1975. Düsseldorf: Droste. Rund 100 Jahre Arbeiterbewegung in einer Stadt: Mit dieser Mikrostudie bietet Stefan Goch tiefgehende Einblicke in das politische Milieu der Arbeiter im Revier. Lebensbedingungen, Umstände, Herausforderungen und Organisationen werden für jede Epoche anhand von umfangreichem Quellenmaterial beschrieben.

Grebing, Helga; Wettig, Klaus; Miller, Susanne (2012). "Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht!". 150 Jahre SPD. Texte und Bilder. Bonn: Dietz. Ein Jubiläumsbeitrag für diejenigen, die gerne selbst einmal in die Fußstapfen von Lassalle, Bebel, Luxemburg oder Brandt treten wollen. In diesem „dokumentarischen Lesestück“ sind große Reden und Schriften aus 150 Jahren SPD benutzerfreundlich mit Regieanweisen abgedruckt.

Grebing, Helga (2000). "Wie weiter, Genossen?". Essays zur Sozialdemokratie im Epochenwechsel. Essen: Klartext. Helga Grebing gilt als eine der renommiertesten Kennerinnen der sozialdemokratischen Geschichte. Dieser Band versammelt anlässlich ihres 70. Geburtstages wichtige Beiträge der Historikerin, die kritische Analysen verschiedener Epochen und Positionen der SPD darstellen.

Jun, Uwe (2004). Der Wandel von Parteien in der Mediendemokratie. SPD und Labour Party im Vergleich. Frankfurt a.M.: Campus. In seiner Dissertation analysiert der Politikwissenschaftler Uwe Jun den Wandel von Strukturen, Programmen und Kommunikationsstrategien von SPD und Labour in den vergangenen 20 Jahren. Damit liefert er ein aktuelles Portrait sozialdemokratischer Politik in der professionalisierten Mediendemokratie.

Grebing, Helga (2007). Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert. Berlin: Vorwärts-Buch. Das Buch ist eine Neufassung von Grebings bereits 1966 erschienenen Überblicks über die Geschichte der Arbeiterbewegung. Anstelle einer detailverliebten historischen Dokumentation liefert die Autorin ein pointiertes und gut lesbares „Panorama“ der wichtigsten Traditionslinien, die in die Gegenwart münden. Im Anhang werden eine Zeittafel und eine Sammlung von Kurzbiographien ergänzt.

Klotzbach, Kurt (1996) [1982]. Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 – 1965. Bonn: Dietz. Band 1 des Dreiteilers „Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945“. Der Historiker behandelt den Weg von der Wiedergründung bis zur Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition. Klotzbach dokumentiert umfassend den politischen Neuanfang, das Selbstverständnis in der Oppositionsrolle, den Weg nach Godesberg und die Gemeinsamkeitspolitik.

87


Kruke, Anja & Woyke, Meik (Hg.) (2012). Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung. 1848 – 1863 – 2013. Bonn: Dietz. Der Begleitkatalog der großen Wanderausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 150-jährigen SPD-Jubiläum stellt Beiträge zu historischen Dokumenten und „Ikonen“ der Geschichte sowie vertiefende Essays nebeneinander. Reich bebildert, ansprechend gestaltet und mit lesenswerten Beiträgen ausgestattet. Lösche, Peter & Walter, Franz (1992). Die SPD. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung. Darmstadt: Wiss. Buchges. Eines der Standardwerke zur Parteigeschichte, das einen scharfen Blick auf die Entwicklung der Organisationsstrukturen sowie auf deren programmatische und gesellschaftliche Hintergründe hat. Lösche und Walter stellen weichenstellende Entscheidungen und Entwicklungen der Partei im 20. Jahrhundert heraus und beschreiben so den Weg der SPD von der Traditionskompanie zur „lose verkoppelten Anarchie“.

88

Mehring, Franz (1897-98). Geschichte der deutschen Sozialdemokratie (4 Bände.). Berlin: Dietz. Ein Buch, das gleichzeitig Parteigeschichte und Geschichtsschreibung ist. Mehring lieferte zur Jahrhundertwende eine erste Rückschau der Bewegung ab 1830 und zeichnete die Klassenkämpfe sowie die marxistische Wissenschaft ihrer Deutung nach. Ein aufschlussreiches Dokument der wissenschaftlichen Selbstdeutung und gesellschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterbewegung um 1900. Meyer, Thomas (1998). Die Transformation der Sozialdemokratie. Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Bonn: Dietz Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer veröffentlichte mit diesem Buch eine Bilanzgeschichte der SPD. Sozialdemokratische Ideen, Wegmarken und Krisen werden rückblickend betrachtet und mit der Gegenwart konfrontiert. Parteienwandel, Medienwandel und Reformprogramme beschreibt Meyer als Herausforderungen eines neuen Zukunftsprofils. Eine 15 Jahre alte Analyse, die dadurch nicht weniger relevant für aktuelle Gegenwartsdeutungen erscheint.

Kleine Leseliste „Parteigeschichte der SPD“ Argumente 1/2013


Meyer, Thomas (2009). Soziale Demokratie. Eine Einführung. Wiesbaden: VS. Nachdem er in vorangegangenen Publikationen bereits Sozialdemokratie als Theorie und Praxis erörtert hatte, legte Thomas Meyer 2009 eine Gesamtdarstellung vor. Sozialdemokratie wird unter den Aspekten einer politischen Philosophie, Theorie und Ökonomie sowie einer Politik der Globalisierung, Demokratietheorie und politischen Praxis beschrieben. Keine Parteigeschichte per se, aber dennoch eine lesenswerte Auslotung eines (mehr als) 150 Jahre alten Konzepts.

Münkel, Daniela (2007). "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“. Die Programmgeschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin: Vorwärts. Ein Quellenband, in dem die sozialdemokratischen Programme vom „offenen Antwortschreiben“ Lassalles bis zum Berliner Programm 1989 vollständig abgedruckt sind. Eine Einführung der Herausgeberin ergänzt die Dokumente und verdeutlicht die zeitspezifischen Herausforderungen und Lösungsansätze, die eine Entwicklungsgeschichte der SPD-Programmatik abbilden.

Meyer, Thomas; Miller, Susanne & Rohlfes, Joachim (Hg.) (1987). Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Darstellung, Chronologie, Dokumente. (3.Bände). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Im Hinblick auf den Forschungsstand sicher nicht mehr ganz aktuell; als Lehrund Arbeitsbuch zur historischen Arbeiterbewegung kann dieses, unter prominenter Beteiligung in der Friedrich-EbertStiftung entstandene Buch trotzdem noch empfohlen werden.

Osterroth, Franz & Schuster, Dieter (Hg.). Chronik der deutschen Sozialdemokratie (5 Bände.). Berlin: Dietz. Osterroth und Schuster stellten mit diesem Werk eine lückenlose Chronologie zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bis zur deutschen Einheit 1990 zusammen. Die ersten Bände, bereits in den 1960er und 1970er Jahren entstanden, wurden im Dietz-Verlag überarbeitet und ergänzt. Philipps, Robert (2012). Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und gesellschaftlicher Wandel 1959–1969. Baden-Baden: Nomos. Die Dissertation behandelt die Parteigeschichte der hochpolitisierten 1960er Jahre als ein Spannungsverhältnis von Generationen, Institutionen und Programmen. Philipps untersucht unter anderem das Verhältnis des SDS und der APO zur Führung der neuen Volkspartei, aber auch zur „braven“ Parteijungend. Gefragt wird darüber hinaus nach dem politischen Ertrag dieser Phase, für die Demokratie, die Hochschulen und die SPD.

89


Potthoff, Heinrich & Miller, Susanne (2002). Kleine Geschichte der SPD 1848–2002. Bonn: Dietz. Der Klassiker der Parteigeschichtsschreibung: eine gut lesbare, vielseitige und gar nicht mal so „kleine“ Gesamtdarstellung der sozialdemokratischen Bewegung. 2002 erschien eine überarbeitete 8. Auflage, die um ein neues Kapitel zur der Entwicklung bis in die Ära Schröder sowie einen Dokumentanhang ergänzt wurde. Reinhardt, Max (2011). Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei. Baden-Baden: Nomos. Diese Arbeit ist das Ergebnis eines umfangreichen Promotionsprojektes. Reinhardt liefert einen historischen Abriss der innerparteilichen Machtkämpfe und Strömungen in den Flügeln der Partei seit 1945. Ergänzt wird dieser an sich schon lohnenswerte Überblick durch eine Habitus-Feld-Analyse von Parteifunktionären. In seinen Auswertungen zeichnet Reinhardt Herkunftsmilieus und Einstellungen von GenossInnen unterschiedlicher Generationen nach.

90

Reschke, Michael; Krell, Cristian; Dahm, Jochen; Grebing, Helga & Woyke, Meik (2012). Geschichte der Sozialen Demokratie. Bonn: Friedrich Ebert Stiftung, Politische Akademie. Aus der Reihe der Lesebücher des Archivs der sozialen Demokratie ist pünktlich zum Jubiläumsjahr ein Nachschlagewerk zur Geschichte der sozialen Demokratie erschienen. Prägnant formuliert, übersichtlich gestaltet und mit vielen Literaturhinweisen versehen ist das Buch eine gelungene Ergänzung zur Sonderausstellung und zum Begleitkatalog – und darüber hinaus steht es auch noch gratis zum PDFDownload zur Verfügung. Schönhoven, Klaus & Staritz, Dietrich (Hg.) (1993). Sozialismus und Kommunismus im Wandel. (Festschrift Hermann Weber). Köln: Bund-Verl. In guter Tradition wissenschaftlicher Festschriften bietet diese Publikation einen breiten Überblick zur Geschichte der politischen Arbeiterbewegung in den letzten 200 Jahren. Die Beiträge behandeln Idee und Programm von Kommunismus und Sozialismus sowie ihre politische Praxis im 19. und 20. Jahrhundert. Hervorzuheben ist die internationale Perspektive, bei der vor allem die osteuropäischen Entwicklungen berücksichtigt werden.

Kleine Leseliste „Parteigeschichte der SPD“ Argumente 1/2013


Schönhoven, Klaus (2002). Arbeiterbewegung und soziale Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Beiträge. (Hg. V. Hans-Jochen Vogel & Michael Ruck). (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 59). Bonn: Dietz. Der Sozialhistoriker Klaus Schönhoven hat sich in seinen Studien mit vielen verschiedenen Epochen und Themen der Arbeiterbewegung beschäftigt. Das Spektrum seiner Arbeiten zeigt diese Aufsatzsammlung, in der Beiträge zur Partei- und Ideengeschichte der Sozialdemokratie im Kaiserreich, der Weimarer Zeit und der Bundesrepublik nebeneinander gestellt werden. Schönhoven, Klaus (2004). Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966 – 1969. Bonn: Dietz. Band 2 des Dreiteilers „Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945“. Drei Jahre Regierungszeit auf rund 750 Seiten – Klaus Schönhoven hat mit diesem Werk die Große Koalition unter Kiesinger und Brandt akribisch aufgearbeitet. Das Ergebnis ist ein Portrait einer politischen Umbruchszeit, in der sich die SPD zur linken Volkspartei mit Machtbewusstsein entwikkelte.

Technoseum (Hg.) (2013). Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung 1863–2013. Mannheim: Technoseum. Der Katalog zur zweiten großen Sonderausstellung im Jubiläumsjahr 2013. Das Technoseum bleibt in der Konzeption seinem Themenschwerpunkt treu und erzählt die Arbeiterbewegung als eine Geschichte der technischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Der Katalog bietet neben Begleittexten und Essays umfangreiches Bildmaterial. Dazu gehören populäre Exponate aber auch Alltagsgegenstände wie Anstecker, Transparente und Briefe. Walter, Franz (2009). Die SPD. Biographie einer Partei. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Franz Walter ist die Kassandra der modernen Sozialdemokratie. In zahlreichen Essays und Vorträgen, aber auch umfangreicheren Monographien, hat sich der Göttinger Politikwissenschaftler und Parteigenosse wiederholt zum Seelenzustand der SPD geäußert. Nach dem gemeinsam mit Peter Lösche 1992 veröffentlichten Buch hat sich Walter mit diesem Buch an eine eigene Gesamtdarstellung gewagt. Wie jede klassische „Biographie“ ist auch diese Erzählung reich an Anekdoten, Konflikten und Traditionen. Ein Standardwerk.

91


Wunderer, Hartmann (1980). Arbeitervereine und Arbeiterparteien. Kulturund Massenorganisationen in der Arbeiterbewegung (1890 - 1933). Frankfurt: Campus. Die Arbeiterbewegung als Vereinsgeschichte. Wunderer nimmt die Zeit der „Massenintegrationsparteien“ um 1900 in den Blick und beschreibt die Auswirkungen der politischen und gesellschaftlichen Umstände auf die Organisationsformen der Sozialdemokratie. l

92

Kleine Leseliste „Parteigeschichte der SPD“ Argumente 1/2013


Notizen

93


Notizen

94

Notizen Argumente 1/2013


Notizen

95


Notizen

96

Notizen Argumente 1/2013


Argumente 1/2013 Arbeiterjugendtag Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin April 2013

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

Argumente 1/2013 Arbeiterjugendtag


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.