Argumente 1/2012 internationale Jugendbewegungen

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ARGUMENTE 1/2012 Internationale Jugendbewegungen


ARGUMENTE 1/2012 Internationale Jugendbewegungen

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


INHALT

Intro: Teil einer globalen Jugendbewegung sein ................................................... 4 Von Matthias Ecke, Katharina Oerder, Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Magazin Gegen das junge Gesicht der Armut – Solidarität als Chance für die Zukunft ..... 8 Von Ursula Fehling, ehemalige Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings Bedingungsloses Grundeinkommen – Pauschal unsozial ......................................16 Von Helene Sommer, stellvertretende Vorsitzende der Jusos Berlin Sozialdemokratische Umweltpolitik aus Sicht der Umweltverbände: Und sie bewegt sich doch. Langsam. Aber sicher? ............................................. 21 Von Kai Niebert, stellvertretender Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands Zahlen die Bürger die Zeche? Auswirkungen der Wirtschaft auf das Soziale ..... 27 Von Heiner Keupp, emeritierter Professor für Sozialpsychologie der LudwigMaximilians-Universität München

Schwerpunkt: Jugendbewegungen Jugendproteste: Erlebte Prekarisierung, erstrebte Demokratie ......................... 33 Von Steffen Vogel, Sozialwissenschaftler und freier Autor

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Inhalt Argumente 1/2012


IUSY on the Move – Die International Union of Socialist Youth als internationale Jugendbewegung? ................................................................................................ 37 Von Tim Schlösser, IUSY-Vizepräsident Jugendproteste: Keine Wut im Bauch ................................................................. 43 Thomas Kerstan und Arnfrid Schenk (DIE ZEIT) im Gespräch mit Klaus Hurrelmann, Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance Edel, gerecht und wunderschön. Was ist los in Chile? ........................................ 47 Von Albrecht Koschützke, Politologe und ehemaliger Direktor der Zeitschrift Nueva Sociedad The indignados and the collapse of the Spanish Progressive Majority................ 58 By David Lizoain Bennett, International and European Secretary of the Socialist Youth of Catalunya ( JSC) „Zeitgeist Revolution“ – Jugendproteste in Israel und Palästina......................... 63 Von Christoph Dinkelaker, Journalist und Projektkoordinator im Willy-Brandt-Center Jerusalem „Jung, ledig sucht“ – Arabische Jugendliche kämpfen für soziale und kulturelle Veränderungen....................................................................................................... 68 Von Kristian Brakel, Senior Political Analyst für den Nahen Osten und Nordafrika bei Crisis Action Thesen zur Zukunftsfähigkeit des Sozialen Sankt Petersburg, Russland: Zivilgesellschaft und Opposition vor der Präsidentschaftswahl........................... 75 Von Ewgenij Konowalow, Vorsitzender des russischen sozialdemokratischen Jugendverbands (RSDSM)

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INTRO: TEIL EINER GLOBALEN JUGENDBEWEGUNG SEIN Von Matthias Ecke, Katharina Oerder, Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

The Protester – Person of the Year. Zur einflussreichsten Persönlichkeit des abgelaufenen Jahres erklärte das Time Magazin die anonymen wie sinnbildlichen Rebellen, die Protestierenden. Organisierte Widerständige sehen anno 2011/12 so aus: meist gebildet, oft aus der Mittelschicht, fast immer: jung. Die internationalen Protestbewegungen, die seit der Selbstverbrennung des 27-jährigen Tunesiers Muhammed Bouazizi in Wellen verblüffender Konsequenz eine nach der anderen über den Globus schwappten, waren im Kern alle Jugendbewegungen. Junge Menschen, denen Chancen verwehrt, erschwert oder nur vorgegaukelt wurden. Junge Menschen, die in einer Ära leben, in der Wohlstand in bisher unbekanntem Maße global produziert und durch (Reise)Freiheit und mediale Vernetzung noch stärker als in allen historischen Perioden zuvor auch zur Schau gestellt wird. Die Ahnung des eingeschränkten Lebens früherer Generationen Deprivierter weicht heute dem wachen Bewusstsein der Benachteili-

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Intro Argumente 1/2012

gung, des Ausgeschlossenseins und der Ohnmacht. Diese Jugend hat sich erhoben und streitet, lautstark, direkt und weltweit, mit ungewissem Ausgang. Es erstaunt, wie viel all diese Bewegungen verbindet. Vom Syntagma-Platz in Athen über den Tahrir in Kairo bis hin zum Rothschild Boulevard in Tel Aviv teilen die Proteste in Form und Inhalt einige bedeutende Charakteristika. Das „Wie“ der Proteste ist gekennzeichnet durch die (Wieder)Inbesitznahme des Öffentlichen Raums – durch Zelten, Okkupieren, simples Ausharren, politisches Bevölkern. Zudem ist da die dezentrale Organisation, meist jenseits von Großorganisationen, oft über soziale Netzwerke vermittelt. Alle Proteste eint die Spontanität, Kreativität und Wucht einer empörten Multitude junger Menschen. Auch inhaltlich verbindet die Proteste – trotz unbestreitbarer Unterschiede – mehr, als man in Anbetracht der so unterschiedlichen Gesellschaften vermuten würde. Sie alle eint die zeitgenössische Version des verbundenen Kampfes für


Wohlstand und Würde: Brot und Rosen im facebook-Zeitalter. Auch wenn die demokratischen Motive im Vordergrund stehen, war und ist es doch oft gerade die grassierende Jugendarbeitslosigkeit und ihre ernüchternden Folgen (Ausgeschlossenheit, Abhängigkeit, Verlust erlernter Qualifikation usw.), die so viele junge Menschen auf die Straße trieb und treibt. Gute Arbeit vermittelt Einkommen, Würde und Selbstständigkeit, diese Gleichung gilt gleichermaßen in Europa und Nordafrika. Aber natürlich sticht die fehlende Gestaltungsmacht der jungen Generation ins Auge, sie ist eine wesentliche Triebfeder der Proteste. Sie kommt unterschiedlich daher. Während die jungen Menschen in Nordafrika unter der Zensur und Gewalt der postkolonialen, überkommenen (meist arabisch-nationalistisch, säkularen) Regime litten und leiden, beklagen die Jugendlichen in Staaten mit etablierten demokratischen Strukturen eben die Aushöhlung jener. Ob Diktatur oder PostDemokratie, die Protestierenden fordern ¡Democracia Real YA! Nicht zu vergessen ist die gerontokratische Logik vieler Gesellschaften. Sie befeuert den Schrei nach einem großen zukünftigen Anderen. Dass die Alten über die Jungen gebieten dürfen, wollen die jungen Menschen nicht mehr hinnehmen. Mit den Jugendbewegungen der Jahre 2011/12 erleben wir eine Rückkehr des kollektiv handelnden Subjekts auf die Bühne der Weltpolitik. Nie mehr seit den Friedlichen Revolutionen in Teilen Mittelund Osteuropas und dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus haben Menschen auf der Straße, ausgerüstet nur mit Fahnen und Transparenten (und Smartphones) eine solche Erschütterung

in verkrustete Herrschaftsstrukturen gebracht. Diktaturen brachen zusammen unter ihrer Macht, andere hingegen schlugen umso härter zurück. Nicht umsonst hat die Ära der Transformation gerade in der Arabischen Welt auch blutige Bürgerkriege bewirkt. Im Dezember 2010 begann in Tunesien die Bewegung, die bald als „Arabischer Frühling“ populär wurde. Es folgten die spanischen Indignados, „Occupy“ in den USA und weltweit, soziale und politische Proste in Griechenland, Israel und Russland, Bildungsproteste in Chile und und und. Wo aber stehen wir heute? Staaten wie Tunesien und Ägypten haben nach langen Jahren der Diktatur Wahlen abgehalten. Ob deren Ausgang einen stabilen demokratischen Pfad weist, ist gerade in Ägypten ungewiss. In Libyen und Syrien hat die brutale Reaktion des Regimes auf die Begehren der Opposition zu blutigen Bürgerkriegen geführt. In Russland regiert Putin wieder mit eiserner Hand. Neben kleinen Zugeständnissen haben auch die israelischen Proteste und Camps substanziell wenig erreicht, aber die soziale Frage wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Occupy in den USA aber auch Deutschland ist es gelungen, die Sensibilität für finanzkapitalistische Ausbeutungsverhältnisse zu vergrößern – konkrete Lösungsvorschläge hingegen sind rar. In Griechenland und Spanien sind die Proteste Ausdruck tiefer Verzweiflung, aber auch beeindruckender Solidarität. Die Banken, Rating-Agenturen und internationalen Geldgeber beeindrucken sie kaum. Jenseits aller greifbaren Ergebnisse bleibt natürlich allen Protestierenden überall die ermutigende Erfahrung der politischen Ermächtigung, die das Selbstbewusstsein stärkt und aus Beherrschten

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BürgerInnen macht. Das ist der Selbstzweck der Proteste. Hier setzt aber auch ein Kritikpunkt an. Manchmal wirken Protestformen wie Occupy auch merkwürdig selbstgenügsam, geradezu narzisstisch. Berauscht an der eigenen Performativität schlägt die Form den Inhalt. Denn jenseits eines kapitalismus- und herrschaftskritischen Grundkonsenses wirken die Jugendproteste auch programmatisch diffus, ziellos, ohne Schwerpunkte. Sie leisten sich kaum eine Abgrenzung gegenüber destruktiven Tendenzen innerhalb der Bewegungen und ihre Organisation ist basisdemokratisch, ja, aber auch chaotisch. Die Indignados haben als ersten Punkt ihres Forderungsprogramms die Abschaffung von Berufspolitikerprivilegien... wenn das der kleinste gemeinsame Nenner ist, verliert die Bewegung die Zähne, die Herrschaftskritik wirkt merkwürdig kleinbürgerlich, seicht. Tatsächlich richten sich viele der Bewegungen unterschiedslos gegen etablierte politische und gesellschaftliche kollektive Akteure, auch solche auf der Linken. „El pueblo unido avanza sin partidos“ rufen die protestierenden chilenischen Studierenden in Abwandlung der historischen Widerstandslosung den Parteien entgegen, allen gleichermaßen. Umgekehrt muss diese Entfremdung auch Parteien und etablierten Akteuren Gedanken machen – Fragen stellen sich auch uns. Letztlich lassen sich die jeweiligen Charakteristika, die Erfolge und Grenzen der einzelnen Proteste am besten an den jeweils konkreten Jugendbewegungen analysieren. Aber auch übergreifende Fragen suchen nach Antworten. Dieses Heft unternimmt den Versuch, beide Ansprüche zu vereinen.

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Intro Argumente 1/2012

Zu den einzelnen Beiträgen Steffen Vogel beschreibt in einem Überblicksartikel die vereinenden, aber auch trennenden Elemente der Jungend- und Protestbewegungen von Puerta del Sol bis Tahrir-Platz. Die große Offenheit sowie ihre anti-ideologischen Ansichten der Bewegungen sind nach den ersten Erfolgen nicht nur Vorteil, sondern können gerade jetzt zu Fallstricken werden, analysiert er. Tim Schlösser geht in seinem Beitrag auf das aktive Engagement in der International Union of Socialist Youth (IUSY ) für eine progressive Politik auf der ganzen Welt ein. Er gibt Einblicke in die Arbeit und Grundsätze der IUSY. Basierend auf dieser Darstellung erläutert er ihre Rolle als eine internationale Jugendbewegung. Im Zentrum des Bewegungscharakters der IUSY stehen dabei die Werte und Überzeugungen des demokratischen Sozialismus, der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Das Interview mit Professor Klaus Hurrelmann ist ein Zweitabdruck aus der „Zeit“. Es wird der Frage nachgegangen, warum es in Deutschland bisher keinen Aufstand der Jugend gegeben hat, während überall in Europa und in vielen anderen Teilen der Welt die junge Generation für ihre Zukunftschancen auf die Straße geht. Hurrelmann geht davon aus, dass Jugendliche Seismografen für die Entwicklung eines Landes sind. Zwar sind auch in Deutschland viele Jugendliche von Prekarität und Hoffnungslosigkeit betroffen, allerdings bei weitem nicht in dem Maße wie zum Beispiel in Spanien. Sie setzen sich aber trotzdem für ihre Belange kollektiv ein. Er prognostiziert, dass, nachdem das


für die jungen Leute bisher wichtigste Thema der ökologischen Lebenssicherung zurücktritt, die beruflichen Existenzängste in den Vordergrund treten werden. Sollte es zu einer erneuten Arbeitsmarktkrise kommen, wird die junge Generation unter Garantie aufbegehren. Albrecht Koschützke setzt die Bildungsproteste der SchülerInnen und Studierenden Chiles in den Kontext der Infragestellung des überkommenen chilenischen neoliberalen Wirtschaft- und Gesellschaftssystem. Mit den Forderungen nach freier und öffentlicher Bildung geht die Neubestimmung eines Bildes vom Subjekt einher – vom kalkulierenden Konsumenten zur Bürgerin.

Israel und Palästina und besonders an der Rolle des Willy-Brandt-Centers zeigt er die jugendliche Dynamik und ihre Wirkung auf die soziale Frage innerhalb der Gesellschaften und die Dialogbereitschaft zwischen ihnen. Ewgenij Konowalow wirft ein Schlaglicht auf die Opposition in Russland. Im Schatten der Putin-Wahl hat sich die demokratische Zivilgesellschaft gerade in den städtischen Zentren neu organisiert. Vor allem junge Menschen nehmen den Kampf für faire Wahlen und gesellschaftliche Liberalität auf, und treffen dabei auf einen autoritären Staat. ●

Aus der Perspektive der spanischen politischen Auseinandersetzung heraus blickt David Bennett Lizoain auf die Indignados. Er erklärt, wie die Protestbewegung mit dem Verlust der progressiven Mehrheit in Spanien einherging. Am Ende bleibt ein konservativer Wahlerfolg, exorbitante Jugendarbeitslosigkeit und Ernüchterung. Kristian Brakel beschreibt die Rolle der Jugend im Arabischen Frühling. Die vielen jungen Menschen in der arabischen Welt drängen aus dem politischen und sozialen Abseits heraus und fordern die ihnen gebührenden Anteile an Macht und Wohlstand ein. Die Analyse der Gesellschaften von Marokko bis Jemen zeigt aber auch, dass nicht nur ein politischer, sondern auch ein Generationenkonflikt diesen Auseinandersetzungen zugrunde liegt. Konkreter nimmt Christoph Dinkelaker die Situation in Israel und Palästina in den Blick. Anhand der Jugendbewegungen in

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GEGEN DAS JUNGE GESICHT DER ARMUT – SOLIDARITÄT ALS CHANCE FÜR DIE ZUKUNFT Von Ursula Fehling, ehemalige Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings

Magazin

Finanzkrisen und konjunkturelle Aufschwünge wechseln in atemberaubendem Tempo einander ab. Der DAX steigt und fällt fast ins Bodenlose. Die Arbeitslosigkeit sinkt, trotzdem bleibt die Zahl der sog. „Hartz IV“-EmpfängerInnen auf hohem Niveau. Bei allen Auf- und Abschwüngen ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen aufwachsen, sehr groß. Während auf die Situation von Kindern zunehmend Aufmerksamkeit gerichtet wird, ist die Armut von Jugendlichen nach wie vor ein wenig beachtetes Phänomen. Sie werden für ihre Situation in überzogenem Ausmaß selber verantwortlich gemacht, Hilfe für sie zu gewährleisten bleibt schwierig. Armut in Deutschland hat ein junges Gesicht.

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Das ist ein Skandal in einem nach wie vor sehr reichen Land. Der Blick auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, auf ihre Bedürfnisse und ihre Lebenschancen, muss dazu führen, ihre Zukunftsperspektiven und damit die Zukunftsperspektiven der Gesellschaft zu erhalten und zu verbessern. Jugendarmut in einem reichen Land 18 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter relativer Armut, sie haben also weniger als 60 % des deutschen Medianeinkommens zum Leben zur Verfügung. Die 13- bis 25-Jährigen sind dabei die Gruppe mit der höchsten Armutsrisikoquote in Deutschland (vgl. DIWWochenbericht 07/2010).

Gegen das junge Gesicht der Armut – Solidarität als Chance für die Zukunft Argumente 1/2012


Die Armutsquote in Deutschland ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Sie lag 2006 bei 13,9 % in Gesamtdeutschland bezogen auf die gesamte Bevölkerung. Die höchsten Armutsquoten sind in den Altersgruppen unter 30 Jahren zu finden. Nur in diesen Altersgruppen lagen die Quoten signifikant über dem Durchschnitt mit 16,3 % bei den unter 10-Jährigen, 18,7 % bei den 11- bis 20-Jährigen und 19,2 % bei den 21- bis 30-Jährigen. In Ostdeutschland ist die Armutsquote wesentlich höher. Sie beträgt in der Gesamtbevölkerung 22,7 %, 30,2 % bei den unter 10-Jährigen, 33,6 % bei den 11- bis 20-Jährigen und 28,5 % bei den 21- bis 30-Jährigen. Jugendliche und Kinder sind häufig von Armut betroffen, weil sie in Haushalten von Alleinerziehenden leben. Jugendliche sind darüber hinaus in besonderem Maße von prekärer Beschäftigung betroffen, durch die unter anderem kein Einkommen erzielt wird, das die Armutsgrenze übertrifft. Zu den von Armut besonders bedrohten Risikogruppen gehören insbesondere auch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Ihr Armutsrisiko ist mehr als doppelt so hoch wie das von Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund. Sie wachsen oft in benachteiligten Stadtteilen auf und Sprachprobleme erschweren ihnen zusätzlich die Bildung. Es handelt sich bei ihnen mithin um eine mehrfach strukturell benachteiligte Gruppe. Das Problem wird insofern virulenter, als der demographische Wandel insbesondere dazu führt, dass die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund überproportional wächst. Heute schon haben in vielen Regionen Deutschlands mehr als 60 % der Neugeborenen einen Migrationshintergrund.

Während es bei Kindern eine steigende gesellschaftliche Wahrnehmung des Phänomens gibt, wird Jugendarmut kaum wahrgenommen. Bei der Jugendarmut handelt es sich um ein eigenständiges, separat zu betrachtendes Phänomen in einer Lebensphase von großer Wichtigkeit mit entscheidenden Umbrüchen. In den Jugendverbänden und deren Gruppen vor Ort wird Kinder- und Jugendarmut zunehmend sichtbar. GruppenleiterInnen werden mit Situationen konfrontiert, in denen Kinder und Jugendliche an gemeinsamen Aktivitäten, wie Wochenendfahrten oder Ferienfreizeiten, nicht mehr teilnehmen, da die finanziellen Mittel hierfür fehlen. Auch Jugendliche, die als Ehrenamtliche Verantwortung in den Verbänden übernehmen möchten, sind hiervon betroffen. Die gleichberechtigte Möglichkeit zum Mitmachen ist nur schwer zu gewährleisten. Armut ist mehr als materielle Armut Materielle Armut hat häufig negative Auswirkungen auf eine ganze Reihe von Lebensbereichen. Die verfügbaren materiellen Ressourcen bestimmen über die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, des Wohnumfelds, der Mobilität, der Ernährung und häufig auch über Bildungschancen. Damit schränkt materielle Armut die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe ein. Dies ist besonders dramatisch, wenn es junge Menschen betrifft. Um diese Risiken in der Diskussion über Armut angemessen zu berücksichtigen, setzt sich der BDKJ für die Verwendung des Begriffs der Lebenslagenarmut ein. Dieser bezieht neben dem verfügbaren Einkommen Faktoren wie Bildung, die Wohnsituation, die physische und psychi-

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sche Gesundheit, die Beschäftigung, die (soziale) Mobilität, die sozialen Netzwerke etc. mit ein. Neben diesen objektiven können auch subjektiv verfügbare Ressourcen im Bereich der kognitiven, sozialen und emotionalen Kompetenz eine Rolle spielen. Die objektiven und subjektiven Faktoren wirken zusammen und können die gesamte Lebenssituation Jugendlicher beeinträchtigen. Armut ist häufig eng mit Bildungsarmut verknüpft. Die PISA-Studien haben belegt, dass der schulische Erfolg in Deutschland stark abhängig von der sozialen Situation in der Herkunftsfamilie ist. Eine fehlende rechtzeitige und ausreichende Förderung von Kindern und Jugendlichen mit schlechteren Startchancen und eine frühe Trennung machen ein fruchtbares, gemeinsames Lernen aller schwierig. Auch bei zusätzlichen schulischen Aktivitäten (z. B. Klassenfahrten) sowie der Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln werden Benachteiligungen sichtbar. Mitgebrachte Bildungsdefizite werden durch die Schule oft nicht ausgeglichen, sondern eher noch verstärkt. Die Armutsquote ist in der Gruppe der Menschen ohne Hauptschulabschluss doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Teilhabearmut und schlechtere Startchancen bedingen wiederum materielle Armut. Oft entsteht ein generationsübergreifender Teufelskreislauf, und die Armut wird von einer Generation an die nächste „vererbt“. Armut kann somit weder auf Verminderung von Teilhabechancen noch auf materielle Armut reduziert werden. Ihre Bekämpfung muss die gesamte Lebenssituation junger Menschen und die Strukturen, welche diese bedingen, in den Blick nehmen.

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Forderungen zur Überwindung von Jugendarmut Jugendarmut stellt einen gesellschaftlichen, menschlichen, sozialen und politischen Skandal dar. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) hat als Dachverband der katholischen Jugendverbände gemeinsam mit anderen Jugendverbänden und weiteren Kooperationspartnern nach Auswegen aus der Armut in unserer Gesellschaft gesucht. Im letzten Teil dieses Artikels wird auf ein Grundeinkommensmodell, das der BDKJ entwickelt und beschlossen hat, eingegangen, das als Vision einer gerechteren Gesellschaft ein Grundeinkommen in gleicher Höhe für alle fordert, das existenzsichernd ist und die Lebenslagen aller Menschen dahin gehend verändert, dass Armut verhindert werden kann. Als konkrete Schritte auf eine solche Situation hin und zur schnellen Überwindung der Jugend- und Kinderarmut könnte als erster Schritt das von einer Reihe gesellschaftlich relevanter Gruppen geforderte Kinder- und Jugendgrundeinkommen (oft auch Kinder- und Jugendgrundsicherung genannt) realisiert werden. Leider ist in der jetzigen politischen Situation nicht mit einer schnellen Realisierung dieser wirklich guten Idee zu rechnen. Schritte auf eine zwischenzeitliche Verbesserung der Situation armer Kinder und Jugendlicher könnten sein: ●

Die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes „neu errechneten“ aktuellen Sätze für Kinder und Jugendliche können ein soziokulturelles Existenzminimum nicht garantieren. Es bedarf einer tatsächlich eigenständigen und bedarfsgerechten sowie armutsfesten Berechnung der Bedarfsätze für Kinder

Gegen das junge Gesicht der Armut – Solidarität als Chance für die Zukunft Argumente 1/2012


und Jugendliche im SGB II/SGB XII. Hierbei müssen realistische Kosten für Nachhilfe, Nutzung ÖPNV und Nutzung von Freizeit- und Sporteinrichtungen, Verbands- und Vereinsaktivitäten in die Berechnung der Bedarfssätze eingehen. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist hierbei ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, leider aber werden die Sätze in aller Regel nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Die Kosten für Ferienfreizeiten von Trägern der freien Jugendhilfe sollten als Sonderbedarf analog zu den Schulfahrten anerkannt werden. Viele Unterstützungsleistungen des Staates für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden ad absurdum geführt, da sie auf die Berechnung des Arbeitslosengeldes II bzw. Sozialgeldes angerechnet werden. Notwendig ist es, auf die Anrechnung zusätzlicher Unterstützungsmaßnahmen, wie dem Kindergeld oder Einnahmen aus freiwilligen Diensten, zu verzichten. Im SGB II gibt es nach wie vor Regelungen, die Jugendliche und junge Erwachsene schlechter stellen als über 25Jährige und ihr Existenzminimum und ihre Lebensgestaltung gefährden sowie in Frage stellen. Sanktionen von 100 % des Arbeitslosengeldes II oder auch der Kosten der Unterkunft oder der Zwang, in einer beengten, die Eingliederung gefährdenden und unzumutbaren Wohnsituation bei den Eltern ohne Auszugsgenehmigung durch die Grundsicherungsstelle zu verbleiben, stellen weitere integrationsgefährdende Maßnahmen für junge Erwachsene dar. Im SGB II muss in Zukunft auf Sanktionen, die das Existenzminimum junger

Menschen unterhalb des SGB-II-Satzes angreifen, verzichtet werden. Das Erfordernis einer Auszugsgenehmigung gehört abgeschafft. Die Gesellschaft hat die Verantwortung, ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum zu fördern, der für Kinder und Jugendliche sowie für junge Erwachsene geeignet ist. Um die gesundheitliche Situation zu verbessern, bedarf es der Einführung von niederschwelligen und sozialraumorientierten Angeboten der Gesundheitsprävention. Um der noch stärkeren Verbreitung von SchuldnerInnenproblemen vorzubeugen, müssen schulische und außerschulische Angebote zur Schuldenprävention ausgebaut werden und insbesondere in angemessener Form für von Armut betroffene Jugendliche realisiert werden. Der Umgang mit finanziellen Ressourcen und ihr sachgerechter Einsatz sind Voraussetzung dafür, Schritte aus der Armut mitgestalten zu können. Ganzheitliche Angebote der Jugendsozialarbeit, die neben der beruflichen auch die gesellschaftliche Integration Benachteiligter und ihre Teilhabe im Blick haben, sind immer seltener anzutreffen. Es bedarf einer Stärkung der Angebote der Jugendsozialarbeit, die ganzheitlich ansetzen und ganzheitlich die Integration der Jugendlichen in Arbeit und Gesellschaft und Teilhabe in allen Lebensbereichen im Blick haben. Hierzu gehört auch, die Angebote der verbandlichen und offenen Jugendarbeit als Orte einer ganzheitlich orientierten Persönlichkeitsbildung verstärkt zu fördern. Gerade für benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche bietet

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der Ausbildungsmarkt trotz eines wesentlich verbesserten Angebots-Nachfrageverhältnisses kaum Platz. Für alle Jugendlichen bedarf es daher eines Rechts auf eine Ausbildung, die ihren Fähigkeiten und Kompetenzen entspricht. Hierfür müssen entsprechende Unterstützungsstrukturen etabliert werden. Die Überwindung der Armut von Jugendlichen und jungen Erwachsenen bedarf des Abbaus prekärer Beschäftigungsverhältnisse zugunsten existenzsichernder Beschäftigungen. Hierzu gehört auch eine Einführung von Mindestlöhnen in allen Branchen.

sowie weiteren Bevölkerungsgruppen abzuwenden. Durch ein Grundeinkommen für alle werden Solidarität und Subsidiarität zu den Grundpfeilern einer gerechteren Gesellschaft. Die Vision greift Erfahrungen aus einer Diskussion um eine familiengerechte Weiterentwicklung der Strukturen des Erwerbsarbeitsmarktes, Zukunftsperspektiven von Kindern und Jugendlichen und um die eigenständige Existenzsicherung von Mädchen und Frauen auf und führt diese zusammen. Die formulierte Vision greift dabei einige zentrale, sozialpolitische Problembereiche auf: ●

Das Grundeinkommensmodell des BDKJ „Solidarität – Chance für die Zukunft“ Vision für eine gerechtere Gesellschaft ●

Schon seit vielen Jahren zeigt sich eine wachsende Hilflosigkeit der Sozialpolitik, der Jugend- und Kinderarmut, darüber hinaus auch insgesamt der Armut in Deutschland, etwas entgegenzusetzen. So genannte Reformen der Sozialpolitik werden in der positiven Auswirkung für die von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen zum „Reförmchen“, die Situation derer, die am unteren Rand der Gesellschaft leben, hat sich nicht nur nicht signifikant verbessert, sondern teilweise sogar verschlechtert. Dieser wachsenden Hilflosigkeit und Ratlosigkeit hat der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) schon im Jahr 2003 eine Vision für eine gerechtere Gesellschaft „Solidarität – Chance für die Zukunft“ entgegengesetzt. Dieses konkret ökonomisch berechnete und ethisch wie sozialpolitisch begründete Modell taugt auch weiterhin dazu, das Armutsrisiko von Jugendlichen und Kindern

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die verstetigte Massenarbeitslosigkeit mit ihrer fatalen Auswirkung auf die sozialen Sicherungssysteme wie Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung die doppelte Orientierung von Frauen auf Familie und Beruf den demografischen Wandel und die Globalisierungseffekte die massive Zunahme prekärer Beschäftigung und den Abbau von sozialversicherungspflichtiger, existenzsichernder Beschäftigung die Verfestigung von Armutssituationen, die hohe Armutsrisikoquote von Jugendlichen und Kindern

Die Gesellschaft der Zukunft kann es sich nicht mehr leisten, alleine auf Erwerbsarbeit als Basis für soziale Sicherheit und sinnstiftende Lebensgestaltung zu setzen. Neben der Erwerbsarbeit müssen Leistungen in der Familie, ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement und Bildungsanstrengungen wie Fort- und Weiterbildungen als gleichwertige Beiträge zu einem demokratischen Gemeinwesen angemessene Akzeptanz erfahren. Es muss

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sichergestellt sein, dass die Menschen, die diese „Arbeit“ leisten, auch strukturell abgesichert werden.

Die Kernpunkte der Vision des BDKJ sind im Folgenden kurz skizziert: ●

Für den BDKJ, als Interessensvertretung von Kindern und Jugendlichen, stehen Zukunftsfähigkeit und Gerechtigkeit zwischen den Generationen im Mittelpunkt. Die Vision einer zukünftigen Gesellschaft baut daher auf den Erhalt der natürlichen Ressourcen der Erde und nachhaltiges Wirtschaften auf. Sie setzt gleichzeitig auf eine soziale Marktwirtschaft, die Anreize hierfür setzt. Mit dem Plädoyer für die Umstellung der Struktur der sozialen Sicherung in Deutschland auf ein Grundeinkommen für alle, bei gleichzeitiger Einführung einer allgemein gesetzlichen Pflegeversicherung für alle sowie paralleler Reduzierung der tariflichen Jahreserwerbsarbeitszeit, zeigt der BDKJ bewusst grundlegende politische Alternativen auf.

Mit der Vision „Solidarität – Chance für die Zukunft“ will der BDKJ gemeinsam mit anderen zur Erreichung folgender zentraler Ziele beitragen: ● ●

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Überwindung der Armut von Kindern, Jugendlichen bzw. Familienhaushalten Schaffung eines Systems, das mehr Zeitsouveränität und Wahlmöglichkeiten für ArbeitnehmerInnen ermöglicht Überwindung der strukturellen, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung Entwicklung eines zukunftsfähigen Bildungssystems auf der Basis eines ganzheitlichen Bildungsbegriffes Ausrichtung der Erwerbsarbeit und des Wirtschaftens an ökologischen Maßstäben und dem Prinzip der Nachhaltigkeit.

Einführung eines Grundeinkommens, dass alle BürgerInnen Deutschlands ohne Bedürftigkeitsprüfung erhalten. Das Grundeinkommen muss das soziokulturelle Existenzminimum absichern und wird auf der Basis einer zukunftssicheren solidarischen Finanzierung gewährleistet. Die zuletzt (2008) von uns angenommene Höhe des soziokulturellen Existenzminimums betrug 800 Euro pro Monat, eine Anpassung (nach oben) wäre bei einer aktuellen Berechnung vermutlich notwendig. Das Grundeinkommen wird an alle Menschen ausgezahlt, die seit acht Jahren oder von Geburt an ihren ersten Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben. Personen zwischen 18 und 64 Jahren müssen ihren Anspruch auf Grundeinkommen nachweisen. Alle Personen, die das 65. Lebensjahr erreicht haben, erhalten das Grundeinkommen bis zum Lebensende, wenn sie mindestens für 20 Jahre ihren Anspruch auf den Erhalt des Grundeinkommens nachweisen können. Für ZuwanderInnen, Flüchtlinge, AsylbewerberInnen und Asylberechtigte gelten eigenständige Lösungen der sozialen Sicherung, die ihnen das Grundeinkommen bei einem legalen Aufenthaltsstatus sichern. Das Grundeinkommen wird über die negative Einkommenssteuer bei einem Anrechnungsfaktor von 40 % und einem Grenzsteuersatz von 53 % realisiert. Die Finanzierung des Grundeinkommens, als neues Kernelement der sozia-

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len Sicherung, wird über Steuern auf alle Einkommensarten und über eine Wertschöpfungsabgabe realisiert. Auf diese Weise tragen ArbeitnehmerInnen, BeamtInnen, Selbstständige, Vermögende und ArbeitgeberIinnen solidarisch zur sozialen Sicherung bei. Konkrete Elemente der Finanzierung im Einzelnen sind: 1. Steuern auf alle Einkommensarten, Umsatz- und Verbrauchssteuern bleiben bestehen 2. Installierung einer Wertschöpfungsabgabe, die die solidarische Beteiligung aller ArbeitgeberInnen regelt. Die Abgabe der ArbeitgeberInnen bemisst sich nach der Wertschöpfung und nicht – wie die bisherigen Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung – nach der Lohnsumme der Beschäftigten. 3. Sukzessiv steigende „Ökosteuern“ auf Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung 4. Erschließung weiterer Steuern und Lenkungsinstrumente ●

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Für ihren Anspruch auf den Erhalt des Grundeinkommens müssen Personen zwischen 18 und 64 Jahren entsprechend aktiv sein. Richtwert hierfür sollen 500 Stunden pro Jahr in einem der vier zentralen Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit sein. Diese zentralen Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit sind: Familienarbeit, Bildung, Erwerbsarbeit und ehrenamtliches bürgerschaftliches Engagement. Gesetzliche Festlegung einer individuellen Jahreshöchsterwerbsarbeitszeit von 1.500 Stunden. Ziel ist der Abbau

der Arbeitslosigkeit durch Umverteilung von Erwerbsarbeit bei flexibler Arbeitszeitgestaltung. Die Kranken- und Pflegeversicherung bezieht alle BürgerInnen ein und wird pro Person mit dem gleichen Prozentsatz auf Einkommen aus allen Einkommensarten erhoben. Investitionen in die Bildung werden als zentrales zukunftspolitisches Element verstärkt. Grundlage bildet ein ganzheitlicher Bildungsbegriff sowohl für die Schule als auch für die außerschulische Bildung, das Studium und die Weiterbildung. Der Zugang zu den Bildungseinrichtungen ist flexibel und bietet dem Einzelnen ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit. Ausrichtung der Erwerbsarbeit und des Wirtschaftens an ökologischen Maßstäben und dem Nachhaltigkeitsprinzip sowie dem Ziel, sinnstiftende Tätigkeit für alle zu ermöglichen.

Eine im Auftrag des BDKJ erstellte Berechnung des Grundeinkommensmodells hat ergeben, dass den notwendigen Kosten für das Grundeinkommen mit den oben skizzierten Instrumenten und Einsparungen bei bestehenden Sozialleistungen, die wegfallen können, ein ausreichendes Finanzierungspotenzial gegenübersteht. Politik braucht Visionen! Die Vision des BDKJ ist eine gerechtere, solidarische Gesellschaft, in der das Armutsrisiko überwunden ist und in der die freie Entfaltung der Fähigkeiten und Kräfte sowie der Wettbewerb auf die sozialen Erfordernisse und Ziele hin orientiert und geordnet sind. Die konkreten, politischen Forderungen des BDKJ sind auf seine Grundeinkommensvision gerichtet und wollen Verbesse-

Gegen das junge Gesicht der Armut – Solidarität als Chance für die Zukunft Argumente 1/2012


rungen für von der Gesellschaft abgehängte Jugendliche, Kinder und andere Bevölkerungsgruppen erreichen. Es ist notwendig und folgerichtig, heute ihre Situation zu verbessern, aber auch erste Schritte in Richtung einer Gesellschaft zu tun, die gerechte Teilhabechancen für alle bereithält. ●

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BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN – PAUSCHAL UNSOZIAL Von Helene Sommer, stellvertretende Vorsitzende der Jusos Berlin

Der Befund ist eindeutig. Unsere Gesellschaft polarisiert sich, die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander, ökonomische und damit auch soziale Teilhabe für alle Menschen ist nicht (mehr) gewährleistet. Nach vielen Jahren des Sozialstaatsraubbaus und der Liberalisierung des Arbeitsmarktes sind die sozialen Sicherungssysteme auf aktuellem Stand nicht in der Lage, diese Entwicklung aufzuhalten. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens in den unterschiedlichsten Modellen, Höhen und Ausprägungen erscheint einigen Teilen der Gesellschaft als einfache und pauschale Lösung für alle diese Probleme. Zuletzt haben auch die Piraten mit der Positionierung Furore gemacht, sie bräuchten sich ja eigentlich gar nicht mit Arbeitsmarktoder Sozialpolitik näher zu beschäftigen, sondern könnten mit dem BGE alle diese Probleme auf einmal wegwischen. Wir Jusos haben diese Forderung immer wieder abgelehnt – und das, wie man so schön sagt, aus Gründen.

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1. Arbeit ist und bleibt zentral – und das ist auch gut so Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft zentral. Arbeit ist das Moment gesellschaftlicher Teilhabe, Arbeit sichert für alle Menschen den materiellen Lebensunterhalt, die eben nicht von Kapitalverwertung leben. Diesem Stellenwert der Arbeit tragen nicht zuletzt auch unsere sozialen Sicherungssysteme Rechnung. Die gesetzliche Rente ist als Ausgleich von Erwerbseinkommen, die nach abgeschlossener Erwerbsbiografie erwartbar wegfallen, konzipiert. Die Arbeitslosengelder sollen – zumindest idealtypisch – die Zeiten von Arbeitslosigkeit überbrücken. An der Finanzierung der Gesundheits- und Pflegeversicherung sind nicht zuletzt deswegen die Arbeitgeber mitbeteiligt, weil sie die Reproduktion von den für sie notwendigen Arbeitskräften mitfinanzieren sollen. Das alles sind soziale Errungenschaften, die auf Erwerbsarbeit aufbauen und die Arbeitsgesellschaft sozial absichern. Hinter der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen steckt zumeist die Idee der Abwertung der Rolle

Bedinungsloses Grundeinkommen – Pauschal unsozial Argumente 1/2012


der Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft. Wenn alle Menschen – ob qua ihrer Staatsangehörigkeit oder qua ihrer Existenz sei mal dahingestellt – monatlich einen Betrag X zur Verfügung gestellt bekämen, so die Theorie, wären die Menschen nicht mehr gezwungen, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wäre der Abschied von der zentralen Rolle der Arbeit. Ob dies realisierbar wäre, ist in der Tat fraglich; aber vor allem wäre es nicht wünschenswert.

te entgrenzte, prekäre Arbeit um sich greift, die weder materielle Absicherung noch gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Die logische Folge dieses Befundes ist es aber nicht, die Arbeitsgesellschaft an sich zu verdammen, sondern Politik für gute Arbeitsbedingungen und Vollbeschäftigung zu betreiben. Damit wird man auch dem Bedürfnis der Mehrheit der Menschen gerecht: Sich die eigne materielle Existenz zu erarbeiten und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. 3. Wertschöpfung zählt

2. Das BGE geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei Wenn das BGE tatsächlich die Freiheit von dem vielgescholtenen Arbeitszwang bringen soll, dann geht die Forderung vollständig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft mehr als reiner Broterwerb. Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, dass Erwerbslose unbestritten an materiellen Einbußen leiden. Genauso leiden sie aber auch darunter, dass sie sich selbst nicht als produktiven Teil unserer Gesellschaft begreifen. Die überwältigende Mehrheit der Menschen möchte arbeiten, um einen Teil zum gesellschaftlichen Fortkommen beizutragen. Und auch um das Gefühl zu haben, das Einkommen selbst erarbeitet zu haben. Der Beruf ist Teil der eigenen Identitätsverortung, die Teilhabe an Erwerbsarbeit sichert gesellschaftliche Teilhabe. Gute Arbeit ist sinnstiftend, die Existenz eines beruflichen Umfelds sichert soziale Teilhabe. Das wahre Problem ist nicht, dass Menschen zu Arbeit gezwungen werden, das eigentliche Problem ist, dass auf der einen Seite zu wenige Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und auf der anderen Sei-

Sich von der Arbeitsgesellschaft zu verabschieden, hieße aber nicht nur das teilhabestiftende Moment der Erwerbsarbeit zu negieren oder zumindest zu relativieren. Arbeit schafft nicht nur für die überwältigende Mehrheit der Menschen die materielle Lebensgrundlage, in dem sie über Löhne und Gehälter das Einkommen sichert. Das Ergebnis von Arbeit, die hergestellten Produkte, die geleisteten Dienstleistungen sind die Grundlage unserer Volkswirtschaft. Und das heißt nicht nur auf einer abstrakten Ebene, dass Wertschöpfung die Voraussetzung für jeden Wohlstand ist. Das heißt ganz konkret, jedes Konsumgut, jede Maschine, jeder Tisch und jedes Macbook müssen produziert, jede Paprika geerntet und jeder Liter Milch gemolken werden. Straßen kehren sich nicht von allein, Haare fallen in den seltensten Fällen freiwillig in die gewünschte Form und selbstreinigende Gebäude sind äußerst rar. Kurzum: Eine arbeitsteilige Wirtschaft, in deren Erhalt und Fortschritt sich jede und jeder entsprechend seiner Fähigkeiten einbringt, ist Grundlage für unsere moderne Gesellschaft.

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Die Formel „was wirklich gemacht werden muss, wird auch gemacht werden“ negiert, dass die Schaffung von Werten Grundlage für jeden Wohlstand ist. Eine Gesellschaft kann eben nur diejenigen Werte umverteilen, die auch erwirtschaftet wurden. Die Erzählung der 1980er Jahre, unserer Gesellschaft ginge die Arbeit aus, Produktivitätszuwächse und die voranschreitende Automatisierung würden in kürzester Zeit eine jede menschliche Arbeitsleistung obsolet machen, hat sich nicht bestätigt. Die Industriegesellschaften stehen vor der immensen Herausforderung, einen grundlegenden Strukturwandel einzuleiten, der unsere Wirtschaft auf ressourcenbewusste und erneuerbare Grundlagen stellt. Vor diesem Strukturwandel zu kapitulieren, wäre genau der falsche Weg. Es gilt enorme Anstrengungen zu unternehmen, riesige Investitionen einzuleiten und unsere Arbeitsgesellschaft auf neue Wege zu bringen. 4. Das BGE löst den Interessengegensatz nicht auf – im Gegenteil Manch einE BefürworterIn des BGE sieht in ihm den Königsweg zur Abschaffung des Kapitalismus. Dies ist mitnichten so. Denn wenn es richtig ist, dass wir keineswegs den technischen und materiellen Fortschritt der vergangenen Jahrhunderte abschaffen wollen, dann werden auch weiterhin Arbeit und Produktion gebraucht. Der Kapitalismus baut auf dem Verhältnis von Arbeit und Kapital, an der Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln und dem am erwirtschafteten Mehrwert auf. Will man den Kapitalismus zugunsten einer vollständig demokratisierten Gesellschaft abschaffen, und das ist erklärtes Ziel unseres Verbands, muss man die Produkti-

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onsverhältnisse verändern. Das BGE würde aber etwas ganz anderes bedeuten: Es würde den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital zu einem guten Teil zwischen Individuum und Staat, mithin zwischen Individuum und Gesellschaft verschieben. Statt für mehr Lohn würde für eine höhere staatliche Pauschale gestreikt. Den Profit aus materieller Wertschöpfung würden sich weiterhin Private einverleiben, während der Staat mit seinen BürgerInnen um deren Lebensunterhalt ringen würde. Dort gehört der Interessensgegensatz nicht hin. Der materielle Verteilungskampf findet zwischen denjenigen statt, die durch ihre Arbeitskraft Mehrwert erwirtschaften und denjenigen, die über Kapital verfügen, das sie mittels des Produktionsprozesses zu vermehren suchen. 5. Pauschal ist unsozial Hinter dem BGE steckt letztlich auch die Idee, dass es sozial sei, einfach nur jedem und jeder die gleiche finanzielle Grundausstattung zukommen zu lassen, dann könne schon jeder und jede eben das machen, was ihm oder ihr gefiele. Nicht ohne Grund finden Versionen von BürgerInnengeldern oder Verwandte davon durchaus auch bei Liberalen anklang. Dahinter verbirgt sich nämlich auch ein zutiefst liberales gesellschaftliches Konzept: Der oder die Einzelne sei für sein oder ihr Glück selbst verantwortlich. Einem linken Gesellschaftsbild läuft das direkt zuwider. Wir wissen, dass Machtkonstellationen und strukturelle Widersprüche unsere Gesellschaft prägen. Wir wissen, dass Teilhabehürden und Interessensgegensätze die Stellung des Individuums entscheidend bestimmen. Wir wissen, dass Chancengleichheit nicht

Bedinungsloses Grundeinkommen – Pauschal unsozial Argumente 1/2012


reicht. Wir wollen eine Gesellschaft, in der jeder Mensch die Förderung erhält, die er tatsächlich braucht. Wir wollen mit direkten Eingriffen die Wirkmächtigkeit von Machtkonstellationen gezielt eingrenzen. Und dafür reicht es eben nicht, jedem Mitglied der Gesellschaft einen bestimmten Betrag zukommen zu lassen und es dann alleine zu lassen. 6. Solidarität und gesellschaftliche Steuerung statt EinzelkämpferInnengesellschaft Dieser – scheinbar auf sozial abgesicherte materielle Grundlagen gestellte – Individualismus prägt die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Der Gemeinschaft kommt in diesem Modell einzig und allein die Rolle zu, jeden und jede mit einer pauschalen Zahlung zu versorgen. Wann der oder die Einzelne sich dann in die Gesellschaft einbringt, bleibt dem Individuum überlassen. Dies ist scheinbar demokratisch, die Abstimmung über die Richtung der Gesellschaft findet dann ja über Konsum statt. JedeR entscheidet an der Kasse darüber, wohin sich die Gemeinschaft entwickelt. Diese Idee ist im besten Fall blauäugig. Denn an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hat sich ja nichts geändert. Und mit ihnen bleiben auch gesellschaftliche Machtverhältnisse unangetastet, ganz zu schweigen von internationalen Ausbeutungsmechanismen. Daran kann dann auch die Forderung nach Transparenz nichts ändern. Doch selbst wenn man in der Debatte die Frage nach wahren Machtverhältnissen ausspart – was für die gesellschaftliche Linke mindestens ein gewaltiger Fehler wäre – bleibt die Frage erlaubt: Ist eine sol-

che Gesellschaft wünschenswert? Ist die Absage an jede Steuerungsfunktion, die Absage an die Idee, jedes Mitglied einer Gesellschaft muss einen Beitrag zum Gelingen des Ganzen leisten, zu begrüßen? Eine demokratische Gemeinschaft macht aus, dass jeder Mensch die Richtung des Ganzen (mit)bestimmen kann. Sie macht aber genauso aus, dass die Gemeinschaft entscheidet, wohin der Weg gehen soll. Sie macht aus, dass die Gemeinschaft entscheidet, was wann von wem produziert wird und wie der entstandene Wohlstand verteilt wird. Den ersten Teil dieses Konzeptes auszusparen, ist die Kapitulation vor Machtverhältnissen und Wandlungsprozessen. Die Debatte um die Agenda 2010, um „faule Arbeitslose“ und Sanktionen hat in der gesellschaftlichen Linken den Reflex hinterlassen, jede Form von Leistungsanforderung sogleich abzulehnen. Dies negiert, dass Fortschritt und Gemeinschaftsleistung immer Kern linker Gesellschaftskonzepte war. Dieser Kern war und ist, dass eine gerechte, solidarische und freie Gesellschaft Ergebnis einer ständigen Gemeinschaftsanstrengung sein muss. Fortschritt muss erarbeitet werden. Und die Gemeinschaft hat durchaus das Recht, diese Leistungsbereitschaft einzufordern. Das menschenverachtende an neoliberalen Leistungsdebatten ist nicht das Einfordern von Leistung. Es ist die Negation der Gemeinschaft und die Negation gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Verteilungsprobleme. Im Klartext: Natürlich soll jeder Mensch arbeiten. Und in meinem Verständnis will auch jeder Mensch arbeiten. Es sind prekäre Arbeitsverhältnisse, Dumpinglöhne und fehlende Arbeitsplätze, eine angebotszentrierte Wirtschaftspolitik, unzumutbare Arbeitsverhältnisse und fehlen-

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de staatliche Regulierung, kurzum die Absage an gemeinschaftliche Steuerung, die wir angreifen müssen. Erwerbsarbeit ist und bleibt zentral. Die Herausforderung der gesellschaftlichen Linken ist, ein Mehr an gemeinschaftlicher Steuerung, gezielte Eingriffe in die wirtschaftliche Sphäre und letztlich das Angreifen von Macht- und Produktionsverhältnissen mehrheitsfähig zu machen. Debatten und bedingungslose Grundeinkommen gehen in die falsche Richtung und helfen nicht weiter. ●

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SOZIALDEMOKRATISCHE UMWELTPOLITIK AUS SICHT DER UMWELTVERBÄNDE: UND SIE BEWEGT SICH DOCH. LANGSAM. ABER SICHER? Von Kai Niebert, stellvertretender Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands. Der promovierte Naturwissenschaftler arbeitet an der Leibniz Universität Hannover.

Das SPD-Präsidium hat im Mai 2011 ein ambitioniertes Energiekonzept vorgelegt. Unter dem Titel „Neue Energie“ wird der Weg zur Nutzung von ausschließlich Erneuerbarer Energien bis 2050 aufgezeigt. „Erneuerbare Energien sind nicht mehr eine alternative Form der Energieerzeugung, sie sind die ultimative Art der Energieerzeugung“, heißt es in dem Papier, für das das Präsidium Respekt verdient. Sehr detailliert und konkret werden 50 Punkte für den Weg in ein nachhaltiges Deutschland beschrieben: Die Zukunft der Energieversorgung bestünde dann in einem Dreiklang aus dem Ausbau Erneuerbarer Energien, Investitionen in mehr Ener-

gieeffizienz und Energieeinsparung sowie Hocheffizienzkraftwerken wie etwa Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. Zudem soll es keine betriebsbedingten Kündigungen für Mitarbeiter der stillzulegenden Atomkraftwerke geben, sondern Beschäftigungsprojekte an allen Kraftwerksstandorten. Damit greift die Sozialdemokratie die Wunschliste vieler Umweltverbände auf und geht auch noch einen Schritt weiter: Ähnlich wie die NaturFreunde nimmt sie nämlich nicht nur die ökologischen, sondern auch die sozialen Auswirkungen einer Energiewende ins Visier. Chapeau, alte Tante SPD!

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Ein grüner Roter als Vordenker? Noch als Bundesumweltminister hat der derzeitige Vorsitzende Sigmar Gabriel mit seinem Konzept für eine Ökologische Industriepolitik einen wichtigen Diskussionsbeitrag geleistet, indem er die wirtschafts- und umweltpolitischen Potenziale einer erhöhten Energie- und Ressourceneffizienz in den Mittelpunkt rückte. Damit hat er mit dem Missverständnis aufgeräumt, dass zwangsläufig ein Gegensatz zwischen ambitioniertem Umweltschutz und wirtschaftlichem Handeln besteht. Er nutzte die von Wissenschaft und Umweltorganisationen immer wieder betonte Analyse, dass in einer Effizienzrevolution und in den Erneuerbaren Energien enorme gesamtgesellschaftliche Chancen liegen: im Auslösen eines Innovationsschubs, in der Schaffung von Millionen neuer Arbeitsplätze, in der Einsparung von Milliardenbeträgen, die für Rohstoffe- und Energieimporte ausgegeben werden und auch in der Reduzierung von globalen und lokalen Umweltproblemen, die bei Förderung und ineffizienter Verwendung von Rohstoffen entstehen. Dieser Vorsitzende hat als Bundesumweltminister und auch als Parteivorsitzender sehr gute Impulse für ein nachhaltiges Deutschland gegeben. Ein „Aber“ bleibt dennoch: So begrüßenswert die Idee der Ökologischen Industriepolitik auch ist, so wenig dürfen wir aus den Augen verlieren, dass sie in zwei wesentlichen Bereichen eindimensional bleibt: bei der unkritischen Beschreibung von Wirtschaftswachstum und der Überbewertung der Möglichkeiten technischen Fortschritts. Eine realistische Perspektive muss auch die unbeantworteten Fragen thematisieren: Auch mit einer Effizienzrevolution werden wir nicht unseren Res-

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sourcenverbrauch um den Faktor 10, wie es führende Wissenschaftler fordern, verringern. Ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum wird auch von der SPD nach wie vor nicht kritisch hinterfragt. Im Gegenteil, immer wieder ist von der Notwendigkeit eines „kräftigen Wachstumsschubs“, der „über normale Wachstumsraten hinausgeht“ und der die „Basis einer neuen ökologisch-industriellen Revolution ist“ in dieser oder ähnlicher Weise zu lesen. Ständiges Wirtschaftswachstum birgt aber die Gefahr, dass alle Effizienzgewinne wieder aufgefressen werden. Selbst wenn die Wirtschaft Deutschlands in den kommenden Jahren jährlich nur um zwei Prozent wächst, wird das Bruttoinlandsprodukt bis zum Jahre 2020 um etwa 30 Prozent steigen. Nur wenn die Ökoeffizienz schneller wächst, ergibt sich für die Umwelt ein positiver Effekt. Das ist derzeit aber nicht der Fall. Wir verbrauchen schon heute mehr Ressourcen, als uns zusteht. Allein die Städte Berlin, Hamburg und München verbrauchen mehr Fläche, um ihren Lebensstandard zu halten, als Deutschland an Fläche zur Verfügung steht, um saubere Luft, sauberes Wasser und Nahrung zu produzieren. Für ein nachhaltiges Deutschland braucht es mehr als eine ökologische Industriepolitik. Über Erneuerbare Energien und Effizienz lassen sich leicht schöne Lieder singen. Sie sind die „low hanging fruits“ der Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft. Sie tun nicht weh, bringen Geld und Stimmen. Aber wir müssen uns auch der Frage um Konsistenz und Einsparungen stellen. Die Fragen „Was brauchen wir für ein gutes Leben?“, „Was ist überhaupt ein gutes Leben“ und „Wie viel dürfen wir für ein gutes Leben verbrauchen, damit es gerecht zugeht?“ muss auch die Sozialdemokratie beantworten können. Und zwar

Sozialdemokratische Umweltpolitik aus Sicht der Umweltverbände: Und sie bewegt sich doch. Langsam. Aber sicher?

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nicht mit reflexartigen Zuckungen und Forderungen nach Umverteilung und Wachstum. Verteilen lässt sich immer einfach, wenn alles immer mehr wird. Wie ernst es die SPD mit der Umverteilung meint, wird sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen: Eben dann, wenn es nicht immer mehr wird, sondern wenn das Vorhandene umverteilt werden muss. Zwischen den heute lebenden BürgerInnen, aber auch zwischen den Menschen im Norden und Süden und dem Heute und Morgen.

portun ist – oder wenn Wahlen zu gewinnen sind. Und heute? Uli Kelber, Frank Schwabe und Matthias Miersch kämpfen tapfer, aber häufig sehr einsam. Es wird Zeit, dass die SPD auch im Parlament und vor allem auch zu Regierungszeiten erkennt, dass eine nachhaltige Umweltpolitik Voraussetzung für Lebensqualität und sozialen Wohlstand ist und ihre nachhaltigen Köpfe von der Peripherie ins Zentrum holt. Und dass die ins Zentrum gelangten Köpfe auch nachhaltig bleiben.

Umweltpolitiker – Die Exoten der Sozialdemokratie

SPD-Energiepolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit

So wie sich der Zustand einer Demokratie daran messen lassen muss, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht, so muss sich die Nachhaltigkeit einer Partei daran messen lassen, wie sie mit ihren ökologischen Vordenkern umgeht: Der erste Blick fällt dabei in die Bundestagsfraktion – und in die Vergangenheit: Monika Griefhahn, Ulrike Mehl, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Michael Müller und Hermann Scheer sind die wohl sichtbarsten grünen GenossInnen der Fraktion – gewesen. Michael Müller wurde wohl eher trotz als wegen seiner Eigenschaft, das ökologische Gewissen der Partei zu sein, Vize-Fraktionsvorsitzender. Auch Hermann Scheers Visionen eines solaren Deutschlands, dessen Machbarkeit er in Hessen mit Andrea Ypsilanti zeigen wollte, haben auch innerparteilich zu massiven Widerständen geführt. Alle anderen erlebten ihre größten umweltpolitischen Erfolge eher außerhalb als innerhalb der Parlamente. In der Partei wurden und werden sie für ihr Engagement posthum – zumindest aber nach ihren parlamentarischen Hochzeiten – gefeiert. Eben dann, wenn es der politischen Großwetterlage nach op-

Im Hamburger Grundsatzprogramm heißt es: „Für uns ist die Energiewende eine Schlüsselaufgabe für das 21. Jahrhundert. […] Unser Ziel ist ein solares Energiezeitalter.“ Diese wohlklingenden Sätze könnten auch BUND, Nabu oder NaturFreunde in ihren Programmen stehen haben. Haben sie auch. Doch wer sozialdemokratische Umweltpolitik in Aktion erleben möchte, sollte nicht nur in Oppositionen, sondern auch in Regierungen schauen: In Brandenburg wechseln sich wunderschöne Kultur- und Naturlandschaften mit kleinen Weilern ab. Die Wiesen sind grün, die Kraniche ziehen vorbei, die Milchkühe stehen auf den Weiden und die Oder fließt gemächlich von Süden nach Norden. Einen Bruch in der brandenburgischen Idylle bemerkt man jedoch schnell, wenn man in kleinere oder größere Dörfer fährt – und man meint, man sei im Wendland angekommen: Gelbe, zu einem X genagelte Holzleisten schmücken Ortseingänge, Zäune und Türen. Und zwar flächendeckend. – Brandenburg als atomares Endlager? Nein, nicht als atomares Endlager, aber als CO2-Müllhalde. 23


Nachdem die Bundesregierung die Entscheidung darüber, ob die so genannten CCS-Technologie zur CO2-Abscheidung kommt oder nicht, in die Hände der Länder gelegt hat, plant die Rot-Rote Landesregierung ihre klimaschädliche Energiepolitik durch eine Verpressung von CO2 an der polnischen Grenze am Leben zu halten. Beim Verfeuern einer Tonne Braunkohle entsteht – unter Einbezug von Förderung und Transport der Kohle – etwa eine Tonne Kohlendioxid – soviel wie bei keinem anderen Energieträger. Pro Kopf sind die Brandenburger schon heute Deutschlands Klimasünder Nummer Eins: Sie emittieren statistisch gesehen mehr Kohlendioxid als US-Amerikaner. Inmitten der Diskussion um die Energiewende in Deutschland setzen sich die Landesregierungen von Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt für eine langfristige Verstromung von Braunkohle ein. In einem von Matthias Platzeck formulierten Schreiben an das Bundeskanzleramt heißt es, die Nutzung der Braunkohle sei „nicht nur naheliegend, sondern Gebot der Stunde“. Die Bevölkerung wehrt sich zu Recht gegen die durch sozialdemokratische Politik ermöglichte CO2-Verpressung, weil sie – ähnlich wie diverse Gutachter – Schäden für Umwelt und Gesundheit fürchtet. Und sie bereitet sich schon für den „Tag X“ vor. Hoffen wir, dass es kein Wahlsonntag ist. Eine nachhaltige Energiepolitik sieht anders aus, Herr Platzeck: Eine nachhaltige Politik gestaltet den Strukturwandel, statt überkommende Strukturen zu festigen. Bei aller persönlicher Sympathie: Es ist gut für künftige Generationen und das Klima, dass Braunkohleliebhaber nicht Vorsitzende und damit Vorbilder der deutschen Sozialdemokratie sind.

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Auf der Autobahn in die Vergangenheit rasen Erinnern wir uns zurück an ein Stück Hauptstadtgeschichte: Am 17. Mai 2009 sprach sich der Landesparteitag der Berliner Sozialdemokraten gegen den Weiterbau der umstrittenen Autobahn A100 aus. Und das nicht ohne Begründung: Da die A100 mitten durch städtisches Gebiet verlaufen soll, sind die Kosten so hoch wie bei keinem anderen Straßenbauprojekt – jeder Kilometer wird weit über 100 Millionen Euro kosten. Ein Jahr später erhöhte der Regierende Bürgermeister seinen Druck auf die Partei massiv, sodass man die Entscheidung wieder revidierte. Die Begründung diesmal: Klaus Wowereit drohte, im Falle einer negativen Entscheidung zurückzutreten. Und im Herbst 2011 wurden die Koalitionsverhandlungen mit den Grünen in Berlin schließlich zugunsten einer Koalition mit der CDU abgebrochen, weil – ja warum eigentlich? Statt eine Große Koalition zu suchen, sollte die SPD sich selbst noch einmal die Frage stellen, warum sie eigentlich so verbissen an Projekten wie dem Autobahnbau festhält. Die Verlängerung der A 100 ist verkehrspolitisch unsinnig – das haben unabhängige Gutachter bestätigt. Das sechsbis achtspurige Autobahn-Teilstück, das in Neukölln beginnen und am Treptower Park enden soll, wird zu einer Verlagerung des Dauerstaus um drei Kilometer nach Norden führen und nicht zur gewünschten Entlastung des Innenstadtverkehrs. Zahlreiche Umweltverbände fordern, mit den Mitteln für die A100 lieber bestehende Straßen, Fuß- und Radwege zu sanieren und den ÖPNV auszubauen. Wer einmal die Zeitung aufschlägt oder einfach

Sozialdemokratische Umweltpolitik aus Sicht der Umweltverbände: Und sie bewegt sich doch. Langsam. Aber sicher?

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das Internet nach „Verkehrschaos in Berlin“ durchsucht, wird schnell merken, dass nicht mangelnde Autobahnen, sondern mangelnde Investitionen in den Öffentlichen Personennahverkehr das Nadelöhr der Stadt sind. Dass breitere Straßen nicht zu einer Entlastung des Verkehrs, sondern einfach nur zu mehr Verkehr führen, ist vielerorts mittlerweile angekommen. Sogar Megacities wie New York gehen mittlerweile andere Wege. Wer die ehemalige Hauptverkehrsader am Broadway entlangspaziert, wird eine Überraschung erleben: Der Broadway ist zur Fußgängerzone geworden! Ohne großen Planungsaufwand hat man wirtschaftliche und verkehrstechnische Infrastruktur vollkommen verändert – zum Wohle der Anwohner und der Wirtschaft. An jeder Ecke gibt es plötzlich einen Fahrradverleih, die Geschäfte verzeichnen steigende Umsätze und die Menschen kommen trotzdem zur Arbeit und wieder nach Hause! Wie dieses Beispiel zeigt, kann man selbst eine vorhandene Struktur anders nutzen und gleichzeitig die Lebenswelt der Anwohner menschenfreundlich gestalten. So sieht eine vernünftige Verkehrspolitik aus, liebe GenossInnen. Der Witz an der A 100 liegt jedoch an ganz anderer Stelle: Der über den Bund zu finanzierende Ausbau ist derzeit nicht einmal im Bundeshaushalt eingestellt. Europa ist pleite und zwei Dutzend anderer Projekte stehen noch vor der A 100 bei Verkehrsminister Ramsauer Schlange. Entscheidend für die Verkehrspolitik der Hauptstadt wird deshalb sein, welche Farbe ab 2013 der Verkehrsminister hat. Bis dahin müsste die SPD allerdings merken, dass eine Beton-und-Asphalt-Infrastrukturpolitik keine Zukunftspolitik ist. Und dass man mit Projekten, die statt in

Asphalt in Techniker, Arbeiter und Züge investieren, nicht nur Wahlen gewinnen, sondern auch eine vernünftige Verkehrspolitik gestalten kann. Die nachhaltige SPD – Eine Wunschliste Die Nachhaltigkeitsbilanz der SPD fällt gemischt aus. Besonders eklatant sind die Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und dennoch: Langsam scheint die Sozialdemokratie in Bewegung zu kommen. Hier noch eine Wunschliste für den weiteren Weg: 1. Die SPD muss lernen, vom Ende her zu denken. Der Klimawandel, die Explosion der Rohstoffpreise und die Energiewende werfen drängende soziale, ökonomische und ökologische Fragen auf. Häufig ist sozialdemokratische Politik jedoch zu zaghaft für die vor uns liegenden Herausforderungen. Zu oft fragen wir uns: „Was ist heute möglich?“ und nicht „Was ist notwendig?“. Wenn wir in 40 Jahren unsere CO2-Emissionen um 90 Prozent reduziert haben müssen, um den Klimawandel zu mildern und unseren Rohstoffverbrauch auf ein Zehntel reduziert haben müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird das immense Veränderungen bedeuten. Diesen wird man nicht mit kleinen Schritten begegnen, die aus Angst vor Veränderungen immer kleiner werden. Sie müssen mal klein und mal groß sein, vor allem aber geplant und mit dem Ziel statt dem Start im Blick. 2. Die SPD muss sich treu bleiben. Wer sich die Papierlage zur Umwelt-, Energie und Wirtschaftspolitik der Sozial-

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demokratie ansieht ist – wie die eingangs erwähnten Konzepte einer ökologischen Industriepolitik und auch das Konzept zur Energiewende zeigen – sehr positiv überrascht von der Weitsicht. Sobald die SPD jedoch gezwungen ist, ihre Visionen eines nachhaltigen Deutschlands in Regierungshandeln konkret werden zu lassen, regiert die Kurzsichtigkeit. Das zeigen der Umgang mit der Kohleverstromung in Brandenburg, das Hickhack um die A100 in Berlin, die Elbvertiefung in Hamburg oder auch die Trickserei um eine nachträgliche Legalisierung des Kohlekraftwerks Datteln in Nordrhein-Westfalen. Glaubwürdigkeit bedeutet Konsistenz: Die Menschen wollen wissen, ob die SPD für eine Politik von Gestern oder für Morgen steht. Sie wollen wissen, was gilt: Die Visionen zu Oppositionszeiten oder das Scheitern von Zukunft vor Ort. Das Regierungshandeln muss den kommunizierten und vereinbarten Zielen der Partei entsprechen. Glaubwürdigkeit ist ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Gut, mit dem Menschen überzeugt werden können. Das sollte die alte Tante SPD nicht verspielen.

sien abzulegen. Es wird nicht funktionieren, das schmutzige Wachstum einfach gegen ein grünes Wachstum auszutauschen. Auch grünes Wachstum verbraucht zu viele Ressourcen. Die SPD braucht eine ernsthafte Debatte um Wohlstand jenseits des Wachstums. Und sie muss auch Abstand nehmen von einer Fehldeutung von Marx’ Dialektischem Materialismus: Es ist eben nicht nur das – materielle – gesellschaftliche Sein, das das Bewusstsein bestimmt. Sogar der DGB hat erkannt, dass es eben nicht nur ein wachsender materieller Wohlstand und immer mehr Arbeit sind, die unsere Lebenszufriedenheit und unser Wohlergehen steigen lassen. Die aktuelle Forschung zeigt, dass soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Freizeit und Ehrenamt mindestens genauso wichtig sind. Wenn die SPD das erkennt, kann sie sich von ihrem Wachstumszwang befreien und Wohlstand jenseits des Wachstums schaffen. ●

3. Die SPD muss Wahrheit erkennen und sie aussprechen. Seit einigen Monaten verdichtet sich die Debatte darum, wie zukünftig Wohlstand in Deutschland erreicht werden kann. Die SPD hat einen verdienstvollen Anteil an der Etablierung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Doch zeigt ein Blick in die innerparteilichen Diskussionen – vom Ortsverein über das Parteipräsidium bin in die Fraktionsspitzen –, dass die SPD noch nicht bereit scheint, ihre tradierten Wachstumsfanta-

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Sozialdemokratische Umweltpolitik aus Sicht der Umweltverbände: Und sie bewegt sich doch. Langsam. Aber sicher?

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ZAHLEN DIE BÜRGER DIE ZECHE? AUSWIRKUNGEN DER WIRTSCHAFT AUF DAS SOZIALE Von Heiner Keupp, emeritierter Professor für Sozialpsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München

Die globale Wirtschaftskrise erleben wir durchschnittlichen BürgerInnen wie einen Horrorfilm mit ein paar kabarettistischen Einsprengseln. Die großen Befürchtungen, dass wir das sofort in unserem persönlichen Budget zu spüren bekämen, haben sich zum Glück erst einmal nicht eingestellt. Die Weihnachtseinkäufe der letzten Jahre und sicher auch in diesem Jahr ebenso wie die Urlaubsaktivitäten sind fast auf dem Niveau vor der großen Krise geblieben. Wir haben sogar noch einen Wahlkampf erlebt, in dem uns Steuererleichterungen versprochen wurden. Also war die Wirtschaftskrise doch nur eine perfekte Horrorinszenierung? Auch die als Haupttäter ausgemachten Banker sind längst wieder zu ihrer Boni-Normalität zurückgekehrt. – Wer spürt denn nun die Wirtschaftskrise und wer muss für die Defizite aufkommen?

Mit dem Deutschen Städtetag hat sich eine Instanz zu Wort gemeldet, die sehr nah an den BürgerInnen dran ist: In den Kommunen werden wichtige Dienstleistungen der Daseinsfürsorge erbracht, in den sozialen Einrichtungen und Bildungseinrichtungen, für unsere Jüngsten und Ältesten, für Jugendliche. Und was sagt uns der Deutsche Städtetag: „Der kommunale Finanzierungssaldo zwischen Einnahmen und Ausgaben ist im Jahr 2009 regelrecht abgestürzt: Er ist um 12 Milliarden Euro auf ein Defizit von 4,5 Milliarden Euro gefallen (…). Für das Jahr 2010 wird mit minus 12 Milliarden Euro das höchste Finanzierungsdefizit der Nachkriegsgeschichte befürchtet.“ Allein das „Wachstums-Beschleunigungsgesetz“ beschert der Kommunen ein Minus von 1,6 Milliarden. Allmählich dämmert uns, dass die Wirtschaftskrise doch nicht Fiktion war, sondern auf die Lebenswelten der Men-

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schen und ihrer Handlungsräume immer mehr durchschlägt. Thesen zur Zukunftsfähigkeit des Sozialen Dieser Rahmen muss uns bewusst sein, wenn wir über die Zukunft des Sozialen nachdenken und diskutieren. Und von ihm ausgehend möchte ich einige Thesen entwickeln und daran anschließend meine Prioritäten benennen: 1. Gerade in dieser Phase brauchen wir eine offensive Sozialpolitik, die sich nicht in Bescheidenheit der übermächtigen Wirtschaftskrise und dem zu ihrer Bewältigung angestrengten Schutzschirm demütig beugt und durch Kürzungsleistungen im eigenen Sektor ihren Beitrag zum Notstandspakt offeriert. Wir brauchen jetzt eine Sozialpolitik, die sich offensiv die Förderung gerechter Lebens- und Entwicklungschancen aller BürgerInnen zum Anliegen macht. Von den politischen Akteuren wird eine Grundsatzdiskussion über die bestehende Wirtschaftsordnung gerne als unnötig bezeichnet, doch diese Diskussion steht angesichts einer immer größer werdenden Gerechtigkeitslücke an, die nicht mit dem Schönheitspflästerchen „Werte“ geschlossen werden kann. Wir wissen, dass in Gesellschaften, in denen die Gerechtigkeitslücke größer wird, die Gesundheit und die Lebensqualität der Gesamtbevölkerung sinken. 2. Es ist noch gar nicht lange her, dass sich zwar viele gegen das Etikett des Neoliberalen zur Wehr setzten, und doch hat sich dessen Diskurs und des-

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sen Menschenbild längst in unserer politischen Diskursarena eingenistet. Offensichtlich konnte sich dem ökonomisch gesteuerten Globalisierungsprozess und seiner neoliberalen Begleitmusik bis in die Führungsgremien der SPD niemand entziehen. Da wurden soziale Standards in Frage gestellt und man wollte uns glauben machen, als hätten wir uns der Illusion hingegeben, auf einer „Insel der Seligen“ zu leben. Jetzt müssten wir die Imperative des Marktes akzeptieren und die würden spezifischen sozialpolitischen Errungenschaften heute keine Chance mehr lassen. Wer das nicht einzusehen vermöge, sei ein Traumtänzer, ein Sozialromantiker oder ein unverbesserlicher Sozialist. Wir müssten uns jetzt endgültig von sozialen „Hängematten“ und Schonräumen verabschieden, die ja auch ohnehin nur dazu einladen, missbraucht zu werden. Der Staat sollte seine „Fürsorglichkeit“ endlich aufgeben, damit auch die Menschen lernen könnten, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Gepaart ist diese neoliberale „Dekonstruktion“ einer solidarischen Sozialpolitik mit einer Offensive der „Neuerfindung des Menschen“, die einen sozial „entbetteten“ Menschen konstruiert, der eine allseitige Bereitschaft zeigt, sein Leben und auch seine psychische Innenausstattung vollkommen den Imperativen des Marktes auszuliefern. Er ist von einer geschmeidigen Anpassungsbereitschaft, stellt sich flexibel und mobil auf jede Marktveränderung ein und zeigt als Grundbereitschaft, unablässig an der Optimierung der eigenen mentalen und körperlichen Fitness zu arbeiten. Die Sperrigkeit einer eigenwilligen Biogra-

Zahlen die Bürger die Zeche? Auswirkungen der Wirtschaft auf das Soziale Argumente 1/2012


phie, die psychischen Folgewirkungen von belastenden Lebensereignissen, körperliche Spuren von Entwürdigungen und Misshandlungen, aber auch Werteprinzipien, die im Widerspruch zur Fitnessideologie stehen, sind zu entsorgen. Eine zentrale Lehre der Wirtschaftskrise ist für mich, die fatalen Folgen dieser Menschenbildinfektion konsequent aufzuzeigen und wieder für ein menschliches und soziales Maß der gesellschaftlichen Verhältnisse zu kämpfen. 3. Ein zukunftsfähiges Menschenbild und das hier anschlussfähige Staatsverständnis braucht mehr als die durchaus missverständliche Idee der „Selbstverantwortung“. Sie gehört in die Denkschule marktradikaler Ideologien und ihrer Favorisierung des „unternehmerischen Selbst“. Es geht aber auch nicht um die Rückkehr zu einem obrigkeitlichen Staat oder einem der „fürsorglichen Belagerung“. Es geht um einen „Befähigungsstaat“, der „Verwirklichungschancen“ (capabilities) fördert und das im Sinne der Ottawa Charta der WHO, die sich zwar auf Gesundheit bezieht, aber eine Idee gelungenen Lebens transportiert. Dort heißt es: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgern Ge-

sundheit ermöglichen“. Gerade in einer Gesellschaft, die in allen Lebensbereichen konsequenzenreiche Umwälzungen erzeugt, ist ein solches Befähigungskonzept unerlässlich und von einer „Befähigungsgerechtigkeit“ sind wir noch weit entfernt. 4. Die Zivil- oder Bürgergesellschaft ist für mich ein zentraler Bezugspunkt für zukunftsfähige Lösungen. Im letzten Vierteljahrhundert wurde besonders deutlich, dass es für viele neue Probleme des Alltags, die der Strukturwandel erzeugte, in den traditionellen Strukturen alltäglicher Lebenswelten keinen Lösungsvorrat gab, auf den man einfach hätte zurückgreifen können. Für eine Reihe von neuen biographischen Konstellationen (wie z. B. die weibliche Doppeloption Familie und Beruf oder Erfahrungen von Vorruhestand) gab es keine institutionell abgesicherten Lösungsmöglichkeiten und in vielen Bereichen war das Vertrauen auf „das Bewährte“ erschüttert und gerade die neuen sozialen Bewegungen verstanden sich als kollektive Zukunftswerkstätten, in denen – im Sinne eines „demokratischen Experimentalismus“ – neue Lösungsentwürfe erprobt wurden. In einer Vielzahl konkreter Projekte wurden neue Wege erprobt. Diese Projekte lassen sich als „,soziale Experimentierbaustellen‘, als ‚emanzipatorische Antworten auf Risiken der aktuellen Modernisierungsprozesse‘“ deuten. Dem bürgerschaftlichen Engagement kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. In ihm steckt auch ein großes Zukunftspotenzial. Ich möchte es an drei mir wichtigen Bereichen exemplifizieren:

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Wie sollen die positiven wie problematischen Konsequenzen des demografischen Wandels bearbeitet und gestaltet werden, wenn sich nicht aktive BürgerInnen – durchaus aus Eigeninteresse – für zukunftsfähige Projekte im Feld der Wohn- und Lebensformen im Alter engagieren? Eine klassische staatliche Lösung wird es hier ganz sicher nicht geben. Wie soll die Integration von Zuwanderungsbewegungen gelingen, die in einer globalisierten Welt nicht nur Fakt, sondern auch notwendig sind, wenn ihr vielfältiges Freiwilligenengagement in den Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund nicht wahrgenommen und gefördert wird? Hier sind wichtige brückenbildende Formen der interkulturellen Kommunikation und Kooperation erforderlich. Wie soll die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements aussehen, wenn Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von einem hochtourigen Bildungssystem so absorbiert werden, dass sie für selbstbestimmte, freiwillige Aktivitäten immer weniger Zeit haben? Sorgenvoll sehe ich hier die Entwicklung im Schul- und Hochschulwesen. Aber es geht nicht nur um die Rekrutierung von Nachwuchs für den Ehrenamtsbereich, sondern um den drohenden Verlust von Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs für ein selbstbestimmtes Leben.

Handlungsprioritäten Zum Abschluss möchte ich wenige Punkte ansprechen, die für mich eine besondere Handlungspriorität haben. Diese Punkte sind mir vor allem im Zuge der Erstellung des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung wichtig geworden, dessen Federführung mir oblag. Bei einigen dieser Punkte ist die bayerische Sozialpolitik auf einem guten Weg, aber was gut ist, kann immer noch besser werden: 1. Die Armut von Kinder, Jugendlichen und ihren Familien erfordert deutlich größere Anstrengungen, denn deren Lebenschancen, Gesundheit und Bildung hängen in hohem Maße von den materiellen Verwirklichungschancen ab. Ein sinnvoller Schritt ist für mich das Projekt „Kindergrundsicherung“. 2. Die erfreulichen Aktivitäten zur Förderung der Allerjüngsten sind begrüßenswert und es entstehen immer bessere Netzwerke für so etwas wie „einen guten Start ins Kinderleben“. Ich sehe aber mit Sorge, dass älter werdende Kinder und Jugendliche aus unserem Blickfeld geraten, dabei weisen alle uns verfügbaren Daten darauf hin, dass sich hier die psychosozialen Probleme immer mehr verdichten. Schule und ADHS bilden eine „Zwangsgemeinschaft“, die wir vor allem mit Ritalin stärken. Die Zunahme von Essstörungen, Verhaltensproblemen und vor allem Depressionen bei Jugendlichen müssen uns alarmieren. Diese zahlen einen zu hohen Preis für den ungebremsten Turbokapitalismus, der sich in der Lebenswelt Heranwachsender in einer Beschleunigung und Verdichtung

Zahlen die Bürger die Zeche? Auswirkungen der Wirtschaft auf das Soziale Argumente 1/2012


(z. B. durch G8 oder durch die Bachelorisierung der Universitäten) auswirkt und in fataler Weise zur Reduktion frei verfügbarer und selbst gestaltbarer Zeit geführt hat. Hier bedarf es intensiver Anstrengungen im Bereich der Kinderund Jugendhilfe, und sie dürfen vor einer gründlichen Reform unseres Bildungssystems nicht Halt machen. 3. Die Inklusion ist mit dem Inkrafttreten der UN-Konvention der Rechte behinderter Menschen vor einem Jahr nicht nur eine wohlklingende Perspektive, sondern sie erfordert Aktivitäten. Das Bewusstsein für die Folgen der Ratifizierung dieser Konvention ist noch kaum erkennbar. Wenn wirklich in einem umfassenden Sinne Inklusion realisiert werden soll, dann erfordert das einen grundlegenden Innovationsprozess vor allem der Bildungslandschaft, aber auch eine Veränderung der Sozialgesetzbücher. 4. Auf der Bundesebene und auch in den meisten Bundesländern haben sich gut funktionierende Netzwerke zum bürgerschaftlichen Engagement entwickelt. Man konnte nach der Arbeit der Enquete-Kommission den Eindruck gewinnen, dass die Idee der Bürgergesellschaft angekommen ist. Leider ist sie im Augenblick wieder gefährdet. Die gegenwärtige Regierungskoalition scheint die Zerschlagung der Bundesnetzwerke voranzutreiben und versucht die Potenziale der Freiwilligenarbeit zu instrumentalisieren und in die eigene politische Steuerung zu bekommen. Damit wird ein zentrales Grundprinzip in Frage gestellt: Politik und Zivilgesellschaft müssen sich auf gleicher Au-

genhöhe begegnen. Dort, wo dieses Prinzip missachtet wird, sehen wir wütende Reaktionen von BürgerInnen. Notwendig scheint mir, die vorhandenen Ansätze der Bürgerbeteiligung als Handwerkszeug zu nutzen: ●

Zukunftswerkstätten: In Bereichen, in denen auf bewährte Lösungen nicht mehr zurückgegriffen werden kann, sollten mit der Methode der Zukunftswerkstätten und der Bereitschaft zu ergebnisoffenen Prozessen Optionen erarbeitet werden.

Bürgergutachten: Vor allem auf der lokalen-kommunalen Ebene hat sich der Wert von Bürgergutachten (nach der Methode von Peter Dienel) längst bewährt und zu Lösungen beigetragen, die ExpertInnenlösungen überlegen sein können.

Bürgerbeiräte in allen Politikfeldern: Planungen der Politik/Verwaltung sollten vor ihrer Umsetzung von gewählten Beiräten beraten und geprüft werden.

Experimentierfonds: Die Selbsthilfeförderung zeigt seit einem Vierteljahrhundert, welche Lösungskompetenz und welcher Phantasiereichtum in der Bürgerschaft vorhanden ist. Solche Fonds, die in Selbstverwaltung funktionieren, können durchaus wettbewerblich genutzt werden.

Partizipationsgremien: Alle öffentlich geförderten Einrichtungen (von Kindergärten über Schulen und Universitäten bis hin zur Se-

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niorenarbeit) brauchen verbindliche Mitbestimmungsformen. ●

Mediationsprozesse: Dort, wo Interessen verschiedener Akteure im politischen und zivilgesellschaftlichen Bereich aufeinander treffen, müssen Mediationsmöglichkeiten genutzt werden.

Heißt es nicht bei uns: „Wer zahlt, schafft an“? Wenn die BürgerInnen schon die Zeche für die Einbrüche der Wirtschaftskrise zahlen müssen, dann sollte ihr Stellenwert für die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungen auch entsprechend zunehmen! ●

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Zahlen die Bürger die Zeche? Auswirkungen der Wirtschaft auf das Soziale Argumente 1/2012


JUGENDPROTESTE: ERLEBTE PREKARISIERUNG, ERSTREBTE DEMOKRATIE Von Steffen Vogel, Sozialwissenschaftler (promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin), freier Autor

Schwerpunkt: Jugendbewegungen

Sie gehören zu den Symbol-Orten des vergangenen Jahres: der Tahrir-Platz in Kairo, die Puerta del Sol in Madrid und der Zuccotti-Park in New York. Mit ihnen verbindet sich eine Reihe massiver Proteste, die wegen ihrer Größe und ihrer engen zeitlichen Abfolge, teilweise aber auch ob ihrer Durchschlagskraft viele überrascht haben. Ein verbindendes Element dieser Ereignisse ist die massive Beteiligung von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Zwar handelt es sich weder beim Arabischen Frühling noch bei der Occupy-Bewegung um einen ausschließlichen Protest der Jugend, doch hat sie zumeist den Anstoß gegeben und stellt einen Großteil der AktivistInnen und DemonstrantInnen. Überdies ist die politische Kultur dieser Bewegungen stark von den Vorstellungen einer jüngeren Generation geprägt, etwa was die Haltung zur politischen Repräsentation betrifft.

Diese Entwicklung hat einen Vorlauf. Schon seit einigen Jahren kommt es verstärkt zu Mobilisierungen von Jugendlichen, die sich entweder sichtbar an größeren Kampagnen beteiligen oder eigene Proteste initiieren. In Frankreich brachten Jugendliche gemeinsam mit den Gewerkschaften 2006 den Ersteinstellungsvertrag für junge ArbeitnehmerInnen (CPE) zu Fall. Vier Jahre später schlossen sie sich im Herbst 2010 in unerwartet großer Zahl der Gewerkschaftskampagne gegen die Rentenreform an. Wenig später erreichten in Italien und Großbritannien die Demonstrationen von SchülerInnen und Studierenden gegen die Kommerzialisierung von Bildung einen Höhepunkt. Portugal und Spanien erlebten im selben Jahr erstmals über Facebook koordinierte Proteste der prekarisierten Jugend. Im Jahr 2011 folgten die Proteste dann derart schnell aufeinander, dass manche von einem „entstehenden Kampfzyklus“ sprachen oder Vergleiche mit 1968 zogen.

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Tatsächlich verbreiteten sich neue Aktionsformen wie das Zelten auf öffentlichen Plätzen binnen weniger Monate über die Grenzen der Kontinente hinweg. Auffallend sind die Gemeinsamkeiten der diversen Protestbewegungen, trotz aller Unterschiede, die zwischen ihren jeweiligen Ländern bestehen, nicht zuletzt auf der Ebene der politischen Systeme. Offensichtlich erkennen sich die jungen Erwachsenen in Tunis, Barcelona, Tel Aviv, Oakland, Athen und Santiago de Chile ineinander wieder. Die Initialzündung lieferte die Jasminrevolution in Tunesien, die Mitte Januar zum Sturz des autoritären Präsidenten Ben Ali führte. Von ihr ließen sich Protestbewegungen in anderen Ländern der Region inspirieren, etwa in Ägypten, im Jemen und in Syrien. Der Arabische Frühling entwickelte schnell eine hohe Ausstrahlungskraft. So dient er im westafrikanischen Senegal der Jugendbewegung „Y’en a marre“ als Vorbild. Ein vielfach kopiertes Beispiel setzte vor allem die lang anhaltende Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo. Nach diesem Vorbild errichteten im Frühjahr prekarisierte Jugendliche auf der Madrider Puerta del Sol und weiteren zentralen Plätzen spanischer Städte Zeltcamps. In diesen selbst organisierten Dauerversammlungen entstand die Bewegung der „Indignados“ („die Empörten“). Etwa zeitgleich begann eine Bürgerbewegung mit täglichen Kundgebungen auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen. Unter direktem Bezug auf die Proteste in Spanien und Ägypten kampierten wenig später überwiegend junge Israelis für einige Wochen auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv. Ihr Aufbegehren hatte sich an den Verhältnissen am Wohnungsmarkt entzündet, je-

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doch ähnlich wie in Spanien bald eine breitere sozialpolitische Agenda entwickelt. Im Herbst schließlich entwickelte sich aus einem Protestcamp vor der Wall Street in New York die Occupy-Bewegung, die vor allem in den USA breiten Zulauf fand und sich rasch nach Europa, Australien und Neuseeland ausbreitete. Parallel dazu revoltierten chilenische SchülerInnen und Studierende gegen das weitgehend privatisierte Bildungssystem ihres Landes und zogen ähnliche Proteste in Kolumbien nach sich. Zwei entscheidende Gemeinsamkeiten verbinden all diesen Bewegungen: Sie werden von gut ausgebildeten, aber prekarisierten Jugendlichen getragen. Und sie rücken Demokratie in den Mittelpunkt ihrer Forderungen – die einen wollen sie überhaupt erst einführen, andere wollen die bereits bestehende zu einer „wahren“ Demokratie ausbauen oder demokratische Prinzipien auf weitere gesellschaftliche Bereiche ausdehnen. Jugendliche bekommen die Folgen der globalen Wirtschaftskrise besonders deutlich zu spüren. Der Internationalen Arbeitsorganisation zufolge sind sie drei Mal so stark von Arbeitslosigkeit bedroht wie Erwachsene. Seit 2007 ist die Zahl der erwerbslosen 15- bis 24-Jährigen weltweit um mehr als vier Millionen auf 74,8 Millionen Menschen gestiegen. Während global gesehen 12,7 Prozent der Jugendlichen ohne Job sind, übertreffen viele europäische Länder diese Zahl deutlich. In der gesamten EU liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 22,4 Prozent, in Griechenland und Spanien jeweils gar um die 50 Prozent. Selbst im reicheren Nordeuropa sucht mancherorts gut jeder fünfte Jugendliche Arbeit, so in Schweden und Finnland. Obendrein finden sich Europas Jugendliche häufig in prekären, zeitlich be-

Jugendproteste: Erlebte Prekarisierung, erstrebte Demokratie Argumente 1/2012


fristeten und schlecht bezahlten Jobs wieder. Dieser Trend bestand schon vor der Krise und hat in Südeuropa in Form von Neologismen längst Eingang in die Sprache gefunden: In Spanien spricht man von den „Mileuristas“ und in Griechenland von der „600-Euro-Generation“, jeweils benannt nach dem monatlichen Brutto-Verdienst, der schon vor 2007 oft weniger als 1.000 Euro betrug. Selbst AkademikerInnen sehen sich dort zu Zweit- oder Drittjobs gezwungen, die teils deutlich unter ihrem Qualifikationsniveau liegen. Damit werden die Erwartungen einer Generation enttäuscht, die im Schnitt deutlich besser ausgebildet ist als die ihrer Eltern, aber deren Lebensstandard kaum erreichen kann. Insofern überrascht nicht, dass die Jugendlichen in Spanien sich mit den Revoltierenden in Nordafrika identifizieren können. Die Kombination aus vorhandenen Kompetenzen und verbauten Perspektiven ist – bei allen Unterschieden in der Ausgangslage – durchaus ähnlich. Aus den Erfahrungen mit umfassender Prekarisierung erwächst in Europa und den USA vielerorts Wut auf die etablierten Parteien. Sie gelten zusehends als abgeschottet und primär Wirtschaftsinteressen verpflichtet. Ein Slogan der „Indignados“ lautet folgerichtig „no nos representan“ – sie, die PolitikerInnen, vertreten uns nicht. Generell artikulieren die jüngsten Protestbewegungen deutlich Kritik an der repräsentativen Demokratie. Ihr setzen sie Basisdemokratie und Dezentralisierung entgegen. Darin lässt sich eine gewisse Kontinuität zur globalisierungskritischen Bewegung erkennen. Bei dieser dominierte eine repräsentationskritische Haltung, die sich intern gegen organisatorische oder ideologische Vereinheitlichung wandte. Auch die Be-

mühungen von Avantgarde-Intellektuellen, eine Rolle als SprecherInnen oder VordenkerInnen einzunehmen, wurden stets zurückgewiesen. Die Occupy-Bewegung, aber auch die Indignados, gehen nun einen Schritt weiter und wenden sich gegen die Repräsentation als solche. Weder SprecherInnen, Intellektuelle noch Ideologien sollen die Protestierenden nach außen vertreten. Stattdessen soll möglichst viel gemeinsam diskutiert und entschieden werden. Auf der Puerta del Sol, im Zuccotti-Park oder im Frankfurter Bankenviertel tagten regelmäßig offene Vollversammlungen. In Athen richtete die Bürgerbewegung eine Speakers Corner vor dem Parlament ein, bei dem jede und jeder, ohne Ansehen der Person, die gleiche Redezeit erhielt. Damit versuchen die Bewegungen nicht zuletzt, die von ihnen geforderte „wahre Demokratie“ exemplarisch vorzuleben. Eine solche präfigurative Politik konnte gerade zu Anfang auch bei den GlobalisierungskritikerInnen beobachtet werden. Generell folgten sie aber eher einer modifizierten Bündnislogik: Demonstrationen und Sozialforen wurden organisatorisch getragen von einer Allianz bestehender NGOs, Gewerkschaften und Protestgruppen, die durch diese Allianz eine neue Sichtbarkeit erlangten. Neu war, dass bei der globalisierungskritischen Bewegung nicht nur gewählte RepräsentantInnen oder FunktionärInnen an Vernetzung und Debatte teilhaben konnten, sondern über Maillinglisten oder Sozialforumsbesuch potenziell jede und jeder. Diese Offenheit steigern die heutigen europäischen und nordamerikanischen Bewegungen, indem sie versuchen, die Organisationen als vermittelnde Instanzen ganz zu überspringen. Bedienten sich die Glo-

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balisierungskritikerInnen der Netzwerkform, so folgen Occupy und Co. eher dem Modell des Schwarms, der sich ständig neu gruppiert. Seine einzelnen Mitglieder genießen größtmögliche Freiheit, sind einander möglichst gleichgestellt und bilden zusammen ein handlungsfähiges temporäres Kollektiv. Dementsprechend zeigt sich die organisatorische Kontinuität bislang vor allem im Netz, insbesondere seitdem die innerstädtischen Camps entweder geräumt oder witterungsbedingt abgebaut worden sind. Noch ist schwer zu sagen, ob bei diesem basisdemokratischen Organisationsprinzip die Vor- oder Nachteile überwiegen. Die Kultur der Offenheit baut einerseits Zugangshürden ab, ist aber andererseits voraussetzungsvoll, weil ausgiebige Plenardebatten Zeit und Energie kosten. Auch lassen sich nach dem Schwarmprinzip zwar große Aktionen organisieren. Fraglich erscheint aber, ob es für die langfristige Arbeit an einer politischen Alternative geeignet ist, die inhaltliche und organisatorische Kontinuität voraussetzen würde. Ähnliches gilt für die zuweilen fast schon reflexhaft anti-ideologische Haltung der Bewegungen. Sie hat ihnen anfangs ermöglicht, als Ausdruck eines verbreiteten diffusen Unbehagens angesichts von Wirtschaftskrise und Bankenrettung aufzutreten – und somit zu ihrer Popularität beigetragen. Wollen die Protestierenden aber tatsächlich Veränderungen anstoßen, müssen sie absehbar über Gesellschafts- und Krisenanalysen, über Alternativen und Strategien debattieren. Eine Bewegung verträgt durchaus einen Pluralismus von Weltsichten, angestrebten Zielen und den präferierten Mitteln zu ihrer Durchsetzung. Sie kann aber nicht umhin, gesell-

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schaftliche Interessen zu benennen, die mit der bekannten Formulierung von den „99 Prozent“ bislang höchstens angedeutet werden. Mancherorts geschieht das schon recht deutlich: Spanische „Indignados“ und Occupy-AktivistInnen in den USA engagieren sich gegen die Zwangsräumungen überschuldeter Haushalte, und die chilenischen Studierenden haben ihre anfangs primär bildungspolitischen Forderungen zu einer anti-neoliberalen Agenda erweitert. ●

Jugendproteste: Erlebte Prekarisierung, erstrebte Demokratie Argumente 1/2012


IUSY ON THE MOVE – DIE INTERNATIONAL UNION OF SOCIALIST YOUTH ALS INTERNATIONALE JUGENDBEWEGUNG? Von Tim Schlösser, seit April 2012 neuer IUSY-Vizepräsident für die Jusos, kooptiert im Bundesvorstand und Mitglied des Landesvorstands in NRW. Er arbeitet bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH.

Ein zentrales Element der internationalen Arbeit der Jusos ist das aktive Engagement in der International Union of Socialist Youth (IUSY). Im Kontext dieses Argumente-Heftes liegt also die Frage auf der Hand, ob IUSY eine internationale Jugendbewegung ist. Für diejenigen, die die IUSY bisher noch nicht kennen, möchte ich mit einigen Sätze zu ihrem Wesen, ihrer jüngeren Entwicklung und zum aktuellen Status nach dem World Congress 2012 beginnen.1 Gegründet im Jahr 1907 in Stuttgart ist IUSY eine der ältesten politischen Jugendorganisationen der Welt und momentan auch die größte. Sie fungiert als Union von über 150 Mitgliedsorganisationen aus über 100 Ländern. Diese Organisationen sind

zum größten Teil Jugendorganisationen von Parteien oder studentische Zusammenschlüsse mit Parteiaffiliation. Eine der wenigen Ausnahmen stellen SJD – Die Falken dar, die als parteiunabhängige sozialistische Jugendorganisation Mitglied sind. Vereint sind die einzelnen Mitgliedsorganisationen durch ihr Bekenntnis zu sozialistischen und/oder sozialdemokratischen Werten. Hierbei kommt dem Aspekt der internationalen Solidarität und dem grenzüberschreitenden Austausch eine zentrale, wenn nicht die höchste Bedeutung zu. 1 Für einen ausführlichen Artikel über die Geschichte der IUSY siehe Judith Klose im Argumente Heft 2/2011 (http://www.jusos.de/sites/ default/files/material_files/ Argumente_2_11_IUSY.pdf )

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Durch das IUSY World Festival, das alle zwei bis drei Jahre mit mehreren tausend Teilnehmern aus aller Welt stattfindet, wird das Wesen und der Wert von IUSY erlebbar. Das vielsprachige gemeinsame Singen der Internationalen, die Möglichkeit junge, politisch Aktive von allen Kontinenten kennenzulernen und die Gelegenheit zu intensivem Dialog sind für Viele prägende Momente ihrer Juso-Arbeit. Neben dem Festival gibt es natürlich noch weitere politische Organe. Als erstes zu nennen ist hier der IUSY World Congress. Er ist das höchste beschlussfassende Gremium der IUSY. Der Congress entscheidet über politische Resolutionen, Mitgliedsanträge und Statutenänderungen. Außerdem wählt der Congress das IUSY-Präsidium und die Kontrollkommission. Zwischen den World Congresses findet noch der IUSY Council statt, der die politische Ausrichtung mitbestimmt und die Einhaltung der Grundsätze und Statuten überwacht. Zusätzlich kontrolliert er die Arbeit des Präsidiums.2 Angeschlossen (wenn auch in den letzten Jahren politisch zunehmend desillusioniert, aber das ist ein anderes Thema3) ist IUSY darüber hinaus an die Sozialistische Internationale (SI). Grundlage für die Mitgliedschaft in der IUSY ist die Zustimmung zur Declaration of Principles sowie zu den Statuten. Seit dem IUSY World Congress 2012 in Paraguay ist zudem das wichtigste politische Dokument das IUSY Global Political Manifesto. Im Manifesto werden die zentralen Werte der Union beschrieben. Hierzu gehören Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Diese spiegeln den internationalen sozialistischen und sozialdemokratischen Wertekanon wider. Außerdem werden grundsätzliche Positionierungen zu den Themen „Global Democracy and Hu-

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man Rights“, „Peace and Security for Safe and Free Development“ sowie „Progressive Economics“ festgehalten. Für die nächsten Jahre wird dieses Dokument die primäre Handlungsgrundlage der IUSY sein.4 Basierend auf dieser Darstellung der International Union of Socialist Youth stellt sich nun die Frage, ob die Organisation eine internationale Jugendbewegung ist. Im Schlagwort „internationale Jugendbewegung“ stecken drei Elemente: international, Jugend- und -bewegung. Für den Aspekt der Internationalität steht die Qualifikation von IUSY außer Frage. Kaum ein nicht-gouvernmentales Bündnis ist aktuell in seiner Mitgliedsstruktur internationaler! Die Kraftzentren werden dabei derzeit von Europa und Lateinamerika gebildet, wo die meisten Mitgliedsorganisationen herkommen und wo die Mitgliedsorganisationen aufgrund ihrer organisatorischen und finanziellen Stärke am meisten Aktivitäten auf internationaler Ebene entfalten können.5 Dies ist für die Funktionsweise von IUSY nicht unerheblich, denn für IUSY wie für alle anderen internationalen Organisationen von der EU bis zur UN gilt das Prinzip: Das Bündnis ist nur so aktiv und so stark wie seine Mitgliedsorganisationen bzw. Mitgliedsländer.

2 Mehr Infos zu den Gremien der IUSY finden sich in den IUSY Statuten: http://www.iusy.org/en/about/statutes 3 Bei Interesse an den aktuellen Reformbemühungen in der SI siehe hierzu das IUSY Position Paper: http://www.iusy.org/en/politics/resolutionsa-declarations/reform-of-socialist-international 4 Das Manifesto ist unter http://www.iusy.org/en/politics/ global-political-manifesto abrufbar. 5 Zu hieraus resultierenden Problemen eine Einschätzung weiter unten.

IUSY on the move – Die International Union Of Socialist Youth als Internationale Jugendbewegung? Argumente 1/2012


Verkörpert IUSY auch das zweite Element, den Charakter als Jugendorganisation? Auf den ersten Blick würden die meisten von uns ohne zu zögern „Aber sicher!“ ausrufen. Die Beantwortung ist jedoch etwas schwieriger, weil der bei IUSY, den Jusos und vielen anderen Organisationen gebräuchliche Jugendbegriff viel weitergehender ist als im juristischen oder sonstigen Kontext. Bei Wikipedia wird bspw. definiert: „Unter Jugend versteht man in der westeuropäischen Kultur und der deutschen Strafmündigkeit die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, also etwa zwischen dem 13. und 21. Lebensjahr.“6 Bei den Jusos ist man jedoch bis zum Alter von 35 Jahren „JungsozialistIn“ und bei vielen anderen IUSY-Mitgliedsorganisationen wird das maximale Mitgliedsalter ebenfalls erst in vergleichbarem Alter erreicht. Es gibt innerhalb der Organisation allerdings auch Kritik an dieser vermeintlichen Beliebigkeit, die jedoch in erster Linie von Mitgliedsorganisationen kommt, die selbst ein vergleichbar geringes maximales Mitgliedsalter von bspw. 24 oder 26 Jahren haben. Entscheidend ist meiner Ansicht nach jedoch nicht ausschließlich das Alter der Mitglieder, sondern die jugendpolitische Orientierung. Dieser Begriff bedeutet für uns explizit nicht, dass wir ausschließlich Jugendpolitik (Erhalt von Jugendzentren, Fördergelder für Jugendprojekte, Sorgen junger Menschen, etc.) machen, aber sehr wohl, dass wir es als unsere Pflicht ansehen, die Herausforderungen, vor denen wir lokal, national und international stehen, aus der Perspektive junger Menschen zu analysieren und langfristig orientierte, nachhaltige Politik zur Meisterung dieser Herausforderungen vorschlagen. Diese Perspektive können nicht

nur 14- bis 21-Jährige besonders gut einnehmen, sondern genauso Studierende und junge Berufstätige. Interessanterweise scheint der Aspekt der jugendpolitischen Orientierung bei sozialistischen Organisationen sogar historisch bedingt zu sein. Im oben bereits zitierten Wikipedia-Eintrag heißt es nämlich unter Begriffsentstehung weiter: „Der Begriff bezeichnete dann beispielsweise in der Jugendhilfe der 1880er Jahre eine männliche Person aus der Arbeiterklasse zwischen 13 und 18 Jahren, der Tendenzen zur Verwahrlosung, Kriminalität und eine Empfänglichkeit für sozialistisches Gedankengut unterstellt wurden.“7 Diese Begriffsdefinition ist natürlich im historischen Kontext zu sehen und durch die Herrschaftsstrukturen des Kaiserreichs geprägt, dennoch sorgt sie aus heutiger Sicht natürlich für Erheiterung. Die Definitionskomponenten „Person aus der Arbeiterklasse“ und „Empfänglichkeit für sozialistisches Gedankengut“ würden wir heutzutage sicher nicht als Diffamierung empfinden. Allerdings gehören für uns seit langer Zeit natürlich auch junge Frauen zur Jugend und Kriminalität zählen wir selbstverständlich nicht zu unseren Qualitäten. Einzig der Aspekt der „Verwahrlosung“ zeigt sich vereinzelt gegen Ende von IUSY World Festivals. In der obigen Definition ist jedoch bereits ein Verweis auf die „Jugendbewegung“ und damit auch auf IUSY angelegt. Neben den Pfadfindern und anderen primär naturorientierten Gruppierungen, kirchlichen Gruppen und den konservativen bis nationalistischen Studentenbünden sind hierbei nämlich auch die Arbeiterjugend6 http://de.wikipedia.org/wiki/Jugend 7 Ebd.

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bewegungen gemeint. Als eine solche versteht sich IUSY explizit und wird dies im kommenden Jahr beim internationalen Workers Youth Festival in Dortmund gebührend würdigen.8 Zieht man die jugendpolitische Orientierung und die Historie der Arbeiterjugendbewegung heran und kann gleichzeitig mit einer inhaltlich begründeten und nicht juristischen Definition von Jugend leben, dann ist IUSY also nicht nur international, sondern auch „Jugend“. Bleibt also die Frage nach dem Charakter als „Bewegung“. Hier fällt die Überprüfung wieder leichter, denn eine Bewegung hat vielfältige Charakteristika und es bestehen zahlreiche Typologien, unter denen sich IUSY eindeutig wiederfindet. Zu den Beispielen sozialer Bewegungen, zu denen IUSY historisch wie aktuell definitive inhaltliche Bezüge aufweist beziehungsweise sogar ein Teil von war/ist, gehören:

– Genossenschaftsbewegung – Anti-Atomkraftbewegung – Ökologiebewegung – LGBT-Bewegung – Anti-Globalisierungsbewegung

hin, dass es natürlich nicht in allen mit diesen Bewegungen verknüpften Politikfeldern einen einheitlichen Konsens innerhalb der IUSY gab und gibt. Dies wäre bei der Vielzahl der Mitgliedsorganisationen auch utopisch. Allerdings gehören einige dieser politisch-sozialen Bewegungen und der Kampf, den sie für die jeweiligen Themen geführt haben, zum prägenden Merkmal für das Selbstverständnis der IUSY. Im Zentrum des Bewegungscharakters der IUSY stehen dabei die Werte und Überzeugungen des demokratischen Sozialismus, der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Diese Werte sind das, was IUSY von anderen Organisationen oder Bewegungen unterscheidet. Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie sowie Internationalismus, Feminismus und Antifaschismus sind sozusagen der Markenkern. Die einzelnen Mitgliedsorganisationen der IUSY gewichten je nach historischer Entwicklung, aktueller politischer Lage ihres Landes, etc. die oben genannten Werte und Themen unterschiedlich. Beispielsweise sind Freiheit und Demokratie in jungen Post-Diktaturen zwangsläufig von höherer und grundsätzlicherer Relevanz für die alltägliche politische Arbeit als in den westlichen etablierten Demokratien. Hierzulande werden diese Werte oftmals als selbstverständlich angesehen. Im IUSYKontext wird einem jedoch regelmäßig an Beispielen anderer Länder die Fragilität von freiheitlich-demokratischen Zuständen bewusst. Ein anderes Beispiel ist der Kampf gegen Faschismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Dieser ist zu Recht ein zentrales Handlungsfeld vieler

Die Tatsache, dass hier unterschieden werden muss, deutet jedoch bereits darauf

8 Siehe hierzu: http://workersyouthfestival.tumblr.com/

– Arbeiterbewegung – Jugendbewegung – feministische/Frauenbewegung – Friedensbewegung – internationalistische Bewegung Darüber hinaus lassen sich zumindest teilweise (je nach Mitgliedsorganisation) auch zu folgenden inhaltlich-politischen Bewegungen Bezüge herstellen:

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IUSY on the move – Die International Union Of Socialist Youth als Internationale Jugendbewegung? Argumente 1/2012


Mitgliedsorganisationen, insbesondere der Jusos und anderer europäischer Partner. In Asien und Afrika gehört er mangels Handlungsnotwendigkeit jedoch fast gar nicht zum Selbstverständnis und in Lateinamerika nur am Rande. Diese Beispiele verweisen auf ein weiteres Wesensmerkmal von Bewegungen. Sie sind keine monolithischen Blöcke, sondern umfassen oftmals ein breites Spektrum von Themen, Gruppierungen und Interessen. Dies gilt für die Friedensbewegung oder die Ökologiebewegung genauso wie für IUSY. Nachdem nun analysiert wurde, dass IUSY uneingeschränkt als internationale Jugendbewegung gesehen werden kann, verbleibt die Frage nach der Praxis: Was leistet IUSY für die Belange junger Menschen in der Welt? IUSY repräsentiert mehrere Millionen junge Menschen weltweit direkt, weil sie Mitglied in einer der IUSY-Mitgliedsorganisationen sind. Diesen Aktiven bietet IUSY regelmäßig die Möglichkeit zur Vernetzung, zum Austausch und zum voneinander lernen. Wie erwähnt, ist dieser Netzwerkaspekt ein zentrales Wesensmerkmal des Bündnisses. Kritisch zu sehen ist hierbei jedoch, dass diese Partizipationsmöglichkeiten stark von der Finanzkraft der jeweiligen Mitgliedsorganisation abhängen. Internationale Mobilität ist auch in Zeiten fortschreitender Globalisierung eine teure Sache, gerade für junge Menschen. Bedingt durch sehr unterschiedliche Modi der Parteienfinanzierung und der Höhe von öffentlichen Fördergeldern für jugendpolitische Organisationen, haben die Einen mehr Zugang und die Anderen weniger. Dies führt in der Praxis zu einer Überrepräsentation insbesondere der europäischen, durch die vielfältigen Wahlerfol-

ge zunehmend auch der lateinamerikanischen Mitglieder, die gleichzeitig jedoch auch personell und finanziell das Bündnis tragen. Nichtsdestotrotz müssen für dieses strukturelle Defizit, das unserem Wert der Gleichheit zuwiderläuft, Lösungen gefunden werden. Die neuen Medien beispielsweise bieten die Möglichkeit, viel mehr Menschen als früher dezentral zu vernetzen. Ein kontinuierlicher Kontakt kann durch die sozialen Netzwerke oder auch Internet-Livestreams von IUSY-Veranstaltungen gewährleistet werden. Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits gemacht, es sind aber noch größere Anstrengungen nötig, um die entsprechende Präsenz im IUSY-Kontext zu erhöhen und zu professionalisieren. Die finanziellen Möglichkeiten der Mitgliedsorganisationen sind jedoch nicht ausschließlich regional begründet, sondern hängen vielfach auch vom politischen Erfolg in den jeweiligen Ländern ab. Gerade die aktuell weniger erfolgreichen Partner brauchen aber besondere Unterstützung und Anbindung an die internationalen Debatten. Hier könnte ein Solidaritätsfonds, der Teilnahmen an IUSY-Veranstaltungen ermöglicht, ein überlegenswerter Weg sein. Gleichzeitig vertritt IUSY aber noch weitaus mehr junge Menschen als ihre Mitglieder, nämlich die WählerInnen der Mutterparteien oder die, die sich als SympathisantInnen mit einer der Mitgliedsorganisationen verbunden fühlen. Diese Menschen, wie auch die GenossInnen in den Mitgliedsorganisationen, stellen an IUSY den Anspruch, dass diese die gemeinsamen politischen Interessen international sichtbar vertritt und damit wachsende Unterstützung generiert. Diesem Anspruch wird IUSY bislang bestenfalls

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punktuell gerecht. Über die Homepage werden zwar regelmäßig Statements und politische Positionierungen publik gemacht, diese erfahren jedoch nur geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Wichtig wäre es, diese webbasierte Öffentlichkeitsarbeit zu intensivieren. Das IUSY-Präsidium muss es als seine Aufgabe verstehen, gemeinsam mit dem IUSY-Sekretariat, die bestehende Präsenz aufrechtzuerhalten und kontinuierlich zu verbessern. Dafür ist IUSY jedoch auch auf die Unterstützung der einzelnen Mitgliedsorganisationen angewiesen, sowohl was die Zulieferung von aktuellen Inhalten angeht, als auch hinsichtlich der Sichtbarkeit (Verlinkung) der veröffentlichten Positionen. Darüber hinaus muss IUSY weitaus stärker als bisher bei internationalen Foren als jugendpolitischer Akteur in Erscheinung treten. Auf europäischer Ebene funktioniert dies durch ECOSY bspw. im European Youth Forum recht gut, auf globalem Level sind unsere diesbezüglichen Aktivitäten jedoch noch stark unterentwickelt. Von UN-Klimakonferenzen über das Weltsozialforum bis hin zu regionalen Bündnissen gibt es heutzutage fast überall Jugendforen, auf denen sich unterschiedlichste politisch-gesellschaftliche Akteure einbringen können. Dieses Feld wird jedoch primär von Nichtregierungsorganisationen besetzt, die oftmals Partikularinteressen vertreten. Dass diese Gruppierungen so agieren, ist auch grundsätzlich in Ordnung. Was aber fehlt, ist fast immer der moderne sozialistische und sozialdemokratische Blickwinkel, der nach ganzheitlichen und vor allem für alle gerechten Lösungen strebt. Abschließend lässt sich also festhalten, dass IUSY eine internationale Jugendbewegung in zweierlei Dimensionen ist: Ers-

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tens nach innen gerichtet, mit dem primären Auftrag zur bestmöglichen Vernetzung und zur bestmöglichen Schaffung eines intensiven Dialogs zwischen den Mitgliedsorganisationen. Zweitens nach außen gerichtet, um die weltweiten Herausforderungen aus sozialistischer und sozialdemokratischer Perspektive zu analysieren und gerechte, soziale und nachhaltige Lösungen für junge Menschen einzufordern. Hierfür sind die Grundlagen gegeben, besonders auch durch die Arbeit des letzten IUSY-Präsidiums, dass in Person von Johan Hassel (ehemaliger Generalsekretär), Viviana Pinero (Präsidentin) und Cordula Drautz (ehemalige IUSY-Vizepräsidentin für die Jusos) maßgeblich die Entwicklung und Verabschiedung des IUSY Global Political Manifesto vorangetrieben haben. Für diese notwendige, neue Politisierung des Bündnisses gebührt ihnen großer Dank. Jetzt ist es die Aufgabe der IUSY, dieses Potenzial zu nutzen, um sichtbarer als bislang als internationale Jugendbewegung in Erscheinung treten zu können. ●

IUSY on the move – Die International Union Of Socialist Youth als Internationale Jugendbewegung? Argumente 1/2012


JUGENDPROTESTE: KEINE WUT IM BAUCH Thomas Kerstan und Arnfrid Schenk (DIE ZEIT) im Gespräch mit Klaus Hurrelmann, Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance

Im Ausland rebelliert die Jugend, hierzulande nicht. Der Soziologe Klaus Hurrelmann erklärt, warum. DIE ZEIT: Herr Professor Hurrelmann, von Ägypten über Chile bis Spanien hat es Massenproteste von Jugendlichen gegeben. Warum bleibt die deutsche Jugend ruhig? Klaus Hurrelmann: Jugendliche sind Seismografen für die Entwicklung eines Landes. Sie beurteilen intuitiv die politischen Verhältnisse danach, welche Zukunftschancen sie haben. In den genannten Ländern haben die Jugendlichen allen Grund zu protestieren und zu artikulieren, dass sie für sich als Kollektiv eine unsichere wirtschaftliche und politische Perspektive sehen, und das den Entscheidungsträgern deutlich zu machen. DIE ZEIT: Und bei uns? Klaus Hurrelmann: Bei uns haben sich erst kürzlich junge Leute sehr erfolgreich für ein Thema engagiert, das ihnen existenziell wichtig ist: eine andere Energiepolitik. Im Moment sehen sie keinen

Grund, sich um ihre künftige ökonomische Situation zu sorgen. Aber das kann sich ändern. Vom Potenzial her unterscheidet sich Deutschland nicht von anderen Ländern: Wenn junge Leute sich existenziell bedroht sehen, dann protestieren sie. DIE ZEIT: Aber auch bei uns gibt es Jugendliche, die kaum eine Perspektive haben. Klaus Hurrelmann: Richtig, auch bei uns befinden sich viele Jugendliche in einer bedrückenden sozialen Lage. Aber wir müssen das ins Verhältnis setzen. Deutschland hat im europäischen Vergleich eine geringe Jugendarbeitslosigkeit. Neben dem Dualen Ausbildungssystem haben wir ein Übergangssystem aus Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr und anderen Maßnahmen der Berufsvorbereitung... DIE ZEIT: ...die oft als ineffizient kritisiert werden. Klaus Hurrelmann: Zu Recht. Aber das Übergangssystem hat genauso viele Absolventen vor allem von Förder- und Hauptschulen aufgenommen wie das Duale Berufliche Ausbildungssystem und hat stark

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dazu beigetragen, dass nur relativ wenige Jugendliche gleich als arbeitslos registriert wurden und auf der Straße saßen. DIE ZEIT: Ist das die Erklärung dafür, dass es in Deutschland nicht zu Krawallen wie in London oder ab und zu in den Pariser Banlieues kommt? Klaus Hurrelmann: Ich denke Ja. Die meisten Jugendlichen ohne Schul- und Berufsausbildung hatten immer das Gefühl, der Staat kümmere sich um sie. Deshalb ist die Gruppe der sich sozial deklassiert Fühlenden bei uns nicht so groß wie anderswo. Das gilt auch für die Jugendlichen aus Zuwandererfamilien. Wir haben weniger Ghettos. Auch bei uns leben viele Jugendliche in subkulturellen Strukturen, aber viele von ihnen werden noch immer irgendwie, zum Beispiel durch Streetworker, erreicht. DIE ZEIT: Also geht es den Jugendlichen am unteren Ende der Gesellschaft besser als in anderen Ländern. Trotzdem wäre das ein Protestpotenzial. Klaus Hurrelmann: Allerdings, denn die jungen Leute vergleichen ihre Lage ja nicht mit der ihrer Altersgenossen in anderen Ländern, sondern mit den hier lebenden Gleichaltrigen. Da entgeht ihnen ihre aussichtslose Position nicht. Wie die letzte Shell-Jugendstudie zeigt, sehen fast 20 Prozent der Jugendlichen in Deutschland keine Perspektive für sich. Sie fühlen sich abgehängt von der Gesellschaft. DIE ZEIT: Und weshalb protestieren die nicht? Klaus Hurrelmann: Sie sehen die 80 Prozent ihrer Altersgenossen, die mehr oder weniger gut durchkommen, und weil sie sich selbst für ihren Misserfolg mitverantwortlich fühlen, fehlt ihnen bei allem Unbehagen die Wut im Bauch. Man sollte aber die Signale nicht unterschätzen, die

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sie aussenden. Mal geben sie viele Stimmen für die NPD ab, mal üben sie sich in Wahlverweigerung, mal treibt es sie in ausländerfeindliche Aktionen. Das sind oft keine politisch motivierten Handlungen, sie können aber politisch interpretiert werden. Für einen direkten politischen Protest dagegen, dass sie die Opfer sozialer Ungleichheit sind, fehlen diesen Jugendlichen Durchblick und Geschick. DIE ZEIT: Wer könnte denn hierzulande protestieren? Klaus Hurrelmann: Jugendproteste werden, das zeigt der Blick in die Geschichte und ins Ausland, vorwiegend von den Gutsituierten und Gebildeten getragen. DIE ZEIT: Und denen geht es bei uns gut? Klaus Hurrelmann: Bei unserer letzten Studie im Jahr 2010 beurteilte die überwältigende Mehrheit von fast 80 Prozent der deutschen Jugendlichen ihre Situation ausgesprochen optimistisch. Sie haben das Gefühl, gebraucht zu werden. Zwar sehen sie die wirtschaftliche Gesamtlage eher kritisch, aber sie fühlen sich sicher, durch persönliches Engagement, besonders durch Investitionen in ihre Bildung, den Bedrohungen entgehen zu können. DIE ZEIT: Sie engagieren sich aber nicht für ihre unterprivilegierten Generationsgenossen. Es gibt kein „Wir“, sondern nur ein „Ich“? Klaus Hurrelmann: Ja, es ist eine Generation, die sehr stark von der intuitiven Bewertung der eigenen Situation ausgeht. Es wird alles danach abgefragt: Was bedeutet das für mich? Was bringt es mir? Das hängt mit der Lebenssituation der Angehörigen dieser Generation zusammen. Sie kommen heute sehr früh in die Lebensphase Jugend hinein. Bei den meisten beginnt die Pubertät mit zwölf. Aber sie wissen nicht, wie lange sie in der Jugendphase bleiben. Bis sie nach traditionellen Standards erwach-

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sen sind, kann es 15 oder mehr Jahre dauern. Eine Gewissheit, ob sie einen Beruf finden und eine Familie gründen können, also einmal die klassischen Insignien des Erwachsenseins einnehmen werden, gibt es für sie nicht. Dieses Leben in struktureller Unsicherheit führt unvermeidbar zu opportunistischem Verhalten, zu einem Optimierungsstreben. Jeder will seine Ausgangslage verbessern, muss immerzu Möglichkeiten sondieren und im richtigen Moment zugreifen. Deshalb sind die jungen Leute von ihrem Sozialcharakter her „EgoTaktiker“. DIE ZEIT: Also eine Generation von Egoisten? Klaus Hurrelmann: Sie denken alles von ihren subjektiven Empfindungen und ihrem eigenen Ego her, aber sie sind keine Egoisten. Kommen viele von ihnen zu den gleichen Empfindungen, können sich hieraus kollektive Einschätzungen und Handlungen ergeben. Nehmen Sie das Beispiel der Umwelt- und Energiepolitik. Dort haben sich Jugendliche kollektiv und solidarisch verhalten, und der Ausgangspunkt waren die auf das eigene Ego bezogenen Empfindungen der Bedrohung durch Atomkraftwerke. DIE ZEIT: Was könnte der Funke sein, der die gut situierten Jugendlichen hierzulande für die sozialen Interessen ihrer Generation auf die Straßen triebe? Klaus Hurrelmann: Nachdem das für die jungen Leute bisher wichtigste Thema der ökologischen Lebenssicherung jetzt erst einmal zurücktritt, rücken die beruflichen Existenzängste in den Vordergrund. Sollte es zu einer erneuten Arbeitsmarktkrise kommen, wird die junge Generation unter Garantie aufbegehren. Wenn die doppelten Abiturjahrgänge nicht vernünftig von den Hochschulen aufgenommen und im

Beschäftigungssystem nur hingehalten werden sollten, kann es auch bei uns schnell zu spanischen Verhältnissen kommen. Wenn die bisherige Rechnung der Jugendlichen nicht aufgeht – also: „Die objektive Lage ist zwar schwierig, aber ich kann mich durch eigene Anstrengungen ihrem Sog entziehen“ –, dann kann es auch bei uns der Funke sein. DIE ZEIT: Aber die Lage der meisten Jugendlichen ist doch gerade rosig. Die Zahl der Studienanfänger ist auf Rekordhöhe, der Fachkräftemangel wird spürbar. Kann sich die Mehrheit der Jugendlichen nicht durchaus berechtigt in Sicherheit wiegen? Klaus Hurrelmann: Das tut sie auch, denn die jungen Leute sind absolute Realisten. Im Vergleich zu 2006, wo die Zukunftsangst noch sehr groß war, waren die Jugendlichen 2010 erstaunlich optimistisch, obwohl die wirtschaftliche Lage zum Zeitpunkt der Befragung noch gar nicht so vielversprechend aussah. Was nebenbei zeigt, was für ein gutes Sensorium die gut gebildeten Jugendlichen für aufkommende Entwicklungen haben. Wenn alles wie erwartet läuft, dann werden sie von Unternehmen und anderen Arbeitgebern sehr begehrt und umworben werden. DIE ZEIT: In Ihren Studien ist von stillem politischem Protest die Rede. Wie äußert sich der? Klaus Hurrelmann: Wir sprachen schon von Wahlenthaltungen, Ausländerfeindlichkeit und Stimmabgaben für radikale Parteien bei den sozial deklassierten Jugendlichen. In den letzten Jahren können wir in dieser Gruppe zusätzlich eine wachsende Unzufriedenheit nicht nur mit der eigenen Situation, sondern auch mit der Demokratie ausmachen. Viele dieser – ganz überwiegend männlichen – Jugendlichen haben sich komplett aus unserem Sy-

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stem verabschiedet. Die besser gebildeten Jugendlichen hingegen sind eindeutige Demokratiebefürworter, aber mit dem Funktionieren des politischen Systems sind sie immer weniger einverstanden. Sie fühlen sich durch die politischen Parteien nicht gut vertreten. Das führt auch bei ihnen zu geringer Wahlbeteiligung. Da sie aber politisch mitgestalten wollen, weichen sie in punktuelle Aktionen bei Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen oder andere informelle Aktionen außerhalb der Parteien aus. Das ist also ein impliziter Protest gegen die traditionelle politische Kultur bei uns, in der Parteien und Parlamente laut Verfassung die entscheidende Rolle spielen. Es fehlt der Transportriemen zwischen den intuitiv artikulierten Interessen und Themen der Jugend und den politischen Parteien. Ich sehe hier mit Sorge eine Gefährdung unserer demokratischen Kultur. DIE ZEIT: Sind das eigentlich völlig disparate Phänomene, die Proteste in Spanien oder Chile, die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die Krawalle in London – oder gibt es etwas Verbindendes? Klaus Hurrelmann: Der gemeinsame Nenner ist, dass Angehörige der jungen Generation ihre eigene Lebensperspektive antizipieren und sehen: So können wir nicht weiterleben. Die Ausdrucksformen sind disparat, sie spiegeln Kultur und Bildung der Protestierenden ebenso wider wie die politischen Machtverhältnisse in den Ländern. Wenn nicht alles täuscht, sind vor allem die Proteste erfolgreich, bei denen Jugendliche nicht allein unter sich bleiben, sondern von Angehörigen der älteren Generationen unterstützt werden. Diese Lehre können wir ja auch in Deutschland aus den Anti-Atomkraft-Protesten ziehen. Und noch etwas fällt mir auf:

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Seitdem sich Frauen in die politischen Demonstrationen einbringen, sind diese intuitiver und humaner, zugleich aber auch zäher und nachhaltiger geworden. Und dadurch erfolgreicher. DIE ZEIT: Sehen Sie eine übergreifende Idee, wie 1968 eine Art Kulturrevolution? Klaus Hurrelmann: Ja, sie liegt in der unmittelbaren politischen Wirksamkeit der Demonstrationen und Proteste. Die übergreifende Idee ist eine Form direkter Demokratie. In allen Ländern mit Protesten der jungen Generation sind die Parteien weitgehend außen vor, unabhängig davon, ob sie laut Verfassung bestehen oder nicht. In den demokratischen Ländern entsteht hierdurch jenseits der Parteien eine Bürgergesellschaft, die unmittelbar Politik betreibt und die Parteiestablishments sogar dazu zwingen kann, sie umzusetzen. So wie bei uns kürzlich der Atomausstieg durchgesetzt wurde. Man kann sagen: Hier wirkt das Volk an der politischen Willensbildung der Parteien mit. Wollen die Parteien wieder an der politischen Willensbildung des Volkes teilnehmen, wie es das Grundgesetz aus guten Gründen vorsieht, dann müssen sie sich jetzt auf den Weg machen, sonst geht die Entwicklung an ihnen vorbei. Ich bin sicher: Dazu brauchen sie das politische Gespür der jungen Generation. Sie sollten aktiv um Jugendliche werben. ● Dieses Interview ist ein Nachdruck aus DIE ZEIT, 1.9.2011, mit freundlicher Genehmigung des Zeit Verlags.

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EDEL, GERECHT UND WUNDERSCHÖN. WAS IST LOS IN CHILE? Von Albrecht Koschützke, Politologe, von 1982 bis 1993 Direktor der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Nueva Sociedad in Caracas, lebt in Chile.

Die internationale Presse wundert sich, Lateinamerika horcht auf: 5.658 Demonstrationen im Jahr 2011 in Chile. Ein Land, das als Vorbild für einen erfolgreichen gewalt- und scheinbar konfliktfreien Übergang von einer blutigen Diktatur zu einer stabilen Demokratie gilt, ein Land, das seit dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 fünf Präsidenten in korrekten Wahlen an die Staatsspitze brachte. Hohe Wachstumsraten, Reduktion der absoluten Armut, Modernisierung von Infrastruktur und öffentlicher Verwaltung, Achtung der Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit, das Entstehen einer kaufkräftigen und konsumfreudigen Mittelschicht, sozialer Frieden und konsensuale politische Entscheidungen der beiden großen politischen Blöcke aus Konservativen und Mitte-Links-Kräften – kurz, nicht nur die Chilenen sahen sich als (lateinamerikanisches) Musterland eines demokratischen Übergangs.

Das galt erst recht, als im Februar 2010 erstmals seit 50 Jahren ein Präsident des rechten politischen Lagers durch demokratische Wahlen an die Macht kam. 20 Jahre und vier komplette Legislaturperioden lang hatte das Mitte-Links-Parteienbündnis Concertación aus den sozialdemokratisch orientierten Parteien PPD, PRSD und PS sowie den Christdemokraten, diesen Übergang geleitet. Nach zwei Jahren Regierung der rechten „Allianz“ aus der konservativen Renovación Nacional (RN) und der noch von Pinochet-Anhängern durchsetzten UDI bestätigt sich, dass das Wahlergebnis einer Art Zeitenwende gleichkam: Mit der Wahl des Finanzmagnaten und lt. Forbes reichsten Chilenen, Piñera, zum Präsidenten wurde die demokratische Übergangsphase Chiles abgeschlossen, der Aufbau der chilenischen Demokratie war vollendet. Das Wahlergebnis thematisierte jedoch zugleich die Schwächen dieser Rekonstruktionsphase und die Herausforderungen

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dieses neuen Abschnitts der chilenischen Demokratiegeschichte: Die Bilanz der Concertación: Verdienste und Versäumnisse Die erfolgreiche und vor allem eben auch stabile chilenische Demokratie ruht auf zwei Säulen, die von der Militärdiktatur definiert und vererbt wurden: das politische Modell, garantiert durch die Verfassung, das Wahlrecht und die Wahlkreiseinteilung, sowie das ökonomische Modell mit strikt marktliberalem Kurs, umfassenden Privatisierungen und der Reduktion staatlicher wirtschaftlicher Betätigung auf ein Minimum. Beide Modelle müssen sich zu Beginn der neuen Phase der demokratischen Modernisierung befragen lassen – und sie werden, wie die Demonstrationen zeigen, sehr heftig befragt –, ob ihre Bilanz ausreicht, Erwartungen, Forderungen und Notwendigkeiten der neuen Etappe zu beantworten, oder ob zu viele Probleme in den ersten 21 Jahren der Demokratie nicht angefasst wurden. Hier liegt der Ansatz zum Verständnis der aktuellen Krise: Chile erlebt seit 2010 eine Umbruchsituation nach Abschluss der demokratischen Konsolidierung (ausgedrückt im Wahlsieg der Rechten), und es zeigt sich, dass die alten Sicherheiten, Mechanismen und Akteure bislang nicht willens oder fähig sind, sich dieser neuen Herausforderung zu stellen. Die Verdienste des heute oppositionellen Mitte-Links-Bündnisses vor allem bei der Konsolidierung der Demokratie sind erheblich. Sein Beitrag zur Wiederherstellung der Demokratie nach 17 Jahren zivilisatorischer Verwahrlosung unter der brutalen und blutigen Pinochet-Diktatur kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

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Aber man kann auch feststellen, dass die Concertación Demokratie als System von Institutionen und Verfahren, nicht aber als gesellschaftliches Organisationsprinzip entwickelt und installiert hat. Entsprechend dem neoliberalen Credo wurde die Gesellschaft als Summe von Verbrauchern und Konsumenten, nicht aber von BürgerInnen begriffen und behandelt. In den sozialen Bewegungen der letzten Monate artikulieren sich jetzt diese Staatsbürger, die der Marktradikalismus und seine Vertreter nicht auf ihrer Agenda haben. Zum demokratiepolitisch zu begrüssenden Machtwechsel Anfang 2010 trug freilich auch bei, dass 20 Regierungsjahre der Concertación zu Ermüdungserscheinungen und Glaubwürdigkeitsverlust geführt hatten. Konflikte traten vor allem im Spannungsfeld zwischen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auf. Eine linke Regierung wird an ihrem Anspruch gemessen, sich stärker für soziale Gerechtigkeit einzusetzen als möglicherweise die Konservativen. Wenn nun aber eher die rechten Kräfte in den linken Parteien an den entscheidenden Stellen sitzen, gibt es zwangsläufig besonders große Enttäuschungen und Legitimationsdefizite. Hinzu kam und kommt eine große Distanz der Zivilgesellschaft zu den politischen Parteien und der Politik insgesamt und eine veränderte Gesellschaft, die mit dem gegenwärtigen politischen System nicht mehr einverstanden ist, das zwar einerseits ökonomische Erfolge aufzuweisen hat, andererseits jedoch zu tiefgehenden strukturellen Reformen unfähig ist. Außerdem hat sich ein wichtiger Teil der politischen Eliten mit den den Status quo absichernden (Macht-)Strukturen arrangiert und die Logik einer weitgehend unregulierten Marktwirtschaft nicht nur übernommen,

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sondern auch aktiv verteidigt. Die Politik des Möglichen, der kleinen Schritte, der Anpassung an die gegebenen Rahmenbedingungen war, nachdem die Bindungskraft des Kampfes um die Demokratie nachgelassen hatte, aber nicht mehr hinreichend mobilisierend, um den Machterhalt der Concertación zu garantieren. Die 2011 weltweit beachtete Studentenbewegung Chiles hat sich als zentraler Katalysator eines Prozesses herausgebildet, in dem Chile nach den Worten des Wissenschaftsnationalpreisträgers Manuel Antonio Garretón dabei ist, sich politisch, ökonomisch und sozial neu zu erfinden. Die Studentenbewegung Die „Bildungsdebatte“ begann im Frühjahr 2011 ganz harmlos mit einer kaum beachteten Studentendemonstration gegen die hohen Kosten und die schlechten Ausbildungsbedingungen der privaten und öffentlichen Universitäten. Ein Jahr und etwa 310 Demonstrationen später ist die Bildungspolitik nicht nur Thema Nr. 1 in den Medien, der Politik und der Gesellschaft, in den Cafés und den Familien, den Talkshows und Meinungsumfragen. Sie bestimmt auch die Debatte über den Staatshaushalt, die Regierungsfähigkeit des Landes, die Demokratiequalität der Regierung, das politische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungsmodell Chiles. Zwar wird immer noch über Bildung, Ausbildung und Erziehung in Gymnasien und Hochschulen diskutiert. Aber längst hat diese Debatte auch Grundprinzipien des gesellschaftlichen Alltagslebens thematisiert: Es geht um das Verhältnis von Staat und Markt, von öffentlich oder privatwirtschaftlich organisierter Bildung,

um Bildung als Ware, um Gewinnstreben in der Erziehung. In der sachpolitischen Debatte sind die Konfliktfelder klar: die Finanzierung und die Kosten, Gewinn und Profite, Qualität und gleichberechtigter Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Dahinter liegen die grundsätzlichen Fragen: Ist Bildung ein Bürgerrecht, eine gesellschaftliche Angelegenheit, eine staatliche Pflicht, ein öffentliches Gut, wie es die chilenischen Studenten unter Berufung auf die UNESCO behaupten, oder ist sie Privatsache, ein Konsumgut, das auf dem freien Markt mit unternehmerischer Initiative produziert wird? Die Regierungen der Concertación haben erheblich dazu beigetragen, dass das chilenische Unisystem Weltrekorde schlägt: Die Studienkosten an chilenischen Unis verbrauchen 41 % des durchnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der Bürger: die höchste Quote auf der Welt (in Spanien liegt dieser Anteil bei etwa 5 %). Die öffentlichen Ausgaben Chiles für die Universitäten liegen bei 0,5 % des BIP, ein von keinem Land unterbotener Anteil. Um ein Kind auf die Universität zu schicken, müssen die Familien, die zu den 60 % der ärmeren Bevölkerung zählen, über 40 % ihres Einkommens aufwenden. Die öffentlichen und die teuren (staatlich garantierten) privaten Kredite zur Studienfinanzierung erwürgen die Zukunft der jungen Akademiker: Erst seit Jahresbeginn 2012 liegt ein Regierungsentwurf vor, der die Zinsen für Studienkredite drastisch zu senken und sie nurmehr über eine staatliche Agentur (statt über die Privatbanken) abzuwickeln plant. Seit mit der Bildungsreform der Diktatur 1981 die radikale Marktwirtschaft auch im Bildungswesen etabliert wurde und damit den Gründungsboom privater Univer-

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sitäten auslöste, bilden (später dann auch im Sekundarschulwesen) die privaten Einrichtungen die Mehrheit gegenüber dem öffentlichen Bildungswesen. Die 25 „traditionellen“ Universitäten aus der vordiktatorialen Zeit, die meisten öffentlich, einige – wie die „Católica“ – nicht öffentlich, die bis dahin nach Elterneinkommen gestaffelte Gebühren kannten, bilden bis heute die Gruppe des „Rektorenrates“ – ihre Studierenden sind auf nationaler Ebene in der Studentenföderation ConFECh organisiert. Die ConFECh-Studierenden organisieren, repräsentieren, „sind“ „die Studentenbewegung“ Die privaten Unis sind nur peripher beteiligt. Die (im Dezember abgewählte und seither nur noch Vize-)Präsidentin der ConFECh, Camila Vallejo, Mitglied der KP-Jugendorganisation, ist durch das Interesse der Medien an Personen und „Stars“ weltweit zum „Gesicht der Studentenbewegung“ gemacht worden. Die nationale und die internationale Presse hat sie mit allen Mitteln der PR-Technik „vermarktet“, einschließlich der sexistischen Kommentare über ihr gutes Aussehen. Selbst das Piercing von Camila (und gar in Gold, obwohl doch Kommunistin!) wurde so mitunter wichtiger als die höchst schlagfertige und kompetente Kritik, die bald ein Dutzend Studentenvertreter druckreif, treffend und empirisch abgesichert auf öffentlichen Meetings, Demonstrationen oder in Talkshows und Interviews äußern. Die Forderungen sind einfach und überzeugend: Keine Geschäfte mit der Bildung machen, Gratisbildung und gleiche Bildungschancen für alle, qualitativ hochwertige Bildung, Vorrang für ein öffentliches Bildungswesen. Diese Ziele werden auch nach einem Jahr Dauermobilisierung von über 70 % der Bevölkerung unterstützt und

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für richtig gehalten. Auf Dutzenden von Demonstrationen, oft mit über 100.000 Menschen allein in Santiago und mehreren Hunderttausend in den Uni-Städten der Regionen, zeigt sich, dass Mütter, Väter, Großeltern, Lehrer, Professoren und Rektoren, Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen, kurz, nicht eben nur die Studierenden, sondern eine ganze Bevölkerung auf den Beinen ist, um diese „edlen, gerechten und wunderschönen“ Ziele zu vertreten. So hatte unter der ungläubigen, ironischen oder empörten Reaktion der Chilenen Präsident Piñera selbst vor den Vereinten Nationen die Studentenbewegung charakterisiert. Dass Piñera tags darauf die Vertreter und Verfechter dieser edlen, gerechten und wunderschönen Sache mit Wasserwerfern und Tränengas von den Straßen der Hauptstadt vertreiben lassen wollte, war für ihn kein Widerspruch. Küssen für die Bildung Die Studierenden hielten das ganze Jahr 2011 und unvermindert auch nach der Sommerpause seit April 2012 das öffentliche und z. T. das Weltinteresse an ihren Forderungen durch höchst kreative neue Mobilisierungsformen wach: Trommler, Fanfarengruppen und Musikbands, Sprechchöre, TänzerInnen und Kostümtruppen, Maskenträger, Gaukler, Elemente von Popkultur machen die Demos auch zu Happenings, ohne dass die politischen Ziele aus den Augen verloren werden. Man sieht, dass nicht verbissene Politkader, sondern junge Leute selbstbewusst und selbstverständlich ihre Rechte einfordern, darunter die 1.800 Millionen US-Dollar, die nach ihren Berechnungen nötig sind, um diese Forderungen umzusetzen. 1.800 wurde zur magischen Zahl des Protests.

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Wenn 12.000 junge Pärchen vor dem Präsidentenpalast sich vor den Augen der Weltpresse und des internationalen Fernsehens 1.800 Sekunden (= 30 Minuten) lang küssen, um so für eine öffentliche und kostenfreie Bildung zu demonstrieren, dann garantiert das Eingang in die Nachrichtensendungen von BBC und CNN zur primetime. Ein 1.800 Stunden (= 75 Tage) dauernder Marathon-Staffettenlauf um den Präsidentenpalast, Fotoplakate von Politikern und Prominenten, die z. B. „bekennen“: „Ich war Bildungsminister und heute mache ich Geschäfte mit der Universität xy“, Wandzeitungen, souveräne Nutzung der Social Media Twitter, Facebook usw., und einige aufsehenerregende Talkshows, in denen die Studentenvertreter prominente Politiker argumentativ und moralisch u. a. ob ihrer Eigeninteressen am Geschäft Bildung in die Enge treiben, belegen, dass die Studenten es ernst meinen mit ihrer Warnung oder ihrem Versprechen: „Wenn die Politiker uns früher kritisiert haben, wir würden uns zu wenig um Politik kümmern, dann sollen sie wissen: Jetzt sind wir da, und wir sind gekommen, um zu bleiben“. Hungerstreiks von Sekundarschülern oder eine Campingdemo an den Ufern des verdreckten Hauptstadtflusses Mapocho, die von der Polizei „zum Schutz der Schüler“ aufgelöst wird mit dem Ergebnis, dass etliche „Gerettete“ mit schweren Schlagverletzungen im Krankenhaus landen, der Tod eines Schülers durch die zunächst von den Vorgesetzten bestrittene blindwütige Knallerei eines Polizisten – all diese Details schaffen Sympathie und Mitgefühl. Offensichtlich ist, dass die Regierung trotz erheblichen Wortgeklingels keinen Millimeter auf die Forderungen der Studenten einzugehen bereit ist. Die Behaup-

tung, die „edle und wunderschöne Sache“ der Bildung massiv finanziell zu förden, wird im Staatshaushalt 2012 nicht erkennbar. Der neue Bildungsminister versucht zwar mit seinem Stipendienplan der Bewegung Wind aus den Segeln zu nehmen, doch belegte die erste Großdemo mit über 50.000 TeilnehmerInnen im Mai, dass der Konflikt auch 2012 weitergeht. Unabhängig aber vom mittelfristigen Fortgang der Auseinandersetzungen: Die Studentenbewegung hat schon jetzt nicht mehr rückgängig zu machende neue Erfahrungen und Sichtweisen auf Gesellschaft und Staat eingeführt, die als die seit der Wiedereroberung der Demokratie bedeutendsten politischen und soziokulturellen Änderungen Chiles betrachtet werden können. Das Thema Bildung ist als zentrale politische Herausforderung, fest als Nr. 1 auf der Tagesordnung verankert. Aus der Debatte um die Bildungspolitik ergeben sich freilich weitreichende Konsequenzen für andere politische Problembereiche, die inzwischen auch den Diskurs der öffentlichen Auseinandersetzung bestimmen: ● eine Steuerreform zur Finanzierung der notwendigen Bildungsleistungen (im Mai 2012 lancierte die Regierung einen Vorschlag für ein Steuerreförmchen à la Gatopardo: ein bisschen ändern, damit alles gleich bleibt) ● eine politische Reform und eine neue Verfassung, die der Gesellschaft insgesamt, vor allem aber auch den Jüngeren, mehr Mitsprache und Mitentscheidung einräumt ● Problematisierung des Marktradikalismus und damit des Marktes als quasi alleinigem Mechanismus, der über Verteilung und Teilhabe in allen Bereichen des Lebens bestimmt, Arbeitsrechtsund Arbeitsmarktreformen

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● ●

Neubestimmung des Verhältnisses von öffentlichen und privaten Gütern, Ansprüchen und Rechten und damit des Verhältnisses zwischen Staat (Politik), Markt (Unternehmen) und Demokratie (Gesellschaft) Reflektion über die Institutionen und Verfahren des politischen Systems Debatten über Gleichheit, Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit in einer Marktgesellschaft, die zudem, wertkonservativ und autoritär, Säkularisierungs- und Modernisierungsprozesse argwöhnisch beäugt (Frauenemanzipation, Homosexualität, Abtreibung, Erziehung) Umwandlung von Konsumenten und Verbrauchern in Bürger

Im Jahr 2011 wurden durch die Mobilisierung der Studenten und anderer Protestgruppen, die ökologische, ethnische oder allgemeine soziale Konflikte thematisieren, die Forderungen nach politischen und ökonomischen Reformen omnipräsent. Der Reformbedarf – eine neue Verfassung und eine neue Politik Das politische Modell beruht auf der Pinochet-Verfassung mit dem binominalen Wahlrecht, das Stabilität bis zur Erstarrung garantiert, sowie einer Wahlkreiseinteilung, die dazu führt, dass im bevölkerungsarmen Süden des Landes etwa ein Zehntel der Stimmen für einen Parlamentssitz ausreichen, die in der dichtbesiedelten Hauptstadtregion nötig sind. Das Prinzip One (wo)man, one vote wird durch den Hinweis auf die gerechte Repräsentanz der Regionen in den nationalen Gremien praktisch beseitigt.

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Die Verfassung selbst begrenzt durch ein ausgeklügeltes Quotenrecht relevante Gesetzesänderungen und verlangt häufig 4/7 oder höhere Mehrheiten, die faktisch nur durch Einigung zwischen den beiden Blöcken zu erreichen ist, was zugleich der Minderheit eine Art Vetorecht verleiht. Geändert wurde Ende Dezember das Verfahren, nach dem jeder Wähler sich zunächst in das Wahlregister einschreiben musste. Wer sich einschrieb, musste, wer sich nicht einschrieb, konnte nicht wählen. Ca. 5,2 Millionen vom Alter her wahlberechtigte BürgerInnen werden jetzt erstmals bei den Kommunalwahlen im Oktober wahlberechtigt sein. (Zum Vergleich: an den letzten Wahlen beteiligten sich knapp 7 Mio. BürgerInnen von etwa 7,4 Mio. eingeschriebenen.) Es fehlt noch das Wahlrecht für Chilenen im Ausland, die bisher nicht wählen dürfen. Es steht zu vermuten, dass die neuen Wähler (soweit sie denn wählen werden) angesichts ihrer Altersstruktur (70 % unter 30 Jahren) eher modernen „jungen“ politischen Angeboten zuneigen als den behäbigen Altparteien. Der Ruf nach einer völlig neuen demokratischen Verfassung ohne den Geist der Pinochet-Diktatur wird immer lauter. Das gilt vor allem für die Abschaffung oder zumindest Modifizierung des binominalen Wahlrechts. Dazu kommt die Forderung nach mehr Beteiligungsrechten, z. B. Volksbefragungen und Volksabstimmungen. Auch die Gouverneure in den Regionen sollen gewählt und nicht mehr ernannt werden. Ein Parteiengesetz, öffentliche Parteienfinanzierung, mehr parteiinterne Demokratie, vielleicht eine 30-%-Quote für Frauen in der Politik, Primaries bei der Kandidatenauswahl und Begrenzungen von Amtszeiten für Parlamentarier und Senatoren – der Reformkatalog wird immer länger und

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zeigt, was sich alles in den 21 Jahren Demokratie an Unerledigtem aufgestaut hat. Gleichheit und soziale Gerechtigkeit Das ökonomische Modell der chilenischen Diktatur ruht auf der Säule der Unantastbarkeit des Privateigentums mit den Säulenheiligen „Markt“ und „Wettbewerb“ und wurde, kaum modifiziert, auch zum Modell der Concertacion-Demokratie. In kaum einem Land des Kontinents konnte der Marktradikalismus sich so hemmungslos durchsetzen wie in Chile. Dadurch durchlebte das Land im Rahmen radikaler marktwirtschaftlicher Freiheiten (und einer anerkannt niedrigen Korruptionsanfälligkeit) eine aktive Politik der Weltmarktöffnung (20 Freihandelsabkommen mit 57 Ländern) und einen tiefgreifenden Strukturwandel. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich verfünffacht, die von der Diktatur übernommene Armut von 40 % der Bevölkerung wurde auf unter 14 %, die absolute Armut auf 3 % verringert. Chile ist heute das Land mit dem nach Argentinien höchsten Pro-KopfEinkommen (16.000 US Dollar) Lateinamerikas. Die von der Diktatur hinterlassenen Ungleichheiten wurden jedoch kaum reduziert. Die erheblichen ökonomischen Erfolge mit exorbitanten Wachstumsraten begründeten Chiles Aufnahme in die OECD. Freilich werden damit die OECD-Staaten auch zur Referenz chilenischer Erfolge oder eben auch Misserfolge und Defizite. Die Concertacion-Regierungen konnten (und wollten) zumindest in den ersten beiden Wahl-Perioden 1990 bis 2000 als „konditionierte Demokratie“ unter der Bedrohung einer eventuellen Rückkehr der Diktatoren nur vorsichtige Änderungen

des Pinochet-Modells durchsetzen, zudem verfügten sie aufgrund der Pinochet-Verfassung und Wahlgesetzgebung nicht über eine für viele Reformen notwendige ZweiDrittel-Gestaltungsmehrheit in Senat und Abgeordnetenhaus, was zu permanenten Kompromissen mit der rechten Opposition zwang. Damit rechtfertigen die Oppositionsparteien (nicht immer wahrheitsgemäß) heute Versäumnisse oder Fehlentscheidungen aus ihrer Regierungszeit. Viele Fehlentwicklungen (z. B. im Bildungsbereich) sind dieser Zeit geschuldet, was die Kritik der heutigen Opposition an der aktuellen Regierung wenig glaubwürdig macht. Denn es gab auch keine große Bereitschaft, das ökonomische Modell zu ändern, da auch die Entscheidungsträger der Mitte-Links-Regierungen dem diskreten Charme neoliberaler Wohlstandversprechen erlagen, bald auch persönlich davon profitierten und die in den letzten Jahren steigenden Rohstoffpreise vor allem für Kupfer die Staatseinnahmen steigen liessen. Letzteres führte dazu, dass die Produktions- und Exportstruktur Chiles nicht groß verändert werden musste und auch nicht wurde. Das OECD- Land zeigt also weiterhin die typische Wirtschafts- und Exportstruktur eines Entwicklungslandes der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, bei dem der frühere Haupthandelspartner USA inzwischen durch den Kupferkonsumenten China abgelöst wurde. So ist der Export genau wie vor vierzig Jahren weiter durch Kupfer, andere Rohstoffe und nur gering verarbeitete Nahrungsmittel (Wein, Fisch und Meeresfrüchte) gekennzeichnet. Auch in anderen Bereichen zeigt das Wirtschaftsmodell die „erfolgreiche Unterentwicklung“, wie die internationale

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Presse spottet. Die völlig unzureichende Energiepolitik begrenzt die Wachstumshoffnungen. Die Pläne für fünf riesige Wasserkraftwerke im ökologisch sensiblen Patagonien plus ca. 2000 km lange Überlandleitungen („elektrische Autobahn“) provozieren seit über einem Jahr Zehntausende im ganzen Land zu massiven Protesten. Auch die Option für die Kernenergie will die Regierung des Erdbeben-Landes nicht ausschliessen, anlässlich des ObamaBesuchs in Santiago unterzeichneten Chile und die USA zur Jahresmitte 2011 (kurz nach Fukushima) ein Kooperationsabkommen zur Nuklearenergieentwicklung. Fehlende Regulierungen und Kontrollen in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft kratzen ebenfalls am Image des Wirtschaftsmusterlandes. Der Marktfetischismus der letzten bald 40 Jahre hat auch und gerade in Marktwirtschaften notwendige Kontroll- und Regulierungsmechanismen z. B. bei Banken und Kreditinstituten sträflich und oft wohl bewusst vernachlässigt. Mangelnde Regulierungsbereitschaft des Staates und unkontrollierter Wettbewerb führen bei gegebenen Machtstrukturen zu einem hoch mono- oder oligopolisierten Binnenmarkt. Dienstleistungen in Transport, Kommunikation, Infrastruktur, Energie, Wasser, Gesundheitswesen, aber auch der Handel sind in der Hand weniger privater Konglomerate. Politisch von erheblicher Bedeutung ist diese Konzentration vor allem für die von wenigen konservativen Finanzgruppen beherrschte Medienlandschaft bei Print (Zeitungen) und Fernsehen, die zudem durch Querverbindungen zu Banken, Finanzinstituten und anderen Unternehmungen ein solides Interessenkartell der traditionellen Wirtschafts- und Machteliten konstituieren.

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Das schlägt sich u. a. in einer extrem ungleichen Besitz- und Einkommensverteilung nieder, die Chile mit einem GiniIndex von etwa 0,52 zum OECD-Schlusslicht macht. Die Opposition hat, nachdem sie 20 Jahre regiert hat, jetzt den Kampf gegen „Ungleichheit“ und soziale Ungerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben. Die niedrigen Popularitätswerte der Oppositionsparteien belegen freilich ihr Glaubwürdigkeitsdefizit. Politische Konjunktur und Perspektiven Auch nach zwei Jahren Regierungszeit bleibt das Kabinett und das heißt vor allem der Präsident eine kohärente politisch-progammatische Agenda schuldig. Es fehlt eine sinnstiftende „konservative Erzählung“, die das Regierungshandeln systematisieren und strukturieren (und so auch erklären) könnte. Der Präsident ist eher „Ankündigungspräsident“ als Umsetzer und Entscheider, er nimmt seine Führungs- oder Moderationsfunktion gegenüber seiner ideologisch zunehmend zerstrittenen Regierungskoalition kaum wahr. Seine Popularität liegt unter 30 %. Der nahezu „monarchische“ Präsidentialismus in Chile macht „Regierungshandeln“ zu „Präsidentenhandeln“. Der Unternehmer-Präsident Piñera, der eine „neue Form des Regierens“ versprochen hatte, agiert innerhalb des marktradikalen Politikverständnisses teilweise wie der Generaldirektor der Chile AG und behandelt seine Minister wie Abteilungsleiter oder Geschäftsführer. Dass einige von ihnen das auch waren, erleichtert den Regierungsparteien, die sich nicht hinreichend repräsentiert sehen, ihre Kritik an ihrer eigenen Regierung. Das zunehmend von Medien,

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Bürgern und (auch befreundeten) Politikern kritisierte Präsidentenhandeln stellt sich dar als Addition isolierter Einzelmaßnahmen, es wird eher reagiert als regiert, Kohärenz wird auch nicht durch den grundsätzlich wirtschaftsfreundlichen konservativen Grundtonus erreicht. „Es ist einfach eine schlechte Regierung, ohne Konzept, ohne Begründung, ohne Ziel“ so das vernichtende Urteil einiger Kommentatoren. Der sich schon in den ersten Regierungswochen andeutende Konflikt um die Redefinition eines (inzwischen in Diskurs und Praxis verschwundenen) „demokratischen modernen Konservatismus“ gegenüber der traditionellen – mitunter auch reaktionären – Rechten betrifft inzwischen fast jedes Thema, die Bildungspolitik, die Steuerreform, den Umgang mit der Opposition, das Vorgehen der Polizei usw. usw. Die sinkende Popularität der Regierung nutzt der Opposition bisher wenig (Ablehnung über 70 %, nur 13 % Akzeptanz). Auch wenn einzelne politische Konfliktfelder im Vergleich zum Vorjahr geschlossener und entschiedener aufgegriffen und durchgesetzt wurden, fehlen weiterhin klare programmatische Orientierungen, politische Führung, entschiedene Alternativen gegenüber der Regierungspolitik und – angesichts der Versäumnisse in den 20 Jahren der Concertacion-Regierungen – vor allem Glaubwürdigkeit. Personelle Eitelkeiten beim Gerangel um Startplätze beim Kandidatenrennen für die Präsidentenwahlen 2013 und eine noch nicht definitiv gelöste Bündnisstrategie der Opposition bei den Kommunalwahlen 2012 verhindern realistische Hoffnung auf eine baldige Stärkung des fortschrittlichen Lagers. Die neue Partei PRO des Concertacionsdissidenten Marco Enriquez Ominami (MEO), der bei den letzten Wahlen sensa-

tionelle 20 % erzielte, ist inzwischen legalisiert und MEO selbst ist in Umfragen nach Expräsidentin Bachelet (ca. 65 %) der einzige Oppositionspolitiker, der deutlich vor allen anderen (auch Regierungs-)Politikern liegt. Statt programmatischer Debatten zerstreiten sich die Parteien der ehemaligen Concertación darüber, ob es das Parteienbündnis noch gibt, noch geben sollte oder ob nicht vielmehr eine völlig neue MitteLinks-Allianz (die auch die Partei Pro, die Kommunisten und andere kleinere Gruppen integriert) das neue Oppositionsbündnis für Kommunal- und Präsidentschaftswahlen bilden sollte. Die eher konservativen Gruppen in den linken Parteien insistieren trotz der dramatischen Umfragewerte auf den Fortbestand der Concertación, halten auch programmatische oder personelle Erneuerungen für nicht vorrangig, da sie auf die unschlagbare Zugkraft der Expräsidentin Bachelet als Präsidentschaftskandidatin 2013 setzen. Die eher Establishment kritischen Gruppen in diesen Parteien definieren ihre Politikziele nicht ausschließlich als Machterwerb und Wahlsiege. Sie beharren – zumal vor dem Hintergrund der sozialen Bewegungen in den letzten Monaten – auf einer Neubestimmung der politischen Inhalte, Ziele und Verfahren. Sie sind dabei, eine Reformagenda aufzustellen, die verloren gegangenes Vertrauen und Glaubwürdigkeit beim Wahlvolk zurückgewinnen soll und auch neue Brücken zur Zivilgesellschaft errichten möchte. Zu dieser Agenda müsse sich auch Bachelet verhalten, wenn sie denn überhaupt ihr Amt als Chefin der UNO-Frauenorganisation in New York aufzugeben bereit ist und von den kritischen Gruppen ebenfalls als Kandidatin akzeptiert werden soll.

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Expräsidentin Bachelet ist mithin die große permanent anwesende Abwesende, weil ihre weiterhin außerordentliche Popularität das wichtigste Spiel der chilenischen Politik – wer wird Präsident(schaftskandidat) – entscheiden könnte. Eine Bevölkerung in Bewegung Die Schwäche der politisch-parlamentarischen Opposition wird freilich kompensiert durch die neben und mit der Studentenbewegung wachsende „soziale Opposition“ der verschiedenen Issue-Bewegungen. Am ruhigsten waren dabei die Gewerkschaften. Zu Beginn eher distanziert, gibt es inzwischen eine vorsichtige Annäherung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT an die Studenten mit zwei Generalstreiks, bei denen Gewerkschaftsund StudentenführerInnen Arm in Arm an der Spitze marschierten. Für das katholische Chile nachgerade ein Kulturbruch sind die Massenmobilisierungen, bei denen z. B. 40.000 Schwule, Lesben, Heteros, ganze Familien mit ihren Kindern, Omas mit selbstgemaltem Schild „Mein Enkel ist gay und ich unterstütze ihn“ für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften demonstrierten. Auch die Frauen mobilisieren mit ihren Forderungen nach Selbstbestimmung und gleichberechtigter politischer Teilhabe Tausende. Unter Bachelet leicht verbessert, ist die Präsenz von Frauen in Wahlfunktionen jetzt beschämend gering: Es gibt nur 5 Frauen unter 38 Senatoren, 18 unter 120 Abgeordneten; nur 43 Frauen unter 345 Bürgermeistern, 493 von 2.140 Stadtverordneten und nur 4 Frauen von 22 Ministern. Bei Regionalkämpfen wie in Magallanes im Jahr 2011 oder just im März 2012 in

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der Region Aysen, beide im tiefen Süden des Landes, legten die Wutbürger etliche Tage lang die Provinzen lahm, um auf konkrete Probleme der Energiekosten, der Küstenfischerei und auf die grundsätzlich strukturelle Vernachlässigung und Benachteiligung der Provinzen aufmerksam zu machen. Die Studenten haben gezeigt: „Opposition ist machbar, Herr Nachbar“, Lkw- und Taxifahrer, Handelskammern und regionale Senatoren, Gewerkschafter, Nachbarschaftsvereinigungen, Bauernverbände – kurz, die „Leute“, die BürgerInnen, oder „das Volk“ war sich einig wie nie: „Dein Problem ist mein Problem“. Schon seit 2010 artikulieren sich die Proteste der Mapuche-Bevölkerung, die mit Hungerstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen auf ihre jahrzehntelange Unterdrückung und Entrechtlichung verweisen. Umweltschützer mobilisieren landesweit Zigtausende zum Protest gegen die geplanten fünf Staudammprojekte in Patagonien, die von 70 % der Bevölkerung abgelehnt werden. Ob die mächtigen Interessen an den milliardenschweren Investitionen siegen über das umfassende (auch international verbundene) Netzwerk „Patagonia sin represas“ von bald 80 NGOs, Öko-Gruppen und Bürgerbewegungen, bleibt abzuwarten. Kurz: Die bisher eher auf Ausgleich und Konfliktvermeidung bedachte autoritäre politische Kultur des Landes wird durch die Massenproteste entschieden verunsichert, zentrale Bedeutung haben dabei weiterhin die Studentenaktionen, die regionalen Proteste aber gewinnen an Zahl, Heftigkeit und an geographischer, thematischer und sozialer Breite. Der Versuch der politischen Parteien, sich an ihre Spitze zu setzen, wird als durchsichtige Instru-

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mentalisierung entschieden abgewehrt („El pueblo unido avanza sin partido“: Das vereinte Volk schreitet voran ohne Partei). Unabhängig vom konkreten Inhalt (Bildung, indigene Rechte, Ökologie, Gender) offenbart die Massivität des Protestes die offene Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Politik, mit den für postdemokratische Gesellschaften typischen Verlusten an Glaubwürdigkeit, Bindungskraft und Führungsvermögen der politischen Parteien. Chile ist überraschend zu einem Laboratorium sozialer Dynamik geworden, dessen Ergebnisse auf dem ganzen Kontinent gespannt verfolgt werden. ●

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THE INDIGNADOS AND THE COLLAPSE OF THE SPANISH PROGRESSIVE MAJORITY By David Lizoain Bennett, International and European Secretary of the Socialist Youth of Catalunya ( JSC)

“The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born; in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.” – Antonio Gramsci Alfredo Pérez Rubalcaba , PSOE’s candidate in the disastrous November 2011 elections, narrowly won the race to succeed José Luis Rodríguez Zapatero as Secretary-General of the Party at its 38th Congress in Seville in February of 2011. Rubalcaba who has been in the front-line of Spanish politics for over twenty years, defeated Carmé Chacon, the Catalan politician who following a meteoric rise served as Zapatero’s housing and later defence minister. The race was partly portrayed as contest between Felipe González’s old guard (supporting Rubalcaba) and Zapatero’s inner circle (supporting Chacon). Having both served loyally in Zapatero’s cabinet, neither candidate could make a credible claim to be the candidate of party renewal. In spite of the intense internal struggle for the reins of the

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party, the candidates mostly avoided conflict on the programmatic terrain. The party programme represents a continuation of Rubalcaba’s election manifesto, which in part broke with Zapatero’s record in office without elaborating a credible project. PSOE is stuck in a rut, and it continues to see its support diminish in the polls in spite of Mariano Rajoy’s PP government commanding historically low levels of approval for the start of a mandate. For now, PSOE appears to have fallen under the spell of wishful thinking, counting on the tendency for governments to alternate rather than working on designing a new alternative. Like a Communist party preaching the inevitability of revolution and ignoring the question of agency, large swathes of PSOE appear to count on the PP losing popularity as the crisis worsens and thus being returned to power in the near future: what goes up must come down, they say. This ignores the fact that PSOE has lost credibility amongst huge segments of

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the population and will have to engage in serious reflection and renewal if it intends to win them back. This process will have to be carried out in a situation of near-total exclusion from government at all levels. The PP swept the regional and local elections last May, won a convincing majority in the state-wide elections of November, and only narrowly lost the recent elections Andalucia, which has been a socialist stronghold since the return of democracy. The recent historical record shows that, unfortunately, when the PP manages to take over government (especially at the regional level) it is almost impossible to subsequently dislodge. Spain is moving to the hegemony of one party, the Partido Popular. On the media front, the PP can be expected to embed its partisans in the public broadcasting services; three months into their term of office, Público, the left-wing newspaper emblematic of Zapaterism, has already shut its doors. With its super-majority in the Senate, the PP is now able for the first time to unilaterally name a majority of judges to the Constitutional Tribunal, which bodes poorly for the independence of the judiciary. Already we are witnessing how abuses of power by prominent PP politicians, bankers, and the King’s son-inlaw are going unpunished. Meanwhile, the PP continuing to push forward austerity, while also rolling out a profoundly regressive labour reform that will profoundly undermine the right to bargain collectively and is expected to generalize situations of precariousness across the labour force. Unemployment continues to rise, youth unemployment is close to breaching the scandalous 50 % threshold, and the national mood is one of pessimism and worry. A strong opposition with a strong alternative is needed but absent be-

cause the progressive majority has broken down. The indignados are the maximum expression of this reality. The PP now governs almost everywhere in spite of any tremendous surge of enthusiasm for them; they only increased their votes by about 550,000 in November, obtaining a total lower than the votes Zapatero garnered in 2008. The biggest factor in the 2011 Spanish election was the collapse in the PSOE vote, which fell from over 11 million to just under 7 million. PSOE lost more than one in three voters. Some of these voters went over to smaller parties on the left (~700,000 to the United Left, ~200,000 to the new Green party, Equo), but most stayed home. There were already many rumblings of discontent, but the indignados made their definite appearance in a series of protests called by the group Democracia real YA (Real Democracy NOW – DRY ) on the 15th of May, spawning the 15-M Movement. These protests transformed into the occupations of public squares across Spain, most notably in the case of the Acampada Sol in the Puerta del Sol in Madrid, creating a series of popular assemblies across the country. DRY presented a manifesto and a series of demand that can be divided into two blocs. DRY called for a series of socio-economic changes: more jobs, more access to housing, better public services, a reduction in military spending, progressive tax reform, and a greater control over the banks and the financial sector. They also called for an elimination of the privileges of the “political class”, more direct democracy, digital liberties, and an end to Spain’s electoral system, which heavily favours the two large parties. They mobilized against bankers and politicians simultaneously.

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The participants in the various assemblies comprised an incredible diversity. The movement, or movement of movements, is plural. They included members of newer organized groups (DRY, Juventud Sin Futuro, No Les Votes), collectives associated with the anti-war or anti-globalization coalitions, more established political actors (anarchists, communists, etc.), trade union activists, as well as a smattering of socialist voters there in an independent capacity. But in large part the assemblies were notable for their spontaneous composition, testament to the incredible mobilizing capacity of social media. It is worth noting that while the protesters occupying the squares had their own particular social characteristics, the movement enjoyed widespread support on the part of the Spanish population, especially amongst the PSOE electorate. Anger at the economy and the political system is generalized, as undemocratic austerity policies take their toll. On May 20th, the Acampada Sol approved its first list of proposals, which largely echoed the demands of DRY. It is relevant that their first demand was for a change in the electoral law so as to create a single national electoral circumscription and open party lists. Spain’s electoral system is biased against smaller parties (most notably the Communists who now lead United Left) and favours regional nationalist parties. Again, the demands of the Assembly could be largely divided into those of a socioeconomic nature and those calling for democratic renewal and an end to corruption. On May 22nd, the Partido Popular swept to power at the regional and municipal level in Spain, as former PSOE voters displayed the same behaviour they would in the general elections in November.

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On May 25th, the Acampada Sol approved its consensus of minimums around four points: 1) Electoral reform, 2) the fight against corruption, 3) the separation of public powers, and 4) the creation of new mechanisms of citizen control. The Assembly was not able to agree on an economic programme and other questions (the monarchy, the federal nature of Spain, the relationship between Church and State). After a summer filled with incidents, notably large demonstrations against the Pact for the Euro, the next big success for the indignados were the protests of the 15th of October (15-O), where they proposed taking their struggle to the global level and inspired a wave of protest. This forms part of a successful interplay of movements in what has been called the global democratic uprising, of which the Arab Spring, the indignados, the Occupy Movement, the protesters in Syntagma square, the Chilean students, etc. all form a part. The movement mostly went quiet (while continuing its work in assemblies at the local level) over the fall and winter of 2011. An excess of police brutality against Valencian high school students protesting against cutbacks led to another wave of mobilization this past February, and there are rumblings of more to come. It should not come as any surprise to see frustrated Spanish youth take to the street once more. In the immediate future, it is unlikely that the indignados achieve either their socio-economic goals or their goals for democratic renewal. In the place of a PSOE that reluctantly carried out cuts and a neoliberal agenda imposed from Europe, they get a PP that will pursue this agenda wholeheartedly. Those that wanted an end to austerity will see its intensification. The already underfunded Spanish welfare state (a

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consequence of low levels of tax collection with respect to the European average) is at risk of being privatized. With regard to the basic demand for a change in the Electoral Law, the movement runs into even greater obstacles. This change would require a change in the Constitution, which would have to be supported by the two major parties – the parties that most benefit from the current law. It is difficult to see how this might be brought about, and this will only further exacerbate Spanish democracy’s crisis of legitimacy. A negative feedback loop has emerged where disenchantment with PSOE and the indignados have played off one another and led to a fragmentation of the Spanish left. In the short run, neither the indignados nor PSOE will see Spain evolve in the direction they would like. The PSOE is in a weakened position (as it lacks almost all institutional ability to act as a counterweight) and has a rather tarnished record of government over the course of the last mandate. It runs the risk that true opposition to the PP will materialize in the streets, as the social cuts deepen. There is the possibility of PSOE’s already tattered credibility disappearing for a generation, especially in a context where the country is on the brink of requiring a bail-out and with the remote possibility of the break-up of the euro and the return of the peseta on the horizon. In this context of social crisis, the polls show that the interest young people express for politics is increasing. However, this rise is matched by a disinterest in traditional party structures and mechanisms. A generation of young activists is emerging at the same time as PSOE’s base is being hollowed out. There is plenty of work to be done to open up the party to the energy, ideas,

ambition and activists that the indignados represent. For the youth wings of PSOE ( JSE) and its affiliated party in Catalonia, the ability to connect with the indignados is at present limited, even if our demands do not necessarily diverge widely on the programmatic level. The horizontal, non-hierarchical structure of the assemblies makes it difficult to negotiate directly (even if many members of our organizations have participated). We are generally dismissed as being too obedient to the parent parties (and worse, the parties in government), and as representing old politics in general. My view is that we need to reclaim our transformative vocation and cultivate a more visionary direction if we wish to have any sort of relevance whatsoever. If we limit ourselves to opposing the concrete measures of the PP government, we will always be one step behind; likewise, if we limit ourselves to defending a progressive variant of the party’s status quo, our contributions will remain insufficient. Concretely, as the coordinator of draft political text that we will be debating at our JSC National Congress at the end of March, I have submitted an amendment which will see us debate whether or not it is desirable to call for a Constituent Assembly: in other words, for a break in the constitutional order. In the absence of consensus on the part of the two major parties (something that was thought almost impossible until the PSOE and PP agreed on a debt brake this past August), constitutional reform is impossible. Spain’s crisis is only getting worse at the same time as the PP is strengthening their institutional grip. The current regime suits them fine. In some of the popular assemblies, they have already begun to call for a Constituent

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Assembly. I think the demand for a constitutional tabula rasa, for an institutional reset, (almost unthinkable to the PSOE old guard which presided over the transition to democracy) could help structure a new progressive majority. Spain’s problems are so profound at this point that it is difficult to see a way out. The separation of powers and the independence of the judiciary are at risk, like in Hungary. The economic situation is such that either we follow the example of Iceland or we will follow the path of Greece. Nationalist demands of all sorts are on the rise (this is especially relevant here in Catalonia), and will be hard to address without a new federal model. I am of the opinion that either we can either work to create a new order or end up as an obsolete remnant of the old. Young people in Spain do not remember the dictatorship and do not identify with the anti-Franco struggle and the ensuing transition. Born into a more democratic, more social, more prosperous Spain, they are seeing these achievements vanish without having any intrinsic loyalty to the status quo, since it was something given rather than won through struggle. If the economic crisis is teaching young Spaniards to expect nothing, our politics should be one that reminds them that everything is up for grabs. �

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„ZEITGEIST REVOLUTION“ – JUGENDPROTESTE IN ISRAEL UND PALÄSTINA Von Christoph Dinkelaker, Journalist und Projektkoordinator im Willy Brandt Center Jerusalem

2011 protestierten Millionen Menschen von Marakesch bis Sanaa gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung. Der Kampf für Selbstbestimmung, Mündigkeit, persönliche und kollektive Freiheiten wurde nicht zuletzt von der Jugend getragen, die das in Europa vorherrschende Bild vom „trägen demokratieunfähigen Orient“ konterkarierten. Auch wenn auf die Monate der Euphorie und Hoffnung, die mit dem Sturz der Diktatoren in Ägypten und Tunesien ihren Zenit erreichten, schwerwiegende Verwerfungen, Ernüchterung, chaotische Zustände und skeptisch beäugte Regime folgten, kann die Bevölkerung mit Stolz auf einige Errungenschaften verweisen: Durch ihr Aufbegehren hat die Interaktion zwischen der Staatsmacht und den Bürgern zugenommen, Ungerechtigkeiten werden nicht mehr hingenommen, die Herrschenden müssen mit massivem zivilen Widerstand rechnen.

Auch an Israel und Palästina wehte der Wind des Wandels, der in entlegenen Plätzen wie Sidi Bouzid oder Mahalla Al Kubra Fahrt aufnahm, nicht spurlos vorbei. Zwar hallte über den Rothschild-Boulevard in Tel Aviv oder den Manara-Platz in Ramallah nicht die anderorts allgegenwärtige Forderung „Ash-shab yurid isqat annizam“ („Das Volk fordert den Fall des Regimes“), dennoch waren die Proteste und Slogans in Israel und Palästina unverkennbar von den Umwälzungen in Nordafrika inspiriert. Ha'am Doresh Tzedek Hevrati – Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit Die israelische Regierung um Ministerpräsident Benyamin Netanyahu verfolgte die Umbrüche in der Arabischen Welt ob der Furcht, dass radikalere Kräfte die autoritären regierenden Regime ablösen und hierdurch bestehende Friedensverträge gefährdet werden könnten, mit großer Skepsis. Innerhalb der Bevölkerung vermisch-

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ten sich diese zum Teil geschürten Ängste mit Bewunderung für den Mut, den die Menschen in den Nachbarländern aufbrachten, um autoritäre und ungerechte Systeme zu überwinden. Insbesondere die Geschehnisse in Kairo ermutigten junge Menschen in Israel, Ungerechtigkeiten im eigenen demokratischen System entgegenzutreten. „Tel Aviv, Yafo und Kairo! Wir kämpfen für die gleiche Sache!“ Was mit ein paar kleinen Protestzelten im Herzen Tel Avivs begann, entwickelte sich zur größten sozialen Bewegung Israels seit vier Jahrzehnten. Hunderttausende gingen im Sommer 2011 auf die Straßen, um gegen die Sozialpolitik der Regierung zu protestieren. Vor allem die überproportional gestiegenen und fast unbezahlbaren Mieten, aber auch die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung und des Bildungssystems hatten die Proteste ausgelöst. Die Erfahrung des kollektiven Protests führte zu einer wesentlichen Veränderung der politischen Selbstwahrnehmung der israelischen Gesellschaft und insbesondere der Jugend. Eine als apolitisch beschriebene junge Generation machte die Erfahrung, dass sie gemeinsam aus der politischen Ohnmacht ausbrechen und etwas verändern kann. Was mit dem Protest gegen steigende Preise für Hüttenkäse begann, mündete schließlich in der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und einem gerechten Sozialstaat. Der enttäuschenden und unzureichenden Reaktion der Regierung zum Trotz bedeutete diese Erfahrung für viele junge Israelis ein politisches Erwachen.

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„Das Volk fordert ein Ende der Nationalen Spaltung“ Von der Weltöffentlichkeit kaum bemerkt, verharrte auch die palästinensische Bevölkerung nicht lange in der bewundernden Zuschauerrolle. Sowohl im Hamas-regierten Gaza-Streifen als auch im von der Fatah dominierten Westjordanland und in Ostjerusalem entwickelte vor allem die Jugend Anfang 2011 Initiativen, um innerpalästinensische Missstände anzugehen. Sie errichtete Zelte auf den Hauptplätzen von Gaza-Stadt, Ramallah und anderen Städten und forderte während Demonstrationen ein Ende des den politischen Prozess lähmenden Konflikts zwischen den beiden Machtpolen Hamas und Fatah. Deren Führungsfiguren reagierten schließlich auf den Druck und kündigten „nationale Einheitsgespräche an“, die bis dato andauern. Auf der Kommunalebene entstanden Graswurzelprojekte wie die Initiative „Jugend für Jerusalem“: Junge Palästinenser engagierten sich in diesem Forum, indem sie etwa Altenheime besuchten oder den Müll auf den von der Kommunalverwaltung vernachlässigten Straßen Ostjerusalems einsammelten. Sehr viel mehr Beachtung erfuhren indes die gewaltsam aufgelösten Proteste an der israelisch-libanesischen Grenze sowie auf den Golanhöhen anlässlich des Tages der Nakba (arab. Katastrophe). „Zeitgeist Revolution“ – Die Jahreskonferenz des Willy Brandt Center Auch das von den Jusos im Lichte der Friedensverträge von Oslo 1996 mitgegründete Willy Brandt Center in Jerusalem setzte sich intensiv mit den Umwälzungen in der

„Zeitgeist Revolution“ – Jugendproteste in Israel und Palästina Argumente 1/2012


Arabischen Welt sowie mit den sozialen Protesten in Israel 2011 auseinander. Das auf der Waffenstillstandslinie zwischen Ost- und West-Jerusalem gelegene Zentrum dient jungen linken, progressiven Kräften aus Israel, Palästina und Deutschland – allen Krisen und Kriegen der letzten Jahre zum Trotz – als Ort der Begegnung und der politischen Kooperation. Es war der ausdrückliche Wunsch der politischen Partner des Willy Brandt Center, die bahnbrechenden Veränderungen in der Region im Rahmen einer Jahreskonferenz aufzugreifen. Schließlich hatten viele junge Aktivisten von Young Labor, Meretz und Fatah sowie die Partner innerhalb der internationalen Falkenbewegung während der Proteste in Israel und Palästina eine tragende Rolle gespielt. Unter dem Motto „Zeitgeist Revolution“ diskutierten mehr als einhundert junge Menschen aus Europa, Israel und Palästina in Jerusalem über die sozialen Umwälzungen des vergangenen Jahres. Grußworten des deutschen Botschafters in Israel, Andreas Michaelis, sowie von Andrea Nahles und hochrangigen Vertretern von Fatah, Meretz und Avoda folgten zunächst intensive Podiumsdiskussionen zu den regionalen Umbrüchen. Anschließend wurden während Workshops in Kleingruppen die Relevanz sozialer Medien, die Rollen von Frauen während der Proteste, die Forderungen der Protestbewegung sowie der Einfluss parteipolitischer Gruppen auf den Verlauf der Geschehnisse diskutiert. Zur Rolle sozialer Medien Die Diskussionsteilnehmenden des Medienworkshops stimmten überein, dass soziale Medien halfen, Informationen zu verbreiten und eine internationale Öffent-

lichkeit zu erreichen. Gleichzeitig wurden diese Medien aber für viele AktivistInnen zum Risiko, da sie etwa durch Online-Veröffentlichungen in den Fokus des Regimes gerieten. Auch in der Vergangenheit wurden „neue“ Medien als Werkzeuge in Revolutionen und Protesten eingesetzt, von Telegrafen über Radio, Fernsehen und Mobiltelefone. Das eigentliche Geschehen finde aber immer noch außerhalb des Internets statt, auf der Straße und den Plätzen und unter Beteiligung von Menschen, die keinen Anschluss an soziale Medien haben. Die Bedeutung dieser Medien insbesondere für junge Menschen sei dennoch nicht zu unterschätzen. Das Internet sei mehr als eine virtuelle Welt und stehe in Wechselwirkung mit dem politischen Geschehen. Die Teilnehmenden hielten es für sinnvoll, Facebook zu nutzen, um die eigene Meinung und die ihrer Organisationen zu verbreiten, um Aktivitäten außerhalb von Facebook anzuregen, zum Beispiel zur Mobilisierung für Veranstaltungen oder für Kampagnen. Sie sahen darin außerdem die Chance, unterschiedliche Meinungen und Kulturen kennenzulernen. Gleichzeitig appellierten sie an einen vorsichtigen Umgang mit sozialen Medien. Mit der Preisgabe von persönlichen Informationen und Meinungen sollte bedacht umgegangen werden. Frauen und die Proteste Im Workshop zur Rolle von Frauen während der Proteste konstatierten die Diskutierenden eine anfängliche starke Präsenz des weiblichen Geschlechts. Ob in Ägypten, Jemen oder Israel beteiligten sich Frauen aktiv und sichtbar an vordersten Front: Daphni Leef, die Initiatorin der

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Zeltstadt Tel Avivs, und die jemenitische Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Karman, seien nur die prominentesten Beispiele. Im Laufe der Zeit hätten jedoch männliche Führungsfiguren die weiblichen Aktivistinnen von den Schauplätzen der Proteste und damit auch aus der öffentlichen Wahrnehmung zurückgedrängt. Bezugnehmend auf ihr eigenes politisches Engagement diskutierten die jungen AktivistInnen mögliche Instrumente, die Frauen eine bessere Beteiligung in politischen Prozessen ermöglichen könnten. Sie forderten unter anderem schärfere Antidiskriminierungsgesetze und Quoten zur Stärkung von Frauen. Durch Bildungsarbeit könnten junge Frauen und Männer für diese Fragen besser sensibilisiert werden. Außerdem müssten sich politisch und gesellschaftlich engagierte Frauen vernetzen und gegenseitig unterstützen. „Highway to Revolution“ Mit der Frage nach den genauen Forderungen der Proteste beschäftigte sich der Workshop „Highway to Revolution – Demands of the Protests“ mit Fokus auf Ägypten, Israel und Spanien. In der Diskussion überwog die Ansicht, dass die Proteste nirgendwo „apolitisch“ waren, auch wenn sie es aufgrund der Distanz zu etablierten politischen Akteuren oft behaupteten. Jenseits dessen unterschieden sich die Adressaten der Proteste je nach Land erheblich. Wurde in Ägypten ein autoritäres System gestürzt, richteten sich die Proteste in Israel und Spanien an etablierte demokratische Systeme, deren Beteiligungsoffenheit jedoch in der Kritik steht. Junge Menschen spielten überall eine wichtige Rolle in den Protesten, allerdings wurde ihre Rolle teilweise durch ihre stärkere

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Medienaffinität noch über das reale Maß hinaus überzeichnet. Sozioökonomisch betrachtet waren die Protestierenden sehr heterogen. „You gotta fight for your right to party” Mit dem Verhältnis zwischen Protestbewegungen und politischen Parteien befasste sich der Workshop „You gotta fight for your right to party“. Parteien und soziale Bewegungen waren oftmals eng mit einander verschränkt, so der Tenor der Diskussion. In Deutschland stand beispielsweise die Sozialdemokratie an der Seite von Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung. Doch das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Parteien sei nie spannungsfrei und seit Jahren verstärke sich der Trend, dass Parteien bei Protesten nicht mehr willkommen sind – so auch bei den Revolutionen in der arabischen Welt, in Israel bei den Zeltprotesten oder aktuell auch bei der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Die DemonstrantInnen verstünden sich in Abgrenzung von den etablierten Parteien als unpolitisch. Übereinstimmend stellten die AktivistInnen fest, dass die Protestbewegung nicht für politische Zwecke und Richtungen ausgenutzt werden wollte, gleichzeitig jedoch politische Forderungen stellte. Parteienverdrossenheit oder gar Politikverdrossenheit sei ein sichtbares Merkmal der sozialen Proteste 2011, das einer ernsthaften Auseinandersetzung bedürfe. Die Proteste beanspruchten eine neue Form der Basisdemokratie zu praktizieren. Die Parteien müssten diese Bedürfnisse der Menschen nach Partizipation ernst nehmen und daraus Konsequenzen ziehen. Die Workshopteilnehmenden stimmten überein, dass ein Wandel nur innerhalb

„Zeitgeist Revolution“ – Jugendproteste in Israel und Palästina Argumente 1/2012


eines Systems mit festen Institutionen und Parteien, die eine Gesellschaft organisieren, möglich sei. Darüber hinaus müsse das Bildungssystem gestärkt werden, damit die Bevölkerung mehr über Politik und Partizipation erfahre. Junge Menschen sollten dabei besonders beachtet und in politische Strukturen eingebunden werden. Sie seien die treibenden Kräfte der Erneuerung in Institutionen und stellen eine der wichtigsten Verbindungen zur Gesellschaft dar. Abschließend stellten die Teilnehmenden die Forderung auf, dass Parteien, um Teil der Bewegungen zu sein, klar und einfach in ihren Botschaften sein sollten. Offenheit gegenüber neuen Personen und Inhalten seien dabei genauso wichtig wie Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit. Generell überwog die Einschätzung, dass die Proteste einer dauerhafteren Struktur bedürfen, um erfolgreich zu sein.

und der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. ●

Das Willy Brandt Center – am Puls der Zeit Die Jugendproteste in Israel und Palästina haben in den vergangenen Monaten an Dynamik eingebüßt, das öffentliche Interesse ist gesunken. Die 2011 durch den Arabischen Frühling sowie die Sozialproteste freigewordene Energie ist jedoch nicht verloren gegangen. Im Gegenteil versuchen die jungen AktivistInnen aus dem allgemeinen Gefühl von sozialer Ungerechtigkeit und politischer Ohnmacht konkrete inhaltlich-konzeptionelle Forderungen und Handlungsinitiativen zu entwickeln. Für den Sommer sind erneut größere Proteste geplant. Nicht zuletzt die Partner des Willy Brandt Center nehmen bei der Organisierung der Aktivitäten eine tragende Rolle ein. Das Zentrum dient ihnen dabei als wichtiger Ort der Vernetzung

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„JUNG, LEDIG SUCHT“ – ARABISCHE JUGENDLICHE KÄMPFEN FÜR SOZIALE UND KULTURELLE VERÄNDERUNGEN1 Von Kristian Brakel, Senior Political Analyst für den Nahen Osten und Nordafrika bei Crisis Action

Die Umbrüche des „Arabischen Frühlings“ waren zuallererst ein Aufbegehren der arabischen Jugend. Auch wenn sich der Kreis der Protestierenden inzwischen in allen betroffenen Ländern vergrößert hat und Menschen jeden Alters auf die Straße gingen und gehen, sollte daran erinnert werden, dass es anfangs vor allem junge Menschen waren, welche die Aufstände auslösten und später auch anführten. Es war der Selbstmord des 27-jährigen Muhammed Bouazizi in Tunesien und der Mord am 28-jährigen Khalid Said in Alexandria, die zu Symbolen der Aufstände wurden. Es waren die jungen, meist gut gebildeten Aktivisten von Bewegungen wie dem „6. April“ oder der „Bürgerkoalition der revolutionären Jugend“, die in Ägypten oder im Jemen die Proteste ins Rollen brachten und sie bis heute

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am Leben erhalten. Es waren auch die unterprivilegierten, arbeitslosen Jugendlichen (die sogenannten wilad sis) aus den vielen informellen Vierteln Kairos, die ausgerüstet mit klapprigen Motorrädern die Straßenschlachten anführten oder Verwundete vor Polizei und Militär in Sicherheit brachten. Mit 95 Millionen jungen Menschen unter 24 Jahren hat die arabische Welt einen der höchsten Bevölkerungsanteile an Jugendlichen weltweit. Trotz der Verschiedenheit der arabischen Staaten ist die Lage – mit Ausnahme der reichen Golfstaaten – überall ähnlich: We1 Dieser Text erschien zuerst im Sammelband Arabische Zeitenwende. Aufstand und Revolution in der arabischen Welt. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2012. Wir danken dem Autor und der Bundeszentrale für politische Bildung für die freundliche Nachdruckgenehmigung.

„Jung, ledig sucht“ – Arabische Jugendliche kämpfen für soziale und kulturelle Veränderungen Argumente 1/2012


gen hoher Arbeitslosigkeit sind junge Menschen trotz steigender Bildungsraten oft vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen. Politische und gesellschaftliche Mitsprache wird ihnen durch autokratische Strukturen und versteinerte Traditionen verwehrt. Doch mehr und mehr entwickeln sich Subkulturen, schaffen sich Jugendliche ihre Freiräume und proben damit im Offenen und Verborgenen den Aufstand gegen die Regimes. Dies tun sie nicht nur auf den Tahrir-Plätzen in Kairo oder Sanaa, sondern auch bei Heavy-Metal-Konzerten, Parteigründungen, islamischen Fernsehshows oder als Graffitikünstler. Jugend im wirtschaftlichen und sozialen Abseits Jugend als eigene Lebensphase entstand erst mit der Industrialisierung in Europa. Die Trennung des Arbeitsplatzes von der häuslichen Sphäre brachte erstmals einen Lebensabschnitt hervor, der sich sowohl von Kindheit als auch vom Erwachsensein unterschied. In vielen Ländern der arabischen Welt, die nach wie vor von großen wirtschaftlichen Disparitäten, einem starken Stadt-Land-Unterschied und einem Geschlechtergefälle gekennzeichnet sind, entstand Jugend als eigene Lebensphase erst mit der Einführung des allgemeinen Zugangs zur Schulbildung. Obwohl die sozioökonomischen Unterschiede andauern, ist zu beobachten, dass sich in der Mittelschicht eine Jugendphase nicht nur etabliert hat, sondern auch altersmäßig immer weiter ausdehnt. Der Anteil von jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung der arabischen Länder ist hoch. Einige der weltweit jüngsten Bevölkerungen finden sich in Ländern wie dem Jemen (Durchschnittsal-

ter 17 Jahre), in den Palästinensischen Gebieten (18 Jahre), in Syrien (21 Jahre) oder in Ägypten (24 Jahre). Zum Vergleich: In Deutschland beträgt das Durchschnittsalter 44,3 Jahre.2 Die Bevölkerungspyramide der arabischen Länder beult sich meist im unteren Teil extrem aus. Forscher sprechen von einem youth bulge („Jugendüberschuss“).3 Auch wenn sich in vielen arabischen Staaten das Bevölkerungswachstum mittlerweile verlangsamt hat, so werden die Bedürfnisse und Kapazitäten der großen jugendlichen Bevölkerungskohorten die wirtschaftliche Entwicklung der Region noch auf Jahre hinaus beeinflussen. Dies stellt einerseits eine Belastung der Staatshaushalte im Bereich der Ausgaben für das Bildungs- und Gesundheitssystem dar; andererseits bieten sich auch enorme wirtschaftliche Chancen für die Länder der Region. Noch allerdings ist die Jugendarbeitslosigkeit in der arabischen Region so hoch wie sonst nirgends auf der Welt. In Ägypten sind etwa 25 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in Tunesien 30 Prozent und in Palästina etwa 37 Prozent (im Gazastreifen steigt die Arbeitslosigkeit abhängig von der politischen Situation teilweise auf über 50 Prozent).4 Besonders betroffen sind 2 Vgl. United Nations (ed.), World Population Prospects, 2011, online: http://esa. un.org/wpp/unpp/panel_indicators.htm (29.1.2012). 3 Vgl. Graham Fuller, The Youth Factor, Washington, DC 2003. 4 Vgl. Vgl. The Economist vom 3.2.2011, online: www.economist.com/blogs/ schumpeter/ 2011/02/youth_unemployment (26.1.2012); Edward Sayre/Samia al-Botmeh, In Search of a Future: The Struggle of Young Palestinians, in: Navtej Dhillon/Tarik Yousef (eds.), Generation in Waiting: The Unfulfilled Promise of Young People in the Middle East, Washington, DC 2009, S. 104; Kristian Brakel et al., Occupied Territories, Brüssel 2009, S. 37.

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hierbei Universitätsabsolventen: In Ägypten machen sie 95 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen aus; das sind 8 Prozent mehr als noch vor elf Jahren.5 Aber auch diejenigen, die eine Anstellung haben und damit in den Statistiken nicht auftauchen, sind in prekären Lagen: In Ägypten sind gerade junge Menschen zwischen 15 und 23 Jahren vom Phänomen der Einkommensarmut betroffen.6 Die meisten der in den vergangenen Jahren neu entstandenen Stellen in Ägypten sind dem Niedriglohnsektor zuzuordnen. Die Jugendlichen verdienen wenig und haben weder eine soziale Absicherung noch feste Verträge. Nicht nur, dass viele unter diesen sozialen Bedingungen leiden, hinzu kommt auch die Angst vor dem sozialen Abstieg, insbesondere bei Kindern der Mittelschicht, deren Eltern es vor 30 Jahren wesentlich besser ging. Das Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Bildung hat sich für viele nicht erfüllt. Im Gegenteil: Eine höhere Bildung bedeutet nicht zwingend bessere, sondern oft schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Situation verschärfte sich zusätzlich, nachdem es aufgrund von Sparmaßnahmen auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) auch im öffentlichen Dienst (der oftmals aufgeblähten Staatsapparate) keine Jobgarantie mehr gibt. Kein Einkommen zu haben, bedeutet für viele jungen Menschen in der arabischen Welt auch, kein Geld zu haben, um heiraten und einen eigenen Haushalt gründen zu können. Innerhalb der eher konservativen und traditionellen Milieus gibt es außerhalb der Ehe keine andere – gesellschaftlich weithin anerkannte – Möglichkeit, aus dem elterlichen Haushalt auszuziehen, eine Familie zu gründen oder auch

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nur eine sexuelle Beziehung einzugehen. Zwar gibt es inzwischen unter Jugendlichen der urbanen Oberschichten Phänomene wie informelle (urfi) oder Zeitehen (muta); auch verabreden sich junge Pärchen heimlich über Chatrooms oder SMS. Aber die Regel ist noch immer die sexuelle Enthaltsamkeit. Von den Möglichkeiten ausgeschlossen, einen Job zu ergreifen, eine Familie zu gründen und eine selbstbestimmte Partnerschaft zu leben, befinden sich die Jugendlichen in einer Art Dauerwartezustand (waithood) auf ihr Erwachsenenleben. Daher tragen sich viele Jugendliche mit dem Gedanken an Auswanderung. Europa und die USA sind allerdings eher zweitrangige Ziele; die reichen arabischen Golfländer stehen meist an erster Stelle der Wunschlisten. In einer Umfrage unter jungen Palästinensern gaben immerhin 36 Prozent an, sich mit Auswanderungsgedanken zu tragen.7 Die globalen Massenmedien – und hier das Satellitenfernsehen mit einer größerer Wirkung als das Internet – brachten den Jugendlichen in der arabischen Welt in den vergangenen Jahren globalisierte und konsumorientierte Jugendkulturen nahe. Damit einhergehend wächst für viele junge Menschen die Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Leben ohne Arbeit, Anerkennung und Möglichkeit der Teilhabe und der „bunten Welt“ der „MTV-Stars“.

5 Vgl. Ragui Assad/Ghada Barsoum, Expectations and Opportunities for Egypt’s Young, in: N. Dhillon/T. Yousef (Anm. 3), S. 76. 6 Vgl. UNDP (ed.), Egypt Human Development Report 2010, Kairo 2010, S. 77. 7 Vgl. Sharek Youth Forum (ed.), The Youth Talk: Perceptions of Palestinian Youth on Their Living Conditions, Ramallah 2008, S. 57.

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So wenig diese Welt auch mit der Realität Jugendlicher selbst in westlichen Industrieländern zu tun haben mag, sie trägt unweigerlich zur Schaffung eines erträumten, verschwommenen Bildes des „Anderswo“ bei. Die gefühlte Diskrepanz ergibt sich dabei nicht nur aus den fehlenden wirtschaftlichen Möglichkeiten, sondern gerade auch aus den in den Medien vorgeführten Lebensentwürfen. Diese scheinen oft nicht vereinbar mit traditionellen Vorstellungen in arabischen Gesellschaften. Daher ist es kein Zufall, dass vor allem türkische Seifenopern (wie „Nur“) in den vergangenen Jahren so begierig von arabischen Jugendlichen „aufgesogen“ wurden. Hier leben die Reichen und Schönen in einem islamischen Umfeld, in einer – wenn auch äußerst liberalen – Synthese von traditionellen und modernen Werten. Aber auch die Slogans islamistischer Bewegungen vom Aufbau eines idealisierten, moralisch reinen islamischen Staats treffen oft den Wunsch der Jungen nach einem „Anderswo“.8 Vor allem den Jugendlichen der verarmten Mittelschicht bieten sie Netzwerke für soziale Anerkennung – und finanzieren sogar Hochzeitsfeiern. Aber längst nicht alle dieser Jugendlichen finden sich in islamistischen Gruppen wieder. Viel eher nimmt der Trend zu, islamische und globale Jugendkulturen zu verschmelzen. Konservative Fernsehprediger wie der Ägypter Amr Khaled, die in ihren Sendungen Tipps zur frommen, sozial engagierten, aber meist unpolitischen Lebensführung geben, sind weit über Ägypten hinaus zu Stars geworden. Anhänger von „Sahwa“ (Erwachen, Bewusstwerdung), so der Name der von ihm inspirierten pietistischen Bewegung, traten schon weit vor der Revolution für die Verbesserung der Verhältnisse durch soziales Han-

deln der Jugendlichen in ihren Vierteln ein. Der Wunsch, das Land mitzugestalten, und nach politischer Partizipation, ist vor allem bei den Jugendlichen ausgeprägt, die aufgrund der ökonomischen Situation ihrer Eltern nicht allzusehr mit der Organisation des täglichen Überlebens beschäftigt sind.9 Möglichkeiten für die Partizipation junger Menschen gibt es allerdings in den wenigsten arabischen Staaten. Zwar haben fast alle arabischen Staaten mit Unterstützung des Kinderhilfswerks UNICEF eigene Jugendpolitiken entwickelt, deren Umsetzung und Unterfütterung mit Steuergeldern verläuft aber weitgehend schleppend. Aufbegehren gegen die Elterngeneration Traditionell genießt man in den meisten arabischen Gesellschaften erst mit dem Alter Autorität. Vor allem ältere Männer lenken die Geschicke von Regierung und Industrie, aber auch Zivilgesellschaft. Man spricht von Gerontokratien. Daran hat sich bis auf kleine Ausnahmen in Tunesien auch nach den arabischen Revolutionen wenig geändert. Doch die Legitimation der politischen Führungsgeneration schwindet bei den meisten jungen Menschen. Viele der aktuellen oder ehemaligen Herrscher, die ihren Machtanspruch aus vergangenen Taten – wie der Befreiung von der Kolonialherrschaft oder ihrem Einsatz im Kampf für die Staatsgründung – herleiten, sind in 8 Vgl. Remy Leveau, Youth Culture and Islamism in the Middle East, in: Laura Guazzone (ed.), The Islamist Dilemma: The Political Role of Islamist Movements in the Contemporary Arab World, Berkshire 1995, S. 273. 9 Vgl. UNDP (Anm. 5), S. 66.

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den Augen der jungen Generation nicht mehr glaubwürdig. Anders als die Generation ihrer Eltern haben sie diese Gründungstaten nicht miterlebt. Hinzu kommt, dass die Herrschenden das Kapital aus ihren Taten längst aufgezehrt haben, da sich die realen Lebensbedingungen der Jugendlichen in den vergangenen Jahren kaum verbessert haben. Eine Umfrage im Jahre 2008 unter palästinensischen Jugendlichen ergab, dass fast 62 Prozent keiner der palästinensischen Parteien politisches Vertrauen entgegenbringen. Ihre Idole sind selten PolitikerInnen (16 Prozent), sondern viel eher Personen wie der Prophet Muhammed oder andere religiös-spirituelle Persönlichkeiten (21 Prozent) oder Personen aus dem Freundes- und Familienkreis (18 Prozent).10 Dies kann als Mischung aus Rückzug in den privaten Minikosmos des Vertrauten und der oben erwähnten Sehnsucht nach einer imaginativ überhöhten, besseren Realität in Gestalt des Propheten gedeutet werden. Die generelle Frustration gegenüber allen Autoritäten, die sich im Manifest der Jugendlichen aus Gaza „Gaza Youth Break Out“11 aus dem Jahre 2011 entlud, steht exemplarisch für die politische Frustration auch anderer arabischer Jugendlicher, die sich „gefangen“ fühlen in einer Lebenssituation, an der sie selbst wenig ändern können. Zu dem Umstand, dass Jugendliche von politischen Entscheidungen ausgeschlossen sind – dies trifft in vielen der arabischen Staaten auch auf die erwachsene Bevölkerung zu –, gesellt sich, dass die Autorität auch in der traditionellen Familie oder im Arbeitsleben bei den Älteren liegt. Angesichts der Tatsache, dass die jungen Menschen oft über einen höheren Qualifi-

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kationsgrad verfügen, führt dies unweigerlich zu einem Gefälle innerhalb der Generationen.12 So haben Studien aus Marokko gezeigt, dass allein die Tatsache, dass Jugendliche oft besser ausgebildet sind als ihre Elterngeneration, zu Verschiebungen im Autoritätsgefälle führt.13 Studien zeigen aber auch, dass die Familie für arabische Jugendliche noch immer der primäre Bezugspunkt ist – in einer Umfrage im Jahre 2008 sagten immerhin 35 Prozent der palästinensischen Jugendlichen, dass ihre Eltern Entscheidungen an ihrer statt treffen würden.14 Dort, wo der Staat versagt oder Krieg und Besatzung Unsicherheitsfaktoren darstellen, bleibt die Familie wichtigstes soziales Netz. Doch die Autoritätshegemonie über die Jugendlichen haben Eltern in der Region schon lange nicht mehr. Jugendkultur als Protestform Der Wunsch autoritärer Regierungen, die Jugend, die ihnen als besonders anfällig für rebellisches Verhalten galt, zu kontrollieren, fand in den meisten arabischen Staa10 Vgl. Sharek Youth Forum (Anm. 6), S. 18. 11 Hierin erhielten alle relevanten Akteure im Nahen Osten einen eindeutigen Kommentar: »Fuck«. Vgl. Gaza Youth Breaks Out, Manifesto 1.0, online: http://gazaybo. wordpress.com/ manifesto-0-1 (26.10.2011). 12 In fast allen arabischen Ländern sind die Bildungsraten gestiegen; mehr Menschen können Lesen und Schreiben; mehr Jugendliche erlangen Schul- und Universitätsabschlüsse. Vgl. R. Assad/G. Barsoum (Anm. 4), S. 68. 13 Vgl. Mokhtar el-Harras, Students, Family and the Individuation Process: The Case of Morocco, in: Sonja Hegasy/Elke Kaschl (eds.), Changing Values Among Youth, Berlin 2007. 14 Vgl. Sharek Youth Forum, Promise or Peril – the Status of Youth in Palestine, Ramallah 2010, S. 26.

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ten Ausdruck in der Gründung von Massenorganisationen. Sozialistische Herrscher wie der ehemalige ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser schufen staatliche Jugendorganisationen, die politischen Fraktionen der Palästinenser gründeten eigene Jugendverbände wie die Shabibah Fatah und Jordanien bedient sich auch heute noch eines weiten Netzes von vom Königshaus betriebener Nichtregierungsorganisationen. Es galt, die Jugendlichen als potenzielle Gefahrenquelle für das Regime zu überwachen. Diese Kontrollfunktion übten davor vor allem die Familien und das engmaschige soziale Umfeld der jungen Menschen aus. Mit dem Versagen staatlicher Legitimation übertrug sich die Autorität über die Jugendlichen wiederum vom Staat auf die Straße. Junge Menschen schufen sich dort Freiräume, wo sie weder von der Regierung noch von ihren Familien kontrolliert werden konnten.15 Moscheen, aber auch Protestbewegungen wie die erste Intifada erfüllten diese Funktion einer jugendlichen Auflehnung gegen die Älteren, die nicht einfach zu sanktionieren war. Der natürliche Reflex junger Menschen, sich gegenüber ihren Eltern abgrenzen zu wollen, muss in autoritären Staaten auch als Versuch gesehen werden, die bestehende Ordnung infrage zu stellen. Dort, wo es für Jugendliche schwierig ist, ihre politischen Ideen in das System einzubringen, suchen sie sich unweigerlich alternative, oft inoffizielle Methoden der Partizipation. Diese Methoden werden von autoritären Staaten als Bedrohung wahrgenommen. Subkultur, auch wenn sie im unpolitischen Gewand daherkommt, wird damit automatisch zur Gegenkultur. Vor diesem Hintergrund wurden 1997 in Ägypten selbst „harmlose“ Heavy-Metal-

Fans zum Ziel von Repressionsmaßnahmen der Behörden. Die Möglichkeiten, die das Jugendlichsein oftmals ausmachen – gewisse Unbeschwertheit, Sich-Ausprobieren-Können verbunden mit oftmals großem Gerechtigkeitsempfinden16 –, werden den Jugendlichen verwehrt. Gleichzeitig werden sich immer mehr, gut ausgebildete, durch Medien vernetzte Jugendliche in arabischen Staaten dieses Umstands bewusst. Das Gefühl eines jugendlichen Lebens erschöpft sich nicht allein im Materiellen. Die Jugendlichen, die etwa am 25. Januar 2011 die Proteste in Kairo organisierten, demonstrierten nicht nur gegen Arbeitslosigkeit und Armut, sondern auch gegen Folter und Korruption. Diese Schlagworte sind aus ihrer Warte Symbole für einen Staat, der ihnen ihre Würde und die Möglichkeit nach Jugendlichkeit genommen hat. Die Zusammenhänge zwischen fehlgeleiteten staatlichen Systemen und vorenthaltenen Möglichkeiten werden deutlicher. Die jungen Leute, welche die ägyptischen Proteste anführten und von denen sich viele schon seit dem Präsidentschaftswahlkampf in den Jahren 2005 und 2006 politisch engagieren, sind noch immer eine Minderheit. Auch das Leben in Subkulturen ist einer kleinen, bürgerlichen Schicht der arabischen Jugend vorbehalten. Aber die Forderungen, die diese jungen Menschen in HipHop-Texten (von G-Town aus Gaza bis El-General in Sfax), in Graffiti (auf den Mauern von Sanaa bis Kairo) und in zahlreichen Internetblogs ausdrü15 Vgl. Roel Meijer, Alienation or Integration of Arab Youth, Richmond 2000, S. IV– VIII. 16 Vgl. Asef Bayat, Life as Politics, Kairo 2009, S. 117.

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cken, sprechen auch vielen anderen jungen Menschen aus der Seele. Nicht immer wird allerdings unter den Forderungen das Gleiche verstanden. So sprachen sich in Umfragen 84 Prozent der ägyptischen Jugendlichen dafür aus, in einer Demokratie zu leben. Aber nur 11 Prozent derselben Gruppe werteten die Einführung von Demokratie als wichtigste politische Priorität.17 Ägyptische Jugendliche subsumieren unter der Forderung nach Demokratie den Wunsch nach einem Staat ohne Korruption, Willkür und mit gerechten Chancen für sich selbst.18 Dass diese Entwicklungen nicht zeitgleich eintreten, könnte auch in postrevolutionären Staaten wie Tunesien schnell zur Frustration der Jugend führen. Im vergangenen Jahr zeichnete sich bereits ab, dass die jungen Menschen in Tunesien, Ägypten oder im Jemen von der Mitgestaltung der postrevolutionären Ordnung weitgehend ausgeschlossen bleiben. Unklar ist allerdings, ob sich aus dem Unmut darüber Jugendbewegungen bilden werden, die sich auf jugendspezifische Forderungen konzentrieren. Klar ist aber, dass es ohne eine Verbesserung der Lage der jungen Menschen keinen nachhaltigen Wandel geben wird. ●

17 Vgl. UNDP (Anm. 5), S. 67 f. 18 Vgl. Kristian Brakel, Demokratie oder Demographie?, Hamburg 2006, S. 91.

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THESEN ZUR ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES SOZIALEN SANKT PETERSBURG, RUSSLAND: ZIVILGESELLSCHAFT UND OPPOSITION VOR DER PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL Von Ewgenij Konowalow, Vorsitzender des Russischen Sozialdemokratischen Jugendverbandes (RSDSM)*, Mitglied des Exekutivkomitees der Bewegung „Union der Sozialdemokraten“, Mitglied des Organisationskomitees der Bewegung „Für faire Wahlen“.

Aufstand der Mittelschicht Über einhundert Parteien gab es früher, jetzt nur noch sieben, die Gouverneure werden nicht mehr gewählt, die Gerichte haben den letzten Rest ihrer Unabhängigkeit verloren, BürgerInnenbewegungen und Gewerkschaften werden behindert, die Medien kontrolliert. Die meisten RussInnen ließen das alles geschehen, zivilgesellschaftliches Engagement war nicht an der Tagesordnung. Was auch verständlich ist – in den 1990ern ging es darum, schlicht und einfach zu überleben. Die 2000er wa-

ren ebenfalls vor allem Jahre, in denen man sein Leben sicherte, wenn auch die steigenden Rohstoffpreise dazu führten, dass der Lebensstandard sich in den wirtschaftlich aktiven Regionen dem europäischen Niveau annäherte. Aber diese Entwicklung hatte auf die Lebensqualität absolut keinen Einfluss – weder das Bildungssystem noch die medizinische Versorgung wurden bes* Mit dem RSDSM pflegen die Jusos RheinlandPfalz eine enge Partnerschaft. Mehr Infos findet ihr auf Facebook (AK Russlandpartnerschaft der Jusos RLP) oder auf www.jusos-rlp.de unter „Arbeitskreise“.

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ser, nur Teile der Bevölkerung verdienten mehr Geld. In Moskau und Sankt Petersburg entstand eine Mittelschicht, die sich eine Verbesserung ihrer Lebensqualität wünschte. Dachte man dieses Bedürfnis jedoch weiter, kam man zu dem logischen Schluss, dass eine spürbare Verbesserung des Lebens innerhalb des jetzigen politischen Systems unmöglich ist. Mit dem autoritären Führungsstil und der wachsenden Korruption waren die Menschen schon lange unzufrieden – das zeigten schon die ersten „Märsche der Unzufriedenen“. Doch viele hofften auf eine evolutionäre Veränderung der herrschenden politischen Klasse „von oben“, auf einen neuen Präsidenten, der einen Elitenwechsel nach sich ziehen würde. Doch der neue Präsident Dmitrij Medwedew änderte absolut nichts. Schlimmer noch, der Ministerpräsident Wladimir Putin zog nach wie vor die Fäden. Als Putin erklärte, er würde zum dritten Mal für die Präsidentschaft kandidieren, erstarb die Hoffnung auf Evolution. Vielen wurde klar, dass ihnen zwölf Jahre Stagnation bevorstehen, da der neue Präsident nun für sechs Jahre gewählt wird. Was bedeutet, dass sich nicht nur die Lebensqualität nicht verbessern wird, sondern dass viele Jahre der Stagnation zu einer weiteren Degradierung der Machtstrukturen führen werden, was wiederum einen totalen Kollaps, Revolutionen und einen Zusammenbruch des Landes nach sich ziehen kann. Die Machtelite beging einen großen Fehler, als sie Putin für eine dritte Amtszeit kandidieren ließ. Denn das ist der Anfang vom Ende dieser Elite und der Beginn einer massiven Unzufriedenheit der BürgerInnen. Am Beispiel von Sankt Petersburg, der Heimatstadt von Premier und Präsident, wird dies deutlich. Noch im Sommer

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2011 erreichte die einzige Oppositionspartei, Jabloko, in Sankt Petersburg einen Stimmenanteil von etwa fünf Prozent. Bei den Dezemberwahlen waren es trotz Fälschungen schon 12,5 Prozent. Den „wahren“ Wert kann man sicherlich auf 20 Prozent schätzen. Dasselbe geschah mit „Gerechtes Russland“. Noch im Sommer fast stimmenlos, erreichte die Partei dank einer scharfen oppositionellen Wahlkampfrhetorik 23 Prozent, unverfälscht höchstwahrscheinlich sogar 25 bis 30 Prozent. Weil auch KommunistInnen (KPRF, 14 Prozent) und LiberaldemokratInnen (LDPR, zehn Prozent) sich als Opposition positionierten, stimmte die Mehrheit der BürgerInnen gegen die jetzige Führung. Kaum jemand hatte an einem Sieg von „Einiges Russland“ und an einer massiven Wahlfälschung gezweifelt. Doch als die Wahlen vorbei waren und das Ausmaß der Fälschungen offensichtlich wurde, riss vielen der Geduldsfaden. So kam es, dass die aktive Mittelschicht auf die Straße ging. In Sankt Petersburg wurden breit angelegte Wahlbeobachtungen organisiert, an denen sehr viele BürgerInnen teilnahmen, die sich gegen Fälschungen einsetzten. Im Ergebnis gewann „Einiges Russland“ lediglich 37 Prozent, also wesentlich weniger Stimmen als landesweit. Gleichzeitig wurden in Sankt Petersburg die meisten Manipulationsfälle registriert. Im Dezember kam es zu massiven Kundgebungen gegen Wahlfälschungen in Moskau. In Sankt Petersburg gingen wesentlich weniger Menschen auf die Straße, und doch waren es mit ca. 5.000 bis 10.000 Menschen im Dezember die größten Proteste seit zehn Jahren. Die letzte große Protestaktion in Sankt Petersburg war der „Marsch der Unzufriedenen“ am 3. März 2007 mit 5.000 TeilnehmerInnen. Zu den

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folgenden Märschen kamen im Durchschnitt 2.000 bis 3.000 Menschen, zu den darauf folgenden Aktionen für die Einhaltung des Artikels 31 der Verfassung, der die Versammlungsfreiheit garantiert, nur noch rund 500. Der Kreml wusste nicht, wie er auf die Proteste reagieren sollte, schlug kosmetische Lösungen vor, kleine demokratische Änderungen, die den Status quo de facto bewahren würden. Die Aktionen vom 4. Februar sollten deutlich machen, ob die russische Gesellschaft bereit ist, die Pille der kommenden Putinschen Stagnation zu schlucken, oder ob der „point of no return“ bereits überschritten ist. Die Proteste in Sankt Petersburg zeigten, dass weder Neujahrsferien noch klirrende Kälte die Menschen davon abhalten konnten, Veränderungen zu fordern. Mehr noch, die Forderungen wurden immer politischer. Am 4. Februar gingen rekordverdächtige 15.000 bis 30.000 Menschen auf die Straße, die Losung „Für faire Wahlen“ wurde immer mehr von „Putin soll gehen“-Rufen verdrängt. Die Oppositionskoalition in Sankt Petersburg Die organisierte Opposition hatte eine derartige Aktivität der Bevölkerung nicht erwartet. Sie war sich schon lange über den Charakter der herrschenden politischen Klasse im Klaren, deshalb wunderte Putins Kandidatur niemanden mehr. Erst als viele Menschen, die bisher nirgends organisiert waren, sich als WahlbeobachterInnen engagierten, kam die Vorahnung einer Veränderung auf. Im Weiteren wurde deutlich, dass die Opposition, wenn sie die zivilgesellschaftlichen Proteste unterstützen will, Konsolidierung und Koordination zu lernen hat.

Ein paar Worte zur Petersburger Oppositionslandschaft: 2007 vereinigten sich 30 oppositionelle Organisationen zum Koordinationsrat der Petersburger Opposition (KSPO). Dazu gehörten die Partei Jabloko, die Soldatenmütter, die Jugendbewegung Oborona (Verteidigung), der Russische Sozialdemokratische Jugendverband (RSDSM), die Vereinigte BürgerInnenfront, die Nationalbolschewistische Partei, die „Avantgarde der kommunistischen Jugend“ und mehrere Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen. Der Koordinationsrat der Petersburger Opposition organisierte vor allem die „Märsche der Unzufriedenen“, die zentrale Rolle spielte zweifellos die Partei Jabloko. Viele hatten ein Problem mit der Beteiligung der Nationalbolschewistischen Partei an der Koalition, doch die AktivistInnen der Partei versicherten, sie hätten sich geändert und seien keine NationalistInnen mehr, sondern KämpferInnen für die Demokratie. Schlussendlich zerfiel der KSPO ohne äußere Einflüsse. Die einzelnen Mitglieder arbeiteten jedoch weiter zusammen, vor allem bei der Organisation der „demokratischen Kolonne“ bei den Demonstrationen zum 1. Mai. Eine weitere Vereinigung oppositioneller Kräfte fand 2009 unter dem Label „Xenophobii.Net“ (Xenophobie.Nein) statt. Wie der Name schon verrät, steht hier der solidarische Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit im Mittelpunkt. Mehr als 30 Initiativen wurden Mitglied, darunter auch die LGBT-Organisation „Coming out“. Damit gingen erstmals in Russland politische Kräfte eine Koalition mit einer Lesben-Schwule-Bisexuelle-Transgender-Gemeinschaft ein. Die ersten Proteste nach den Dezemberwahlen 2011 wurden recht unkoordi-

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niert von StudentInnen organisiert. Diese legten jedoch aufgrund mangelnder Erfahrung die Organisation der Demonstrationen bald in die Hände politischer Organisationen. Nach den ersten Protesten nahmen die NationalistInnen immer mehr Raum ein und nutzten die BürgerInnenproteste für die Propaganda ihrer Ideen, so dass immer häufiger fremdenfeindliche Losungen zu hören waren. Daraufhin gründeten Mitglieder der Gruppierungen RSDSM, Coming Out, Oborona, Solidarnost und der Liga der Wählerinnen am 18. Dezember die Bewegung „Für faire Wahlen“, die sich zum Ziel stellt, Protestaktionen ohne Beteiligung nationalistischer Kräfte durchzuführen und Wahlbeobachtungen zu organisieren. Der schnell wachsenden Bewegung gehören inzwischen über 30 Vereinigungen an. Die nationalistischen Organisationen gründeten ein eigenes „BürgerInnenkomitee“, dem außer den NationalistInnen selbst ein paar im Kontext einer demokratischen Bewegung anrüchige AktivistInnen sowie einige weitere Organisationen beitraten, die vom BürgerInnenkomitee zur Mitarbeit eingeladen wurden, bevor die Bewegung „Für faire Wahlen“ dies tat. Nachdem zur Protestaktion der Bewegung „Für faire Wahlen“ wesentlich mehr Menschen gekommen waren als zur Veranstaltung der NationalistInnen, wurde dem BürgerInnenkomitee klar, dass die NationalistInnen die DemokratInnen brauchen, um nicht am Rand des politischen Spektrums zu landen. Im Januar 2012 begannen hartnäckige Versuche, die Bewegung „Für faire Wahlen“ von einer gemeinsamen Protestaktion mit dem BürgerInnenkomitee zu überzeugen. Nach langwierigen skandalträchtigen Verhandlungen willigte die Bewegung ein, eine gemeinsame Aktion

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durchzuführen, jedoch nur unter der Bedingung, dass keinerlei nationalistische Symbole gezeigt wurden und radikale NationalistInnen keine Redezeit erhielten. Bei der gemeinsamen Aktion am 4. Februar 2012 brach das BürgerInnenkomitee alle Versprechen, woraufhin die Bewegung „Für faire Wahlen“ den Beschluss fasste, in keinerlei Verhandlungen mehr mit dem BürgerInnenkomitee zu treten. Da in Sankt Petersburg bereits seit einiger Zeit die Koalition „Xenophobii.Net” existiert, gibt es hier einen selbstbewussten oppositionellen Kern, der nationalistische Bestrebungen prinzipiell ablehnt. Daraus lässt sich die Hoffnung schöpfen, dass die BürgerInnenproteste auch weiterhin demokratischen Charakter tragen und alle Versuche der NationalistInnen, sich an ihre Spitze zu setzen oder ihren Einflussbereich zu erweitern, zum Scheitern verurteilt sein werden. Ausweg aus der Sackgasse Die Umfragewerte für Wladimir Putin sind hoch, aber schon längst nicht mehr so hoch wie früher. Wichtig ist, dass die Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Kräfte gegen Putin auftritt. Dies bedeutet, sollte Putin nicht von alleine das Politikfeld räumen, wird die Unzufriedenheit der Bevölkerung weiterhin wachsen und sich auf den Straßen zeigen. Somit bleibt Putin und seiner Gefolgschaft die Wahl zwischen zwei Optionen: entweder in die Konfrontation mit der Zivilgesellschaft zu treten, was schlimmstenfalls zum Totalitarismus oder zum Bürgerkrieg führen kann, oder eine Demokratisierung des bestehenden Systems und einen sofortigen Wechsel der politischen Elite zu ermöglichen. Aus Sicht der Opposition ist folgendes Szenario für die Zukunft wünschenswert:

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Das politische System Russlands wird von einer präsidialen in eine parlamentarische Republik umgewandelt, die Vollmachten des Präsidenten auf ein Minimum beschränkt. Danach sollte die Registrierung neuer Parteien per Gesetz vereinfacht und die Zugangshürde zur Duma gesenkt werden, woraufhin vorzeitige Wahlen zum Parlament durchzuführen sind. Somit könnte Putin russischer Präsident bleiben, würde jedoch keine relevante politische Rolle mehr spielen. Das Land könnte die Möglichkeit einer weiteren evolutionären Entwicklung seiner demokratischen Institutionen wahrnehmen. Für die Opposition und die Zivilgesellschaft sind dabei zwei Aspekte wichtig: Einerseits muss weiterhin Druck auf die herrschende politische Elite ausgeübt werden, um eine evolutionäre Entwicklung des politischen Systems zu erreichen. Andererseits muss alles getan werden, um eine Machtübernahme nationalistischer Kräfte auf der Welle der Proteste zu verhindern. Um diese Ziele zu erreichen, muss eine breite Koalition gegründet werden, zu deren Kern gemäßigte linke und liberal-konservative Kräfte gehören, die für eine parlamentarische Republik eintreten und Koalitionen mit den Nationalisten ablehnen. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, dass zivilgesellschaftliche Proteste, die sich von den NationalistInnen distanzieren, von den BürgerInnen nicht weniger, sondern mehr Zustimmung erhalten. So werden die NationalistInnen an den Rand des politischen Spektrums gedrängt werden können. Niemand kann genau vorhersagen, was Russland im kommenden Jahr erwartet. Doch allen ist klar, dass uns eine Zeit der Veränderungen bevorsteht. Es wird von den BürgerInnen Russlands und ihrem Engagement abhängen, ob die Verände-

rungen positiv oder negativ sein werden. Die Protestwelle hat sich mittlerweile etwas beruhigt, aber dank der Proteste gelang es, wenigstens eine geringe Liberalisierung der Gesetzgebung zu erreichen: Es wurde erleichtert, Parteien zu gründen. Nun begannen intensive Beratungen zwischen verschiedenen PolitikerInnen bezüglich neuer Bündnisse. Auf der sozialdemokratischen Seite zeichnen sich vier Vereinigungen ab: eine Aktivierung der sozialdemokratischen Fraktion innerhalb von „Jabloko“, die Bewegung „Union der Sozialdemokraten“ (mit Gorbatschow als Anführer), die sozialdemokratische Bewegung „Linke Allianz“ und der Russische Sozialdemokratische Jugendverband (RSDSM). Jede der vier Organisationen hat besondere Aufgaben. Die sozialdemokratische Fraktion in der Partei „Jabloko“ kann sich einer bereits ausgebildeten Parteistruktur bedienen. Viele GenossInnen des RSDSM haben entschieden, „Jabloko“ beizutreten und die Arbeit der Fraktion aktiv voranzubringen. Insbesondere folgende Vorstellungen spielten dabei eine Rolle: Momentan ist die Partei „Jabloko“ die einzige demokratische Partei in Russland. Sie hat mehr als 60.000 Mitglieder, von denen sich mindestens ein Drittel als SozialdemokratInnen verstehen. In Anbetracht dessen, dass es momentan das wichtigste Ziel ist, eine Demokratie in Russland aufzubauen, fällte ein Großteil des RSDSM die Entscheidung, Sozialliberale und SozialdemokratInnen innerhalb einer demokratischen Partei vereinigen zu wollen. Die Bewegung „Union der Sozialdemokraten“ verzichtet vorläufig auf eine Parteiengründung und wird dafür in Zukunft eine Plattform für verschiedene demokratische Kräfte bieten. Zudem will sie

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mit gebündelter Anstrengung eine sozialdemokratische Programmatik gestalten und für sozialdemokratische Werte werben. Die Bewegung „Linke Allianz“ wurde im Wesentlichen von dem oppositionellen Teil der Partei „Gerechtes Russland“ aufgebaut. Die Tatsache, dass ihr Parteivorsitzender Putin unterstützte, missfiel vielen in „Gerechtes Russland“, so dass sie einige Mitglieder der Kommunistischen Partei der Russischen Förderation, von „Jabloko“, RSDSM und anderen Organisationen einluden, eine Gegenbewegung zu formieren. Momentan ist die „Linke Allianz“ jedoch noch im Werden und hat noch keine Pläne geäußert, eine Partei zu gründen. Im Sommer kehrt im „politischen Russland“ normalerweise eine Flaute ein, doch wird diese Zeit für PolitikerInnen eine Zeit der großen Beratungen sein, denn im Herbst werden wieder neue Proteste der Bevölkerung erwartet, und zudem werden neue Parteien auftauchen, die sich zur Wahl stellen wollen. Im Dezember 2012 und März 2013 stehen nämlich die nächsten Kommunalwahlen an. Übersetzt von und zuerst veröffentlicht in „Perspektive: Russland wählt“ (Februar 2012) der Friedrich-Ebert-Stiftung Moskau

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Juni 2012

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes


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