Argumente 1/2015 - Sozialistische Wirtschaftspolitik

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ARGUMENTE 1/2015 Sozialistische Wirtschaftspolitik Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Mai 2015

ISSN 14399785 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

ARGUMENTE 1/2015 Sozialistische Wirtschaftspolitik


ARGUMENTE 1/2015 Sozialistische Wirtschaftspolitik

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Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Johanna Uekermann und Julia Maas Redaktion Jan Krüger, Katharina Oerder, Stefan Brauneis, Johannes Gerken, Ridvan Civtci, Dominik Fürst, Hanna Hefermehl-Fischer, Micha Heitkamp, Farnaz Nasiriamini, Ceylan Özcetin, Felix Peter, Moritz Rudolph, Johannes Melcher Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Tel. 030 2 59 91-366, Fax: 030 2 59 91-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck Heckner-Print Service GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

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Intro: Wirtschaft gestalten: global und gerecht! In diesem Heft machen wir uns auf die Suche nach alternativen Konzepten für eine gerechtere und sozialere Wirtschaftspolitik. Dabei setzen wir Mensch und Umwelt in den Fokus und stellen uns

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die Frage wie den neuen Herausforderungen des Welthandels, der Digitalisierung und der globalen Arbeitsmärkte mit neuen Ideen begegnet werden kann.

MAGAZIN Vermögensteuer – kein Tabu! Deutschland nimmt bei der Vermögensungleichheit einen Spitzenplatz in der Eurozone ein. Die genauen Details über Vermögenssituation von Vermögenden und Superreichen bleiben jedoch

8 oft im Verborgenen. Präzise stellt die Autorin dar warum die Einführung einer Vermögenssteuer längst überfällig ist und wie mit ihr der steigenden Ungleichheit entgegengetreten werden kann.

Unsere Richtung: links! Einzelne programmatische Spiegelstriche der Großen Koalition überzeugen zwar in der Sache, wecken aber keine Begeisterung. Was es braucht, ist ein konsistenter Gesellschaftsentwurf und Ant-

11 worten durch eine starke SPD-Linke. Johanna Uekermann berichtet über die Magdeburger Plattform und bevorstehende Herausforderungen für die SPD-Linke.

Zwischen Sozialismus und Realpolitik – r2g in Thüringen Rot-rot-grün ist für die Jusos ein hart erkämpftes Projekt. In Thüringen ist es jetzt Realität – unter Führung der LINKEN. Selten gab es über eine Regierungsbildung eine breitere öffentliche De-

batte. An dieser müssen sich die Jusos aktiv beteiligen und über die Chancen sprechen, damit Konservative und RechtspopulistInnen nicht die Deutungshoheit erlangen.

Jungsozialistische Anforderungen an das Strafrecht Wie kann eine jungsozialistische Rechtspolitik im 21. Jahrhundert aussehen? Kritisch, emanzipatorisch und demokratisch? Mit diesen Fragen möchten wir eine Artikelreihe beginnen, die sich

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mit dem Thema Recht aus Juso-Perspektive beschäftigt. Anfangen möchten wir heute mit einem Artikel zum Strafrecht.

SCHWERPUNKT Was ist das eigentlich: Kapitalismus? Der Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit einer sozialistischen Wirtschaftspolitik setzt die Analyse der gegebenen Gesellschaftsformation voraus. Auf dem Weg zum Sozialismus bedarf es

21 der Kenntnis, wie kapitalistische Mechanismen in unserer Gesellschaft wirken. Der Autor fragt in diesem Artikel entsprechend danach, was denn dieser Kapitalismus eigentlich sei.

Neue Wirtschaftsdemokratie – zehn Thesen Die Demokratisierung der Wirtschaft ist das Kernelement sozialistischer Wirtschaftspolitik. Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie aus den 1920er Jahren scheint heute etwas verstaubt zu

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sein. Helmut Martens 10 Thesen geben einen kurzen Einblick in die Geschichte der Wirtschaftsdemokratie und bieten neue Anknüpfungspunkte für eine Erneuerung.

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Die Eigentumsfrage im sozialistischen Wirtschaftssystem Kernvoraussetzung für die Thematisierung einer sozialistischen Wirtschaftsweise ist die Erörterung des Umgangs mit der Eigentumsfrage. Der Autor geht auf die Probleme der aktuellen Eigentums-

ordnung ein und stellt Grundsätze für eine Reorganisation des Eigentums an den Produktionsmitteln in einer sozialistischen Wirtschaftsordnung auf.

Neoliberale Denkmuster in der SPD: „Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern“ Eine Kernthese im Gründungsaufruf der neuen SPD-Linken lautete, neoliberale Denkmuster würden bis tief in die SPD hinein wirken. Dem steht entgegen, dass die SPD im Bundestagswahlkampf 2013 dem Neoliberalismus den Kampf angesagt hatte. Wie aber verhalten sich sozialdemokratische

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kratischen Sozialismus zu organisieren ist, darüber gibt es allerdings weit weniger klare Konzepte. Einen Einblick in Beispiele und Perspektiven liefert Ole Erdmann mit diesem Beitrag.

Nachhaltigkeit zwischen 2 bis 4 Punkt Null Herausforderungen eines sozial-ökologischen Aufbruchs Das fossile Zeitalter des Wirtschaftens ist mehr und mehr vorbei. Neben der zentralen Herausforderung, die Energiewende zu meistern und somit auch in Zukunft wirtschaftliche Handlungsoptionen zu erhalten, ist insbesondere der Grundsatz

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und neoliberale Politik nun zueinander? Die Autoren dieses Beitrages haben es sich zur Aufgabe gemacht, neoliberale Merkmale stichprobenartig in der Programmatik und im politischen Handeln der SPD nachzuweisen.

„My home is my castle“ – ist regionale Wirtschaftsdemokratie von Vorteil? Bis heute finden sich in den Beschlüssen der Jusos Positionen, die eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft einfordern. Wie die gesellschaftliche Wertschöpfung in einem demo-

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der Nachhaltigkeit für die Autorin eine der Schlüsselkategorien für das zukünftige Wirtschaften. Sie beschreibt dabei die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, wenn der sozialökologische Umbau gelingen soll.

Heidemarie Wieczorek-Zeul im Interview über Globale Gerechtigkeit 62 Im Interview spricht Heidemarie Wieczorek-Zeul über Globale Gerechtigkeit, globale Produktionsbedingungen und eine sozialistische Vorstellung

von globalem Wirtschaften. Die Stellung von Entwicklungspolitik und internationalen Institutionen muss weiter gestärkt werden.

Versuch über den sozialistischen Menschen Die Rede vom Raubtiermenschen macht sozialistische Hoffnungen zunichte, ist aber unterkomplex und ahistorisch. Gegen sie ist die Hoffnung auf das Bessere aufrechtzuerhalten, ohne dabei

in rasend-blinden Aktionismus zu verfallen oder sein unpolitischen Refugium im weltlosen Elfenbeinturm zu suchen.

Grundlagendokument: Auszug aus den Herforder Thesen II Die Herforder Thesen II waren das zentrale Theoriedokument der marxistischen Juso-Linken (auch bekannt unter der Bezeichnung „Stamokapler“). Wer wissen möchte, wie eine sozialistische Wirt-

Fakten + Lexikon

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schaftspolitik im Verständnis der damaligen JusoLinken auszusehen habe, dem sei dieser Auszug aus dem Programm wärmstens empfohlen.

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Wirtschaft gestalten: global und gerecht! von Ceylan Özçetin und Jan Krüger, Redaktion

Neoliberale Dogmen begegnen uns seit Jahrzehnten in verschiedenen, aber vor allem wirtschaftspolitischen Debatten. 2009 fragte die FAZ nach der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, ob die gesellschaftliche Linke nicht doch Recht hatte. Aber Recht haben und Recht bekommen sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Trotz der Talfahrt der Weltwirtschaft sind genau dieselben Mechanismen, die zu dieser Situation geführt haben, weiterhin wirkmächtig. Die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland stand in den vergangenen Jahrzehnten immer unter dem Damoklesschwert des globalen Wettbewerbs. Um in diesem Wettbewerb bestehen zu können und Arbeitsplätze zu sichern, wurde eine Vielzahl von Erleichterungen für Unternehmen vorangebracht. Die Senkung von Lohnnebenkosten und die Besteuerung von Unternehmensgewinnen stehen beispielhaft für diese Situation. In der theoretischen Analyse und der politischen Debatte geraten soziale Gleichheit und sozialer Zusammenhalt zunehMAGAZIN

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mend in den Hintergrund. Statt, wie ursprünglich propagiert, dem Menschen zu dienen, wird der Marktmechanismus zunehmend zum Selbstzweck. Nur ein geringer Teil des globalen Geldvolumens lässt sich auf die reale Wirtschaft zuordnen. Die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise zeigte zweifellos, wie sehr außenwirtschaftliche Verflechtungen realwirtschaftliche Konsequenzen über Ländergrenzen hinweg übertragen werden und wie sehr sie Armut und soziale Ungleichheit verschärfen können. Hinzu kommt, dass die ökologischen Folgewirkungen der Globalisierung nahezu bedenkenlos an die nachfolgenden Generationen weitervererbt werden. Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe der Jusos, sich die Frage nach einer alternativen Wirtschaftsordnung zu stellen. Diese Diskussion spielte im Verband schon immer eine große Rolle und soll dies auch weiterhin tun. Doch die Rahmenbedingungen verändern sich. Antworten, die vor 20 Jahren gegeben wurden, müssen nicht mehr unbedingt auf die heutige Zeit passen. Darum wollen wir mit diesem Heft die Debatte bei uns erneut anstoßen und uns auf die Suche nach alternativen Kon5

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zepten sozialistischer Wirtschaftspolitik machen. Einige Herausforderungen, die uns dabei begegnen werden, wollen wir hier schon einmal kurz aufzeigen: Die Globalisierung wirft fortlaufend die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten nationaler Politik auf. Unterdessen hat sie die gewohnten Arbeitsbedingungen und Lebensumstände der Menschen nachwirkend verändert. Der Wettbewerb kennt keine Grenzen mehr. Neue Fragen sind aufgetaucht, etwa, ob uns neue Technologien dabei helfen können, erforderliche Güter ressourcenschonender zu produzieren und wie diese mehr Menschen zugänglich gemacht werden können. Oder ob Gerechtigkeit durch die Globalisierung untergraben wird oder ob sie nicht, ganz im Gegenteil, sogar dazu beitragen kann, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Die Entwicklung des notwendigen politischen Rahmens geht nur in weltweiter Zusammenarbeit, auf Augenhöhe mit allen beteiligten Ländern. Europäische Erfahrungen und Offenheit können hier Impulse geben, aber sollten einer alternativen Entwicklung, dem Erkämpfen und Durchsetzen von (Menschen-)Rechten und der Emanzipation der Menschen nicht im Weg stehen. Das macht die freiheitliche, gerechte und soziale politische Gestaltung der Globalisierung – und auch der Digitalisierung – zu einer enormen politischen Herausforderung. Der Konsum günstiger Produkte, deren Bestandteile aus der ganzen Welt kommen, 6

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ist für uns mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Multinationale Unternehmen importieren Rohstoffe aus den Entwicklungsländern. Ihren Ursprung haben die Preise überwiegend in den niedrigen Löhnen und Lohnnebenkosten. Der freie Welthandel hat es bisher nicht geschafft, für einen Ausgleich zu sorgen. Dennoch ist in Ländern wie Brasilien, Russland und China durch eine zunehmende Industrialisierung eine neue soziale Mitte entstanden. Gleichzeitig ist die Schere zwischen Arm und Reich aber in fast allen Ländern der Welt größer geworden. Handelsabkommen wie TTIP werden in den Bevölkerungen sehr kritisch diskutiert und es ist höchst fraglich, ob sie einen Beitrag zu einem solidarischeren Weltwirtschaftssystem leisten können. Mensch und Umwelt müssen die zentralen Kriterien für politische Entscheidungen sein. Der Ressourcenverbrauch des Wirtschaftssystems muss langfristig reduziert werden, wenn eine nachhaltige Form des Wirtschaftens gefunden werden soll. Technologien und gezielten Anreize für ein nachhaltiges Konsumverhalten, faire Produktionsweisen und sparsamer Ressourcenverbrauch können erste Schritte sein. Doch wie der Ausgleich zwischen den Konsumwünschen anderer Länder und dem hohen Verbrauch von Rohstoffen aussehen soll, muss geklärt werden.

Wirtschaft gestalten: global und gerecht! Argumente 1/2015

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Auch die Digitalisierung ergreift viele Wirtschaftsbereiche und lässt neue Produkte und Märkte entstehen. Sie kann zu einer stärkeren Demokratisierung von Marktprozessen beitragen, ist aber auch mit vielen offenen Fragen verbunden. Es ist zwar möglich, zielgenau auf die bestehenden Bedürfnisse abgestimmt Produkte zu produzieren, aber auch Dienstleistungen lassen sich einfach und ohne großen Aufwand in Länder mit geringerem Lohnniveau verlagern. Aber auch Fragen des gleichen Zugangs und der Netzneutralität sind enorm wichtig für die Entwicklung einer globalen digitalen Wirtschaftsstruktur.

ren kann, widerspricht unseren Grundsätzen und Vorstellungen fundamental. Stattdessen muss unsere Alternative in den Mittelpunkt stellen, dass alle Menschen von einem Wirtschaftssystem profitieren können und in dieses eingebunden werden. Zu diesen und vielen anderen Punkten findet ihr Beiträge im Schwerpunktteil und wie immer werden such in dieser Argumente-Ausgabe aktuelle Debatten aufgegriffen. Wir wünschen euch nun viel Spaß beim Lesen und hoffen auf lebhafte Debatten über die hier veröffentlichten Beiträge! Eure Argumente-Redaktion

Gute Arbeit ist für uns bei der Bewertung eines Wirtschaftssystems das zentrale Kriterium. Ein Weg für die Vermeidung der zunehmenden Entgrenzung von Arbeit und Kapital sehen wir in einer stärkeren Demokratisierung der Arbeit. Gewerkschaftsrechte, durch direkte, unternehmerische und betriebliche Beteiligung der Beschäftigten, helfen den Menschen die innere Entwicklung ihrer Arbeitswelt mitzugestalten und Missständen entgegenzutreten. Deshalb muss auf eine Internationalisierung der Wirtschaft auf globaler Ebene eine Internationalisierung der Regelungen und Instanzen folgen. Doch auch die Veränderungen in der Arbeitswelt müssen sich in unserer Vorstellung eines sozialistischen Wirtschaftssystems wiederfinden. Ein System, das Produkte nur durch die Ausbeutung von Menschen produzieMAGAZIN

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Vermögensteuer – kein Tabu! von Mechthild Schrooten, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bremen und Sprecherin der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Das private Vermögen in Deutschland lag 2012 Schätzungen zufolge bei 6,3 Billionen Euro – Tendenz steigend und offenbar weit unterschätzt (Grabka/Westermeier 2015; Grabka/ Westermeier 2014). Vermögend zu sein hat Vorteile, denn mit dem vorhandenen Vermögen lassen sich Güter und Dienstleistungen erwerben, die die Lebensqualität deutlich erhöhen können. Es schafft Handlungsspielräume und damit Entscheidungsmacht. Durch Vermögen kann weiteres Einkommen generiert werden. Darüber hinaus geht von der Vermögenssituation ein Statuseffekt aus. Vermögensbildung spielt zudem bei der Alterssicherung eine Rolle – kurzum Vermögen und die eigene Vermögenssituation sind wichtig für die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung. Die Datenlage über die Superreichen und Vermögenden in Deutschland ist miserabel. Bekannt ist vieles über die Armut – das Thema Reichtum wird wesentlich seltener aufgegriffen. Daran ändern auch Ar8

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muts- und Reichtumsberichte nichts. Denn kulturell bedingt und rechtlich abgesichert sind die Themenkomplexe „Reichtum, Geld und Vermögen“ Tabuzonen. Einen Überblick über die persönliche Vermögenssituation müssen dem Staat in erster Linie Menschen bieten, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch erhalten. Das sind in der Regel diejenigen mit einem eher geringen Vermögen. Die wirklich Vermögenden und Superreichen müssen das nicht. Das ist in jeder Hinsicht asymmetrisch. Da die Definition von Vermögen im steuerrechtlichen Sinne viel Interpretationsspielraum zulässt, ist die Vermögensteuer ausgesetzt. Die Vermögensteuer ist in Deutschland eine Ländersteuer. Viele Bundesländer weisen einen chronisch defizitären Haushalt aus. Einnahmen aus dieser Steuerquelle könnten die Finanzsituation deutlich entschärfen (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2014). Angenommen es würde – bei Freibeträgen von 500 000 Euro – eine Vermögensteuer mit einem durchschnittlichen effektiven Satz von 0,5 Prozent erhoben, so würde den Bundesländern schnell eine Summe von Vermögensteuer – kein Tabu! Argumente 1/2015

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rechnerisch mehr als 30 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Dieses Geld könnte beispielsweise in den Bildungssektor fließen. Endlich könnten überfällige Investitionen getätigt werden. In Bundesländern wie Bremen, die eine hohe MillionärInnendichte, aber leere öffentliche Kassen haben, könnte die Vermögensteuer hilfreich sein. An der Vermögenssituation der Reichen, Superreichen und Vermögenden würde sich hingegen kaum etwas verändern. Dennoch müssen sie derzeit nicht befürchten, Vermögensteuer zu zahlen. Warum eigentlich? Es kann nicht an der unklaren Vermögensdefinition liegen. Schließlich gelingt eine klare Definition im Sozialgesetzbuch – wieso eigentlich dann nicht für steuerlich relevante Vermögenswerte? Auch die öffentliche Diskussion um eine Steuererhöhung muss nicht gescheut werden. Denn eine sinnvolle Vermögensteuer setzt bei den Reichen und Superreichen an – nicht bei den Durchschnittsbürgerinnen und – bürgern. Tatsächlich liegt das durchschnittliche Nettovermögen der Deutschen bei 83 000 Euro. Von einer Vermögensteuer mit Freibeträgen in der Größenordnung von 500 000 Euro wären demnach nur die wenigsten betroffen – Schätzungen zufolge wären es weniger als 5 Prozent der Bevölkerung. Müssen diese geschützt werden? Eine Vermögensteuer würde jedoch nicht nur einen Einnahmeeffekt für die Länderhaushalte nach sich ziehen. Die Vermögensteuer könnte auch der wachsenMAGAZIN

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den Verteilungsproblematik innerhalb des Privatsektors in Deutschland entgegenwirken. Die ungleiche Verteilung von Vermögen ist in Deutschland erheblich. Bei der Vermögensungleichheit nimmt Deutschland in der Eurozone einen Spitzenplatz ein (Fessler/Schürz 2013). Vermögensverteilung* Deutschland

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* Stand: 2010. Deutschland: Stand 2012. Quellen: Fessler/Schürz 2013. Zahlen für Deutschland nach Grabka/Westermeier 2014. Vermögensungleichheit gemessen als Gini-Koeffizient. Der Wert des Koeffizienten liegt im Grundsatz zwischen Null (Vermögensgleichverteilung) und 1. Ein Wert von 1 bedeutet, dass das gesamte Vermögen in der Hand eines einzelnen liegt.

Der Gender-Gap beim Vermögen ist riesig. Frauen haben auch in Deutschland deutlich weniger Vermögen als Männer (Grabka/Westermeier 2014). Dabei ist davon auszugehen, dass die Vermögenssituation eine hohe Persistenz aufweist. Vermögende von heute sind oft die Vermögenden 9

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von morgen. Denn Vermögen wird vielfach vererbt oder innerhalb eines Familiennetzwerkes durch Schenkungen übertragen. Durchlässigkeit ist schwierig. Dazu kommt, dass Thomas Piketty jüngst empirisch gezeigt hat, dass der kapitalorientierten Marktwirtschaft Umverteilungsmechanismen von unten nach oben innewohnen, durch die Vermögende und Reiche immer reicher werden (Piketty 2014). Es ist eine originäre Politikaufgabe, solche Marktergebnisse zu korrigieren. Eine Vermögensteuer könnte einen Beitrag dazu leisten. Dies aber bedeutet ein radikales Umdenken, erfordert Mut und ein Politikverständnis, das nicht länger den Renditeschutz von Unternehmen und Vermögenden in den Mittelpunkt stellt. Größere Verteilungsgerechtigkeit bedeutet jedoch nicht nur eine stärkere Besteuerung der Reichen und Vermögenden; größere Verteilungsgerechtigkeit erfordert auch mehr Sozialstaat.

Mechthild Schrooten ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Geldpolitik und Internationale Wirtschaft an der Hochschule Bremen (mechthild. schrooten@hs-bremen.de) und Sprecherin der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Global Management, Internationale Transaktionen, TTIP, sowie Finanzkrisen, Eigentum und Geld.

Literatur: Grabka, Markus M. und Westermeier, Christian (2015): Große statistische Unsicherheit beim Anteil der Top-Vermögenden in Deutschland. In: DIW Wochenbericht 7/2015. Grabka, Markus M. und Westermeier, Christian (2014): Anhaltend hohe Vermögensungleichheit in Deutschland. In: DIW Wochenbericht 9/2014. Piketty, Thomas (2014): Das Kapital des 21. Jahrhunderts. München. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2014): Kein Aufbruch – Wirtschaftspolitik auf alten Pfaden. Köln. Fessler, Primin und Martin Schürz (2013): CrossCountry Comparability of the Eurosystem Household Finance and Consumption Survey. Österreichische Nationalbank.

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Vermögensteuer – kein Tabu! Argumente 1/2015

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Unsere Richtung: links! von Johanna Uekermann, Juso-Bundesvorsitzende

Wir machen Politik, weil wir eine Vision für unsere Gesellschaft haben, die wir erreichen wollen. Das gilt insbesondere für die Linken in der SPD. Wir haben vielfältige Ideen für unsere Zukunft und den Anspruch, gemeinsam das Leben der Menschen Stück für Stück zu verbessern. Und das schaffen wir nur mit vereinten Kräften. Die SPD-Linke hat in den letzten Jahren eine inhaltliche Kursverschiebung erkämpft. Einige zentrale Positionen der SPD-Linken, beispielsweise im Bereich der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik, sind mittlerweile programmatischer Mainstream in der SPD und wurden im Zuge der Regierungsbeteiligung der Partei umgesetzt. Doch natürlich ist noch vieles unerledigt. Im letzten November trafen sich mehrere hundert SozialdemokratInnen in Magdeburg, um die Magdeburger Plattform zu gründen. Dieser Zusammenschluss von Linken in der SPD hat sich zur Aufgabe gemacht, das Profil der SPD als linke Volkspartei zu schärfen. Und das ist notwendiger denn je! Trotz der hohen Zustimmung der Umsetzung vieler sozialdemokratischer Projekte in der großen Koalition, scheinen die MAGAZIN

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Umfragewerte der SPD bei 25 % wie festbetoniert. Aber anstatt unruhig zu werden oder hektische Kursverschiebungen der Programmatik nach rechts zu unternehmen, sollten wir weiter daran arbeiten, Glaubwürdigkeit zurückzuerlangen. Die SPD hat viele ihrer Wählerinnen und Wähler mit schlechter Politik enttäuscht. Dieses Vertrauen zurück zu gewinnen braucht Zeit und eine klar kommunizierte Idee, wohin die Reise gehen soll. Einzelne programmatische Spiegelstriche, die wir umsetzen, überzeugen zwar in der Sache, wecken aber eben keine Begeisterung. Immer, wenn die SPD erfolgreich war, wurde sie mit einem Projekt der gesellschaftlichen Erneuerung identifiziert. Wir müssen deshalb mehr sein als die Summe unserer Spiegelstriche. Wir müssen das sozialdemokratische Puzzle wieder zusammensetzen. Nicht weniger als das ist die Aufgabe einer gestärkten SPD-Linken! Was wir den Menschen zeigen müssen ist, dass wir den Mut zur Veränderung haben und nicht vor angeblichen Zwängen kapitulieren. Niemand möchte wissen, was alles nicht geht, sondern was möglich ist. Mutige Ideen und konkrete Konzepte brauchen wir vor allem für folgende Themen: 11

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Die jüngsten schweren Wirtschaftskrisen haben das neoliberale Zeitalter nicht beendet. Neoliberale Denkmuster halten sich besonders im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich hartnäckig und sind bis tief in die SPD hinein wirkmächtig. Das wird immer wieder bei den Diskussionen um Investitionsfinanzierung und Haushaltspolitik und den richtigen Antworten auf die Eurokrise oder das Freihandelsabkommen TTIP deutlich. Hier müssen wir als Linke dagegenhalten und unsere Überzeugungen einer gerechten Wirtschaftspolitik entgegensetzen. Krisen sind dem Kapitalismus immanent und deshalb braucht es einen handlungsfähigen Staat, der die Krisenfolgen für die Menschen abmildern kann. Gleichzeitig sind innovative Produkte und Produktionsprozesse häufig dort entstanden, wo sie weitsichtig vom Staat unterstützt worden sind. Wenn Märkte nicht funktionieren oder suboptimale Ergebnisse produzieren, liegt es ebenfalls in der Verantwortung des Staates, steuernd einzugreifen. Der durch eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung befeuerte Nord-Süd-Konflikt, die Zunahme von Krisen und Konflikten weltweit, sollten für uns deutliche Warnsignale sein auch unsere Friedensund Außenpolitik zu erneuern. Die Europäische Einigung ist eine historische Errungenschaft. Diese Formel ist in den letzten Jahren vielfach bemüht worden. Doch so richtig sie ist, so wichtig ist es auch, die Frage zu stellen, in welche Richtung sich Europa entwickeln soll. Derzeit 12

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leidet ein großer Teil der jungen Generation unter prekären Verhältnissen und hoher Arbeitslosigkeit. Diese Menschen erwarten von den europäischen Institutionen Antworten auf ihre konkrete Lebenssituation. An diesem Anspruch wird sich Europa messen lassen müssen. Die Arbeit ist einem grundlegenden Wandel ausgesetzt. Das Normalarbeitsverhältnis hat aufgrund von Deregulierung in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung verloren, nur noch die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in unbefristeten, gut entlohnten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen. Die unter anderem daraus resultierende zunehmende soziale Spaltung innerhalb Deutschlands wie auch in Europa zu bekämpfen, muss Kernaufgabe der Sozialdemokratie sein. Ein Job, die Karriere, für die Eltern da sein und den eigenen Familienwunsch hegen: Menschen wollen sich heute nicht mehr entscheiden, sondern diese Bereiche miteinander vereinbaren können. Dazu gehört auch die Planungssicherheit, die durch befristete Verträge verloren gegangen ist. Die SPD muss deshalb für eine humane Arbeitswelt kämpfen, die durch mehr Planbarkeit, aber auch mehr Zeitsouveränität geprägt ist. Das Ausgreifen des Staates und privater Unternehmen auf die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger und die fortschreitende Verbotspolitik fordern ein Eintreten für Freiheitsrechte und Freiräume – insbesondere für junge Menschen. Unsere Richtung: links! Argumente 1/2015

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Und nicht zu vergessen: Die Digitalisierung schreitet weiter voran und verändert unsere Gesellschaft und das Zusammenleben fundamental. Sie wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus; Chancen und Risiken liegen oft nah beieinander. Wir sollten den Fortschritt als Chance begreifen und den Wandel dementsprechend gestalten. Bei vielen Fragen haben wir noch keine Antworten oder zumindest noch nicht in vollem Umfang. Und wir sind weit davon entfernt, dass der Kampf für eine weltweite solidarische, gerechte und freie Gesellschaft Mainstream ist. Die SPD-Linke muss der Ort sein, an dem progressive Entwürfe für eine solidarische Zukunft unserer Gesellschaft entwickelt und diskutiert werden. Der gesellschaftlichen Linken sowie unserer Partei fehlte bislang ein konsistenter, linker, solidarischer Gesellschaftsentwurf. Wenn wir als SPD den Schulterschluss zwischen Freiheit und Solidarität erneuern, dann kann uns aber genau das gelingen. Zu diesen inhaltlichen Herausforderungen gehört aber auch eine Machtperspektive mit gesellschaftlichen Bündnissen, die tragfähig ist, diese Diskussionen in reale Politik umzusetzen. In der Rolle als Juniorpartner der CDU wird uns das nicht gelingen. Deshalb muss mit Nachdruck an einem Rot-Rot-Grünen Bündnis gearbeitet werden. Gerade in Zeiten, in denen die gesellschaftliche Rechte und rechte Parteien wieder stärker werden, bringt das Fingerzeigen unter Linken die Gesellschaft nicht weiter. Niemand wird es uns Linken MAGAZIN

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abnehmen, Perspektiven für eine gerechte Gesellschaft zu entwickeln. Dafür brauchen wir viele Menschen innerhalb der SPD, die sich dem linken Flügel zugehörig fühlen. Die Magdeburger Plattform soll den Austausch zwischen diesen Menschen organisieren und damit einen Beitrag leisten, programmatische Debatten mit allen zu führen. Für die Jusos als linker Richtungsverband ist klar, dass wir ein Teil dieser Diskussion sein müssen. Dort wo wir die innerparteiliche Debatte in unserem Sinne beeinflussen können, werden wir gebraucht und ist unsere Expertise wichtig. Deshalb sind auch wir selbstverständlich Teil der großen Familie von Linken in der SPD, die sich zur Magdeburger Plattform zusammengeschlossen haben. Die anstehenden Aufgaben für die Linke in der SPD sind groß. Auf dem Bundesparteitag werden die ersten inhaltlichen Pflöcke für das nächste Wahlprogramm eingeschlagen. Mit unseren Ideen und Zielen müssen wir dort präsent sein, um nicht hinter bereits beschlossenes zurückzufallen und frischen Wind für das nächste Wahlprogramm anzufachen. Das wird aber nur gelingen, wenn der linke Flügel Hand in Hand arbeitet und sich nicht auseinander dividieren lässt. Viel zu oft haben von solchen Situationen diejenigen profitiert, die der SPD ein anderes Profil geben wollten. Johanna Uekermann ist Politikwissenschaftlerin und seit 2013 Bundesvorsitzende der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten. 13

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Zwischen Sozialismus und Realpolitik – r2g in Thüringen von Diana Lehmann, Soziologin und Mitglied des Landtages in Thüringen

Vermutlich wurde überregional nie häufiger und ausführlicher über die Ergebnisse einer Landtagswahl in Ostdeutschland berichtet, als über die Landtagswahl in Thüringen im vergangenen Herbst. Nie stand das kleinste der ostdeutschen Länder stärker im öffentlichen Fokus. Selten hatte die kleine Thüringer SPD mehr Ratgeber/ Innen, selten haben sich mehr Menschen Gedanken um ihre Zukunft gemacht, als im vergangenen Jahr und das weit über die eigene Mitglieder- und WählerInnenschaft hinaus. Das alles nur, weil sich die SPD in Thüringen entschieden hat, Koalitionsverhandlungen mit der LINKEN und den Grünen aufzunehmen und das – soweit die Neuigkeit – unter Führung der LINKEN. Letztendlich ist weder das eine noch das andere neu: Bündnisse mit der LINKEN kennen wir schon aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin. Dass die SPD als Juniorpartner in eine Regierung geht ist vielleicht nicht schön, 14

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aber bei weitem kein Novum. Nicht zuletzt die Wahl eines Grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg ist Ausdruck einer Veränderung des deutschen Parteiensystems, der wir uns nicht verschließen können. Weit bemerkenswerter die Reaktionen: Führende CDU- und AfD-PolitikerInnen führten Proteste und – schon allein historisch mehr als unglücklich – Fackelmärsche an, beriefen sich auf die besondere Verantwortung der ’89er Freiheitsbewegung und unterstützten damit auch ein Klima, dass offene Anfeindungen, Drohungen und Angriffe auf PolitikerInnen von SPD, LINKEN und Grünen zulässt. Dabei verspricht der Koalitionsvertrag längst keinen Sozialismus und auch keine Rückkehr zur DDR. Neueinstellungen bei LehrerInnen, ein kostenfreies Kita-Jahr, die Stärkung der Jugendarbeit sowie der Arbeit gegen Rechtsextremismus, die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen und Verbesserungen in der Flüchtlingspolitik sind Maßnahmen, die mit dem konservativen Koalitionspartner

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weit schwerer umzusetzen gewesen wären – ein gesellschaftlicher Umbruch indes sind sie nicht. Die Demonstrationen gegen und die Dämonisierung von r2g (Rot-RotGrün) sind schon wenige Wochen nach der Regierungsbildung fast wieder vergessen. Wieso auch nicht: Die Angst vor dem Sozialismus hat sich offensichtlich nicht bewahrheitet und selbst die CDU scheint ihre Befindlichkeit gegenüber der LINKEN – zumindest in Teilen – vergessen zu haben, beginnt sie doch inzwischen deren Anträge aus der Oppositionszeit ins Parlament einzubringen. Betrachtet man die Wahlergebnisse der letzten beiden Landtagswahlen in Thüringen, dann war die Entscheidung für r2g mehr als konsequent – denn ob es zur nächsten Wahl tatsächlich noch eine realistische Mehrheit links der Mitte gegeben hätte, ist mehr als fraglich. Eigentlich kam die Entscheidung sogar zu spät. Nie konnte man in Thüringen den Wechselwillen deutlicher erkennen als nach der Landtagswahl im Jahr 2009. Nie hatten sich in Thüringen mehr WählerInnen für die Parteien links der Mitte entschieden – SPD, LINKE und Grüne kamen damals auf 52 %, CDU und FDP gerade mal auf 38 %. Auch aus den Kommunalwahlen ging die SPD 2009 gestärkt hervor. Mit einer ganzen Reihe von OberbürgermeisterInnen und LandrätInnen, konnte sie damit – wie die LINKE – ihre kommunale Basis ausbauen. Die lange geltende Meinung, der eher ländlich geprägte Raum könnte der CDU MAGAZIN

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nicht genommen werden, gilt seitdem als widerlegt. 2014 kommen SPD, LINKE und Grüne gerade noch auf 46,3 %, die konservativen und rechts-außen Parteien legten mit 44,1 % der Stimmen im Landtag wieder deutlich zu. Für die SPD selbst ist das Ergebnis noch einmal deutlich dramatischer. Nach dieser Wahl für eine Neuauflage der Großen Koalition zu stimmen, hätte auch aus strategischen Gründen bedeutet, die Bündnisoption links der Mitte aufzugeben – wahrscheinlich auch über die nächste Wahl hinaus. Dafür, dass die SPD von Koalitionen mit der CDU nicht profitiert, gibt es in den vergangen Jahren genügend Hinweise. So z. B. die Landtagswahl in Thüringen, aber auch die fast schon wieder in Vergessenheit geratene Bundestagswahl im Jahr 2009. Die Landtagswahl 2009 hat in Sachsen zwar auch nicht dazu geführt, dass die SPD eingebrochen ist, aber mit gerade einmal 10 % verharrte sie auf niedrigem Niveau. Jetzt sind die Voraussetzungen in Thüringen andere als im Bund; selbst die Voraussetzungen zwischen den ostdeutschen Ländern unterscheiden sich deutlich. Traditionell ist die LINKE hier deutlich stärker als in den westdeutschen Ländern, in den Landesparlamenten und inzwischen auch auf kommunaler Ebene fest etabliert. In den westdeutschen Bundesländern ist die Situation eine andere. Nur in fünf der elf Landesparlamente ist sie noch vertreten. Nennenswerte Erfolge auf kommunaler Ebene kann sie nicht verzeichnen. Wäh15

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rend Koalitionen aus Grünen und SPD hier noch reale Optionen sind, sind diese in den ostdeutschen Ländern ohne eine Kooperation mit der LINKEN momentan – und wenn wir realistisch sind auch auf absehbare Zeit – nicht umsetzbar. Koalitionen mit der LINKEN sind also auch ganz pragmatisch betrachtet notwendig, wollen wir uns nicht ausschließlich von der CDU abhängig machen. Natürlich darf eine Koalition mit LINKEN und Grünen nicht zur rein strategischen Frage werden. Sie muss auf der Frage basieren, welche Inhalte sich durchsetzen lassen und wie gut sich die SPD profilieren kann. Denn r2g steht als Koalition für ein anderes gesellschaftliches und demokratisches Verständnis. Ein Beispiel dafür ist der erste Kabinettsbeschluss, den die neue rot-rot-grüne Landesregierung gefasst hat: Der Winterabschiebestopp für Flüchtlinge. Mit der CDU undenkbar, in einer Koalition aus SPD, LINKEN und Grünen geräuschlos umgesetzt. Es ist ein erstes Zeichen dafür, dass diese Koalition für eine andere politische Kultur steht – für mehr Offenheit, für mehr Beteiligung, für mehr Mitbestimmung. Es ist jetzt an uns, eine Chancendebatte um diese rotrot-grüne Koalition zu führen. Deutlich zu machen, dass sie ein Beitrag dazu sein kann, die politische Kultur in unserem Land wieder zu verbessern. Vielleicht ist Thüringen zu klein, als dass es als Schablone für die Bundesebene genutzt werden kann. Klar ist aber: Scheitert das Projekt 16

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bei uns, wird es für den Bund auch wieder deutlich unwahrscheinlicher, es zumindest mittelfristig umzusetzen. Umso wichtiger, dass die Jusos das Projekt auch außerparlamentarisch begleiten. Diana Lehmann ist Soziologin und vertritt die Thüringer SPD seit der letzten Wahl im Thüringer Landtag. Sie ist u. a. Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik, Gleichstellung sowie Kinder- und Jugendpolitik. Sie ist Mitglied im SPD-Landesvorstand und war von 2009 bis 2011 Landesvorsitzende der Jusos Thüringen.

Zwischen Sozialismus und Realpolitik – r2g in Thüringen Argumente 1/2015

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Jungsozialistische Anforderungen an das Strafrecht von Anna Müller, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Berlin

Wenn wir über unsere Vorstellung von einem guten linken Leben diskutieren, reden wir oft über Freiheit. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, was wir tun und wohin wir gehen möchten. Wir diskutieren über den Konflikt zwischen Individuum und Staat. An keiner Stelle wird dieser Konflikt so deutlich, wie da, wo der Staat dem Menschen jede Freiheit nimmt: wo er sie ins Gefängnis steckt. Kritik am jetzigen Strafrechtssystem ist vielfältig. Sie richtet sich unter anderem gegen Strafmaße, Verfahren und die Struktur in Gefängnissen. Einige linke Gruppen lehnen Gefängnisse generell ab. Doch kann es eine Gesellschaft ohne Gefängnisse geben – oder ist das eine Utopie? Wo liegen die Schwächen im jetzigen System? Dieser Text soll dazu einen Anstoß geben.

fe einen rein repressiven Zweck bei. Ihr Sinn sei es, den/die Täter/in durch die Ableistung der Strafe wieder mit der Rechtsordnung zu versöhnen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Die relativen Strafzwecktheorien richten den Fokus auf Prävention. Unter Generalprävention ist dabei der Schutz des Vertrauens der Gesellschaft in die Rechtsordnung und die Abschreckung vor der Begehung von Straftaten zu verstehen. Dies wird durch die Spezialprävention ergänzt, die ihr Augenmerk auf die Resozialisierung von TäterInnen, aber auch den Schutz der Gesellschaft vor Wiederholungen, legt. Im Strafgesetzbuch finden sich beide Theorien wieder. So soll die Höhe der Strafe anhand der Schuld der TäterInnen bemessen werden und dabei die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zum Ziel haben. Wer bestimmt Strafen?

Grundzüge des Strafrechts Es gibt diverse Theorien dazu, worin der Sinn und Zweck von Strafe liegt. Die absoluten Strafzwecktheorien messen StraMAGAZIN

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Das Gewaltmonopol hat der Staat. Er legt fest, was ein strafbares Verhalten ist, das Strafmaß, führt das Verfahren durch und vollstreckt am Ende die Strafe. Dazu 17

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wurden spezielle Organe geschaffen. Es soll gerade nicht mehr Sache der/des Einzelnen sein, einen (vermeintlichen) Anspruch oder die Sanktionierung eines (Fehl-)Verhaltens durchzusetzen. Das Strafrecht soll so frei von jeglichem Rachegedanken sein und von unabhängigen Institutionen nach objektiven Maßstäben ausgeführt werden. Wer verhängt Strafen? Wer bestraft und wie bestraft wird, muss gesetzlich festgeschrieben sein. Auch wenn viele Urteile willkürlich erscheinen, grenzt dies die Bundesrepublik von einem Willkürstaat ab. Einer der Grundsätze unseres Strafrechts ist daher, dass es keine Strafe ohne Gesetz geben darf. Der/die Gesetzgeber/in legt diese – und zwar schon bevor die Tat begangen wird – fest. Im Rahmen der Verhandlung wendet das Gericht das Gesetz an und findet eine der Schuld des/der TäterIn angemessene Strafe. Daher gibt es unterschiedliche Bestrafungsmöglichkeiten für ein und dieselbe Tat, die von Geldstrafe bis zu Freiheitsstrafe reichen. Auch ist es nicht Sache des/der Angeklagten seine/ihre Unschuld zu beweisen, was oft kaum möglich ist, sondern die Schuld muss von Seiten der Staatsanwaltschaft oder der/des Kläger/ in bewiesen werden. Gelingt ihnen dies nicht, darf kein Urteil ergehen. Und in der Realität? Tatsächlich entsteht jedoch schnell das Gefühl, dass diese Grundsätze in der Praxis 18

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nicht mehr viel Beachtung finden. Oft kommt der Eindruck auf, dass die Justiz schon längst jede Menschlichkeit, jedes Maß verloren hat und mehr von einem Macht- und Verurteilungswillen getrieben wird, als davon, den Menschen wirklich helfen zu wollen. Sind härtere Strafen notwendig? Die Freiheitsstrafe wird in Deutschland verhältnismäßig restriktiv angewandt. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland auf Platz 163, was das Verhältnis von Inhaftierten zur Gesamtbevölkerung angeht, im europäischen Vergleich auf Platz 42 von 571. Bis in Deutschland eine Freiheitsstrafe verhängt wird, sind die Menschen meist bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. 71,4 % aller Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten sind bereits vorbestraft und 53,7 % saßen bereits mindestens einmal im Gefängnis.2 Dies kann ein Aspekt sein, warum in den letzten Jahren immer wieder der Ruf nach härteren Strafen laut geworden ist, obwohl seit Jahren die Zahl von Tatverdächtigen3 und Verurteilungen4 sinkt. Lässt sich aber daraus ableiten, dass unser System zu lasch mit StraftäterInnen umgeht, oder ergibt sich daraus nicht viel-

1) International Center for Prison Studies 2) Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Stichtag 31.03.2014 3) Polizeiliche Kriminalstatistik Jahrbuch 2012 4) Statistisches Bundesamt PM vom 14.01.2015

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mehr, dass Menschen erst im Gefängnis richtig kriminell werden?

das bisherige System ausgebaut werden oder brauchen wir härtere Strafen?

Jugendliche – kriminell rein, krimineller raus?

Zwangsarbeit als „Therapie“?

Insbesondere in Bezug auf Jugendliche wird diese Frage immer wieder gestellt. Derzeit dürfen Jugendliche erst ab dem Alter von 14 Jahren strafrechtlich belangt werden. Davor kommen Maßnahmen der Jugendhilfe zum Einsatz. Einige halten das für zu spät. Ist aber das Gericht wirklich der/die richtige Ansprechpartner/in, wenn es um Kinder geht? Eine Studie5 die seit 2004 die Rückfälligkeit der InsassInnen untersucht, kommt hier zu einem eindeutigen Ergebnis. Je härter die Strafe, umso mehr Jugendliche werden umso schneller rückfällig. Während die Rückfallquote bei eher erzieherischen Strafen wie Therapien und Arbeitsstunden nach 3 Jahren „nur“ bei 53,65 % lag, steigen die Zahlen über Jugendarrest, Jugendstrafe mit Bewährung bis zur Jugendstrafe stetig an. Von denjenigen, die eine Jugendstrafe abgesessen haben, werden innerhalb der ersten 3 Jahre 70,64 % rückfällig und das auch deutlich schneller als alle anderen. Hier scheint sich eher die These „kriminell rein, krimineller raus“ zu bestätigen. Sollte also wie bisher auf Jugendhilfe, auf Bildung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen gesetzt werden? Muss

5) Bundesministerium der Justiz „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen 2004 – 2010“

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Arbeit wird als das Mittel angesehen, um Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren und sie zu einem vollwertigen Teil der Gesellschaft zu machen. Deshalb sind InsassInnen bis heute verpflichtet, in Gefängnisbetrieben zu arbeiten. Teilweise sind das gefängnisimmanente Betriebe, wie die Küche oder die Wäscherei, gefängniseigene Werkstätten, seit 2005 jedoch auch gefängnisfremde Betriebe, die Arbeitsplätze innerhalb des Gefängnisses bereitstellen. So eröffnete 2005 in Hünefeld die erste teilprivatisierte Haftanstalt Deutschlands. Alle Aufgaben, außer die des Sicherheitspersonals und der Leitung, wurden in private Hand gegeben. Da es sich bei der Arbeit im Gefängnis nicht um einen regulären Job handelt, gelten auch andere Regeln. So verdient ein Häftling um die 2 € pro Stunde, abhängig von Bundesland und Ausbildungsgrad. Ein Teil steht ihnen selbst zur Verfügung, ein Teil wird für eine spätere Zeit oder zur Befriedigung von GläubigerInnen einbehalten. Auch findet diese Zeit keine Berücksichtigung in der Rentenversicherung. Ist das ein tragbarer Zustand? Auf dem rechten Auge blind? Einige aktuelle Beispiele lassen Zweifel an der Objektivität der Justiz aufkommen. Wenn ein sächsischer Richter, wie im Verfahren von Tim H., in der mündlichen Ur19

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teilsverkündung sagt, die DresdnerInnen hätten es satt, dass Jahr für Jahr die Linken kommen und ihnen denn Gedenktag kaputt machen, klingt das eher nach Rache, vielleicht auch einem politischen Urteil, als nach einer objektiven Beurteilung. Wenn Tim dann zu 22 Monaten Haft wegen Rädelsführerschaft verurteilt wird, obwohl er nicht vorbestraft ist und am gleichen Tag mehrere vorbestrafte Neonazis wegen Körperverletzung nur eine Bewährungsstrafe erhalten, kommt das Gefühl auf, dass die Justiz auf dem rechten Auge blind ist. Das Strafrecht ist in großen Teilen kein rassistisches Gesetz. Allerdings erkennt es Rassismus und rechtes Gedankengut auch nicht als strafverschärfend an. Oft werden Straftaten von Rechten gegen Menschen mit Migrationshintergrund oder Linke als normale Streitigkeiten abgetan. Auch dann noch, wenn es eindeutig ist, dass die Auseinandersetzung erst durch die menschenverachtende Einstellung der TäterInnen verursacht wurde, weil es sich dabei um führende Köpfe des Ku-Klux-Klans, Menschen mit eindeutigen Tattoos oder mehrfach einschlägig vorbestrafte GewalttäterInnen handelt. Dies sieht man deutlich an der Liste der Todesopfer rechter Gewalt, bei der die offiziellen Zahlen und die von Nichtregierungsorganisationen weit auseinanderklaffen. Wie lässt sich ein antirassistisches Selbstverständnis in das Strafgesetzbuch schreiben? Brauchen wir einen Paragraphen, der gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als strafschärfend würdigt? 20

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Fazit Diese und weitere Fragen berühren unser Grundverständnis als JungsozialistInnen. Auch auf diese müssen wir eine Antwort finden, wenn wir uns mit einem gesamtgesellschaftlichen Entwurf für ein gutes linkes Leben befassen. Anna Müller ist stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Berlin und studiert Jura.

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Was ist das eigentlich: Kapitalismus? von Alex Demirovic, Professor für Sozialwissenschaften, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Der Wille zum Nicht-Wissen In der Folge der Krise von 2008 war einerseits davon die Rede, dass Marx‘ Analysen im Besonderen und die der Linken im Allgemeinen vielleicht doch richtig sein könnten und der Kapitalismus kein nachhaltiges Wirtschaftsmodell sei. Diese erneute große und multiple Krise des Kapitalismus zog wieder einmal die Lebensverhältnisse sehr vieler Menschen weltweit nach unten. Von einer Legitimationsschwäche des Kapitalismus war die Rede. Gegen diesen bürgerlichen Defaitismus gab es andererseits erheblichen Widerstand im bürgerlichen Lager selbst. Die Wirtschaftskrise sei Folge von staatlicher Verschuldungspolitik. Mehr Markt würde das richten; notwendig sei, falsche Anreizstrukturen zu beseitigen und die Politik mit dem Markt nur entschiedener fortzusetzen. So werden die Menschen getröstet. Deutschland, die EU, die Weltwirtschaft seien auf gutem Weg, alle sollten voller Hoffnung sein, dass all die bekannten Probleme – die Arbeitslosigkeit, die Armut, der WohSCHWERPUNKT

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nungsmangel, die Ausbildungs- und Bildungsmisere, die Entwicklung des Klimas, die Energiewende, die Kriege und die Folter, die Gefängnisse, die sexistische Gewalt gegen Frauen oder der Rassismus – schon irgendwann einmal gelöst sein würden. Wenn man dann darauf hinweist, dass doch aber die Fakten Anlass zu Zweifel gäben, dann gibt es üblicherweise drei Reaktionen. Die erste Reaktion: die Krise ist ein schwarzer Schwan, niemand konnte sie vorhersehen; zweite Reaktion: die Dinge zum Besseren benötigen ihre Zeit; dritte Reaktion: man soll nicht unrealistisch sein, die Dinge sind nun mal so, wie sie sind. Diese Reaktionsmuster sind, das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, selbst ein Merkmal des Kapitalismus. Es gehört zu ihm der Mangel an Bereitschaft, wissen zu wollen und die eigenen Konstitutionsmerkmale zu verstehen. Das beginnt bei der Schwierigkeit eines Verständnisses kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten. Von ihnen wird angenommen, dass sie evolutionär entstanden seien oder in der Natur des Menschen selbst liegen würden. Der Mensch sei gierig und würde nur seinen Nutzen verfolgen. In 21

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diesem Sinn verstanden ist die moderne kapitalistische Gesellschaft die Fortentwicklung von Verhaltensmustern, die es bereits seit Jahrtausenden gibt. Dies gilt dann auch für die ökonomischen Institutionen wie Markt, Handelsgesellschaften, Manufakturen, die für den Markt produzieren. Kapitalismus wird solchen Überlegungen folgend vor allem als ein ökonomisches System verstanden. Abweichend davon will ich von einer kapitalistisch formierten Gesellschaft sprechen, also einer Gesamtheit von Verhältnissen, die von der kapitalistischen Produktionsweise geschaffen, gestaltet und beherrscht werden. Statik und Dynamik – Identität und Veränderung Es war insbesondere Karl Marx, der darauf hingewiesen hat: Die moderne Ökonomie und die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten sind keine Naturgesetze, sondern ein besonderes historisches Verhältnis, das sich allmählich und zunehmend beschleunigt seit dem 15. und 16. Jahrhundert herausgebildet hat. Diese Entwicklungsdynamik geht immer noch weiter. Für Marx ist die kapitalistische Produktionsweise ein Mechanismus, der die Gesellschaft erzeugt, formt und ständig revolutioniert. Der Kapitalismus besteht aus Verhältnissen, die stets ihre eigene Veränderung erzeugen. Ständig schreitet alles fort, schreibt Adorno (1962, 623), nur das Ganze selbst nicht. Daraus ergibt sich ein merkwürdiges Verhältnis von Dynamik und Statik, das zur Verrätselung 22

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der kapitalistischen Gesellschaftsformierung beiträgt. So wird der Eindruck erweckt, als hätte es ganz vorpolitisch nur aus ökonomischen Gründen Klassen gegeben. Die ArbeiterInnenklasse wird bestimmt durch ihre Proletarität, also lokale Milieus, die Zugehörigkeit zu einem Betrieb, die Mitgliedschaft in einer ArbeiterInnenpartei, der Gewerkschaft, in der Konsumgenossenschaft. Weil sich solche Milieus aufgelöst hätten, gäbe es keine Klassen mehr. Doch der Milieubegriff unterschlägt den Aspekt, dass die Zusammenhänge von ArbeiterInnen, deren Lebensweise immer sehr heterogen war und ist, erst in mühsamer, komplexer politischer Aktivität hergestellt wurden und immer noch werden. Aufgrund dieser Unklarheit werden falsche Bilder nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart erzeugt. Das, was noch gerade eine jahrzehntelange Gewissheit war, mit der die Menschen überzeugt wurden, sich einzufügen: dass nämlich der keynesianische Wohlfahrtsstaat die Wirtschaft einbetten und lenken kann und die kapitalistische Ökonomie dieser Interventionen auch bedarf, wird plötzlich als überholt betrachtet – und beflissen und positivistisch vollzieht man affirmativ die Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft mit und düpiert diejenigen, die so dumm sind, immer noch an die früheren Versprechungen zu glauben. Das entscheidende Merkmal des Kapitalismus ist die Lohnarbeit. Geld und Ware, Was ist das eigentlich: Kapitalismus? Argumente 1/2015

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Herrschaftspraktiken wie die Ausbeutung von Sklaven oder die Unterdrückung von Frauen gibt es seit Jahrtausenden. Die Existenzbedingung des Kapitals ist aber erst mit den ArbeiterInnen vorhanden, die als freie Rechtssubjekte ihr lebendiges Arbeitsvermögen als Ware verkaufen müssen, weil sie über keine anderen Subsistenzmittel verfügen. Dieser weltgeschichtliche Prozess ist kein einmal abgeschlossener Vorgang, sondern vollzieht sich auch weiterhin. Der Höhepunkt der Zahl an Beschäftigten in der Industriearbeit war in Deutschland Ende der 1960er Jahre erreicht, aber heute gibt es mehr Erwerbstätige und Lohnarbeitende als je in der deutschen Geschichte. Die internationale Arbeitsteilung hat seit den 1980er Jahren zur Verlagerung vieler dieser Industriearbeitsplätze geführt; in Regionen Ost- und Südostasiens, Afrikas, Lateinamerikas wechseln hunderte Millionen Menschen aus der Landwirtschaft in die industrielle Produktion. Trotz aller Brutalität, die damit einher geht, wenn menschliche Arbeitskraft unter die Waren- und Lohnform gebracht wird, konnte schon Marx auch auf die damit verbundenen zivilisatorischen Errungenschaften hinweisen. Denn nun wird der Produktionsprozess umfassend, global vergesellschaftet. Die Einzelnen nehmen, wenn auch immer noch unter sehr restriktiven Bedingungen, an der gesellschaftlichen Kooperation und damit am kollektiven Leben, den technischen Möglichkeiten, der Politik und Kultur der Weltgesellschaft teil. SCHWERPUNKT

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Bei Kapital geht es nicht um Waren, Handel oder um Geld. Das Kapital ist ein soziales Verhältnis. Es gehört zu den Selbstverrätselungen der kapitalistischen Herrschaft, dass die BefürworterInnen dieser Form der Reichtumserzeugung glauben, dass es sich um Geld handelt, das einfach zu mehr Geld wird. Es geht um die Aneignung der Mehrarbeit der Lohnarbeitenden. Woher der Gewinn kapitalistischer Unternehmen kommt, ist ein Streit, der in der ökonomischen und politischen Theorie seit vielen Jahrzehnten geführt wird. Die Mehrheit der ÖkonomInnen lehnt die Arbeitswerttheorie der klassischen Ökonomie ab und lässt die Frage im Prinzip ungeklärt. So wie man an Gott glauben kann, auch ohne zu wissen, warum es ihn gibt und wer ihn erzeugt hat, kann man auch an den inhärenten Wert von Gütern und ihre Preise glauben. Es wird Marx kritisch entgegengehalten, er vertrete ganz in der Tradition der klassischen Ökonomie die Ansicht, dass Arbeit die einzige Quelle neu geschaffenen Werts sei (vgl. Kocka 2013, 12). Aber dieser Einwand ist in zweifacher Weise falsch. Für Marx ist neben der Arbeit die Natur eine der Springquellen des Reichtums. Zudem erzeugt Arbeit nur unter bestimmten Verhältnissen Wert, dann nämlich, wenn die gesellschaftliche Arbeit als warenförmige Lohnarbeit unter der Kontrolle von Produktionsmitteleigentümern für einen anonymen Markt erbracht wird – sich also erst auf dem Markt, in der verkehrten Gestalt von verkaufbaren Wa23

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ren und Geld, der gesellschaftliche Charakter der geleisteten Arbeit erweist. In diesem Fall nimmt die Erzeugung von Gebrauchswerten für den Bedarf der Menschen eine spezifische gesellschaftliche Form an, nämlich die von Tauschwerten, die einen Wert haben. Dieser Wert bestimmt sich durch die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit, die zur Erzeugung von Produkten notwendig ist. Dieser Durchschnittswert steht nicht von vornherein fest, durch die verausgabte Arbeitszeit, sondern wird im Durchschnitt aller Vorgänge von Kauf und Verkauf am Markt ermittelt. Diese Wertbestimmung gilt auch für die Ware Arbeitskraft – und damit sind die Lohnarbeitenden nicht nur davon abhängig, dass ihre Arbeitskraft am Markt nachgefragt wird und einen bestimmten Wert hat. Wenn aufgrund hoher Produktivität oder großer Konkurrenz des Angebots an Arbeitskräften der gesellschaftliche Durchschnitt dieses Wert sinkt, kann es sein, dass die Lohnarbeitenden für die Erhaltung ihrer besonderen Ware so wenig erhalten, dass sie sich als Individuen beziehungsweise mit ihren Familien nicht mehr gut reproduzieren können. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass es insgesamt zu viele Arbeitskräfte gibt oder dass zu viel gesellschaftliche Arbeit in die Formierung einer besonderen Form von Arbeitsvermögen investiert wurde. Der Wert der Ware Arbeitskraft ist bestimmt durch die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zu deren Erzeugung. Doch 24

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hat Arbeitsvermögen die Eigenschaft, dass es über die Zeit hinaus genutzt werden kann, die zu ihrer Reproduktion notwendig ist. Darauf beruht das Kapitalverhältnis, dass ein Vertrag Geld gegen Arbeit zwischen zwei gleichen Rechtssubjekten abgeschlossen wird. Unter kapitalistischen Verhältnissen – das ist eine der Pointen der Marxschen Theorie – findet im Durchschnitt der Verhältnisse kein Betrug statt. Der Reichtum der KapitaleigentümerInnen entsteht also nicht durch Diebstahl, durch besonders geschickten Handel oder die Steigerung der Produktivität von Maschinen. Im Einzelfall spielt all dies eine Rolle, ebenso die Rohstoffaneignung in den Länder des Südens oder die gewaltsame Abpressung von Mehrarbeit. Der aus der Mehrarbeit der Lohnabhängigen erlangte Mehrwert wird zu einem großen Teil reinvestiert – entweder durch den/die betreffenden KapitaleigentümerIn selbst oder, wenn er/sie selbst gerade nicht gewinnbringend den Kapitalstock erweitern kann, durch andere KapitaleigentümerInnen, denen er/sie über den Kapitalmarkt sein/ihr überschüssiges Geldkapital zur Verfügung stellt und dafür Zinsen oder durch Aktienbeteiligung Anteile des zukünftigen Unternehmensgewinns erhält. Über die gesamte Geschichte des Kapitalismus kann sich also der Prozess der Aneignung von Mehrarbeit progressiv beschleunigen, denn eine immer größere Menge von Produktionsmitteln kann extensiv und intensiv ein immer noch größeWas ist das eigentlich: Kapitalismus? Argumente 1/2015

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res Quantum lebendigen Arbeitsvermögens absorbieren. Unter den KapitaleigentümerInnen entsteht daraus eine besondere Dynamik der Konkurrenz um die größte Erzeugung von Mehrwert. Es geht ja zwischen den KapitaleigentümerInnen nicht um Konkurrenz als solche, sondern darum, wer die höchste Ausbeutungsrate durchsetzen und entsprechende Profite erzielen kann. Dies ist möglich durch eine Reihe von Mechanismen: ein Monopol auf die Arbeitskräfte und ihre Qualifikationen, eine besonders hohe Produktivität, besonders vorteilhafte Bedingungen zur Aneignung von Arbeitsleistungen (niedrige Löhne, niedrige Abgaben, lange Maschinenlaufzeiten, niedrige soziale oder ökologische Standards). Die kapitalistisch formierte Gesellschaft kann ihre Dynamik nicht anhalten – insofern bleibt die Forderung nach Begrenzung des Wachstums oder gar Degrowth bloßer Wunsch. Der Wachstumszwang schlägt sich nieder in der statistischen Messung des BIP. Dieses muss jedes Jahr wachsen. Wachstum bedeutet ja, dass die Gesellschaft jedes Jahr um einige Prozentpunkte reicher wird als sie im vergangenen Jahr war. Wächst sie nicht, gerät sie in eine Krise, erscheint sie sich selbst als arm, obwohl sie ja immer noch so reich ist wie im vergangenen Jahr und reicher als vor zehn oder zwanzig Jahren. Umso erstaunlicher sind dann Sätze von PolitikerInnen und UnternehmerInnen, die versichern, dass „wir“ über unsere Verhältnisse leben und uns eine Gesundheits- oder Altersversorgung wie in SCHWERPUNKT

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den 1970er oder 1960er oder 1950er Jahren nicht mehr leisten können – trotz höherer Produktivität, trotz höheren Wohlstands. Die Sorge besteht darin, dass der eigene Staat in der Konkurrenz mit anderen seine Wettbewerbsfähigkeit verliert. Um also attraktiv für InvestorInnen, für KreditgeberInnen, für Ratingagenturen zu bleiben, müssen also die Standortbedingungen optimiert werden: niedrige Steuern, geringe Löhne, niedrige Lohnnebenkosten etc. Obwohl die „Gesellschaft“ dann jedes Jahr reicher wird, stagnieren oder sinken die Reallöhne, der Umfang und die Qualität sozialer Infrastrukturen wie auch des kulturellen Lebens werden eingeschränkt. Das gleiche gilt für die materiellen Infrastrukturen wie Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude, Schienennetze, öffentlicher Ausbau alternativer Energieträger. Krisen Aus dieser Konstellation können insgesamt jeweils besondere Krisen resultieren: Es gibt nicht genügend Lohnarbeitende – in Deutschland führt dies zur Klage über den Geburtenrückgang, weil sich damit Konkurrenznachteile und Nachfrageengpässe ergeben. Es fehlen die Qualifikationen und Kompetenzen, die notwendig sind, den hoch differenzierten Produktionsapparat zu reproduzieren und zu erweitern. Dies kann zu einer Profit Squeeze Krise führen. Es werden drittens viele Waren erzeugt, aber aufgrund niedriger Löhne finden sie nicht genügend zahlungsfähige Nachfrage. 25

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An dieser Unterkonsumtionskrise hat der Keynesianismus angesetzt und die öffentliche Nachfrage (durch Rüstung, Infrastrukturmaßnahmen, sozialen Wohnungsbau) und die Nachfrage der Privathaushalte gefördert (Steuererleichterungen, Sozialtransfers). Es kann zu einer Überproduktion kommen, weil aufgrund von hoher Produktivität oder bestimmten Erwartungen am Bedarf vorbei produziert wird. Dies bedeutet, entweder Unternehmen zu subventionieren oder aber Kapital zu vernichten. Schließlich ist auch eine Überakkumulationskrise denkbar. Diese ist Merkmal der kapitalistischen Entwicklung seit den 1980er Jahren. In diesem Fall können die hohen Kapitalerträge nicht mehr gewinnbringend reinvestiert werden. Sie suchen sich ständig neue, gewinnbringende Anlagesphären. Dies führt dazu, dass die kapitalistischen Unternehmen sich wechselseitig kannibalisieren: also Anteile von Unternehmen kaufen, hohe Renditen erzwingen oder sie zerschlagen und sie vom Markt nehmen. Denkbar ist auch, dass Unternehmen versuchen, sich neue Sphären der Kapitalverwertung zu erschließen: also Privatisierung von Wasser, Energie, Bildung oder öffentlichem Wohnungsbau oder Private-PublicPartnerships. In solchen Fällen geht es um Praktiken, die in starkem Maße mit Ausplünderung dieser Infrastrukturen oder der öffentlichen Haushalte, mit Betrug und Korruption verbunden sind. Kapitalistische Reproduktionsprozesse durchlaufen immer wieder Krisen. Diese 26

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Krisen sind zumeist kleine und konjunkturelle Krisen. Doch zyklisch schaukeln sich die immer vorhandenen Krisenelemente zu großen Krisen auf. In diesen Krisen hat sich die kapitalistische Produktionsweise bislang immer wieder erneuern und auf höherer Stufenleiter reproduzieren können. In diesen Prozessen kam es auch zur Entwicklung neuer Basistechnologien. In jeder spezifischen Periode der kapitalistischen Entwicklung waren die Techniken nicht nur Verbesserung der Lebensbedingungen, neue Anlagesphäre oder Steigerung der Produktivität, sondern auch Kampfmittel gegen die Lohnabhängigen: nämlich ein Zurückdrängen ihres Einflusses, eine Erhöhung der Ausbeutungsrate. Der noch größere gesellschaftliche Reichtum, der durch diese Produktivitätssteigerung erzielt wurde, wurde wenn überhaupt, dann nur in geringem Maße an die Lohnabhängigen weiter gegeben; sie erfahren ihn in der Regel als Arbeitslosigkeit, Lohnsenkung, Intensivierung der Arbeit, Mobilitätszwang. Die kapitalistische Gesellschaftsformation Max Weber hat zurecht darauf hingewiesen, dass ein Merkmal des Kapitalismus die Trennung von formeller Ökonomie und familiärer Ökonomie ist. Tatsächlich bildet sich mit der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft die Ökonomie als eine von der Familie getrennte Sphäre des formellen Erwerbslebens mit einer eigenen rationalisierten, effizienzorientierten ÖkoWas ist das eigentlich: Kapitalismus? Argumente 1/2015

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nomie heraus. Die Familie wird abhängig von ihr äußerlichen ökonomischen Prozessen und wird zu einem privatisierten Innenraum. Für die europäische Geschichte markiert dies einen tiefen Bruch. Denn seit der Antike wurde unter der Ökonomie der Bereich des ganzen Hauses verstanden, also die verschiedenen Generationen, die Eigentümer und das Gesinde oder die Lehrlinge und Gesellen. Das Gemeinwesen bestand aus diesen verschiedenen Hauswirtschaften, die jeweils unter der Leitung eines Patriarchen standen. Nun kommt es zur Bildung von handwerklichen oder landwirtschaftlichen Betrieben, die einer eigenen ökonomischen Rationalität folgen. Mit der Bildung der modernen Familie entstehen neue, intime Kommunikationsformen, eine neue Gefühlskultur der „Liebe“ und eine Fixierung moderner Sexualitätspraktiken: die heterosexuelle Paarbeziehung, die gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Männern und zwischen Frauen, eine Vielzahl von genau erfassten, klassifizierten und analysierten ‹Perversionen›. Es bildet sich so etwas wie die Kindheit und Jugendphase in der Entwicklung von Individuen und damit ein biographisches Muster heraus, das durch die Sozialisation in den allgemeinbildenden Schulen, durch die beruflichen Ausbildungsphasen und die Dienstpflicht in einer nationalstaatlichen Armee weiter bestimmt wird. Dies trägt zur Bildung des/ der modernen, gehorsamsbereiten, nationalen StaatsbürgerIn bei. SCHWERPUNKT

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Marx hat davon gesprochen, dass die materielle Produktion des Lebens als die „Anatomie“ der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden kann. Neben der Ökonomie bilden sich zahlreiche weitere autonome Handlungsbereiche. Von Familie, Schule und Militär war schon die Rede. Darüber hinaus kommt es zur Herausbildung solcher Bereiche wie Politik, Recht, Wissenschaft, Moral, Kunst oder Sport. Für alle diese Bereiche ist entscheidend, dass sich in ihnen eine spezifische Rationalität durchsetzt, nach der Individuen handeln, ihre Erwartungen ausbilden, sich entscheiden, ihren Alltag organisieren, die Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, die Konflikte, die sie eingehen. In der Familie gibt es Gefühle, die im Alltag der Arbeit an der Universität und bei einer wissenschaftlichen Studie keine oder nur beiläufige Bedeutung haben. Viele dieser Praktiken werden verstaatlicht und nehmen den Charakter von Staatsapparaten an: die Gefühlsbeziehungen zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts nimmt die Form der grundrechtlich geschützten Ehe und Familie an; die kooperative Suche nach Erkenntnis und Wahrheit verdichtet sich in staatlich finanzierten Hochschulen. Die Staatsapparate durchdringen die gesellschaftlichen Praktiken und ziehen sie auf das eigene Terrain. Auf diesem Terrain verändern sich wiederum die Formen der Praktiken selbst: ein Künstler, dessen Bilder von Museen gekauft werden, verbessert seine Position im 27

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Feld der Kunst; unabhängige Wissenschaft außerhalb der Hochschulen zu betreiben, ist nahezu unmöglich, so dass die staatliche Förderung selbst nicht nur fördert, sondern faktisch auch zensiert. Damit entstehen dann wiederum in der Gesellschaft Machtkonflikte darum, dass alternative Praktiken nicht durch den Staat benachteiligt werden dürfen. In der Kapitalismustheorie stellt sich die Frage, was ein Staat ist und warum es ihn gibt. Der Staat übernimmt spezifische Aufgaben, doch können diese wechseln. Deswegen definiert Max Weber den Staat durch das Monopol auf die legitime Gewalt. Der Staat zieht also die Praktiken der Gewalt an sich. Aber eigentlich ist das ungenau, denn das polizeilich oder militärisch erbrachte öffentliche Gut ‹Sicherheit› kann auch privat zur Verfügung gestellt werden. Deswegen ist wohl richtiger, davon zu sprechen, dass der Staat die Sphäre bildet, in der die verschiedenen Fraktionen des Bürgertums und früherer herrschender Klassen darum kämpfen, was in der Gesellschaft als das Allgemeine gelten kann. Das ist ja ein besonderes Merkmal des Kapitalismus, dass Herrschaft auf spezifisch politische Weise, also im Namen des Allgemeinen ausgeübt wird. Das Partikularinteresse besonderer herrschender Gruppen muss also im Machtblock und gegenüber Teilen der beherrschten Bevölkerung immer wieder Hegemonie gewinnen, also davon überzeugen, dass die Gesellschaft nur überlebt oder sich gut weiter entwickelt, wenn eben 28

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diese Gruppe die Führung übernimmt und die Entscheidungen nach ihren Kriterien getroffen werden. Über diese Frage des Allgemeinwohls gibt es deswegen ständig Konflikte – und in besonders krisenhaften Situationen auch die Versuche, diesen Streit um das Allgemeine nicht mehr demokratisch auszutragen, sondern durch autoritäre Maßnahmen zu entscheiden. Da solche Streitigkeiten innerhalb des gesellschaftlich, nicht nur politisch herrschenden Lagers die Gefahr mit sich bringen, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft selbst in eine Krise hinein zu ziehen, bildet sich der moderne republikanische Staat als das Verhältnis, in dem die Konflikte ausgetragen und die Revolution, also die permanente Selbstveränderung der Gesellschaft und die geregelte, berechenbare Form des Machtwechsels, auf Dauer gestellt werden kann. Insgesamt also ist der Kapitalismus nicht allein durch kapitalistische Produktionsverhältnisse zu bestimmen, sondern durch eine bestimmte Art und Weise, wie sich Gesellschaft auf deren Grundlage formiert. Es kommt zur Herausbildung besonderer Bereiche mit je spezifischen Rationalitäten und Widersprüchen. Insoweit ist der Systemtheorie zuzustimmen, wenn sie von einer funktionalen Differenzierung spricht, die für die moderne Gesellschaft charakteristisch sei. Allerdings ist sie dort nicht richtig, wo sie nahelegt, dass die jeweiligen Funktionssysteme sich selbstbezüglich entlang einer Was ist das eigentlich: Kapitalismus? Argumente 1/2015

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für sie spezifischen Leitdifferenz konstituieren und sie sich allein durch strukturelle Kopplung ko-evolutionär zu einander verhalten. Zwar stellen Wissenschaft, Politik, Liebesbeziehungen und Familie oder Recht besondere Bereiche mit spezifischen Widersprüchen und Konflikten dar. Doch bilden sie alle Momente eines Ganzen, das in seiner Gesamtheit kapitalistisch ist, also die gesellschaftliche Kooperation unter Bedingungen der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums organisiert. Das ist die Grundlage für jene Ausdifferenzierung; und wenn sich die besonderen Handlungsrationalitäten zu verselbständigen drohen, dann greifen andere Instanzen ein: es gibt mehr Kontrolle und weniger Geld wie im Fall der Universitäten, wenn sie den Gedanken der Forschungsfreiheit zu ernst nehmen; es gibt mehr Geld, wenn Menschen die Form der Ehe oder Familie nicht mehr bereit sind zu akzeptieren; die sportliche Leistungssteigerung durch Doping wird unter staatliche Kontrolle gestellt – während die FIFA weiterhin korrupt agieren kann. Von den Menschen wird diese Art der Gliederung des gesellschaftlichen Ganzen selbst immer wieder bezweifelt. Denn es ist gerade diese Gliederung, die ihrerseits zu spezifischen Problemen führt. Demokratische Entscheidungen dürfen nicht in den ökonomischen Prozess eingreifen. Ökologische oder soziale Folgen ökonomischen Handelns werden externalisiert, so dass die Natur als Ressource genutzt und vernutzt wird. Die Kunst und die kulturellen KomSCHWERPUNKT

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petenzen werden von der Politik oder der Ökonomie abgespalten. Diese Interdependenzen werden innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und Herrschaftsform nicht bewältigt. Die kapitalistische Gesellschaftsformation ist nicht mehr komplex genug, um die von ihr erzeugten Probleme zu lösen. Der erzeugte gesellschaftliche Reichtum ist für den Prozess der Kapitalverwertung schon längst zu groß, die Menschen vielfach zu weit gebildet, um auf diesem Niveau weiter leben zu können. Doch bedauerlicherweise entwikkelt sich die Gesellschaft aufgrund der bestehenden Eigentumsverhältnisse nicht weiter. Deswegen schlägt der Fortschritt immer wieder in die Barbarei um: Kriege, Rassismus, Vertreibung, Genozid statt freie Entfaltung eines jeden Individuums. Literatur: Adorno, Theodor W. (1962): Fortschritt, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main Kocka, Jürgen (2013): Geschichte des Kapitalismus, München Marx, Karl (1890): Das Kapital, Bd. 1, in: MarxEngels-Werke, Berlin 1980

Dr. Alex Demirovic ist Professor für Sozialwissenschaften. Er steht in der Tradition kritischer Theorie und ist Mitherausgeber verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac sowie Mitglied im Vorstand der Rosa-LuxemburgStiftung.

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Neue Wirtschaftsdemokratie – zehn Thesen von Helmut Martens, Politologe und Soziologe, wissenschaftlicher Angestellter an der Sozialforschungsstelle Dortmund (sfs)

I. Angesichts der multiplen Krisenentwicklungen in der Folge des neoliberalen Rollbacks ist Wirtschaftsdemokratie bemerkenswerterweise wieder zu einem breiter diskutierten Thema geworden – noch kaum in der politischen Öffentlichkeit, wohl aber in den Sozialwissenschaften, auch im philosophischen Diskurs und in gewerkschaftlichen Debatten. Für mich ist „Neue Wirtschaftsdemokratie“ seit gut fünf Jahren ein Gegenstand, mit dem ich mich intensiv beschäftige. Eine Übersicht über meine Veröffentlichungen findet sich auf meiner Homepage www. drhelmutmartens.de – ebenso, mit weiteren Literaturhinweisen, eine Langfassung zu diesen Thesen. In ihnen diskutiere ich unterschiedliche Begründungszusammenhänge und Perspektiven, die sich mit der Diskussion um Wirtschaftsdemokratie in Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen.

1977/28) waren in hohem Maße durch ein sozialistisches Planungsparadigma geprägt. Es ist von Hilferdings Theorie des „organisierten Kapitalismus“ ebenso wenig zu trennen wie von einer Handlungskonstellation, in der die freien Gewerkschaften mit den Folgen der „halben Revolution“ von 1918 und der Spaltung der ArbeiterInnenbewegung umgehen mussten. Es transportierte eine für alle damaligen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung noch geradezu selbstverständliche Vorstellung davon, dass die historische Entwicklung auf eine sozialistische Gesellschaft zutreibe. Damit verknüpft war die Erwartung, dass in ihr die Wirtschaft planvoller gestaltet und deshalb krisenfreier und im Interesse der Arbeitenden gesteuert werden könne. Schon die Entwicklung des „organisierten Kapitalismus“ selbst sollte dem zuarbeiten. Mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1929 erwies sich dies als ökonomisch irrig.

II.

III.

Die ursprünglichen wirtschaftsdemokratischen Konzepte des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (Naphtali

Nach 1945 knüpfte der DGB wieder an das alte Konzept an. Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen auf Basis der

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gesetzlichen Regelungen von 1951/52 waren die isolierte Pragmatisierung einiger Grundgedanken des Konzepts der Wirtschaftsdemokratie für die Kräfteverhältnisse der Nachkriegszeit. Mit der dynamischen Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Demokratien in den ersten Nachkriegsjahrzehnten verlor dieser konzeptionelle Ankerpunkt dann an Bedeutung. Auch blieb die Mitbestimmung im Wesentlichen eine deutsche Besonderheit. Die Eurobetriebsräte stellen zwar eine begrenzte Verallgemeinerung im Rahmen der EU dar, dies aber nur bei nur schwach ausgeprägten Informations- und Beteiligungsrechten. IV. Die Gewerkschaften konzentrierten sich auf tagespolitische Verbesserungen, und seit den 1980er Jahren zunehmend auf deren Verteidigung angesichts des neoliberalen Rollbacks. Forderungen nach einem „neuen Reformismus“ (von Oertzen 1984), der über den Kapitalismus hinausführen könnte, fanden nach dem Ende des Jahrzehnts sozialdemokratischer Reformen bei SPD und Gewerkschaften lange keinen Widerhall. Erst in dem Maße wie das neoliberale Projekt sich unübersehbar krisenhaft entwickelte (Martens 2014, 25-98), hat sich das verändert. Nach der neuen Weltwirtschaftskrise und angesichts multipler, insbesondere auch „postdemokratischer“ Krisenentwicklungen in den westlichen Demokratien kam das wirtschaftsdeSCHWERPUNKT

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mokratische Konzept wieder in Erinnerung (Meine u. a. 2011). Es ist nicht überraschend, dass die deutschen Gewerkschaften heute angesichts der Krise des neoliberalen Projekts von Neuem an die Ansätze aus der eigenen Geschichte anzuknüpfen versuchen – sei es pragmatisch, mit dem Ziel, Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen durch neue Formen direkter Beteiligung der Beschäftigten zu stärken, oder sei es auch durch ein grundsätzlicheres neues Nachdenken über Wirtschaftsdemokratie (ver.di 2014). V. Damit stellt sich das Erfordernis, eine „Neue Wirtschaftsdemokratie“ – die mehr sein soll als eine Neubelebung keynesianischer Wirtschaftspolitik, etwa im Sinne eines „qualitativen Keynesianismus“ (Zinn 2007) – im Hinblick auf ihre ökonomischen Steuerungsfunktionen innerhalb einer gemischten Wirtschaft neu zu denken und zu begründen. Weder Konzepte zentraler Planung noch solche einer Produzentendemokratie, die an rätedemokratische Ansätze anknüpft, werden den Erfordernissen der Steuerung komplexer ökonomischer Prozesse in einer gemischten Wirtschaft gerecht (Martens 2013, 215-125). Wie in ihr Marktprozesse neu einzubetten sind und wie in diese Marktprozesse dann selbst demokratische Steuerungsinstrumente eingreifen können, die ProduzentInnen- und KonsumentInneninteressen ebenso wie Erfordernisse ökologischer 31

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Nachhaltigkeit im Interesse und unter Beteiligung aller BürgerInnen berücksichtigen können, das sind Fragen, zu denen eine entsprechende Debatte gerade erst wieder beginnt. Antworten können sicherlich nicht „am grünen Tisch“ entwickelt werden, sondern nur im Wege experimenteller Schritte. Dies aber setzt voraus, dass das „Weiter-So“ auf dem Weg marktradikaler Konzepte als Sackgasse begriffen und durchbrochen wird – nicht nur aufgrund der theoretischen Kritik des neoliberalen Konzepts und des ihm zugrunde liegenden Menschenbildes, das die Abstraktion des homo oeconomicus absolut setzt, sondern vor allem aufgrund der zunehmend verheerenden Resultate, die es hervorbringt. VI. Demokratietheoretische Begründungen schließen hier unmittelbar an (Demirovic 2007, Martens 2010, Wesche 2014). Die politische Idee einer demokratischen Gesellschaft von Freien und Gleichen hat sich im demokratischen Projekt der Moderne (Martens 2013,ff), beginnend mit der amerikanischen und französischen Revolution, in Gestalt der parlamentarischen Demokratie durchgesetzt. Diese blieb auf den öffentlich-politischen Raum beschränkt, hat dabei aber im Interesse der Freiheitsrechte ihrer BürgerInnen auch regulierend in den privatrechtlich verfassten Raum der Wirtschaft eingegriffen. Institutionell verfasste Arbeitsgesellschaften sind so in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften 32

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in unterschiedlicher Ausprägung im jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen entstanden. In den wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsdemokratien haben sie ihre am stärksten entfaltete Form gefunden. Im Maße aber, wie mit dem neoliberalen Rollback, das seit Mitte der 1970er Jahre einsetzte, Marktprozesse „entbettet“ worden sind – verbunden von Neuem mit einer ungeheuren Konzentration von Eigentum und ökonomischer Macht (Piketty 2014) sowie einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche – wird die Idee einer demokratischen Gesellschaft untergraben. Von daher gerät die Frage nach einer Revitalisierung der Demokratie, nicht zuletzt durch eine Demokratisierung auch von Entscheidungsprozessen in der Wirtschaft, neu in den Blick. VII. Hier kann man wie folgt argumentieren (vgl. Wesche 2014): Wirtschaftsdemokratische Eigentumsordnungen beteiligen möglichst viele BürgerInnen am Produktiveigentum. Öffentliches Eigentum, aber auch der Genossenschaftsgedanke werden auch aus dieser Perspektive wieder wichtig. Dies mobilisiert die demokratische Verständigung über Werte. Grundlage solcher Vorstellungen ist das freiheitliche Eigentumsverständnis selbst, denn die Freiheitsversprechen, die Eigentum rechtfertigen, sind dieselben, die seine politische Einbettung und wirtschaftsdemokratische Steuerung begründen. Derart freiheitsbasierte

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Eigentumsordnungen garantieren so allen Mitgliedern einer Gesellschaft die Verfügungsgewalt über ihre materiellen Lebensbedingungen. Man hätte so eine demokratietheoretische Begründung, die eine privatwirtschaftliche Eigentumsordnung nicht grundsätzlich infrage stellt, regulierende Eingriffe in sie aber sehr wohl begründet. VIII. Das allenthalben forcierte „Arbeitskraftunternehmertum“, also das von den Beschäftigten geforderte strategische unternehmerische Mitdenken – in Bezug auf wachsende Bereiche von Produktion, Forschung und Entwicklung oder (produktionsnahe) Dienstleistungen jeweiliger Unternehmen, in denen sie tätig sind, wie auch in Bezug auf die Entwicklung ihres eigenen Arbeitsvermögens – bietet hierfür vielfältige Anknüpfungspunkte. Es geht dann um eine „Demokratisierung der Arbeit“ (Fricke/Wagner 2012). Dabei käme es zunächst darauf an – auch im Interesse der Sicherung der Effizienz ökonomischen Handelns – die strukturellen Rationalitäten kooperativer Arbeitszusammenhänge, bei denen es um den kooperativen Wert der Arbeit geht, gegen die strukturellen Rationalitäten ökonomischer Verwertungsbeziehungen ins Spiel zu bringen, bei denen es um den ökonomischen Wert der Arbeit geht. Hier bieten sich neue Chancen, gerade wegen der Vermarktlichung und Subjektivierung von Arbeit. Sie führen nicht nur zwingend zu Gruppenkooperation als SCHWERPUNKT

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einem Grundprinzip von Arbeit. Darauf aufbauend ergibt sich auch die Frage nach den Freiheitsgründen, die nicht nur Eigentum, sondern auch dessen politische Einbettung und wirtschaftsdemokratische Steuerung rechtfertigen. Wirtschaftsdemokratie – und in einem ersten Schritt der Systemkorrektur eine Revitalisierung von Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen – hinge, aus diesem Blickwinkel betrachtet, in der Luft, wenn sie nicht von unten durch eine Demokratisierung der Arbeit fundiert wäre. Dies impliziert eine „Umkehrung bisheriger Denk- und Verhaltensmuster“ (Forum Gewerkschaften 2014), wie sie die alten wirtschaftsdemokratischen Konzepte und auch die Praxis repräsentativer Mitbestimmung gekennzeichnet haben. IX. Eine „Neue Wirtschaftsdemokratie“, wäre auf der Linie dieser Überlegungen weiter zu durchdenken und in einem tentativen Versuchsverhalten schrittweise zu entwickeln und umzusetzen. Eine Demokratisierung der Arbeit und ein Bruch mit der immer noch herrschenden neoliberal begründeten Austeritätspolitik in Europa (Martens 2014b) wären dafür zwingend. Dann ließe sie sich zugleich als Moment und Ergebnis längerer Reformprozesse denken. Konzepte einer Demokratisierung der Arbeit wären eine „Umkehrung bisheriger Denk- und Verhaltensmuster“ – in Deutschland wie in anderen europäischen 33

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Ländern. Aber überall „arbeiten“ solchen Ansätzen die Veränderungen von Erwerbsarbeit in Form ihrer Entgrenzung und Subjektivierung zu. Ebenso gibt es überall, aus den Erfahrungen mit dem Aufbau der wohlfahrtsstaatlichen Demokratien der ersten Nachkriegsjahrzehnte heraus, Anknüpfungspunkte für eine wirkliche „neue Reformpolitik“ und einen neuen, qualitativen Keynesianismus. Der Druck für ein wirtschaftspolitisches Umsteuern dürfte zunächst und vor allem in den Ländern der EU wachsen, die massiv von den ökonomischen Krisenentwicklungen betroffen sind – also von den südeuropäischen Staaten ausgehend in einer wachsenden Zahl von Mitgliedsstaaten.

zur Herausbildung einer neuen winzig kleinen Schicht von superreichen Milliardären einer globalen Geldelite, die die politische Idee einer demokratischen Gesellschaft von Freien und Gleichen untergräbt, wären in einer solchen Gesellschaft kaum mehr denkbar. Aber ihre weitere Zukunft wäre offen. Sie stünde im Rahmen ihrer demokratischen Strukturen in Gesellschaft und Wirtschaft immer wieder neu zur Entscheidung.

X.

Literatur: Demirovic, A. (2007): Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven, Münster Forum Gewerkschaften (2014):Plädoyer für einen Neustart. Betriebliche Mitbestimmung auf dem Prüfstand. Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 11/2014 Fricke, W.; Wagner, H. (Hg) (2012): Demokratisierung der Arbeit. Neuansätze für Humanisierung und Wirtschaftsdemokratie, Hamburg Martens, H. (2010): Neue Wirtschaftsdemokratie. Anknüpfungspunkte im Zeichen der Krise von Ökonomie, Ökologie und Politik, Hamburg Martens, H. (2013): Anschlussfähigkeit oder politische Subjektivierung, Münster Martens, H. (2014a): Politische Subjektivierung und neues zivilisatorisches Modell, Münster Martens, H. (2014b): Europäische Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Arbeitspolitik – zwölf Thesen, in: SPW-Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, 3/2014, S. 50 – 58 Meine, H.; Schumann, M.; Urban, H.-J. (Hg.) (2011): Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen!, Hamburg Oertzen., P. v. (1984): Für einen neuen Reformismus, Hamburg

Eine solche „Neue Wirtschaftsdemokratie“ würde weitgehende Veränderungen implizieren, ohne dass damit von neuem sozialistische Zielvorstellungen verknüpft wären, wie auch immer sie gedacht sein mögen. Sie wäre ein Konzept für eine gemischte Wirtschaft, in der ein neu eingebetteter Markt nicht infrage gestellt wird. Sie wäre aber Teil einer politischen Ordnung, die die materielle Selbstbestimmung der Einzelnen durch eine Demokratisierung von Arbeit auf der Grundlage der Freiheitsversprechen des Eigentums stärkt und in der es ein politisches Ziel werden würde, möglichst viele BürgerInnen am Produktiveigentum zu beteiligen. Entwicklungen, wie wir sie heute erleben, nämlich 34

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Naphtali, F. (1977/1928): Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, Frankfurt Piketty, T. (2014):Das Kapital im 21. Jahrhundert, München Ver.di-AK Wirtschaftsdemokratie (2014): Wirtschaftsdemokratie, Berlin (Manuskript) Wesche, T. (2014): Demokratie und ihr Eigentum. Von der Marktfreiheit zur Wirtschaftsdemokratie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 3, 2014, S. 443 – 486 Zinn, K. G.(2007): Politische Kultur und beschäftigungspolitische Alternativen. Plädoyer für einen qualitativen Keynesianismus, in: Peter, G. (Hg.): Grenzkonflikte der Arbeit. Die Herausbildung einer neuen europäischen Arbeitspolitik, Hamburg, S. 48 – 76

Helmut Martens, Dr. rer. pol., Politologe und Soziologe, ist seit 1973 wissenschaftlicher Angestellter an der Sozialforschungsstelle Dortmund (sfs). Er war von 1984 bis 2009 Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsgremiums der sfs und ist Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit. Einige Veröffentlichungen: Politische Subjektivierung und neues zivilisatorisches Modell. Plessner, Elias, Arendt, Foucault und Rancière zusammen- und weiterdenken, Westfälisches Dampfboot 2013; Neue Wirtschaftsdemokratie. Herausforderungen und Anknüpfungspunkte im Zeichen der Krise von Ökonomie, Ökologie und Politik, Hamburg, VSA (2010).

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Die Eigentumsfrage im sozialistischen Wirtschaftssystem von J. Albert Dütsch, Jurist und Volkswirt

Unter „Eigentum“ kann eine historisch entstandene Form der Aneignung materieller Güter verstanden werden, die eine umfassende Sachherrschaft – rechtlich institutionalisierter – Anerkennung der beliebigen Verfügungsmacht des Eigentümers/der Eigentümerin unter Ausschluss jedweder anderen Person bezeichnet.

gebnis individuell geleisteter Arbeit besteht.

In der gesellschaftlichen Entwicklung kommt dem individuellen, privaten Eigentum als Voraussetzung und Ausdruck bürgerlicher Freiheit eine herausragende Rolle zu. Es ist Ergebnis des lang andauernden Kampfes unfreier Menschen gegen Feudalismus und völlige materielle Abhängigkeit. Dieser bürgerliche Eigentumsbegriff entspricht auch der spätestens seit Adam Smith und David Ricardo anerkannten Erkenntnis, dass die produktive menschliche Arbeit in Verbindung mit den Werkzeugen, Maschinen und Rohstoffen unter Nutzung der vorhandenen Naturgegenstände und -kräfte den gesellschaftlichen Reichtum schafft, der aus dem Gesamter-

Die bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnung ist in ihrem Kern eine Eigentumsordnung, welche die gesellschaftliche Anerkennung und rechtliche Sicherung des privaten Eigentums an den materiellen Gütern leistet. Diese Ordnung hat ihre innere Rechtfertigung durch die wirtschaftliche Entwicklung verloren. Die zunehmend arbeitsteilige und überwiegend industrielle Produktionsweise hat in ständig ansteigendem Maße dazu geführt, dass die zur Herstellung der Güter eingesetzten (Produktions-) Mittel sich in den Händen immer weniger werdender „UnternehmerInnen“ konzentrieren, die ihrerseits die von den Produkti-

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Die Eigentumsordnung hat ihre innere Rechtfertigung durch die wirtschaftliche Entwicklung verloren.

Eigentumsordnung und Verteilungsgerechtigkeit

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onsmitteln getrennten „ArbeitnehmerInnen“ zur Güterproduktion in ihren Unternehmen einsetzen/„beschäftigen“. Das bedeutet unter der herrschenden Eigentumsordnung zwangsläufig, dass die UnternehmerInnen alleinige EigentümerInnen des Produktionsergebnisses, also aller hergestellten Güter sind. Dadurch hat sich der vormals fortschrittliche Charakter der bürgerlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung in einen repressiven umgewandelt. Aus dem individuell für sein wirtschaftliches Ergebnis arbeitenden Menschen wurde infolge des Verlustes seines Eigentums an den Arbeitsund Produktionsmitteln der/die abhängig Beschäftigte, dessen/deren Arbeitsergebnis sich der/die „UnternehmerIn“ in seiner/ihrer rechtlich dazu legitimierten Eigenschaft als EigentümerIn des Unternehmens allein aneignet. Die bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist im Zeitalter industrieller gesellschaftlicher Produktionsweise geprägt von einem antagonistischen Gegensatz zwischen den produzierenden ArbeiterInnen einerseits und den sich die Produktionsergebnisse allein aneignenden UnternehmenseigentümerInnen andererseits. Dieser Gegensatz ist – entgegen jeglicher anders lautenden sozialdemokratischen Rhetorik – nicht durch mehr „Verteilungsgerechtigkeit“ zu mildern oder gar zu beseitigen. Erkennbar wird der/die SCHWERPUNKT

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EigentümerIn der Produktionsmittel auf der Grundlage der herrschenden Eigentumsordnung jede Änderung der Verteilung des Produktionsergebnisses stets als Enteignung verstehen müssen, denn nach seinem/ihrem Verständnis ist er/sie berechtigter und (sogar verfassungs-) rechtlich geschützte/r alleinige/r EigentümerIn des Produktionsergebnisses. Demzufolge ist „Verteilungsgerechtigkeit“ unter Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung ein politisch sinnfreies Ziel. Die Verteilung ist schon vor Beginn des Produktionsprozesses eindeutig festgelegt. Trotz gesellschaftlicher Produktionsweise erfolgt eine ausschließlich private Aneignung des Ergebnisses. Verteilungsgerechtigkeit ist unter Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung ein politisch sinnfreies Ziel.

Eigentum im sozialistischen Wirtschaftssystem Aus Vorstehendem folgt: Für ein sozialistisches Wirtschaftssystem ist eine dauerhafte Abwesenheit des bürgerlichen Privateigentums an den Produktionsmitteln konstitutiv und essentiell. Der sozialistische Produktionsprozess ist nicht von privater Aneignung geprägt, sondern davon, dass durch geplanten Einsatz der gesellschaftlichen Produktionsmittel in gemeinschaftlicher Produktion die 37

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zur Deckung gesellschaftlicher Bedarfe geeigneten und dienenden Güter hergestellt werden. Die Produktionsmittel stehen in gemeinschaftlichem Eigentum; das Produktionsergebnis ist zuvorderst entsprechend dem gesamtgesellschaftlich bestimmten Plan zu verteilen. Das wirft in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung zahlreiche Probleme und Fragestellungen auf, die historisch betrachtet und auf die Zukunft gesehen höchst unterschiedlich beantwortet worden sind, und sehr different gestaltet werden können.

s Die Gestaltung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung ist ein umfassender Prozess, der in seiner konkreten Ausgestaltung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Entscheidend ist, dass ein solcher Prozess gesamtgesellschaftlich und demokratisch verläuft. s Der gesamtgesellschaftliche Prozess umfasst auch die Übertragung der an den Planzielen orientierten Produktionsaufgaben auf die einzelnen – eigenverantwortlichen – Wirtschaftssubjekte (Genossenschaften, Kooperative etc.) und die Kontrolle aller AkteurInnen durch gesamtgesellschaftliche öffentliche Organe.

Zwingend erscheinen folgende Grundsätze: s Nur auf der Grundlage gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln ist eine gemeinschaftliche Produktion, die auf einem vorher gesamtgesellschaftlich abgestimmten Plan beruht, möglich. s Eine sozialistische Produktionsweise steht differenzierten Formen gesellschaftlichen Eigentums nicht entgegen; z. B. genossenschaftlichem Eigentum, kollektivem Eigentum von Gruppen und/oder Organisationen, sowie gesamtstaatlichem (Volks-) Eigentum. s Eine sozialistische Gesellschaft steht privatem, individuellem Eigentum nicht grundsätzlich entgegen und hat die (staatliche) Verpflichtung, solches zugelassene Privateigentum umfassend zu schützen.

Der Weg in eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bringt eine Entmystifizierung des Instituts „Eigentum“ mit sich. Die (erzwungene) dauerhafte Abwesenheit des Privateigentums an den Produktionsmitteln führt zu einer radikalen Veränderung der Wertschätzung des Eigentums. Die einzelnen Personen werden sich nicht mehr in erster Linie über „ihr Eigentum“ und den ihnen daraus zufließenden Einfluss definieren. Insbesondere die mit dem bürgerlichen Privateigentum verbundene Macht über Mitmenschen wird sich längerfristig deutlich verringern. Gleichwohl kann und muss die sozialistische Gesellschaft und Wirtschaftsordnung das individuelle Eigentum an Sachen, Gütern und wohl auch an Rechten und Berechtigungen zulassen und schützen. Das ist Ausdruck und Bestandteil der indi-

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viduellen Freiheit, die der Sozialismus seinen BürgerInnen zu gewährleisten hat, zumal solche „Eigentumstitel“ keine Herrschaft über Menschen verleihen, sondern eher bloße Zuordnungen von Gegenständen zu einzelnen Personen sind. Der Weg in eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bringt eine Entmystifizierung des Instituts „Eigentum“ mit sich.

Allein die Abwesenheit des Privateigentums an den Produktionsmitteln schafft keine Gleichheit und Freiheit. Sie ist aber eine zwingende Voraussetzung dafür, dass sich die materielle Ungleichheit und Unfreiheit nicht immer weiter verschärfen. Die sozialistische Wirtschaftsordnung schafft die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe am wirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozess. Sie kann die materiellen Grundlagen für die individuelle Freiheit schaffen und die ungleiche Verteilung beseitigen. Gemeinwirtschaftliche Unternehmen Die Vorteile einer die sozialistische Wirtschaftsordnung kennzeichnenden gesellschaftlichen Produktionsweise lassen sich ansatzweise auch in einer auf bürgerlichem Privateigentum an den Produktionsmitteln aufbauenden Wirtschaft realisieren. Das gilt jedenfalls dann, wenn wirtschaftliche (Produktions-)Einheiten sich kooperaSCHWERPUNKT

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tiv, gemeinschaftlich, genossenschaftlich und „gemein-wirtschaftlich“ organisieren und ihre Leistungen/Produkte unmittelbar und konkret auf Deckung eines konkret bekannten Bedarfes ausgerichtet sind. Das kann insbesondere bei den kommunalen Unternehmen der Daseinsvorsorge, bei EnergieversorgerInnen und gemeinnützigen Unternehmen im Gesundheitsund Pflegebereich der Fall sein, sowie bei sonstigen Unternehmen, deren Zweck die nicht gewinnorientierte Erbringung von Dienstleistungen ist. Gerade solche „gemeinwirtschaftlichen“ Unternehmen bieten jenseits der bürgerlichen Eigentumsordnung Handlungsmöglichkeiten, die mit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung vereinbar erscheinen. J. Albert Dütsch ist Jurist und Volkswirt. In den 70er Jahren war er Mitglied des Planungsausschusses beim nordrhein-westfälischen Kultusministeriums für die Neugründung von Universitäten sowie im Gründungsausschuss der Universität Bielefeld. Zudem war er mehrere Jahre Vorsitzender des Studentenwerks Bielefeld. Nach 1990 wirkte er u. a. in Halle (Saale) an der Neustrukturierung der ambulanten medizinischen Versorgung mit und sicherte hier als Geschäftsführer die Fortführung einer poliklinischen Einrichtung.

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Neoliberale Denkmuster in der SPD: „Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern“ von Magnus Neubert, Felix Peter und Clemens Wagner

Eine Kernthese im Gründungsaufruf der neuen SPD-Parteilinken – neoliberale Denkmuster wirkten bis tief in die SPD hinein – stieß sofort auf prominenten Widerspruch: Das sei Unfug, so SPD-Fraktionschef Oppermann in einem Interview mit der WELT im November 2014. In der SPD gebe es keine Neoliberalen. Ähnlich äußerte sich SPD-Bundesvize Schäfer-Gümbel auf dem Gründungskongress der „Magdeburger Plattform“. Dabei scheint in der SPD bis heute nicht geklärt, wie sich sozialdemokratische und neoliberale Politik zueinander verhalten. In diesem Beitrag wollen wir Merkmale des Neoliberalismus benennen und stichprobenartig in Programmatik und politischem Handeln der SPD aufzeigen.

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Das neoliberale Programm Der Begriff des Neoliberalismus lässt sich auf Rüstow zurückführen. Angesichts des Versagens des klassischen Wirtschaftsliberalismus in der Weltwirtschaftskrise 1930 sollte ein neuer Liberalismus den Laissez-faire-Liberalismus überwinden und mit Hilfe einer aktiven Wettbewerbspolitik eines „starken Staates“ dessen Negativfolgen beheben (vgl. Rüstow, 1945, 2001). Rüstow und unter anderem auch Eucken sahen eine Gefahr vor allem in der Monopolisierungstendenz, die nicht nur zu einer Konzentration ökonomischer Macht führte, sondern auch mit politischer Machtkonzentration einherging (vgl. Eukken, 1948). Wettbewerb würde hingegen Monopolbildung abwenden. Dazu solle der Staat aktiv werden und die Wettbewerbssituation stetig aufrechterhalten (ebd.), was Machtkonzentration verhindere. Der Marktmechanismus garantiere die optimale Neoliberale Denkmuster in der SPD Argumente 1/2015

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Allokation von Gütern und Arbeitskraft, sodass weder Unterversorgung noch Unterbeschäftigung einträten (ebd.). Es scheint in der SPD bis heute nicht geklärt, wie sich sozialdemokratische und neoliberale Politik zueinander verhalten.

In den USA entwickelte sich in jener Zeit die Chicagoer Schule, die sich gegen den keynesianischen Interventionismus des New Deal positionierte. Insbesondere für Hayek nahm der ungehinderte Wettbewerb als eine Art Entdeckungsverfahren eine Schlüsselrolle ein. Auf der Suche nach unausgeschöpften Möglichkeiten würden diejenigen belohnt, die es wagten, diese Möglichkeiten auszuschöpfen (vgl. Hayek, 1969). Wer hingegen am Bestehenden festhielte, würde durch eine „Art unpersönlichen Zwang“ dazu veranlasst, das Verhalten an die Erneuerung anzupassen (ebd.). Jegliche Eingriffe in das Marktgeschehen durch eine noch so legitimierte Macht würden den Wettbewerb als evolutionäres Entdeckungsverfahren hemmen und optimale Ergebnisse verhindern (ebd.). Gary Becker ging noch weiter und postulierte, mit mikroökonomischen Modellen alles menschliche Handeln beschreiben zu können. Sein „ökonomischer Imperialismus“ weitete Wettbewerbspolitik auf alle Bereiche menschlichen Lebens aus. Als mit der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre der fordistische KapitalakkumulaSCHWERPUNKT

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tionsprozess durch eine Erschöpfung des sich wechselseitig bedingenden Kreislaufes aus Massenproduktion und -konsumption stockte und die keynesianische Nachfragepolitik an ihre Grenzen gelangte, schlug die Stunde der Neoliberalen. Mit Hilfe eines breiten wissenschaftlichen und kommunikativen Netzwerks um die von Hayek ins Leben gerufene Mont Pelerin Society nahmen sie eine hegemoniale Stellung im öffentlichen Diskurs ein und entwickelten und unterstützten später auch die Politik Thatchers und Reagans (vgl. Plehwe/Walpen, 1999). Das mittlerweile global etablierte neoliberale Programm sieht vor, Konkurrenzverhältnisse in allen Bereichen menschlichen Lebens vor allem durch die Selbstdomestizierung des Staates durchzusetzen. Folgende Schwerpunkte lassen sich identifizieren (vgl. Ptak, 2007): Liberalisierung von Märkten (bspw. Abbau von Schutzrechten, Schaffung neuer Märkte, Kommodifizierung [Warenwerdung] von Gemeingütern, Deregulierung der Finanzmärkte); s Freihandel (Abbau von Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen, vertragliche Absicherung der Verpflichtungen zur Liberalisierung auch unter Einschränkung demokratischer Grundprinzipien); s Privatisierung (bspw. natürlicher Monopole wie Energie- und Wasserversorgung; Kommodifizierung des Sicherheits-, Bildungs-, und Gesundheitssystems); 41

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s Flexibilisierung (erzwungene Anpassung der Individuen an den Marktmechanismus, Abbau des Sozialstaates und Aktivierung der Eigenverantwortlichkeit, Senkung des Steuer- und Sozialabgabenniveaus, Arbeitsmarktflexibilisierung). „Eine neue Aufbruchsstimmung“ Während andere Staaten in den 80er Jahren anfingen, ihre Volkswirtschaften im beginnenden globalen Wettbewerb in der Standortkonkurrenz der Nationalstaaten zu positionieren, indem sie auf eine politisch gewollte Umsetzung der oben genannten neoliberalen Vorstellungen flankiert durch verschiedene Abkommen auf internationaler Ebene setzten, verlor Deutschland, wo dies zunächst unterblieb, als Ort der Verwertung von Kapital an Attraktivität. Es galt in den 1990er Jahren als „kranker Mann Europas“. Mit den Wahlversprechen Modernisierung, Erneuerung und Aufbruch setzte die SPD auf ein dezidiert neoliberales Programm.

Der öffentliche, hierzulande in seiner Bedeutung für die Wegbereitung des Neoliberalismus nicht zu unterschätzende, Diskurs über die „Schwäche Deutschlands“ war von der Betonung der Rückschrittlichkeit geprägt. Staat und Wirtschaft galten als unmodern und überfordert. Damalige Unwörter des Jahres zeichnen dieses Klima 42

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nach: „sozialverträglicher Stellenabbau“ (1995), „Rentnerschwemme“ (1996), „Wohlstandsmüll“ (1997). In dieser Situation übernahm die SPD 1998 die Regierung. Mit den Wahlversprechen Modernisierung, Erneuerung und Aufbruch setzte sie einerseits auf das Bedürfnis der WählerInnen, den Muff der Ära Kohl hinter sich zu lassen, und andererseits auf ein dezidiert neoliberales Programm. Wobei der Sozialstaat noch im klassisch fordistischen Sinne über die Prosperität der Ökonomie und resultierende Mehreinnahmen gesichert werden sollte: „Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist der Schlüssel zur Lösung der ökonomischen, finanziellen und sozialen Probleme unseres Landes“ (SPD, 1998, S. 5). Wurden im Wahlprogramm bereits „Eigenverantwortung und Eigeninitiative“ der Individuen betont, so erfolgte die endgültige Aufkündigung des Sozialstaates alter Prägung mit dem neuen Motto des „Förderns und Forderns“, der Individualisierung der Verantwortung für gesellschaftliche Probleme und der Favorisierung von Konkurrenzverhältnissen und Steuerung der Gesellschaft durch Märkte im Schröder-BlairPapier (Schröder/Blair, 1999). „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ sollte nicht nur eine neoliberale Agenda in der deutschen Sozialdemokratie verankern, sondern den „Dritten Weg“ auch zum Modell für andere sozialdemokratische Parteien in Europa machen. Ein innerparteilicher Diskurs war nicht vorgesehen. Neoliberale Denkmuster in der SPD Argumente 1/2015

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Nach einer kurzen Phase traditioneller sozialdemokratischer Wirtschafts- und Finanzpolitik im Sinne neokeynesianischer Investitionspolitik galten als neue Ziele: (1) der Abbau der Staatsverschuldung bei sinkenden staatlichen Investitionen, (2) eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik bei massiven steuerlichen Entlastungen der Unternehmen und (3) die Reform der Sozialversicherungssysteme unter anderem durch Teilprivatisierung (vgl. Preuß o. J., S. 4). Es folgen einige Stichproben aus dem SchröderBlair-Papier: Liberalisierung und Flexibilisierung Während die traditionelle Sozialdemokratie noch von Skepsis bis Ablehnung gegenüber Märkten und deren Steuerungsfunktion geprägt war, verkehren sich die Verhältnisse im Schröder-Blair-Papier: „Die Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden.“ und „Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken unterschätzt.” können als Kernsätze bezeichnet werden. Auch die Idealisierung der Märkte findet sich wieder: „Flexible Märkte sind ein modernes sozialdemokratisches Ziel.“ „Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte müssen allesamt flexibel sein […]“. „Europas Kapitalmärkte sollten geöffnet werden […]“. Damit schwenkt die Sozialdemokratie auf eine starke Deregulierung aller zentralen ökonomischen Märkte ein und unterwirft sich SCHWERPUNKT

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so dem neoliberalen Dogma des schwachen Staates als Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft. Privatisierung und Kommodifizierung Zwar wird die Privatisierung bspw. von Staatseigentum nicht direkt propagiert. Dennoch gibt es verschiedene Hinweise: Erstens versteckt sich die spätere Teilprivatisierung von Renten- und Krankenversicherung hinter der Modernisierungs-Floskel: „Alle sozialpolitischen Instrumente müssen Lebenschancen verbessern, Selbsthilfe anregen, Eigenverantwortung fördern. Mit diesem Ziel wird in Deutschland das Gesundheitssystem ebenso wie das System der Alterssicherung umfassend modernisiert“. Kommodifizierung wird, zweitens, in jenem Sinne forciert, dass gesellschaftliche Verhältnisse der privaten Verwertung unterworfen und die öffentliche Verwaltung nach unternehmerischen Maßstäben geführt werden sollen: „Die notwendige Kürzung der staatlichen Ausgaben erfordert eine radikale Modernisierung des öffentlichen Sektors und eine Leistungssteigerung und Strukturreform der öffentlichen Verwaltung.” Und drittens wird mit dem Propagieren der Human-KapitalThese die ökonomische Verwertung von Wissen und Bildung befürwortet: „Erste Priorität muß die Investition in menschliches und soziales Kapital sein.“ Damit wird unter anderem auch die Ökonomisierung der Hochschulen vorbereitet.

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„Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“ (Schröder/Blair, 1999) Gekennzeichnet ist diese Politik der „Neuen Mitte“ durch eine Abkehr von grundlegenden Rechten und Ansprüchen – bspw. auf Bildung, staatliche Unterstützung und Schutz – hin zu einer Kapitalisierung und Kommodifizierung aller Lebensbereiche. Bildung wird kapitalisiert, der Sozialstaat als Schutz vor totaler Verwertung wird zu einem Akteur, der die Menschen durch „Aktivieren“ und „Fördern“ der völligen Verwertung zuführt und bei Verweigerung mit Sanktionen droht. Das Schröder-Blair-Papier steckte gewissermaßen den ideologischen Rahmen ab, der schließlich mit Schröders 2003er Regierungserklärung in praktische Politik überführt wurde.

Der Stil des Textes selbst zeugt von seiner neoliberalen Prägung: Im Marketingsprech werden leere Formeln und Nominalstrukturen aneinander gereiht. Es bleibt vage, was oder wer sich in Zukunft anpassen bzw. flexibel zeigen muss. Gesellschaftliche Verhältnisse und Widersprüche werden systematisch ausgeblendet oder negiert und angebliche Notwendigkeiten postuliert. Stattdessen wird eine „neue“ Politik 44

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propagiert, welche „nah am Menschen“ ist und „pragmatische“ Lösungen sucht: „In dieser neu entstehenden Welt wollen die Menschen Politiker, die Fragen ohne ideologische Vorbedingungen angehen und unter Anwendung ihrer Werte und Prinzipien nach praktischen Lösungen für ihre Probleme suchen, mit Hilfe aufrichtiger, wohl konstruierter und pragmatischer Politik.” Das Papier steckte damit gewissermaßen den ideologischen Rahmen ab, der schließlich mit Schröders 2003er Regierungserklärung in praktische Politik überführt wurde (vgl. Preuß o. J., S. 6): „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“ (Schröder, 2003). Neoliberale Denkmuster in der heutigen SPD Mit dem Regierungsprogramm für die Bundestagswahl 2013 schien die SPD eine politische Wende einleiten zu wollen: „Das Zeitalter des egoistischen Neoliberalismus muss endlich zu Ende sein“, so Parteichef Gabriels Kampfansage auf dem Parteitag im April 2013. Mit Mindestlohn, Spitzensteuersatzanhebung, Vermögens- und Finanztransaktionssteuer, BürgerInnenversicherung und Mietpreisbremse wollte die SPD wieder spürbar nach links rücken. Doch die sich damals bereits abzeichnende Wahlniederlage musste als Begründung für die anschließende Absetzbewegung führender GenossInnen von den eben Neoliberale Denkmuster in der SPD Argumente 1/2015

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noch vertretenen Zielen herhalten: So brachte Fraktionschef Oppermann im oben genannten WELT-Interview die Wahlniederlage mit dem Steuermodell der SPD in Verbindung und Gabriel rief 2014 sogar dazu auf, sich von Steuererhöhungen zu verabschieden. Allerdings war er bereits im Wahlkampf angesichts schlechter Umfragewerte eingeknickt und hatte im Zuge seiner Rede zum 150-jährigen Parteijubiläum Steuersenkungen ins Spiel gebracht. So bleibt fraglich, inwiefern das Gros der EntscheidungsträgerInnen der SPD einen echten Politikwechsel im Blick hatte oder die Vermarktung des Programms „links von der Mitte“ (Steinbrück) nur ein berechnender Versuch war, die Basis zu beruhigen und WählerInnen aus dem linken Spektrum zurückzugewinnen. Bis heute bleibt die SPD in ihrem politischen Handeln in der Tradition der neoliberalen Agendapolitik der Schröder-Ära verhaftet: Primat der Eigenverantwortlichkeit Die Agendareformen verankerten die Ideologie der Eigenverantwortlichkeit in zentralen Sozialbereichen: Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf letzterem Niveau flankiert durch Sanktionsmaßnahmen, Leistungsabsenkungen in der gesetzlichen Krankenversicherung bei gleichzeitig stärkerer Belastung der Versicherten, Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus bei gleichzeitiger Expansion der privaten Altersvorsorge sowie FlexibilisieSCHWERPUNKT

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rung des Arbeitsmarktes zulasten der Beschäftigten (vgl. Butterwegge, 2013). Im Grundsatz wird bis heute nicht davon abgerückt: „Die Agenda hat […] gezeigt, dass unsere Sozialsysteme zukunftsfähig sind, wenn wir sie politisch aktiv gestalten, bevor sie von der kalten Hand regelloser Märkte zerstört werden“ (Gabriel/Nahles, 2015). Es ist eine ungebremste Einkommens- bzw. Vermögensspreizung zu beobachten, auf welche die SPD keine adäquate Antwort hat.

Auch in der Post-Agenda-Programmatik findet sich Eigenverantwortung als Schwerpunkt. So kritisierte Butterwegge (2007) schon im Entstehungsstadium des Hamburger Programms, dass die SPD zu sehr auf den Faktor Bildung zur (Wieder-) Herstellung von Chancengleichheit setze. Damit werde nicht die Ursache von gesellschaftlichen Ungleichheiten beseitigt, schließlich basiere Bildungsarmut auf der „materiellen Unterversorgung und Benachteiligung in anderen Lebensbereichen“. Wirkliche Teilhabegerechtigkeit ließe sich nur durch „Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen“ erreichen. Stattdessen ist bis heute eine ungebremste Einkommens- bzw. Vermögensspreizung zu beobachten, auf welche die SPD keine adäquate Antwort hat. So konstatiert der 2013 erschienene Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 45

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dass die reichsten zehn Prozent der Haushalte mit Stand 2008 über mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens verfügten – Tendenz steigend. Die gesamte untere Hälfte der Haushalte besitzt demgegenüber nur rund ein Prozent. Niedrige Steuern und Sozialabgaben In einer Analyse der politischen Hintergründe des strukturellen Dilemmas der SPD resümiert Schreiner (2014), dass diese „wesentliche ideologische Grundüberzeugungen des derzeitigen neoliberalen Mainstreams“ akzeptiert habe. Darunter „die Überzeugung, dass die zunehmende Globalisierung es erforderlich mache, die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu erhalten, was Lohnzurückhaltung, niedrige Steuern und niedrige Sozialabgaben erfordere“. Die Umsetzung dieser Überzeugungen in politisches Handeln im Rahmen der Agenda 2010 wird bis heute von führenden SPD-VertreterInnen verteidigt, wie unter anderem Agenda-Coarchitekt Steinmeier 2013 auf dem Deutschen Arbeitgebertag treffend zusammenfasste: „Die entscheidenden Steuersenkungen, und zwar in einem Volumen von mehr als 60 Milliarden Euro, [hat es] unter einer sozialdemokratischen Regierung gegeben: Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes, mit der Senkung des Eingangssteuersatzes, mit der Senkung der Unternehmenssteuern. […] Das war damals immerhin sozialdemokratische Steuerpolitik und ich finde bis heute ist das nicht so ganz schlecht. […] 46

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Wir wissen, was das für Mühe gekostet hat, dieses Land aus mancher Unbeweglichkeit zu befreien. Und deshalb kann ich mir auch nicht vorstellen, dass die Rückabwicklung sinnvoll und gut wäre.” Um den propagierten gesellschaftlichen Fortschritt umzusetzen, hat die SPD dem wirtschaftlichen Fortschritt im neoliberalen Sinne zum endgültigen Durchbruch verholfen.

Grundlegende Änderungen an dieser entscheidenden Schwächung des Sozialstaates zeichnen sich bis heute nicht ab. Im Gegenteil wird die Lage durch die von der SPD mit vorangetriebene Umsetzung der Schuldenbremse noch verstärkt, da angesichts der jahrzehntelangen defizitären Einnahmen- und Ausgabenpolitik jene (stetig steigenden) Ausgaben, zu denen wir uns als Gesellschaft entschlossen haben, nicht mehr gedeckt werden können. Wichtige staatliche und gesellschaftliche Investitionen werden verhindert: bspw. in die kommunale Verkehrsinfrastruktur oder den Bildungsbereich mit einer jährlichen Unterfinanzierung von ca. 56 Mrd. Euro (GEW, 2011, S. 114). Der auch von der SPD lange gepriesene Versuch, den Investitionsstau bei der öffentlichen Infrastruktur durch ÖffentlichPrivate-Partnerschaften einzudämmen, kann mittlerweile als gescheitert betrachtet werden, hat er sich doch als nachteilig für Neoliberale Denkmuster in der SPD Argumente 1/2015

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die öffentlichen Haushalte erwiesen, wie selbst der Bundesrechnungshof bereits mehrfach angemerkt hat. Nichtsdestotrotz hat SPD-Chef Gabriel in seiner Funktion als Bundeswirtschaftsminister jüngst eine ExpertInnenkommission zur „Stärkung von Investitionen“ eingesetzt, die das Ziel hat, private GeldgeberInnen für Investitionen in die deutsche Infrastruktur zu begeistern. Nicht zuletzt wird sich am Umgang mit den internationalen Handelsabkommen TTIP und TISA zeigen, inwiefern die SPD die „Kampfansage“ an den Neoliberalismus aus dem Wahlkampf 2013 wirklich ernst meinte: Eine Zustimmung zur Fortsetzung der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und zu Schiedsgerichten, die Unternehmen auf eine Ebene mit Staaten heben, würde den Neoliberalismus weiter absichern. Warum sind neoliberale Denkmuster in der SPD so tief verankert? Dazu abschließend drei Thesen: Erstens konnte der Neoliberalismus an in der Sozialdemokratie bereits verankerte neoliberale Annahmen anschließen. Zweitens ermöglichten gleiche Ziele (bspw. Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit) die Synchronisierung der Mittel zur Zielerreichung. Und drittens zeichnen sich beide durch einen starken Fortschrittsglauben aus, der dem Neoliberalismus als programmatisches Einfallstor diente. So kam es schließlich zu jener historischen Ironie, dass die SPD in Deutschland das geschaffen hat, wozu die SCHWERPUNKT

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konservativ-liberale Kohl-Regierung nicht imstande oder willens war: Um den propagierten gesellschaftlichen Fortschritt umzusetzen, hat sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im neoliberalen Sinne zum endgültigen Durchbruch verholfen. Das ist im höchsten Maße „progressiv“ gewesen – allerdings ganz anders, als sich viele zuvor vorgestellt hatten.

Literatur: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013). Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Butterwegge, Ch. (2007). Neoliberale Sozis. Gastbeitrag bei Zeit Online vom 19. Juni 2007: http://www.zeit.de/online/2007/25/neoliberalismus-spd-beck-butterwegge (zuletzt abgerufen am 06.04.2015). Butterwegge, Ch. (2013). Die Agenda 2010 – Begründung und Legitimationsbasis für eine unsoziale Politik. Onlinebeitrag vom 13.03.2013: http://www.nachdenkseiten.de/?p=16494 (zuletzt abgerufen am 06.04.2015). Die Welt (2015). Man sollte Schröder ein gutes Auskommen gönnen. Onlinebeitrag vom 15.11.2014: http://www.welt.de/politik/ deutschland/article134358385/Man-sollteSchroeder-ein-gutes-Auskommen-goennen. html (zuletzt abgerufen am 06.04.2015). Eucken, W. (1948). Das ordnungspolitische Problem. ORDO 1, 56 – 90. Gabriel, S. & Nahles, A. (2015). Die Fragen von morgen. Gastbeitrag zur Agenda 2010 vom 5. Januar 2015 in der Süddeutschen Zeitung. GEW (2011). Bildungsfinanzierung für das 21. Jahrhundert. Finanzierungsbedarf der Bundesländer zur Umsetzung eines zukunftsfähigen Bildungssystems. Frankfurt/Main. Hayek, F. A. v. (1969). Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. In F. A. von Hayek, Freiburger Studien (S. 249 – 265). Tübingen: Mohr Siebeck. Plehwe, D. & Walpen, B. (1999). Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus. Beiträge der Mont Pèlerin Society und marktradikaler Think Tanks zur Hegemoniegewinnung und -erhaltung. PROKLA 115, 203 – 235.

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Preuß, S. (o. J.). Der Willensbildungsprozess zur „Agenda 2010“ in der SPD: Ein Beispiel mangelnder innerparteilicher Demokratie? Bamberger Beiträge zur Vergleichenden Politikwissenschaft, Heft 2. Ptak, R. (2007). Grundlagen des Neoliberalismus. In Ch. Butterwegge, B. Lösch & R. Ptak (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus (S. 13 – 86). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Rüstow, A. (1945, 2001) Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus. Marburg: Metropolis. Schreiner, P. (2014). Strategiedebatte: Das strukturelle Dilemma der SPD und seine politischen Hintergründe. Online-Beitrag vom 5. August 2014: http://www.annotazioni.de/ post/1416 (zuletzt abgerufen am 06.04.2015). Schröder, G. (2003). Mut zum Frieden und zur Veränderung. Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 14. März 2003 auf der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages. Schröder, G. & Blair, T. (1999). Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten/Europe: The Third Way. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, London, 8. Juni 1999. SPD (1998). „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“. SPD-Programm für die Bundestagswahl 1998. Beschluss des außerordentlichen Parteitages der SPD am 17. April 1998 in Leipzig. Steinmeier, F.-W. (2013). Rede des SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier auf dem Arbeitgebertag am 19.11.2013.

Felix Peter ist promovierter DiplomPsychologe und Mitglied der ArgumenteRedaktion des Juso-Bundesverbandes. Zu seinen Forschungsschwerpunkten an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gehören das subjektive Gerechtigkeitserleben von SchülerInnen und das Sozialklima im Kontext Schule. Clemens Wagner ist Student der Politikwissenschaft an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Er ist Mitglied im SprecherInnen-Kreis des Bündnisses Halle gegen Rechts und arbeitet derzeit im Perspektivprojekt „Zukunft Europas“ des Juso-Bundesverbandes mit.

Magnus Neubert ist Student der Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Er vertritt die Jusos Sachsen-Anhalt im Juso-Bundesausschuss und arbeitet derzeit im Perspektivprojekt „Transformation der Wirtschaftsweise“ des Juso-Bundesverbandes mit.

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„My home is my castle“ – ist regionale Wirtschaftsdemokratie von Vorteil? von Ole Erdmann, Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw

1. Einleitung Die Stärke der Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse bei den Jusos lag bei allen Kontroversen seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts in einem kapitalismuskritischen Ansatz. Bis heute finden sich in den Beschlüssen der Jusos, so etwa auf dem Bundeskongress 2011 in Lübeck oder 2013 in Nürnberg, Positionen, die eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft einfordern. Wie die gesellschaftliche Wertschöpfung in einem demokratischen Sozialismus zu organisieren ist, darüber gibt es allerdings weit weniger klare Konzepte, Beispiele und Perspektiven, als etwa im Bereich von Arbeitsmarkt- oder Bildungspolitik. Zusammenfassend heißt es im Beschluss „Linke Wirtschaftspolitik“ von 2011:

Wirtschaftsdemokratie zentral. Meistens erschöpfen sich Diskussionen darüber in Ansätzen der makroökonomischen Steuerung, der Regulierung der Finanzmärkte und der Ausweitung der Mitbestimmung. Sicherlich sind dies alles unverzichtbare Elemente zur Demokratisierung unseres Wirtschaftssystems, allerdings wird dies zum einen nicht genügen, und zum anderen haben derzeit diese Ansätze sehr wenig Aussicht auf Durchsetzung. Um einen Richtungswandel hin zu mehr Wirtschaftsdemokratie zu schaffen, muss in vielen Bereichen gehandelt werden. Neben den oben beschriebenen Ansätzen, der Marktsteuerung, Stärkung des öffentlichen Sektors mit einer starken Rolle der kommunalen und regionalen Ebene und der Stärkung der ArbeitnehmerInnenrechte gehört zur Demokratisierung der Wirtschaft auch die Einführung und Stärkung alternativer Unternehmensformen. (…)“

„(…) Es ist unser Anspruch, alle Lebensbereiche zu demokratisieren, dazu gehört auch das Wirtschaftssystem. Dafür ist das oft genannte, aber selten ausgeführte Schlagwort

Die alternativen Unternehmensformen wurden 2013 mit einem ausführlichen Beschluss des Juso-Bundeskongresses zur Stärkung von Genossenschaften weiter

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konkretisiert. Diese seien zwar keine wirkliche Lösung für die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, böten aber Chancen für eine demokratischere Wirtschaft, so das Credo des Antrags. Zwei Dimensionen tauchen dabei in den Diskussionen immer wieder auf, die in diesem Artikel einmal in einem Zusammenhang betrachtet werden sollen: Die Demokratisierung des Unternehmenskapitals in Form von Genossenschaften und die Regionalisierung von Wertschöpfung. Welche Chancen und welche Grenzen bietet die Verbindung dieser beiden Ansatzpunkte für eine linke Wirtschaftspolitik? 2. Worum geht es? Mit „Wirtschaftsdemokratie“ verbindet die sozialistische Linke seit den 1920erJahren1 in Deutschland die Hoffnung, die kapitalistische Marktwirtschaft in eine sozialistische Wirtschaftsweise zu überführen. Kerngedanke ist, dass ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen über demokratische Mechanismen wirtschaftliche Prozesse steuern. Dies ist der Gegenentwurf zur Steuerung der Wirtschaft über Kaufkraft und Besitz an Kapital, wie sie die kapitalistische Marktwirtschaft vorsieht. Die Konzeptionen reichen von betrieblicher Mitbestimmung, über die Bildung regionaler Wirtschaftsräte zur planwirt-

1) vgl. Fritz Napthali: „Wirtschaftsdemokratie – ihr Wesen, Weg und Ziel, 1928

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schaftlichen Verwaltung der Unternehmen einer Region bis hin zur makroökonomischen Steuerung über demokratisch legitimierte Geld-, Steuer- und Wirtschaftspolitik des Nationalstaates. Der Einfluss dieser Ansätze ist bis heute groß und in Deutschland wie auch in vielen westlichen Industriestaaten teilweise verwirklicht, zum Beispiel über progressive Einkommensteuersysteme, betriebliche Mitbestimmung, Tarifrecht und Mindestlöhne. Die planwirtschaftlichen Elemente, in denen demokratisch gewählte Wirtschaftsräte ganze regionale oder nationale Volkswirtschaften inklusive ihrer Unternehmen direkt kontrollieren, sind mit dem Zusammenbruch der planwirtschaftlichen Systeme in Osteuropa bekanntermaßen von der Tagesordnung verschwunden. Betriebswirtschaftliche Untersuchungen2, ebenso wie wirtschaftshistorische Vergleiche von Volkswirtschaften bescheinigen dem (west-)deutschen Nachkriegswirtschaftsmodell mit seinen wirtschaftsdemokratischen Elementen auch unter kapitalistischen Vorzeichen hohe Effizienz und nachhaltige Stabilität.3 Genossenschaftliche Unternehmen haben sich bis heute in westlichen Marktwirtschaften behauptet, sind jedoch in Deutschland vorrangig im Banken, Agrar- und Wohnungsbereich – mit über-

2) Uwe Jirjahn: „Ökonomische Wirkungen der Mitbestimmung in Deutschland: Ein Update“, Februar 2010 3) Interview mit Werner Abelshauser: „Über alle Krisen hinweg – das deutsche Modell beweist seine Stärke“ in RegioPol eins + zwei 2012, S. 43 ff.

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schaubarem Marktanteil – zu finden. Ihre Zielsetzungen variieren hier von nach wie vor ausdrücklich sozial-ökologischen Konzepten bis hin zu rein profitorientierten Geschäftsmodellen. Wirtschaftsdemokratische Errungenschaften bleiben in all ihren Ausprägungen politisch immer umkämpft, weil sie die Handlungsfreiheit und Aneignungsmöglichkeiten privater KapitalbesitzerInnen einengen. Und sie stehen ökonomisch unter Druck, weil sie sich gegen klassische private Unternehmen mit deren geringeren internen Abstimmungskosten und besseren externen Finanzierungsmöglichkeiten im Wettbewerb behaupten müssen. Die regionale Dimension von wirtschaftlichen Prozessen hat seit den 1990erJahren, parallel zum immer stärker diskutierten und real messbaren Trend zur Globalisierung, an Aufmerksamkeit gewonnen. Die Förderung von räumlich und branchenmäßig nahe beieinander liegenden Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen und entsprechender privater Unternehmen in Form von „Clustern“ gehört in wirtschafts- und strukturpolitischen Strategien schon seit Jahren zum Grundkonsens, wird jedoch zunehmend auch kritisch hinterfragt.4 5 Darüber hinaus wird durch den

Strukturwandel von einer materiell-industriellen hin zu einer wissensintensiven Wirtschaftsweise ebenfalls davon ausgegangen, dass räumliche Nähe – neben niedrigen Transportkosten – vor allem für ressourcenarme Wirtschaftsregionen vorteilhaft ist, um im globalen Wettbewerb die notwendigen Produktinnovationen und Produktivitätsfortschritte zu erzielen. Neuere Ansätze, die stärker auf die nachfrageseitigen TreiberInnen für die Entstehung künftiger Leitmärkte setzen, versuchen über die reine Betrachtung von Unternehmen als „Spürhunde“ von Marktentwicklungen auch die Bedürfnisse und Potenziale von Regionen, deren Strukturen und den dort lebenden Menschen in den Blick zu nehmen.6 Weitergehende alternative wirtschaftspolitische Ansätze sehen in der Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe die Möglichkeit, eine sozial und ökologisch nachhaltigere Wirtschaftsweise zu stärken. Niedrige Emission durch kürzere Transportwege, saisonale Ernährungswirtschaft, lokale soziale Selbsthilfe bei Nahversorgung, Altenhilfe und Schwimmbäder, dezentrale erneuerbare Energieerzeugung bis hin zur Einrahmung des Ansatzes in regionale Identitäten und die Einführung von Regionalwährungen zeichnen diese regionalökonomischen Alternativstrategien aus.7

4) Vgl Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung 2014 – 2020 5) Matthias Kiese: „Regionale Clusterpolitik in Deutschland: Bestandsaufnahme und interregionaler Vergleich“ in „zukunft der Wirtschaftsförderung, Nomos-Verlag 2014; S. 169 ff.

6) Vgl. Wirtschaftsbericht Ruhr 2012, Wirtschaftsförderung metropoleruhr Gmbh und Thomas Westphal: „Ruhr 2020 – das passt zu meinem Leben“ in regiopol eins + zwei, 2012, S. 175 7) Vgl. Christian Eigner: „Zukunft: Regionalwirtschaft!: ein Plädoyer““, 2013

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Verbindet man beide Dimensionen von Wirtschaften, liegen politisch-normativ einige Vorteile auf der Hand. Die demokratische Gestaltung von lokalen Rahmenbedingungen (zum Beispiel Bildungseinrichtungen oder Verkehrsinfrastrukturen) wie auch von konkreten Unternehmenspolitiken lässt sich mit einer überschaubaren Anzahl regionaler AkteurInnen und Personen zu verhältnismäßig geringem Aufwand (niedrige Transaktionskosten) organisieren. Kommt ein regionales Genossenschaftscluster hinzu, das nicht nur über die Wertschöpfungskette, sondern auch über gemeinsame demokratische Strukturen und Werte verfügt, kann dies das Funktionieren von Genossenschaften unter Marktbedingungen fördern. Dezentrale netzwerkartige Strukturen ermöglichen zudem eine schnelle Reaktion auf Bedarfs- und damit Marktentwicklungen, sind aber auch vorteilhaft etwa für Kritik und Korrekturen an problematischer Unternehmenspraxis, da Verantwortlichkeiten einfacher zugeordnet und Druck zur Veränderung so gezielter aufgebaut werden kann. Gleichwohl lassen sich strukturelle Faktoren wie etwa die Geografie der Region, die Branchenstruktur der Unternehmen oder die Bevölkerungsstruktur nur langsam oder gar nicht beeinflussen. Dynamiken wie etwa die globale Technologieentwicklung und damit die Verbreitung neuer Produkte sind ebenso kaum regional steuerbar. Bislang muss man davon ausgehen, dass die global integrierte Wertschöpfung den rein regionalo52

rientierten kreislaufwirtschaftlichen Ansätzen ökonomisch deutlich überlegen sind. Wie regionale Voraussetzungen zusammen mit (dezentraler beziehungsweise privater) Initiative von unten, demokratischen Zielsetzungen und produktivem Unternehmensmodell regional erfolgreich zusammengebracht werden können, das zeigt der im folgenden Abschnitt beschriebene Fall der Industriekooperative Mondragon. 3. Leuchtturm Mondragon Im Jahr 1943 gründete ein von der katholischen Soziallehre inspirierter katholischer Priester im kleinen, damals nach dem Bürgerkrieg in Spanien sehr armen, baskischen Ort Mondragon eine Berufsfachschule, um Berufsperspektiven für die Erwerbslosen des Ortes zu schaffen. AbsolventInnen dieser Schule gründeten 1956 die erste Genossenschaft, die kleine Herde und Öfen produzierte. 1959 folgte die Gründung einer lokalen Kreditgenossenschaft. Es folgten weitere Genossenschaften, unter anderem in den Bereichen Maschinenbau und Handel, und dies noch unter Bedingungen der faschistischen Diktatur. Auch nach der demokratischen Transformation wuchs der Genossenschaftsverbund weiter und ist mit über 100 Genossenschaften und mehr als 100.000 MitarbeiterInnen – wovon über 80 % selbst Mitglieder einer Genossenschaft aus dem Verbund sind – die größte Genossenschaft der Welt. Die Genossenschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Schwan-

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kungen in der Auslastung einzelner Betriebe im Verbund aufgefangen werden, es bestehen ein Ausgleichssystem sowie verbundeigene Sozial- und Sicherungsfonds sowie ein Mitarbeitertransfersystem innerhalb der Genossenschaftsgruppe. Hohe soziale Sicherheit und oft überdurchschnittliche Löhne führen zu geringen Fehlquoten und hoher Produktivität im spanischen Vergleich.8 Das Phänomen ist vielfach wissenschaftlich untersucht und von vielen politischen AktivistInnen und aktiven GenossenschafterInnen aus der ganzen Welt besucht worden. Eine vergleichbare Entwicklung konnte in keiner anderen Region der Welt bis heute erreicht werden. Untersuchungen und Berichte über den Genossenschaftsverbund Mondragón Cooperación Cooperativa (MCC) heben die besondere Flexibilität durch die Vielzahl von verbundenen kleineren Unternehmen hervor, deren industrieller Kern mit ca 40.000 Beschäftigten heute auf den Weltmärkten erfolgreich konkurriert. Die ursprüngliche Berufsfachschule wird heute durch eine genossenschaftseigene Universität sowie Forschungseinrichtungen mit ingenieurwissenschaftlichem Schwerpunkt ergänzt, die neben technischen Know-How auch genossenschaftliche Werte und Managementkonzepte vermitteln. Dies ist neben der besonderen kulturell-historischen

8) Rudolf Stumberger: „Der utopische Konzern“, in brandeins 2002, S. 58

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Situation im Baskenland mit ihrem starken lokalen Gemeinschaftssinn besonders wichtig für die relative Stabilität der genossenschaftlichen Orientierung im heutigen internationalen Konzern MCC. Dessen Kern ist für die Heimatregion von extrem hoher Bedeutung, so stellt der MCC-Konzern ca. 14 % der Beschäftigung im Baskenland. Zum Wachstum des Genossenschaftsverbundes hatte die bis Mitte der 70er-Jahre vorherrschende Marktabschottung Spaniens unter der Franco-Diktatur beigetragen, der einen geschützten Binnenmarkt für die MCC-Produkte ermöglichte. Kritisch wird dabei das sich aus der Doppeleigenschaft des/der EigentümerInArbeitnehmerIn ergebende Streikverbot in den spanischen Betrieben gesehen. Gewerkschaften spielen im MCC-Verbund so gut wie keine Rolle, da die MitarbeiterInnen über die Mitgliedergremien ihre Interessen vertreten können. Der Teil der Belegschaften, der nicht Mitglied in einer Genossenschaft ist, vor allem in internationalen Töchterunternehmen, hat diese Möglichkeiten allerdings nicht. Die Spreizung zwischen den Spitzen- und den niedrigsten Einkommen ist mit dem Verhältnis von 6:1 international einmalig niedrig (bei der Deutschen Bank betrug dieser Wert 1:400 im Jahre 2006)9, hat sich aber von

9) Rudolf Stumberger: „Die bescheidenen Ackermänner von Mondragon“, Artikel auf Telepolis vom 26.03.2006; zuletzt abgerufen am 15.02.2015.

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ursprünglich 1:3 in den vergangenen Jahrzehnten zugunsten des Spitzenmanagements verschoben. Der zunehmende Wettbewerbsdruck, insbesondere nach dem EG-Beitritt 1986 und durch die seit den 90ern verstärkt einsetzende Globalisierung hat auch den MCC zu einer Internationalisierungsstrategie veranlasst, die den Aufkauf von herkömmlichen nicht-genossenschaftlichen Unternehmen, unter anderem in Polen, Brasilien oder Deutschland, bedeutete. Nicht erst seit der Krise 2008/2009, die in Spanien auch 2015 unter hohen sozialen Kosten weiter anhält und die MCC bislang relativ gut durchgestanden hat, wird daher über eine langsame Veränderung des Modells Mondragón hin zu einem klassischen privatkapitalistischen internationalen Industriekonzern mit einem Genossenschaftskern diskutiert.10 4. Regionale Perspektive als Chance für Wirtschaftsdemokratie? Für eine jungsozialistische Wirtschaftspolitik, die den Anspruch hat, nicht nur neo-keynesianisch Einkommen umzuverteilen um die Binnennachfrage zu stärken, sondern auch Perspektiven jenseits des privatkapitalistischen Wirtschaftsmodells aufzuzeigen, birgt die Verbindung regionaler Clusterbildung mit dem Modell der Genossenschaftsunternehmen große Chancen. Sieht man von den historischen und geografischen Sonderbedingungen wie der baski-

10) Martina Groß: „Gegenmodell“, aus Le Monde Dipolomatique vom 10.01.2014

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schen Lokalkultur, die kollektive Lösungsmuster fördert oder dem anfänglichen Schutz des nationalen Marktes ab, ergeben sich interessante Aspekte für ein progressives Unternehmensmodell unter Marktbedingungen. Kern und Ausgangspunkt sind Bildungseinrichtungen, die nicht nur Technikwissen, sondern auch an sozial-ökologischen und demokratischen Werten orientierte Managementverfahren vermitteln. Der Netzwerkcharakter, mit weitgehend unabhängig agierenden Unternehmen, die entlang der Wertschöpfungskette in einem Austausch- und in der Region in einem Solidarverhältnis zueinander stehen, ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Und nicht zuletzt die Kombination aus industrieller Produktion mit ihrer hohen Wertschöpfung, den genossenschaftlichen Zielen verbundenen Finanzierungsfonds und damit verflochtenen Handels- beziehungsweise Dienstleistungsunternehmen ist wegweisend. Genossenschaftliche und andere „alternative“ Unternehmen zeichnen sich in Deutschland leider dadurch aus, dass sie eben keine industrielle Produktion abdekken, kein regionales Cluster bilden und/oder keine expliziten demokratischen und sozialökologischen Zielsetzungen (mehr) verfolgen. Auch fehlt eine diesen Zielsetzungen verbundene Ausbildungs- und Forschungslandschaft, die Personal hervorbringt, das sowohl über betriebswirtschaftliches oder technisches Wissen als auch über Kenntnisse und Verfahren für wirtschaftsdemokratisches Unternehmertum verfügt.

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5. Fazit Keine Region in Deutschland kommt ohne starke wirtschaftliche Verflechtungen mit dem Rest des Landes und Europa aus. Die wirtschaftlich stärksten sind diejenigen, deren Exporte auf den Weltmarkt großen Absatz finden. Wirtschaftsdemokratische Alternativen müssen die in kapitalistischen Bedingungen gewachsene internationale Arbeitsteilung nicht unkritisch übernehmen, sie gänzlich überwinden können sollten sie nicht. Jenseits öko-romantischer Träumereien vom autarken Bio-Selbstversorgerhof nach dem Motto „my home is my castle“ kann aber die Vision von regionalen Netzwerken wirtschaftsdemokratischer Unternehmen, die sich um einen Wissenskern bilden, eine spannende Perspektive darstellen. Vor allem, wenn es gelänge, demokratische Unternehmen mit industrieller Wertschöpfung zu entwickeln. Das zeigt das Beispiel Mondragon. Es gilt also, Netzwerke industrieller und informationstechnologischer Wertschöpfung zu identifizieren und zu untersuchen, welches progressive Potenzial in ihnen steckt. Beispiele wären hier die Streetscooter GmbH aus Aachen bis zu ihrem Verkauf an die Deutsche Post11 oder das Softwareentwicklernetzwerk Open

11) Vgl. P. Müller, G. Kasperk, A. Kampker: „Radikale Innovation durch effiziente Netzwerke: Erkenntnisse des Aachener Projekts StreetScooter“, in Radikale Innovationen in der Mobilität: technische und betriebswirtschaftliche Aspekte; [5. Wissenschaftsforum Mobilität ‹Radical Innovations in Mobility›]/ Heike Proff (Hrsg.), S. 25 – 48

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Source Automation Development Lab (OSADL) eG in Heidelberg12. Außerdem müssten sich jungsozialistische WirtschaftspolitikerInnen gleichzeitig Gedanken über wirtschaftsdemokratische Ausbildungsstätten auf allen Kompetenzstufen machen. Auch hier gibt es Beispiele wie die Cusanus-Hochschule in Rheinland-Pfalz, denen es jedoch oft an den technisch-praktischen Aspekten mangelt.13 Es wird deutlich, dass eine produktive Kombination aus den Faktoren wirtschaftsdemokratische Ausbildungsstätte, regionales Genossenschaftsnetzwerk und industrieller Wertschöpfung äußerst schwierig herzustellen ist. Das ist wohl auch der Grund, warum Mondragon weltweit so einzigartig ist. Einen Leuchtturm, an dem man sich für real funktionierende demokratische Unternehmens- und Wirtschaftsansätze orientieren kann, stellt es dennoch dar. Ole Erdmann arbeitet bei der Wirtschaftsförderung metropoleruhr und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw.

12) Vgl. A. Wieg, D. Kalmring, C. Emde: „Genossenschaft und Open Source – Die Traditionale Genossenschaft als Organisationsform im Bereich internetbasierter Kooperation“ in Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 61,3, S. 1 – 16, Stuttgart 2011 13) Susanne Schwarz: „Raus aus der Monokultur“ in der Freitag vom 29.09.2014

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Nachhaltigkeit zwischen 2 bis 4 Punkt Null. Herausforderungen eines sozial-ökologischen Aufbruchs von Nina Scheer, Mitglied des Deutschen Bundestages

Es ist unverkennbar, dass unsere Wirtschafts- und Lebensweisen an Grenzen stoßen und zwar an solche, die uns von der Natur vorgegeben sind. Auch wenn mit Prognose- und Schätzungsfehlern zu rechnen ist: Unsere Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, insbesondere im Bereich der Energiegewinnung, aber etwa auch der Chemie-, Textil-, Verpackungs- und Pharmaindustrie zeigen mit Blick auf deren Endlichkeit, dass ein „Weiter so wie bisher“ an Grenzen stößt. Dabei wird aller Voraussicht nach nicht die absolute Begrenztheit eines Rohstoffs den Ausschlag geben, sondern die weltweit durch fortschreitende Industrialisierung steigende Nachfrage im Verhältnis zu den sich wegen der Endlichkeit des jeweiligen Rohstoffangebots entwickelnden Preisen. Verknappungsbedingte Finanzspekulationen werden die Entwicklung verschärfen und die Gefahren einer Energie- und Roh56

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stoffarmut in bisher wohl kaum zu skizzierendem Ausmaß erhöhen. Nicht die Endlichkeit fossiler Ressourcen wird somit die Grenzen aufzeigen, sondern die sich über die Verknappung entwickelnde Verteuerung und deren soziale Auswirkungen. Je größer die gesellschaftliche Abhängigkeit von einer Ressource ist, desto größer stellt ihre Verknappung und das mit ihr einhergehende Verteuerungsszenario ein Verwerfungsrisiko für eine Gesellschaft dar. Und eben darin begründet sich auch die zentrale sozialdemokratische Verantwortung ökologischer Herausforderungen: Ein gesellschaftliches Leben nach den Grundwerten der Sozialdemokratie – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – ist ohne einen gerechten Zugang zu Ressourcen und den ökologischen Lebensraum, auf dessen Fortbestand die Menschheit angewiesen ist, nicht möglich. Kann ein gerechter Zugang nicht mehr gewährleistet werden, läuft nicht zuletzt das

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Sozialstaatsprinzip ins Leere. Bereits heute und selbst in unserem – weltweit betrachtet – reichen Land gibt es eine Diskussion über steigende Energiearmut: Das Risiko, bei sich verteuernder Energie und bereits vorhandener Armut den Zugang zu Energie zu verlieren. In gewissem Maße können Teuerungsraten von staatlicher Seite sozialpolitisch ausgeglichen werden. Und selbstredend gibt es auch noch große Einsparmöglichkeiten beim Verbrauch. Was aber geschieht, wenn sich unsere nach wie vor größtenteils von fossilen Ressourcen abhängige Energieversorgung preislich verselbstständigt? Es gibt bei fortbestehender Abhängigkeit von fossilen Ressourcen keine Garantie auf die heutigen Preise, selbst wenn wir politisch erklären, dass Energie bezahlbar bleiben muss. Wollen wir dies einlösen, kann dies nur durch eine – möglichst beschleunigte – Energiewende geschehen. Es sei denn, wir wären bereit, im öffentlichen Haushalt zukünftig einen immer größeren Anteil an Verschonungs- oder direkten Subventionen zum Ausgleich für preis- beziehungsweise marktbedingt entstehende Teuerungen bereit zu halten! Großbritannien geht zurzeit mit einem über mehrere Jahrzehnte garantierten Einspeisetarif für Atomstrom, begleitet von Staatsbürgschaften, diesen Weg. So ausgegebene staatliche Gelder fehlen für die Energiewende oder an anderer Stelle, beziehungsweise veranlassen zur Neuverschuldung und zur Übertragung von Schulden oder Lasten auf die nachfolgenden Generationen. SCHWERPUNKT

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Ein den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenhalts entsprechender sozialdemokratischer Auftrag, langfristig für alle Menschen und auch Unternehmen den Zugang zu Energie vorzuhalten, lautet somit, einen Abbau unserer Abhängigkeit von endlichen fossilen Ressourcen während des fortgesetzten Ausbaus Erneuerbarer Energien und hiermit einhergehender struktureller Anpassungen vorzunehmen. Dies bedeutet aber auch, aus vergangenen Entwicklungen zu lernen: Beim Ausbau von Zukunftstechnologien sollte grundsätzlich die Abhängigkeit von nichtregenerativen, begrenzten oder gar knappen Ressourcen so gering wie möglich gehalten, oder durch regenerative Ressourcen substituiert werden. Ein weiterer Anlass für den gleichen Auftrag, einen sozial-ökologischen Aufbruch zu gestalten, liegt in den Folgewirkungen heutiger Lebens- und Wirtschaftsweisen, insbesondere der Energiegewinnung: Es gilt, den Klimawandel so weit wie möglich einzugrenzen. Andernfalls drohen mit Dürren, Ernteausfällen, Überflutungen und verstärkten Unwettern Folgeschäden, die unabhängig von dem hierbei entstehenden menschlichen Leid weit über den Kosten liegen, die von uns weltweit zur Vermeidung des Klimawandels – im Kern: Einem Umstieg auf Erneuerbare Energien – aufzuwenden sind. Seit mehreren Jahrzehnten wird ein Umsteuern, sowohl auf internationaler, eu57

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ropäischer als auch der Ebene einzelner Staaten propagiert, häufig angetrieben durch verschiedene zivilgesellschaftliche Akteursgruppen. Hierbei entstanden die unterschiedlichsten Begriffe: Der „ökologische Wandel“, die „sozial-ökologische Transformation“, der „Green New Deal“, der „Wandel“, der „Ökologische Umbau“ und so weiter. Jüngst hinzu kommt eine Auseinandersetzung mit dem Anthropozän, das vom Menschen gekennzeichnete Zeitalter. Hiermit wird auf die tiefgreifenden Einschnitte hingewiesen, für die der Mensch Verantwortung zeigt und welche die Dimension menschlicher Verantwortung für den Zustand der Umwelt offenbar werden lassen. Teilweise wird auch von Konzepten von zwei bis vier Punkt Null gesprochen. Allen Wandel-Theorien gemein ist der Tenor des erforderlichen Umbruchs. Die Grundaussage ist: Die Menschheit muss sich umkrempeln! Aber möglicherweise ist dieser Anspruch Teil des Versagens? Schauen wir uns an, welche Veränderungen in den letzten Jahren im hiesigen Kontext erfolgreich gelangen, so sind an erster Stelle die Energiewende, genauer gesagt, der Ausbau Erneuerbarer Energien im Stromsektor und die mit ihm einhergehenden technologischen Entwicklungen, zu nennen. Mit einem schlichten gesetzlichen Instrument, das zu Anfang weit unterschätzt wurde, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), wurden Anreize und Investitionssicherheit geschaffen und da58

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mit Innovationen und technologischer Fortschritt „in die richtige Richtung“ – dem Ausbau Erneuerbarer Energien – erreicht. Der über alle Prognosen hinausgehende Ausbau hat heute in Deutschland bereits einen Anteil von über 25 % am Strommarkt und stellt somit inzwischen eine ernsthafte, da zunehmend systemisch relevante Konkurrenz zur fossil-atomaren Energieversorgung dar. Je mehr Erneuerbare Energien hinzukommen, desto mehr muss sich die komplette Energieversorgung auf die Angebotsstruktur der dezentralen und fluktuierenden Energieträger – insbesondere Wind und Sonne – einstellen. Diese Entwicklung veranlasst aus sich heraus einen Strukturwandel. Die Energieversorgung wird sich in ihrer Gesamtheit, auch in Verknüpfung zu den Anforderungen, die der Verkehrsbereich und der Wärmemarkt erkennen lassen, auf die Gewinnungsformen und das Dargebot Erneuerbarer Energien einzustellen haben. Je konsequenter dies vollzogen wird, desto geringer fallen zusätzliche Steuerungsmaßnahmen aus, wie sie etwa über derzeit im Kontext des Strommarktdesigns diskutierte (entbehrliche!) Kapazitätsmechanismen geschaffen würden. Sinnvoll ist es somit, die systemischen Anforderungen, die durch einen zunehmenden Anteil fluktuierender regenerativer Energien entstehen, mit Möglichkeiten zu verknüpfen, die in einem regenerativen Wärme- und Verkehrsbereich vorhanden sind. Die trotz eines geschickten Netzmanagements ent-

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stehenden Schwankungen können etwa durch Flexibilitäten ausgeglichen werden, wie sie insbesondere über eine Verknüpfung zum Wärme- und Verkehrsbereich möglich werden. Wenn eine solche Entwicklung den Rahmenbedingungen nach eng in Orientierung an unsere gesellschaftlich gewachsenen Bedarfe gekoppelt wird, die über unsere Lebensweisen, aber auch Grundbedürfnisse und Eigenschaften entstehen, werden Anreize gesetzt, die ein schwerlich mehrheitsfähiges Umkrempeln entbehrlich machen. Die ersten Schritte der Energiewende beweisen dies: Sie waren weniger der Umsetzung einer staatlich gelenkten Vorgabe zur Transformation geschuldet, denn vielmehr Effekte gesetzlich gesetzter, dennoch die Akteursebene anreizender, aber nur die herkömmliche Struktur verpflichtender Rahmenbedingungen. So wurde mit dem EEG zwar für die Netzbetreiber die Verpflichtung geschaffen, den regenerativ gewonnenen Strom abzunehmen. Gewonnen wird dieser Strom aber durch Anlagen, zu deren Installation niemand gezwungen, sondern lediglich über eine gesetzlich über 20 Jahre garantierte Vergütung (kilowattstundenbezogen) und die bereits erwähnte Abnahmegarantie angereizt wurde. Dies verursachte[/ermöglichte], dezentral, in der Fläche wohnende und arbeitende Akteure teilhaben und mitwirken zu lassen. Diese Teilhabe-Potentiale wären auf einem anderen Weg, ohne die skizzierte Anreizsituation, nicht entstanSCHWERPUNKT

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den. Entscheidend ist, dass auf diesem Weg die alles lenkende Beteiligung der Menschen, Unternehmen und Kommunen vor Ort sowie darin liegende Innovationsmöglichkeiten erschlossen wurden. Durch Instrumente zu erfüllender Quoten oder Ausschreibungen entsteht dies nicht oder bleibt weit hinter den erwünschten Entwicklungen zurück. Dies beweist eine Vielzahl weltweit eingesetzter Modelle. Leider wird über die insbesondere von Seiten der CDU/CSU und auch der Europäischen Kommission eingeforderte Vorgabe, „mehr Markt“ zu schaffen, der Blick auf mögliche Instrumente und Rahmenbedingungen für sowohl den weiteren Ausbau Erneuerbarer Energien als auch weitere Schritte der Energiewende auf einen anderen Fokus gelenkt. Mehr Markt für Erneuerbare Energien und die Energiewende in der Gesamtheit kann aber dann nicht entstehen, wenn verzerrte Wettbewerbsbedingungen vorherrschen: Die Signale, die der Energiemarkt aussendet, geben derzeit keinen hinreichenden Anreiz zur Gewinnung sauberer Energie und auch nicht dazu, (sauberere) Energie zu bestimmten Zeiten vorzuhalten. Anders als bei herkömmlichen Energieerzeugungen, bei denen über die Ressourcenzufuhr eine kontinuierliche Kostenlast in der Energiegewinnung über den Marktpreis refinanziert wird, liegt die Kostenlast bei Erneuerbaren Energien in den Kapitalkosten (dem Bau der Anlage). Die Betriebskosten (geringe Wartung und keine Kosten für 59

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die Ressource Wind oder Sonne) sind hingegen gering. Ein rein an Grenzkosten orientierter Börsenpreis vermittelt einen Betriebskostenansatz. Auf dieser Grundlage sind die verhältnismäßig kapitalkostenintensiven Erneuerbaren Energien bei einem Nebeneinander mit dem Angebot fossil-atomar gewonnenen Stroms und damit verbundener Überkapazitäten nicht refinanzierungs- beziehungsweise marktfähig. Und dies, obwohl Erneuerbare Energien dank über die letzten Jahre massiv gesunkener Herstellungskosten teilweise heute schon konkurrenzfähig mit fossilatomarer Energiegewinnung sind (unter Einrechnung der externen Effekte und Folgelasten wären sie es ohnehin). Kurzum: Der Ruf nach „mehr Markt“ beziehungsweise Marktfähigkeit Erneuerbarer Energien geht im heutigen Preisbildungssystem mit einem Überangebot an Erzeugungskapazitäten fehl und bewirkt nur ein Ausbremsen Erneuerbarer Energien beziehungsweise ist schlichtweg Unsinn. Bei der Betrachtung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und speziell der Industrie, ergibt sich ein weiteres Phänomen, das uns Orientierung für die weiteren Schritte der Energiewende und ökologischnachhaltige Wirtschaftsweisen sein sollte: Eine vergleichende Betrachtung der Energiekosten in Unternehmen in verschiedenen Ländern zeigt, dass es zu kurz greift, allein auf die Energiekosten in den Unternehmen, wie sie durch die Energiepreise in den unterschiedlichen Ländern entstehen, 60

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zu schauen. Ein schlichter länderübergreifender Energiepreisvergleich unterstellt etwa eine vergleichsweise hohe Energiekosten-Belastung deutscher Unternehmen gegenüber US-amerikanischen Unternehmen. Betrachtet man aber, welche Energiekosten in einem Unternehmen je Produkt entstehen – darin liegt der wettbewerblich maßgebliche Vergleichsmaßstab – so ergibt sich ein anderes Bild: Deutschland liegt in einem solchen Vergleich der sogenannten Energiestückkosten (vgl. die Analyse von Prof. Löschel in der Fachzeitschrift “Wirtschaftsdienst”) gleichauf mit den USA. Zu erklären ist dies über die Reaktion der Unternehmen auf steigende Energiepreise: Es wird verstärkt in Effizienztechnologien investiert, die in Räumen mit vergleichsweise hohen Energiepreisen und unternehmensintern hohen Energiekosten die Energiestückkosten geringer ausfallen lassen und somit einer drohenden Benachteiligung im internationalen Wettbewerb entgegenwirken. Diese technologischen Innovationen schaffen wiederum neue Märkte und auch Wettbewerbsvorteile, womit Deutschland und deutsche Unternehmen in der Summe von den verhältnismäßig hohen Energiepreisen jedenfalls nicht Nachteile davontragen beziehungsweise möglicherweise im Ergebnis sogar Nutznießer steigender Energiepreise sind. Schließlich werden auf diesem Weg angereizter Effizienztechnologien Zukunftsmärkte erschlossen, die für eine Exportnation auch weitere Wettbewerbsvorteile schaffen.

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Aus diesen Entwicklungen ist das Fazit zu ziehen, dass entscheidende Weichenstellungen für nachhaltige Wirtschaftsweisen in Gestalt eines „sozial-ökologischen Aufbruchs“ in Rahmenbedingungen liegen, die mehr auf Anreize und den Abbau falscher Anreize (etwa klimaschädlicher Subventionen) setzen, denn auf den Versuch, die Gesellschaft umzukrempeln. Anreizbasiert können wesentlich mehr gesellschaftliche Kräfte und kreatives Mitwirken gebündelt und für nachhaltige Wirtschaftsweisen gewonnen werden, als etwa durch durchdeklinierte Vorgaben, die eben die zukünftig noch zu entwickelnden Potentiale und Innovationen naturgegeben unberücksichtigt lassen. Nachahmeffekte, die durch ein Vorangehen in Vorreiterstaaten, wie dies in Deutschland in Bezug auf den Start der Energiewende mit Einführung des EEGs der Fall war, erzielt werden, bewirken eine anschließende Internationalisierung eines dann weltweiten sozial-ökologischen Aufbruchs.

tung – von Instrumenten zur Förderung von Energieressourcen bzw. Energiegewinnungsmöglichkeiten abzielt, ist dies mit einem vorreiterbasierten Weg eines sozialökologischen Aufbruchs nicht vereinbar. Die überschaubaren Einigungen der Weltklimakonferenzen zeigen derweil aber allzu deutlich, dass mit einer Einigkeit zur Harmonisierung möglicher Klimaschutz- und Energiewende-Politiken auf der gegebenen Zeitachse nicht rechtzeitig die benötigten Entwicklungsschritte eingeleitet werden. Dr. Nina Scheer ist Mitglied des Deutschen Bundestages und für die SPD-Fraktion Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Zu ihren Themenschwerpunkten zählen insbesondere Erneuerbare Energien.

Mit Blick auf die aktuell verhandelten Freihandelsabkommen wird entscheidend sein, staatlich alle Gestaltungsoptionen zu erhalten und vertraglich keine pauschalen Liberalisierungsverpflichtungen einzugehen. Wenn derzeit etwa im Rahmen der TTIP-Verhandlungen – um nur ein kleines Beispiel, wenn auch mit möglichen immensen Auswirkungen zu nennen – ein Vorschlag diskutiert wird, der auf eine Harmonisierung – mithin: GleichschalSCHWERPUNKT

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Heidemarie WieczorekZeul im Interview über Globale Gerechtigkeit von Jan Krüger, stellv. Juso-Bundesvorsitzender

Gerechtigkeit ist ein Grundwert für SozialdemokratInnen. Was könnte denn Gerechtigkeit auf globale Zusammenhänge übertragen heißen? Die Grundantwort, denke ich, ist dazu beizutragen, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung nicht nach den Marktprinzipien verläuft oder nach dem Recht des Stärkeren, sondern so verläuft, dass die Globalisierung gerecht gestaltet wird – mit sozialen Regeln, mit wirtschaftlichen Regeln, mit politischen Regeln, mit ökologischen Regeln. Die globale Gerechtigkeit muss mit diesen Regeln praktisch umgesetzt werden. Damit hat man noch nicht die Abstände, die existieren zwischen einem Teil von Ländern und vor allem innergesellschaftlich, angepackt, aber das, denke ich, ist das Grundmuster. Und auch da wo Nachteile existieren, z. B. weltwirtschaftlich, beim Zugang von Märkten, dazu beizutragen, dass es sich zu Gunsten von Entwicklungsländern ändert. Vielleicht dritter Punkt: Alles was wir in den Industrieländern entscheiden, hat ja Auswirkungen auf Entwicklungsländer und mit zu bedenken, 62

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was bedeutet das eigentlich und da kohärent zu sein, indem was wir als Regierung machen, ist auch nochmal wichtig. Wenn, sage ich jetzt mal, das Entwicklungsministerium die eine positive Entscheidung trifft, aber umgekehrt Regierungen zusehen, wie sich das Landgrabbing fortsetzt, dann ist es einfach ein Widerspruch in sich selbst. Wenn wir jetzt von den Regierungen mal auf die systemische Ebene gehen: Was, würdest Du sagen, ist vor allem der Beitrag des Kapitalismus zu dieser Schere zwischen Arm und Reich und Industrieund Schwellenländern? Es ist, wenn man es vielleicht ein bisschen stärker nochmal einengt, es ist ja eigentlich ein bestimmtes System des Kapitalismus, wo sich einerseits der Finanzkapitalismus losgelöst hat von der realen Entwicklung. Es ist aber natürlich auch ein System, das auf der Ausbeutung von Ressourcen und auch auf der Ausbeutung von Menschen beruht, das wir grundlegend ändern müssen.

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Jetzt haben sich ja Generationen von Linken damit beschäftigt, in welchem Stadium des Kapitalismus wir uns gerade befinden. Was hat sich denn mit Blick auf globale Gerechtigkeit geändert, nach der Wirtschafts- und Finanzkrise? Was hat diese mit Schwellen- und Entwicklungsländern gemacht, vor allem mit Blick auf das Verhältnis zu den Industrieländern? Einerseits haben wir ein gewisses Aufholen von Schwellenländern, Stichwort Indien, China, Brasilien, früher einmal BRICS-Staaten genannt. Aber auch da muss man sehen, dass eigentlich der höchste Anteil der weltweit Armen mittlerweile in diesen Ländern lebt. Die innergesellschaftlichen Abstände sind also gewachsen – sie sind ja auch bei uns in den Industriestaaten gewachsen. Der zweite Punkt ist: Es wurde ja leider völlig in der öffentlichen Diskussion vergessen, dass 1 % Rückgang des Wirtschaftswachstums nach der Finanzkrise für die ärmsten Länder, die afrikanischen Entwicklungsländer, einen Rückgang von 10 % ihrer Exporte bedeutete. Das heißt, die Finanzkrise hat die ärmsten Länder und die ärmsten Bevölkerungsgruppen besonders getroffen. Und du musst ja auch noch bedenken: Damals hat die Welt etwa 1,5 Billionen Dollar in die Hand genommen, um die Wirtschaft zu stabilisieren, wo ist das hergekommen? Das sind ja Gelder aus öffentlichen Haushalten. Das kann ja nicht die Bevölkerung anschließend tragen und dann beschimpft SCHWERPUNKT

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werden, sie würden über ihre Verhältnisse leben, sondern das muss dann auch vom Finanzsektor mitgetragen werden. Das heißt, die Finanzkrise hat die ärmsten Länder und die ärmsten Bevölkerungsgruppen besonders getroffen.

2009 hast Du in einer Kommission unter dem Vorsitz des US-Ökonomen Joseph Stiglitz daran gearbeitet, wie sich kommende Finanzkrisen vermeiden ließen. Was sind die Kernaspekte Eures Berichts an die Vereinten Nationen gewesen? Also wir haben darin einerseits die Auswirkungen beschrieben und wir haben einen Vorschlag gemacht, den ich auch nach wie vor für sehr wichtig halte: Wir haben vorgeschlagen, bei der UN einen sogenannten „Panel on Systemic Risks“ einzurichten – nach dem Vorbild des Weltklimarates. Hier sollen WissenschaftlerInnen aus den verschiedensten Regionen auf der UNEbene systematisch Berichte über die finanz- und wirtschaftspolitische Entwicklung erstellen und damit erstens auch die Öffentlichkeit aufmerksam machen und zweitens auch dazu beitragen, dass die UN, die ja eigentlich auch für wirtschaftliche und soziale Fragen zuständig sein sollte, so etwas wie eine Basis hat. Die G7 sind sowieso eher auf tönernen Füßen und die G20 können ja nicht die Welt ersetzen. 63

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Das wäre schon einmal ein Instrument. Es wäre wert, das einzurichten, damit nicht nur immer die Regionen betrachtet werden, die wir alle kennen – die USA, Japan und die EU. Das ist einer der Vorschläge, die wir da gemacht haben und der meines Erachtens eine Chance hätte, umgesetzt zu werden. Welche Rolle spielt die Wirtschaftspolitik generell in der Entwicklungspolitik? Es geht im Grunde um den sperrigen Begriff Kohärenz. Es geht darum, dass nicht die Wirtschaftspolitik das Gegenteil dessen tut, was wir zur Stärkung der afrikanischen Länder tun wollten. Manchmal ist es sogar die Frage der Reflexion dessen, was wir tun. Das ist der eine Punkt und der zweite ist: Natürlich kann man, weil das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) auch zuständig ist für die Weltbank, Fragen bspw. von erneuerbaren Energien und Kernarbeitsnormen in die Arbeit der Weltbank einfließen lassen. Für die Zukunft stelle ich mir das BMZ als ein Ministerium vor, das wirklich im Stande ist, die notwendigen Kooperationen in einer globalen Welt zu gestalten. Für die Zukunft stelle ich mir das BMZ als ein Ministerium vor, das wirklich im Stande ist, die notwendigen Kooperationen in einer globalen Welt zu gestalten.

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Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank haben sicherlich nicht zu Unrecht einen sehr schlechten Ruf. Sind das Instrumente, die man weiter nutzen muss oder was muss sich aus deiner Sicht ändern, damit diese beiden Institutionen mehr zu globaler Gerechtigkeit beitragen? Man muss fairerweise sagen, dass der IWF weniger neoliberal war als die letzte deutsche Regierung. Die Ratschläge, die der IWF zum großen Teil heute gibt, sind ja gegen die Austeritätspolitik gerichtet. Da hat ja glücklicherweise ein gewisses Umdenken stattgefunden. Zur ersten internationalen Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung 2002 in Monterrey hat das BMZ eine Machbarkeitsstudie zur Finanztransaktionssteuer vorgestellt. Damals waren Jacques Chirac, Fidel Castro und ich die Einzigen, die für sie sprachen. Heute plant Wolfgang Schäuble die Einnahmen in den Bundeshaushalt ein. Das Beispiel zeigt, dass man einen langen Atem für Veränderungen braucht. Ich würde sagen, in dieser Zeit haben wir auch die Weltbank ein Stück verändert. Wir haben bei der Entschuldung der höchstverschuldeten, ärmsten Entwicklungsländer ab dem Jahr 1999 die Strukturanpassungsprogramme für diese Länder beendet, die diese ausgebeutet haben. Ehrlich gesagt, ein Teil der Strukturanpassungsprogramme, die wir heute manchen europäischen Ländern aufzwingen, geht weit über das hinaus, was wir damals beseitigt haben. Die Weltbank kann ein Hebel

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sein, über den man mehr als auf bilateraler Ebene machen kann. Wir haben beispielsweise auch die Energiepolitik umorientiert. Wenn wir jetzt mal auf die Verantwortung Deutschlands schauen: Da gibt es ja eine große Debatte, die sich meistens immer erschöpft in der Frage, wie sehr sich Deutschland militärisch in der Welt engagieren muss. Man kann diese Frage ja auch mal unter wirtschaftlichen Aspekten stellen. Wo, würdest Du sagen, hätte Deutschland eine Verantwortung in wirtschaftspolitischer Hinsicht? Insgesamt finde ich das Beharren auf der Austerität katastrophal. Und zwar deshalb, weil wir damit nicht nur die Auswirkungen haben, sondern auch die Europäische Union schwächen in einem Maße. Und eigentlich hätte die EU, wenn man das gut abstimmt, auch weltwirtschaftlich Einfluss. Man hofft ja eigentlich weltweit auch immer auf die wirtschaftliche, soziale und ökologische Verantwortung. Diese Initiativen zu stärken von Seiten der Bundesregierung in der EU; das wäre eine wichtige Aufgabe. Und das zweite ist, eine andere Energie- und Klimapolitik zu machen. Das bedeutet, dass wir vorangehen in den Entwicklungen, denn andere Länder werden auch mehr Energie verbrauchen und wir können nur dann ein Beispiel setzen, wenn wir selbst vorangehen. Wir sind ja jetzt auf der Suche nach Alternativen beziehungsweise sozialisSCHWERPUNKT

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tischen Antworten auf globales Wirtschaften. Die jetzt in der Diskussion stehenden Freihandelsabkommen sind ja ein Rückschritt, wenn man sich die Bemühungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) anschaut, die es schon gab, und eine große Gefahr für den gerechten Handel weltweit. Was ich frappierend finde, ist, dass wir über viele Details eines zukünftigen Freihandelsabkommens USA-EU Bescheid wissen, aber eigentlich keine/r wirklich sehr sorgfältig analysiert, was es bedeutet, wenn sich zwei Große zu Lasten von Dritten einigen. Schon jetzt hat Afrika einen marginalen Anteil am Welthandel. Real bedeutet ein solches Freihandelsabkommen nochmal eine Marginalisierung von Afrika, d. h. wenn man überhaupt ein wie auch immer geartetes EU-USA-Freihandelsabkommen will, dann wäre eigentlich die logische Schlussfolgerung, zu sagen: Wir brauchen völlig freien Zugang z. B. der afrikanischen Länder zu den amerikanischen und europäischen Märkten. Da bin ich mal gespannt, ob jemand den Mut dazu besitzt, das zu fordern. Ansonsten finde ich TTIP eigentlich eine wirklich falsche Weichenstellung. Wir haben das jetzt auch beim letzten Bundeskongress diskutiert, weil man prinzipiell schon sagen kann, dass Freihandel ein Beitrag ist für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Aber natürlich muss Freihandel über eine Institution organisiert werden. Ist es zurzeit realis65

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tisch, dass eine Organisation diese Aufgabe übernehmen kann? Ich glaube, dass auch innerhalb der WTO die Industrie- und Schwellenländer versuchen, ihre Vorteile wechselseitig zu sichern und die Ärmsten doch eher an den Rand gedrängt werden. Deshalb habe ich auch gesagt, dass ich durchaus für den Freihandel bin, wenn es darum geht, Nachteile, die Schwächere an den Märkten haben, auszugleichen. Wenn es aber umgekehrt, wie es jahrzehntelang war, Freihandel bedeutet, dass du davon Gebrauch machst, solange er dir nutzt und ihn dann beschränkst, wenn andere davon Gebrauch machen wollen, dann ist das die falsche Strategie. Wirtschaftliche Strukturen verändern sich ja. China ist wirtschaftlich sehr erfolgreich mit der Herstellung von einfachen Produkten, ganze Produktionsketten haben sich in Schwellen- und Entwicklungsländer verlagert. Auf der anderen Seite ist in Deutschland immer wieder die Rede von Wissensökonomie. Entwickelt sich da nicht langfristig wieder eine Schere, wenn die Industrieländer auf der einen Seite mit hochspezialisierten Produkten hohe Gewinne erwirtschaften, während anderen Ländern nur Massenprodukte mit geringen Gewinnen bleiben? Einerseits haben wir neue Entwicklungen, von denen ich glaube, dass sie Teil unserer Wirtschaftspolitik sein sollten. Wir sollten bestimmte soziale und ökologische 66

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Regeln verankern, die auch in Handelsverträgen enthalten sein sollten und wir müssen auch die ILO-Kernarbeitsnormen in die Praxis umsetzen. Dazu versuche ich zusammen mit Peter Eigen (dem Gründer von Transparency International, d.R.), Multi-Stakeholer-Initiativen bspw. in den jeweiligen Ländern anzustoßen. Wir fangen jetzt in Südostasien an, bspw. in Myanmar, wo vermutlich der nächste Run in der Textilindustrie entsteht. Wir versuchen da praktische Kooperationen zu starten, mit dem Ziel, Löhne anzuheben und vor allem Gewerkschaftsrechte zu verankern. Weil meines Erachtens starke Gewerkschaften in den Ländern auch die wichtigste Voraussetzung dafür sind, dass sich Verhältnisse ändern und dass nicht autoritär über die Menschen hinweg regiert wird. Der zweite Punkt ist: Auch in der Kooperation nicht andere Länder als Ressourcenlieferanten zu betrachten, sondern auch deren innere Entwicklung mitgestalten zu helfen. Das sind zwei Aspekte, wo auch deutlich wird, dass die Globalisierung uns unmittelbar in unserem eigenen Leben, Stichwort Kleidung, verbindet mit der Ausbeutung von Menschen in anderen Ländern. Weil meines Erachtens starke Gewerkschaften in den Ländern auch die wichtigste Voraussetzung dafür sind, dass sich Verhältnisse ändern und dass nicht autoritär über die Menschen hinweg regiert wird.

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Und an diesem Punkt der Gestaltung stellt sich die Frage, welche Rolle unser Konsum spielen kann. Eine sehr verbreitete Argumentation basiert ja darauf, dass bestimmte Produktionsverhältnisse sich verbessern würden, wenn alle Menschen bewusster konsumieren würden. Ist das eine Strategie, die aufgehen kann? Man braucht alle diese verschiedenen Elemente. Ich nehme jetzt mal ein Beispiel, das jetzt noch nicht in der Breite umgesetzt ist. Die Firma Switcher in der Schweiz hat ein Etikett in ihren Kleidungsstücken, das es ermöglicht, im Internet nachzuverfolgen, aus welcher Fabrik das Produkt stammt, aus welchem Land, unter welchen Bedingungen, wieviele Beschäftigte usw. Und diese Transparenz ist die Voraussetzung. Es gibt dann sicher immer noch Menschen, die sagen: Hauptsache billig. Aber es schafft die Voraussetzung, dass Menschen vielleicht auch reflektierter in solchen Situationen werden. Und du musst es kombinieren mit der Strategie, die ich vorhin geschildert habe. Alleine bewirkt es nur minimale Veränderungen, trotzdem ist es natürlich wichtig. Wie kann man denn jenseits der zivilgesellschaftlichen Ebene versuchen, Entwicklungen in Ländern anzustoßen? Es ist noch nicht ausreichend im öffentlichen Bewusstsein angekommen, dass in diesem Jahr im September die sogenannten Substainable Development Goals in der UN-Generalversammlung beschlossen werSCHWERPUNKT

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den. Bisher sind 17 solcher Ziele verankert: Bekämpfung von Armut, Bekämpfung von Klimawandel, die Bekämpfung von Ungleichheit und eines der Ziele ist auch, zu sagen, wir müssen uns konzentrieren auf die unteren 40 % der Einkommen in den jeweiligen Ländern. Wenn das nicht nur ein Beschluss der UN-Generalversammlung bleiben soll, heißt das, dass auch wir unsere Nachhaltigkeitsstrategie verändern müssen. Die müssen wir dann entsprechend dieser Regeln ausgestalten. Wir müssen dann auch bei uns diese 40 % der Bevölkerung besser erreichen. Das hat schon massive Auswirkungen. Das können wir nicht nur vom globalen Süden verlangen, sondern wir müssen schon selber vorangehen. Es muss dann ein Überprüfungsinstrumentarium geben, dass das in den jeweiligen Ländern auch wirklich verfolgt wird. Und das wäre wiederum für unsere Diskussion in Deutschland und für die Linke im weitesten Sinne ein Referenzpunkt, um zu sagen, das müssen wir versuchen umzusetzen. Wie verhält es sich denn aus Deiner Sicht mit dem Dilemma, dass Europa auf der einen Seite mehr Zuwanderung braucht und auf der anderen Seite damit einen Brain-Drain produziert, der letztlich hochqualifizierte Menschen anwirbt, die dann in den Entwicklungs- und Schwellenländern fehlen, um wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen? Ich bin eine Anhängerin eines Vorschlags, der schon vor 10 Jahren gemacht 67

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worden ist von der Weltkommission für Internationale Migration der Vereinten Nationen. Die haben neben vielem anderen vorgeschlagen, so etwas wie eine zirkuläre Migration in Gang zu setzen. Jenseits der Frage der Notwendigkeit, Bürgerkriegsflüchtlinge tatsächlich menschenwürdig unterzubringen und aufzunehmen, auch in größerer Zahl, jenseits von AsylbewerberInnen: Es gibt einfach Menschen, die selbst wenn sie Todesgefahr sehen, über das Mittelmeer von Afrika hierher kommen wollen. Die Art, wie man bisher kaltschnäuzig zusieht, über Jahre hinweg, wie in diesem Meer ja Tausende von Menschen ersaufen vor den Augen des Militärs, das darüber hinweg fliegt, das ist völlig unakzeptabel. Deshalb bin ich für diesen Ansatz der zirkulären Migration. Das heißt, man müsste es dann auch akzeptieren, dass es bestimmte Möglichkeiten der Zuwanderung gibt. Menschen könnten für eine bestimmte Zeit von Jahren legal zuwandern, aber auch die Möglichkeit der Rückkehr mit den erworbenen Ansprüchen haben. Deshalb bin ich für diesen Ansatz der zirkulären Migration. […] Menschen könnten für eine bestimmte Zeit von Jahren legal zuwandern, aber auch die Möglichkeit der Rückkehr mit den erworbenen Ansprüchen haben.

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Jetzt sind wir wieder bei Aufgaben für die aktuelle Bundesregierung. Was würdest Du sagen, sind Rückschritte seit die SPD 2009 das Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit verloren hat? Naja, eigentlich alle, die in der Entwicklungspolitik eine realistische Einschätzung haben, sagen, dass die Jahre unter Dirk Niebel verlorene Jahre waren – im maximalen Sinne. Ansonsten hat er ja viel dazu beigetragen, das Themenfeld auch so negativ zu besetzen, dass da jetzt erstmal alles gemacht werden muss, um das wieder in den Mittelpunkt einer kritischen und positiven Öffentlichkeit zu rücken. Natürlich wäre mir in der jetzigen Koalition ein Sozialdemokrat oder eine Sozialdemokratin an dieser Stelle wichtig gewesen, weil ich finde, dass unterschätzt wird, dass das ein Ministerium ist, das globale Instrumente zur Verfügung hat, jenseits der diplomatischen Besuche bei PräsidentInnenen von bestimmten Staaten. Ich muss sagen, ich habe durchaus Respekt vor dem jetzigen Minister und seinen Positionen. Er hat ja offenbar auch mehr Unterstützung bei sozialdemokratischen WählerInnen als bei der CSU. Vielen Dank für das Gespräch.

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Heidemarie Wiecorek-Zeul war 1974 –1977 Juso-Bundesvorsitzende und die erste Frau auf dieser Position. In den Jahren danach gehörte sie dem Europäischen Parlament an, später dem Deutschen Bundestag. In den Jahren 1998 bis 2009 war sie Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Bis heute ist sie Vorsitzende des Forums Eine Welt der SPD.

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Versuch über den sozialistischen Menschen von Moritz Rudolph, Redaktionsmitglied

Wenn eine/r die sozialistische Sache für unmöglich erklären will, so ist das nicht schwer. Schon der Verweis auf den Menschen, der eben „nicht so sei“, reicht aus; einhelliges Nicken erntet, wer das Mantra der aggressiven Vereinzelung beschwört. Und das geht in etwa so: Der Mensch ist schlecht, anderen ist er kaum mehr als ein Wolf – der Egoismus der MarktakteurInnen beweise dies tagtäglich; Sozialismus könne er nicht. Mit der Befreiung aller sei das darum so eine Sache; nur durch Unterwerfung unter das Bestehende sei die Bestie zu bändigen. Das hört man sogar von Leuten, die früher einmal links waren und keine Wölfe sein wollten. Der Wolf Biermann etwa, der einst sang: „Junge, ich hab Leute sich ändern sehen.“ Heute aber winken diese gewesenen Linken müde ab: man habe es selbst probiert, das werde nichts, nicht mit diesem Menschen. Wider die Raubtierideologie Es ist leicht, ein/e ZynikerIn sein. Doch seine/ihre Verbitterung tarnt er/sie nur 70

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notdürftig mit dem Mantel der Klugheit. Dieser vermag nur schwerlich zu verdekken, was all jene bedrücken muss, die die Rede von den Wölfen und dem Ende ihrer Geschichte noch nicht ganz abgestumpft hat: Die Kujonierung der Menschen auch im 21. Jahrhundert, ihre Entmenschlichung, an der verschiedenen Kräfte beteiligt sind: das Kapitalverhältnis, das sie entweder ausbeutet oder – schlimmer noch – ihnen die Ausbeutung verweigert, Nationalismus, Patriarchat Rassismus, Antisemitismus … Die verwaltete Welt lässt die Menschen als Anhängsel dieser Herrschaftsverhältnisse zurück – entfremdet und innerlich zerrissen, uneingelöst bleibt das bürgerliche Autonomieversprechen. Wenn es Menschen gibt – und das dürften viele sein – die all dies unerträglich finden, haben sie dann nicht schon einen Ausweg aus der Raubtierideologie gefunden? Entspringt nicht jenem Zweifel am Bestehenden ein Funke, der über das, was ist, hinausweist? Doch worauf verweist er? Von der Einsicht, dass das Bestehende nicht haltbar ist, zur Hoffnung auf Veränderung ist es nur

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noch ein kleiner Schritt. Ihn macht, wer die vage Vermutung in sich trägt, dass alles auch ganz anders sein könnte. Es sind kleine, sanfte Dinge, die diese Hoffnung hervorzubringen vermögen: das Hölderlinsche Gedicht etwa, die Lyrik Eichendorffs oder Mascha Kalékos, die Romane von Christa Wolf, die Musik Schuberts, die uns Tränen in die Augen treibt, „weil wir so noch nicht sind, wie jene Musik es verspricht.“ (Adorno). Neben das Kunstwerk tritt die eigene Erinnerung an den „Zauberkreis der Kindheit“ (Hebbel), als das Spielen erlaubt war und alle sich bemühten, den wölfischen Existenzkampf von einem fernzuhalten. Das Prinzip Hoffnung zehrt von diesen Dingen. Hoffnung geht über in Utopie. Die bessere Welt erscheint als Assoziation der freien und gleichen Individuen, der vermeintliche Wolf ist darin gebändigt, nicht unterdrückt. Unterworfen ist er bloß dem Gedanken, dass „die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist“ (Marx/Engels). Denn so übel ist der Mensch gar nicht Spätestens hier wird der antitotalitäre Reflex der Nach-89er einsetzen, die hinter jedem Kieselstein barbarische Umerziehung wittern. Doch man kann sie beruhigen: Der Mensch muss dazu gar nicht neu sein, ebensowenig die Welt, in der er dann lebt. Es ist alles schon da; wir müssen nur zugreifen, das Richtige im Falschen aufspüren, im Kunstwerk, in der Kindheit. „Es SCHWERPUNKT

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wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.“ (Marx) Der Mensch ist das „noch nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche), das allerhand mit sich anstellen kann: Gutes und Schlechtes; Emanzipatorisches und Barbarisches. „Wenn überhaupt von etwas Gleichbleibendem im Menschen die Rede sein kann, dann ist es seine Veränderlichkeit im historischen Raum.“ (Kofler). Wer hingegen eine bloß pessimistische Lehre vom Menschen vertritt, löst dessen multiplen Charakter völlig einseitig zugunsten der aggressiven Triebe auf, vergisst aber die Momente geglückten Lebens und den utopischen Überschuss, den sie hervorbringen. Derlei Pessimismus schlägt rasch um in zerstörerischen Nihilismus, der letztlich antibürgerlich ist. Das wahre bürgerliche Erbe tritt die sozialistische Idee an. Freilich läuft diese auf Versöhnung hinaus, aber auf dem Weg dahin darf, muss gestritten werden, um den dunklen Drang, den wir gegenwärtig gar nicht leugnen wollen, in geordnete Bahnen zu lenken. Mit Leo Kofler geht es in diesem Streit um „die spekulative Verwirklichung der niemals erlöschenden Sehnsucht des Menschengeschlechts nach Wiederherstellung der entweder einst wirklichen oder als solche geglaubten, verloren gegangenen Einheit von Apollinischem und Dionysischem“. Halten wir fest: einen unverrückbaren Wesenskern des Menschen scheint es nicht zu geben; wie der historische Kern aussieht, 71

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hängt von der Welt ab, in die man ihn zunächst wirft und die er sich dann allmählich schafft. Wie sieht eine/r aus, die/der die Verhältnisse so einrichten könnte, dass darin erträglich sich leben ließe? Die Unfreiheit der Menschen ist unerträglich. Sie empört und weckt den Anspruch, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx). Doch hier wird es vertrackt: Denn die Auflehnung darf nicht zu blinder Raserei verkommen, in der man bloß noch um sich schlüge. Die Verhältnisse muss man behutsam umwerfen, ohne dabei hinter das Erreichte zurückzufallen. Dass Konflikte nun nicht mehr mit der Keule, sondern im Rahmen des bürgerlichen Rechtsstaats ausgetragen werden, ist so ein Fortschritt, den es zu bewahren gilt. Darum ist „unversöhnliche Gesinnung“ gerade „das Gegenteil von Wildheit“ (Adorno). Um der Versuchung der Wildheit zu widerstehen und die zu überwindende Spreu vom zu bewahrenden Weizen trennen zu können, muss gelesen und diskutiert werden: Marx, Luxemburg, Gramsci, Adorno, Butler … aber auch Lyrik und Prosa – Theorie und Poesie machen die Seele sanft und den Verstand scharf. In den Elfenbeinturm darf das aber nicht führen. Flaubert hat es versucht, „aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, 72

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genug, ihn zum Einsturz zu bringen“. Also muss man raus und Politik machen, um das Meer zu bändigen. Politik kann aber niemand allein machen. Der Riss in der Gesellschaft geht mitten durch das Individuum, das „im wörtlichsten Sinn ein zôon politikon [ist,] nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann“ (Marx). Das autonome Individuum ist Ziel emanzipatorischer Politik, doch allein kann es nicht viel ausrichten; es muss sich organisieren. Die Vorstellung vom heroischen Ich, das sich gegen die Welt auflehnt, ist romantisch, nicht sozialistisch. Wer dies dennoch von den Menschen fordert, macht sich mit der neoliberalen Zurichtung der Individuen, die ihnen alles aufbürden will, gemein. Menschen, die unversöhnlich denken, aber nicht wild sind, die den Elfenbeinturm verlassen, aber nicht allein gegen die Welt anstürmen – die kann man sozialistisch nennen. Springt ihr Funke auch auf andere – die ja so schlecht nicht sind – über, dann ist Sozialismus vorstellbar. Mit Christa Wolf gegen die Rede vom Wolfsmenschen: „Die Zukunft? Das ist das gründlich andere.“ Aber eben nicht das ganz andere. Es ist alles schon da. Moritz Rudolph studierte Politik, Geschichte, Ökonomie und Philosophie, ist bei den Jusos Pankow aktiv und Mitglied der ArgumenteRedaktion.

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Grundlagendokument: Auszug aus den Herforder Thesen II 1980 veröffentlichte die Zeitschrift für Politik und Sozialismus (spw) ein Sonderheft mit den Herforder Thesen II, einer überarbeiteten und ergänzten Fassung der Herforder Thesen I aus dem Jahr 1978. Nachfolgend findet ihr Auszüge aus der Veröffentlichung. […] VI. Für ein sozialdemokratisches Programm der gesellschaftlichen Alternative Alternativen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik 50. These Recht auf Arbeit – Tagesaufgaben zur Begrenzung der Krisenlasten für die arbeitende Bevölkerung Die umfassende Reproduktion des Einzelnen und seiner Familie kann nur durch die Teilnahme am gesellschaftlichen Produktionsprozeß gesichert werden. Das oberste Ziel sozialdemokratischer Politik muß deshalb sein, für solche gesellschaftlichen Bedingungen zu sorgen, die jedem die Möglichkeit zur Aufnahme einer qualifiSCHWERPUNKT

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zierten Berufstätigkeit eröffnen und die beständige Anwendung der erworbenen Fähigkeiten sichern sowie deren Neu- und Weiterentwicklung fordern. Im Mittelpunkt einer Politik, die diesen Zielen folgt, steht die Verwirklichung des Rechtes auf Arbeit. Sie zielt darauf ab, s die materielle Existenz der Lohnabhängigen dauerhaft zu sichern, s die Chance auf Selbstverwirklichung Realität werden zu lassen, s die aktive und umfassende Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten. […] Verkürzung der Arbeitszeit Die Verkürzung der Arbeitszeit und die Verringerung der Arbeitszeitbelastung des Einzelnen tragen zur Humanisierung der Arbeit bei und schaffen neue Arbeitsplätze. Arbeitszeitverkürzung als derzeit wichtigste Voraussetzung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei gleichzeitigem Lohnausfall wird ebenso abgelehnt wie die Ausweitung von Teilzeitarbeitsplätzen. Solche Maßnahmen kämen einer Umverteilung der 73

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Einkommen abhängiger Beschäftigter untereinander gleich, und die Kapitalseite bliebe trotz steigender Gewinne davon unberührt. Darüber hinaus würden sie der Forderung nach Stärkung der Massenkaufkraft widersprechen. Verhindert werden muß, daß eine Verkürzung der Arbeitszeit von den Unternehmern mit einer Erhöhung der Belastung der Arbeitenden aufgefangen werden kann. […] Ausweitung der Mitbestimmung Die umfassende Ausweitung der Mitbestimmungs- und Kontrollrechte der Arbeiter und Angestellten ist eine grundsätzliche Forderung und erstreckt sich auf alle Ebenen der Wirtschaft vom einzelnen Arbeitsplatz bis zur gesamten Volkswirtschaft. In den einzelnen Betrieben geht es darum, die Rechte des Betriebsrats durch eine grundlegende Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes auszuweiten, die Forderung nach voller Öffentlichkeit aller technischen und ökonomischen Vorgänge und Zusammenhänge durchzusetzen sowie die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Arbeit zu verbessern. Auf der Unternehmensebene steht die Verwirklichung einer unverfälschten paritätischen Mitbestimmung im Vordergrund, die es den Arbeitnehmern ermöglicht, in allen Fragen der Unternehmenspolitik mitzuentscheiden. Dazu bedarf es dringend einer umfassenden Reform des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Auf der Bundes-, Landes- und auf regionaler Ebene sind zur Beratung und Kontrolle 74

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von Parlamenten, Regierungen und zuständigen Verwaltungen Wirtschafts- und Sozialräte zu errichten, in denen die Gewerkschaften paritätisch vertreten sind. Die Wirtschafts- und Sozialräte sollten für die gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik einschließlich der Finanz-, Verkehrs-, Steuer- und Bildungspolitik zuständig sein. Unterstützung offensiver gewerkschaftlicher Politik Entscheidender Ansatzpunkt für die Abwehr der Folgen der gegenwärtigen tiefgreifenden Krise und zur Überwindung der Krisenursachen ist die unmittelbare Gegenwehr der arbeitenden Menschen in ihren Organisationen, den Gewerkschaften. Eine Unterordnung gewerkschaftlicher Tarifpolitik unter Profit- und Herrschaftsansprüche des Kapitals würde weder zu mehr Wachstum noch zu mehr Beschäftigung führen. Vordringlich ist vielmehr die Durchsetzung von Maßnahmen, die die Krisenlasten für die arbeitende Bevölkerung begrenzen, Gegenmachtpositionen verankern und diese soweit als möglich strukturell absichern. Sozialdemokraten unterstützen deshalb eine offensive Tarifpolitik der Gewerkschaften. […] 51. These Demokratisierung der Wirtschaft – Durchsetzung der neuen ökonomischen Logik […] Alle Fortschritte im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, für die Stärkung der Massenkaufkraft und für die Ausweitung

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der Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher und wirtschaftspolitischer Ebene – um nur einige Beispiele zu nennen – sind ständig bedroht, durch Gegenoffensiven des Kapitals wieder zunichte gemacht zu werden. Deshalb kommt es auch in der Bundesrepublik darauf an, die erreichten Teilerfolge im Kampf gegen das Kapital auszubauen bis hin zu einer grundlegenden Veränderung der Wirtschaftsordnung. Ziel dieser grundlegenden Veränderung muß es sein, daß im betrieblichen wie im überbetrieblichen Bereich die Entscheidungsbefugnisse der Gesellschaft übertragen werden, indem das Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln beseitigt wird. Die Grundlagen hierfür sind s die Vergesellschaftung der Schlüsselsektoren der Volkswirtschaft; s die Verwirklichung echter Mitbestimmung der Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaften; s die Entwicklung einer gesamtwirtschaftlichen Planung. Diese drei Ziele sind untrennbar miteinander verbunden, nur ihre gemeinsame Durchsetzung wird den Weg zu einer neuen ökonomischen Logik und zur umfassenden Verwirklichung des demokratischen Sozialismus eröffnen. […] 52. These Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien Auch in der Bundesrepublik ist davon auszugehen, daß gegenwärtig weder die Möglichkeit noch die objektive NotwenSCHWERPUNKT

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digkeit dafür gegeben ist, daß alle Produktionsmittel auf einen Schlag vergesellschaftet werden. […] So besteht in der Bundesrepublik die unabweisbare Notwendigkeit, eine Mindestschwelle der »Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien« zu überschreiten, um eine neue ökonomische Logik – den Bruch mit dem Profitprinzip – in der Wirtschaft insgesamt durchsetzen zu können. Mindestschwelle der Vergesellschaftung in der BRD Entscheidend für die Festlegung der »Mindestschwelle der Vergesellschaftung« ist, daß der gesellschaftliche Sektor der Wirtschaft eine eindeutige ökonomische Überlegenheit erhält, und daß seine Stärke ausreicht, die kapitalistische Konkurrenz zu durchbrechen. […] Vor diesem Hintergrund müssen vor allem die folgenden Bereiche der Wirtschaft unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht werden: (1) Produktionszweige, deren Leistungen Ausgangsbasis für den Produktionsprozeß insgesamt sind, d. h. Rohstoff- und Materialproduktion, Energiewirtschaft, Investitionsgütersektor, Transport- und Nachrichtenwesen; (2) der gesamte Finanzsektor, d. h. Banken und Versicherungen, die erheblichen Einfluß auf die Investitions- und Güterströme ausüben; (3) Produktionszweige, die entscheidende Bedeutung für die wissenschaftlichtechnische Entwicklung als einen der 75

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Hauptfaktoren des Wachstumsprozesses haben; (4) Produktionszweige, die bestimmend für die Regionalstruktur und den Außenhandel der Volkswirtschaft sind; (5) Bereiche, die durch ihren Dienstleistungscharakter unmittelbar öffentliche Aufgaben erfüllen (Gesundheitswesen) oder zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben unabdingbar sind (Pharma-Industrie). […] Fortbestand eines bedeutenden privaten Sektors Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien bedeutet notwendig, daß zumindest für eine gewisse Übergangsperiode ein erheblicher privater Sektor in der Volkswirtschaft fortbesteht. Eine vollständige Vergesellschaftung aller Betriebe ist in der Übergangsperiode zum Sozialismus weder notwendig noch sinnvoll: sie würde zum einen den überwiegenden Teil der Mittelschichten auf die Seite des Großkapitals und zum Widerstand gegen jede sozialistische Lösung zwingen, sie würde darüber hinaus angesichts eines erst zu entwickelnden Instrumentariums der Feinsteuerung, Ermittlung und Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse in der derzeitigen Situation die Arbeiterklasse vor unlösbare Probleme stellen. […]

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54. These Die demokratische Wirtschaftsplanung […] Die Entwicklung des demokratischen Plans Das grundlegende Ziel, eine wirkliche Beteiligung der arbeitenden Menschen und des Volkes insgesamt an der Wahl der wirtschaftlichen Ziele und der Kontrolle ihrer Realisierung durchzusetzen, setzt zunächst eine intensive allgemeinpolitische Diskussion auf allen Ebenen voraus. In dieser Diskussion muß es um die Ziele der allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gehen, d. h. um einen politischen Zielkatalog in Bezug auf s Lebensstandard (Güterversorgung), s Arbeitsbedingungen (Dauer, Intensität), s Wohnversorgung, Umweltqualität, s Bildungsmöglichkeiten, s soziale Sicherung, Gesundheitsversorgung, s Freizeitmöglichkeiten, Kultur. Zugleich muß in diesem Zusammenhang geklärt werden, welche Ziele in Bezug auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung gestellt werden sollen (Festlegung der Investitionsquote) und in welchem Umfang eine Umverteilung der Ressourcen zugunsten der Länder der dritten Welt zu leisten ist. Ein solcher Ziel- und Prioritätenkatalog wird auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu diskutieren sein. […]

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Parlamente, Regierungen Die Parlamente der verschiedenen Ebenen bleiben als die demokratisch legitimierten Vertretungen des Volkes insgesamt die obersten Entscheidungsgremien, die entsprechend die Exekutive binden und kontrollieren. Ihre Aufgabe und Kompetenz ist es, als gesamtgesellschaftlich legitimierte Entscheidungsträger die Planungsvorgaben für den nationalisierten Sektor der Wirtschaft festzulegen und die staatlichen Lenkungsinstrumente einzusetzen, um auch die Entwicklung des privaten Sektors entsprechend den gesamtwirtschaftlichen Zielen zu gestalten. […]

Privater Sektor und demokratische Planung Wie im Abschnitt »Vergesellschaftung der Schlüsselsektoren« dargelegt wurde, wird die Wirtschaftsstruktur der Übergangsgesellschaft durch den Fortbestand eines bedeutenden privaten Unternehmenssektors gekennzeichnet sein, der neben den nationalisierten Unternehmen Produktion, Investitionen und Beschäftigung prägen wird. […] […]

Die Wirtschafts- und Sozialräte Die Wirtschafts- und Sozialräte fassen die Entscheidungsträger verschiedener Branchen für ein Gebiet (Stadt/Gemeinde, Region, Bund) zusammen, und zwar s einerseits die Unternehmensleitungen s und andererseits die Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften. Ihre Aufgabe besteht insbesondere darin, Anforderungen an die staatliche Wirtschaftspolitik auf der jeweiligen Ebene aus der Sicht der Betriebe und ihrer Belegschaften in die Erarbeitung und Umsetzung der wirtschaftspolitischen Planung einzubringen. […]

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Prinzip der Fakten + Lexikon FAKTEN & Gewinnmaximierung:

ZAHLEN

Der Kapitalismus richtet sich nach dem sogenannten ökonomischen Prinzip, dass auf die Gewinnmaximierung hinausläuft.

ZUM

Es gibt drei Formulierungen des Ökonomischen Prinzips

KAPITALISMUS Farnaz Nasiriamini

Kapitalismus LEITET SICH AB VON KAPITAL (LAT.) „CAPITALIS“, WAS „DEN KOPF“ ODER „DAS LEBEN BETREFFEND“ BEDEUTET.

1) MAXIMUM-PRINZIP: Mit gegebenen festen Mitteln ein großmöglichstes Ziel erreichen 2) MINIMUM-PR INZIP: Mit möglichst wenigen Mitteln ein gegebenes festes Ziel erreichen 3) OPTIMUM-PR INZIP: Ein optimales Verhältnis zwischen eingesetzten Mitteln und angestrebtem Ziel erreichen

Quelle: Wikipedia Quelle: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre/ Thommen, Achleitner 7.Auflage, Springer Gabler

Was bedeutet Wirtschaften? Wirtschaften ist ein rationales Verhalten, dass darauf ausgerichtet ist knappe Güter so einzusetzen, dass sie eine höchstmögliche Bedürfnisbefriedigung gewährleisten Quelle: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre/ Thommen, Achleitner 7.Auflage, Springer Gabler

Das Wirtschaftssystem im Kapitalismus ist das „marktwirtschaftliche System“. In Deutschland wird das Wirtschaftssystem seit 1967 „Mixed Economy“ genannt. Die Preisbildung erfolgt durch Angebot und Nachfrage. Dtv-Atlas Politik, Deutscher Taschenbuchverlag

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1409 1848 1329 $75.000 1863 2,2% 1,6%

Jahr der Eröffnung der ersten Börse der Welt in Belgien Jahr der Gründung der ersten Gewerkschaften in Deutschland

Jahr des ersten Arbeiterstreiks in Deutschland durch die Messingschlosser Jahreseinkommen, ab dem die gefühlte Lebensqualität nicht mehr weiter steigt Jahr der Gründung der ersten deutschen Arbeiterpartei

Durchschnittlicher Preisanstieg pro Jahr zu Zeiten der D-Mark zwischen 1992 und 2002

Durchschnittlicher Preisanstieg pro Jahr zu Zeiten des Euro zwischen 2002 und 2011

Bruttoinlandsprodukt von Deutschland im Jahr 2010

$ 3281.000.000.000 Bruttoinlandsprodukt der USA im Jahr 2010

$14.587.000.000.000 Bruttoinlandsprodukt der Welt im Jahr 2010

$ 63.124.000.000.000 Quelle: http://www.brandeins.de/archiv/2012/kapitalismus/ kapitalismus-in-zahlen/

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KARL MARX

Adam Smith

(1818 – 1883) Ökonom, Gesellschaftstheoretiker, Protagonist der Arbeiterbewegung und einflussreichster Theoretiker mit Friedrichs Engels des Kommunismus und Sozialismus

(1723- 1790) Moralphilosoph, Aufklärer und Begründer der klassischen Nationalökonomie

MENSCHENBILD:

„...jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ HAUPTWERK: Das Kapital (1867) THEORIE: Menschen verbinden sich zu Gruppen mit anderen, die in der gleichen gesellschaftlichen Situation lebend deren Interessen teilen und gegen diejenigen, die gegen ihre Interessen sind. Der sozioökonomische Status jeder Gruppe ist durch ihr Verhältnis zum Eigentum und zu den Produktionsmitteln bestimmt. Das Proletariat hat weder Eigentum noch Produktionsmittel. Die Bourgeoisie als herrschende Klasse besitzt den größten Teil des Reichtums eines Landes. Wenn sich die Produktionsverhältnisse ändern, kommt es zu Revolutionen und Kriegen. Die herrschende Klasse wird durch eine neue Klasse ersetzt. Die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Quelle: The Philosophy Book – der deutschsprachigen Ausgabe von Dorling Kindersley Verlag GmbH, München, 2011 S.198-203

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MENSCHENBILD:

„Der Mensch ist ein Tier, das Handel treibt.“ HAUPTWERK: Über den Wohlstand der Nation (1776) THEORIE: Der grundlegende Antrieb des Menschen ist der Egoismus. In der Wirtschaft führt dies dazu, dass auch das Allgemeinwohl gefördert wird. Der Kapitalbesitzer investiert aus egoistischen Motiven in regionale und nationale Strukturen. Der Staat soll die Individuen möglichst wenig einschränken, denn: der Staat reguliert sich von selbst durch „die unsichtbare Hand“ Quelle: The Philosophy Book – der deutschsprachigen Ausgabe von Dorling Kindersley Verlag GmbH, München, 2011 S.160-163

1% 48 %

der Weltbevölkerung besitzt

allen Vermögens.

Das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzt geschätzt ca. 33 % allen Vermögens in Deutschland. Quellen: Oxfam-Bericht „Besser gleich!“, 2015. DIW-Wochenbericht 7/2015.

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