Argumente 2/2014 - Zeitpolitik

Page 1

ARGUMENTE 2/2014 Zeitpolitik #TTIP #25JahreSDP #Energiewende #Mehrstaatlichkeit #Arbeit #Freizeit #Beschleunigung #Entgrenzung


ARGUMENTE 2/2014 Zeitpolitik


Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Johanna Uekermann und Julia Maas Redaktion Jan Krüger, Katharina Oerder, Stefan Brauneis, Johannes Gerken, Ridvan Civtci, Dominik Fürst, Hanna Hefermehl-Fischer, Micha Heitkamp, Farnaz Nasiriamini, Ceylan Özcetin, Felix Peter, Moritz Rudolph, Ariane Werner und Johannes Melcher Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


MAGAZIN Zeit für Zeitpolitik

6

Felix Peter und Jan Krüger In diesem Heft wollen wir die Grundlagen von Zeitpolitik beleuchten und neu diskutieren. Wir wollen fragen, wie die junge Generation über die

Verfügbarkeit von Zeit denkt und welche politischen Ansatzpunkte es gibt, um Zeit umzuverteilen.

Der neoliberale Umbau geht weiter – Wie Freihandelsabkommen ‚Neuen Typs’ unsere Gesellschaftsordnung weiter unterminieren werden

9

Johannes Gerken Derzeit verhandelt die Europäische Union eine Reihe Freihandelsverträge ‘Neuen Typs’. Dabei stellt sich die Frage, wie sich diese neue europäische Freihandelsstrategie in den europäischen Integrationsprozess verorten lässt und wie die Sozialdemokratie politisch mit ihr umzugehen

hat. Der Autor beschreibt die neue Freihandelsstrategie als Ausdruck eines neoliberalen Hegemonieprojekts, das trotz „Krise“ weiter eine wirkungsmächtige Stellung in der EU inne hat und so den Umbau unserer Gesellschaftsordnung weiter fokussieren kann.

Die Energie-Wende im Stromsystem und die Reformen des Strommarktdesigns

14

Felix Chr. Matthes Die Umgestaltung des Stromsystems bildet den Kern der Energiewende. Neben technologischen Zielen und Visionen erhält die Frage nach einer nachhaltigen ökonomischen Basis eines Energiesystems mit signifikanten Anteilen erneuerbarer Energien eine zunehmende Bedeutung. Die aktuelle Schnellreform des Erneuerbare EnergienGesetzes macht sehr deutlich, dass die Strukturen eines zukünftigen Strommarktes gerade hinsicht-

lich der Reihenfolge der notwendigen Reformschritte aus dem Blick geraten sind. Das Strommarktdesign der Energiewende betrifft jedoch nicht nur die erneuerbaren Energien, sondern auch den nicht-regenerativen Teil des Stromsystems. Konsistenz, Konvergenz und Lernfähigkeit der Reformmaßnahmen sind für beide Bereiche unabdingbar.

Einwanderungs-/Einbürgerungsland Deutschland – Gerechtigkeitslücken schließen!

18

Ceylan Özcetin Die Abschaffung des Optionszwangs hat eine große Signalwirkung für junge Menschen und eröffnet neue Wege für unsere Forderungen im Staatsangehörigkeitsrecht. Wir wollen den Dop-

pelpass für alle! Dafür müssen wir neue relevante Gruppen in unsere Reihen holen und gemeinsam kämpfen.

Now and then – 25 Jahre SDP-Gründung

23

Andrej Stephan In diesem Jahr jährt sich die SPD-Neugründung in der ehemaligen DDR zum 25. Mal. Der Autor spannt einen Bogen von der Anfangseuphorie der ersten Stunde über die bittere Enttäuschung bei den ersten freien Wahlen bis hin zu den heu-

tigen Herausforderungen der ganz unterschiedlichen SPD-Verbände in den nicht mehr ganz so neuen Ländern und beleuchtet dabei auch das schwierige Verhältnis zur Partei DIE LINKE.


Das Innere nach außen kehren

29

Moritz Rudolph Heiner Karuscheit hat eine Studie zum Ursachengeflecht des Ersten Weltkriegs vorgelegt. Was ihn von den meisten HistorikerInnen unterscheidet:

Er begreift den Krieg als Produkt von Klassenauseinandersetzungen.

SCHWERPUNKT Zeit ist Leben – Neoliberalismus und totalitäre Beschleunigung

32

Magnus Neubert Das Arbeitspensum wächst deutlich stärker als die Zeiteffizienz durch den technischen Fortschritt. Das Resultat: ein Gefühl der Zeitknappheit, der Beschleunigung des Lebenstempos, wie es Hartmut Rosa beschreibt. Der Autor beschreibt

die Ursachen dieser Beschleunigung, die in der Humankapitaltheorie wurzeln, und zeichnet das Bild eines neoliberalen Totalitarismus, der die Zeit und damit unser Leben einsaugt.

„Entgrenzung von Arbeit“ und das Dilemma einer wirksamen Arbeitszeitpolitik

36

Dieter Sauer Nach einem langen Trend der Arbeitszeitverkürzung erleben wir seit den 90er Jahren wieder eine Ausweitung der tatsächlichen Arbeitszeiten. Gleichzeitig nimmt die Polarisierung zwischen jenen, die weniger arbeiten, und jenen, die viel arbeiten weiter zu. Der Autor umreißt diese und

andere „Zeitkonflikte“ und setzt der zunehmenden Unwirksamkeit der Regulierung und Kontrolle der Grenzen zwischen Arbeit und Leben die Forderung nach einer neuen Arbeits(zeit)politik entgegen.

Entgrenzte Arbeitszeit und begrenzte Lebenszeit: Ein Plädoyer für eine neue Zeitsouveränität am Beispiel der Weiterbildung

42

Günther Schmid Angesichts der zunehmenden Arbeitszeitentgrenzung braucht es Lösungen, um den Beschäftigten wieder mehr Gestaltungsräume ihrer Lebenszeit zu eröffnen. Der Autor fordert deshalb ein Recht auf Zeitsouveränität und Vorrang für

nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit. Schwerpunktmäßig geht er auf die (Weiter-)Bildungsarbeit und die Einrichtung eines Weiterbildungsfonds ein.

Solo-Selbstständigkeit – zwischen Freiheit und Unsicherheit

46

PD Dr. Karin Schulze Buschoff Seit mehr als zwanzig Jahren wächst die Zahl der Solo-Selbstständigen in Deutschland deutlich. Etwa ein Drittel von ihnen ist dem Niedriglohnsektor zuzuordnen. Insbesondere die mangelnde Altersvorsorge wird von den Solo-Selbstständi-

gen als Problem benannt. Die größte Herausforderung besteht derzeit in der konkreten Ausgestaltung der Ausweitung der Rentenversicherung auf alle Selbstständigen. Auch in anderen Sozialversicherungszweigen besteht Handlungsbedarf.


Die Lebensgestaltung junger Menschen zwischen Optionsvielfalt und Ungewissheit

50

Martina Gille Die junge Generation sei egoistisch und selbstbezogen, so der häufig geäußerte Vorwurf. Der Beitrag setzt sich mit dieser Beschreibung auseinander und zieht die empirischen Ergebnisse aus Jugendstudien heran. Ausgangspunkt für die Betrachtungen der jungen Generation sind gesell-

schaftliche Entwicklungen. Diese haben einen Einfluss auf die Bedingungen des Aufwachsens der jungen Menschen. Bei allen Veränderungen ist aber das politische und gesellschaftliche Engagement weiterhin sehr hoch.

Kommentierungen

58

Johanna Uekermann, Niklas Konrad, Lisi Maier

Arbeitszeitverkürzung umsetzen

60

Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup Das Ziel der Vollbeschäftigung ist bis heute ein wichtiges Anliegen der Sozialdemokratie. Jedoch kann sie ohne eine kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich

nicht mehr erreicht werden. Der Autor plädiert unter Berücksichtigung empirischer Daten und neuen Berechnungen für eine neue Debatte der Arbeitszeit.

Leben unter Dauerbelastung – Wie schadet Stress unserer Gesundheit?

66

Prof. Dr. Sigrid Michel Stress ist ein Risikofaktor für die menschliche Gesundheit und für die Gesellschaft. Die Autorin schildert die Reaktionen des Körpers auf Stress, beschreibt die Rolle der Umgebungsfaktoren wie

die sozioökonomische Lage und stellt den Zusammenhang zwischen gesundheitlicher und sozialer Ungleichheit dar.

Grundlagendokument: Antrag „Arbeiten, um zu leben“, Antrag des Juso-Bezirks Hessen-Süd zum Juso-Bundeskongress 1988 „Recht auf Arbeit“ oder „Recht auf Faulheit“? Ein Frage, die nicht nur die Arbeiterbewegung beschäftigte, sondern auch den Juso-Verband Ende der 1980er-Jahre. Mit dem Antrag des Juso-Be-

Fakten + Lexikon

73

zirks Hessen-Süd möchten wir euch ein Grundlagendokument passend zum Schwerpunktthema vorstellen, der zu hitzigen Diskussionen zwischen Strömungen geführt hat.

76


Zeit für Zeitpolitik von Felix Peter und Jan Krüger, Redaktion

„Kann ich dich kurz sprechen?“, „Hast du kurz Zeit?“, „Ich schau mal, ob ich Zeit finde…“, „Kannst du dir mal kurz dafür Zeit nehmen?“ Kleine Floskeln des Alltags, die es bei genauer Betrachtung in sich haben, signalisieren sie doch wie viele andere Phrasen auch, dass uns die Zeit abhandengekommen zu sein scheint. Eigentlich paradox, müssten wir doch angesichts der zahlreichen technischen Hilfsmittel zum Sparen der wohl begehrtesten physikalischen Größe immer mehr Zeit gewinnen. Stattdessen erleben wir einen stetigen Zeitverlust, eine Knappheit, die uns – zumindest gefühlt – immer schneller durchs Leben hetzen lässt, sei es in der Ausbildung, im Beruf oder in der – von wegen! – Freizeit. So scheint es mit der Ressource Zeit zu sein: Je mehr wir davon haben, desto mehr können wir ausgeben und desto mehr scheinen wir auch tatsächlich auszugeben – und desto weniger haben wir schließlich davon. Statt mit bestenfalls zwei Pferdestärken den Umkreis des eigenen Lebensmittelpunktes nie wesentlich zu verlassen, können wir heute mit weit mehr als 100 (Auto), 10 000 (ICE) oder 100 000 (Flugzeug) PS durch die Gegend reisen. Und weil wir das können, beschränken wir uns nicht mehr auf den Nahbereich, sondern streben in die Ferne. Wir telefonieren, skypen, mailen und twittern, schreiben Kurznachrichten bei diversen Onlinediensten und dies mit unzähligen Personen. Müssten wir denen noch herkömmliche Briefe schreiben, wäre unse6

re Schreibhand schon nach kurzer Zeit mit einer Sehnenscheidenentzündung außer Gefecht gesetzt.

Anstatt des guten Gefühls, die eigene Zeit sinnstiftend genutzt zu haben, erleben wir Zeitstress.

Mit der effektiveren Zeitgestaltung haben die Möglichkeiten der Zeitnutzung zugenommen. Immer mehr Handlungen in immer kürzeren Zeitabschnitten lassen ein Gefühl der ständigen Zeitnot entstehen, das nicht wenige Menschen zunehmend unter Druck setzt. Anstatt des guten Gefühls, die eigene Zeit sinnstiftend genutzt zu haben, erleben wir Zeitstress. Und in den wenigen verbleibenden Momenten der Entspannung, des Nichtstuns, haben wir ein schlechtes Gewissen. Zeit für politisches Handeln Doch was hat Zeit mit Politik zu tun? Was macht Zeitpolitik zu einem eigenen Begriff? Wir vertreten die Sichtweise, dass die Verfügbarkeit von Zeit – vor allem die individuelle – mit gesellschaftlichen Aufträgen, Normen und Schichtungen zusammenhängt. Die Frage, wer wie viel Zeit wofür hat, verläuft entlang von gesellschaftlichem Reichtum, Status und Normen. Technischer Fortschritt und seine Verbreitung liefern nur eine Erklärung für den zunehmenden Zeitdruck einer ganzen Gesellschaft. Zeit für Zeitpolitik Argumente 2/2014


Frauen nutzen ihre Zeit noch immer anders als Männer. Junge Menschen sind mit anderen Bedingungen konfrontiert, als ältere Menschen. Sie nutzen andere Kommunikationsformen und stehen mit anderen Menschen in Kontakt. Eine globalisierte Kommunikationswelt bietet ihnen viele Möglichkeiten. Politisch ist insbesondere die Verteilungsfrage. Denn was auf den ersten Blick als ein Segen erscheint, hat eine Kehrseite. Sei es in der Kindheit, wo möglichst früh schon möglichst viel gelernt werden soll; sei es in der Schul- und Ausbildungszeit, wo zugunsten einer kürzeren Ausbildungsdauer – junge Menschen sollen ja möglichst schnell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen – der sogenannte Workload erhöht wird; und sei es im Arbeitsleben, das wieder zunehmend das ganze übrige Leben zu durchdringen versucht. Der Kampf um das eigene Fortkommen, um die eigene Lebensgrundlage bestimmt das Leben von vielen jungen Menschen.

Unter dem Zeitdruck besteht die reale Gefahr, dass ehrenamtliches Engagement nur noch unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Lebenslaufs betrachtet wird.

Dieser Zwiespalt wird an zwei Diagnosen deutlich, die über die junge Generation gefällt werden. Zum einen will diese Generation mehr Zeit für Freunde und Familie haben, auf der anderen Seite zählen materielle Werte und Kariere sehr viel. Die neuesten Umfragen unter Studierenden zeigen, dass die Perspektive auf das persönliche Fortkommen und den beruflichen Erfolg hohen Stellenwert genießen. Unter dem Zeitdruck besteht die reale Gefahr, dass ehrenamtliches Engagement nur noch unter MAGAZIN

dem Gesichtspunkt des persönlichen Lebenslaufs betrachtet wird. Auch im politischen Alltag scheint Zeit zur Mangelware geworden zu sein. Die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Anforderungen, politischer Prozesse und globaler Interaktionen erfordert zwangsläufig einen höheren Zeiteinsatz. Doch da zugleich die politischen Herausforderungen und Themen zunehmen, muss auch in diesem Bereich immer mehr in immer weniger Zeit bearbeitet, diskutiert und entschieden werden. Berühmt-berüchtigt geworden sind beispielsweise die langen Nachtsitzungen der europäischen Regierungschefs angesichts des finanziellen Kollapses 2008. Und Jahr für Jahr quälen sich StadträtInnen, Landtagsabgeordnete und Bundestagsmitglieder durch immer dickere Haushaltsentwürfe. Zeit für ein Stoppzeichen Wir sehen auch, dass junge Menschen sich zunehmend nur noch punktuell in politische und gesellschaftliche Prozesse einbringen. Die Zeit, sich intensiv mit politischen Inhalten auseinanderzusetzen oder sich ehrenamtlich zu engagieren, wird weniger. Die Zahl der Vereinsmitgliedschaften als Indikator bildet diese Veränderung nur unzureichend ab. Einige Studien gehen sogar soweit, ein generell gesunkenes Desinteresse der jungen Generation an politischen Prozessen festzustellen. Zeit, ein Stoppzeichen zu setzen und sich stärker und bewusster mit Zeit und dem erlebten Zeitverlust auseinanderzusetzen. Insbesondere die Entgrenzung der Arbeit, die zunehmende Auflösung insbesondere zeitlicher Schranken zwischen der Erwerbsarbeit und unserem privaten Lebensbereich, rückt zunehmend in den Fokus der Politik. Doch herkömmliche rechtliche 7


Grenzsetzungen scheinen nicht mehr zu helfen. Die Flexibilisierung der Wirtschaft zieht eine Flexibilisierung der Arbeit nach sich und übt somit zunehmend auch einen Flexibilisierungsdruck auf die übrige Lebenszeit aus. In diesem Heft wollen wir die Grundlagen von Zeitpolitik beleuchten und neu diskutieren. Wir wollen fragen, wie die junge Generation über die Verfügbarkeit von Zeit denkt und welche politischen Ansatz-

8

punkte es gibt, um Zeit umzuverteilen. Der Kampf um Zeit ist kein neuer, sondern begleitet die SPD und die Jusos schon seit langem. In den letzten 150 Jahren ist es gelungen, für die Breite der Gesellschaft mehr Zeit zu erkämpfen. Aber die gesellschaftlichen Voraussetzungen haben sich geändert. Deshalb kommt es darauf an, diesen Anspruch wiederzubeleben und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Hierfür soll dieses Heft einen Beitrag leisten.

Zeit für Zeitpolitik Argumente 2/2014


Der neoliberale Umbau geht weiter – Wie Freihandelsabkommen ‚Neuen Typs’ unsere Gesellschaftsordnung weiter unterminieren werden von Johannes Gerken, Zentrum für Lehrerbildung der Universität Kassel, Mitglied im Juso-Bundesvorstand sowie stellv. Vorsitzender der Kasseler SPD

„Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel“, so Karl Marx 1848 in seiner Rede über die Frage des Freihandels vor der Demokratischen Gesellschaft zu Brüssel. Auch heute stellt sich wieder die Frage, ob und wie weitgehend wir als SozialistInnen Freihandelspolitik unterstützen können, verhandelt die Europäische Union (EU) doch gerade eine Reihe von Freihandelsabkommen Neuen Typs (TTIP, CETA, TISA). Ob hierbei Marx‘ Hinweis und sein Geschichtsoptimismus aber wirklich hilfreich erscheinen, darf heute durchaus bezweifelt werden. Dennoch gilt es, die aktuelle EU-Freihandelspolitik im Lichte der momentan bestimmenden Gesellschaftsformation zu analysieren MAGAZIN

und sie als das zu entlarven, was sie ist: Die Fortführung des neoliberalen Umbaus unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Neoliberale Hegemonie und europäische Freihandelsdoktrin Wir erleben derzeit ein Paradox: Das sich seit den 1970er/80er Jahren durchsetzende neoliberale Hegemonieprojekt1, das mit seinen Prämissen der Liberalisierung, Privatisierung und Ökonomisierung eine hegemoniale Stellung erreichen konnte und insofern die entscheidenden Weichen für die Wirtschafts- und Finanzkrise, wie in der Folge auch für die soziale Krise der Jahre 2007ff. gestellt hat, lebt weiter und kann im Schatten dieser multiplen Krise (u.a. 1) Teile der kritischen Europaforschung beziehen sich in der Theoriebildung auf Gramscis Hegemoniebegriff. Für einen kurzen Überblick über den „Marxismus Antonio Gramscis“ siehe u.a. Ecke (2011).

9


Brand 2009) seinen Einfluss sogar noch erweitern, sich gar zum Teil „radikalisieren“ (Buckel et al. 2012: 31). Schließlich konnten im Lichte der „Krisenbewältigung“ weitere neoliberale politische Projekte vorangetrieben werden: Austeritätspolitik, technokratisch-autoritäre Euro- und Wirtschaftskoordination, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen usw. (u.a. Zacune 2013). Nicht zu Unrecht spricht van Apeldoorn (2009: 22) deshalb vom „embedded neoliberalism“, der es schafft, durch eine Strategie der Einbindung konkurrierende Hegemonieprojekte und ihre ideologischen Prämissen weitestgehend zu neutralisieren. Dies ist ein möglicher Grund dafür, dass der Neoliberalismus weiterhin wirkungsmächtig, wenn durchaus umstrittener denn je, agieren kann. Ein anderer lässt sich in einem Strategiewechsel verorten: „Zur Aufrechterhaltung der herrschenden Machtverhältnisse soll notfalls Zwang die wegbrechende Zustimmung ersetzen.“ (Oberndorfer 2012: 51) Die den Neoliberalismus tragenden Akteure haben in der EU jedenfalls eine Basis etablieren können, auf der der Staat, die Gesellschaft und die etablierte Wirtschaftsordnung fortwährend in Richtung eines „disciplinary neoliberalism“ (Gill 1998) umgebaut werden. So kann auch die europäische Freihandelspolitik in diese Logik eingeordnet werden: „[…] International agreements on trade and investment can be understood as reinforcing national and regional policies to restructure the state and thus lock-in neoliberal reforms politically, thereby securing the rights of investors and property holders.“ (ebd.: 10) Nachdem in den letzten Jahrzehnten bereits eine Reihe von freihandelspolitischen Projekten im Rahmen von WTO und bilateralen Abkommen umgesetzt wurden, kommen nun mit TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), CETA (Comprehensive 10

Economic and Trade Agreement) und TISA (Trade in Service Agreement) Abkommen hinzu, die mit Teilen der bisherigen Prämissen der europäischen Freihandelsdoktrin brechen und sie noch stärker in Richtung der neoliberalen Ideologie verorten. Freihandelsabkommen ‚Neuen Typs‘ Zugegeben: Nicht alles an den derzeit im Mittelpunkt stehenden Freihandelsabkommen ist neu, schließlich haben die EU und auch Deutschland bereits eine große Zahl von Freihandelsabkommen geschlossen, die bspw. so genannte Investor-toState-Dispute-Settlements (ISDS), also die viel kritisierten außergerichtlichen Streitschlichtungsverfahren enthalten. Wurde die Implementierung solcher Verfahren bisher mit Zweifeln an der Stabilität des Rechtsstaats in Entwicklungs- und Schwellenländern begründet, kann diese für die USA und die EU (im Falle des TTIP) oder auch Kanada (CETA) nicht ernsthaft bezweifelt werden. Wir erleben also in einem beispiellosen Verfahren, wie die EU ohne jegliche Notwendigkeit rechtsstaatliche Prinzipien zu Gunsten der Interessen großer interund multinationaler Konzerne aufzugeben bereit ist. Zu Recht kann man mit Bréville und Bulard (2014) diese Absicht mit der Formel „Profit als höchstes Rechtsgut“ beschreiben – zumal die Höhe der derzeitigen ausländischen Direktinvestitionen aus der EU in den USA und umgekehrt nicht erkennen lassen, dass die Investoren bisher die Rechtsstaatlichkeit dieser beiden Investitionsstandorte in Zweifel gezogen hätten (Eurostat 2014). Nicht nur die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Beschneidung der demokratischen Institutionen steht auf der Verhandlungsagenda. Dies lässt sich anhand der so genannten StandDer neoliberale Umbau geht weiter Argumente 2/2014


still- und Ratchet-Klauseln ablesen, die in den Abkommen festgeschrieben werden sollen. Sie sollen sicherstellen, dass einmal getroffene Liberalisierungs- und Privatisierungsentscheidungen nicht rückgängig gemacht werden können. Gerade im Hinblick auf TISA, dem Abkommen, das derzeit von 50 Staaten plurilateral verhandelt wird und den gesamten Dienstleistungsbereich (inklusive öffentlicher Dienstleistungen) umfassen soll, ist dies ein weitreichender Schritt und ein fundamentaler Angriff auf die öffentliche Daseinsfürsorge. Hinzu kommt, dass in allen der drei Abkommen von Seiten der EU explizit ein neuer Mechanismus fokussiert wird: Der Negativlisten-Ansatz. Bisher wurde in Verträgen festgeschrieben, welche Bereiche explizit einer Liberalisierungs- und Privatisierungsagenda unterzogen werden sollen (Positivliste). Mit dem neuen Ansatz hingegen werden jegliche Bereiche erfasst, sofern sie nicht explizit ausgenommen werden (Negativliste). „Seine Ziele wie seine Verfahren hat das Tisa einfach von seinem Vorgänger Gats übernommen. Als höchste Priorität wird definiert, die Privatisierung in allen Bereichen voranzutreiben und zu verhindern, dass die einmal dem freien Markt beziehungsweise dem Privatsektor überlassenen Dienstleistungen jemals wieder von der öffentlichen Hand übernommen werden.“ ( Jennar 2014: 17) Demokratisch gewählten Parlamenten wird, sind die Verträge einmal ratifiziert, entsprechend jegliche Gestaltungsmacht genommen. Nur ein Mehr an Privatisierung wäre dann noch denkbar, ein Zurück aber ausgeschlossen, getreu dem Motto „list it or lose it“ (Fritz 2014a: 97)! Hinzu kommt, dass auch im Bereich der Regulierungen, deren Abbau bzw. Harmonisierung einer der angeführten Hauptgründe für die Verhandlung des TTIP darstellt, neue Formen der Kooperation diskutiert werden. So MAGAZIN

warnt Fritz (2014b: 6) davor, dass Konzerne zukünftig in einem „Rat für regulatorische Kooperation“ selber die Gesetze schreiben könnten, die später lediglich formal durch gewählte VolksvertreterInnen abgesegnet werden würden. Geopolitische Motive und die Sozialdemokratie Dass neben den Konzerninteressen durchaus auch geopolitische Überlegungen bei den Verhandlungen der jetzigen Abkommen eine Rolle spielen, sollte nicht verschwiegen werden. Nachdem die Verhandlungen bezüglich weiterer Handelsliberalisierungen im Rahmen der WTO (Stichwort Doha-Runde) und somit auch der multilaterale Ansatz in der Handelspolitik ins Stocken geraten ist, wird auf eine Fokussierung auf bilaterale (TTIP & CETA) und plurilaterale (TISA) Verhandlungen gesetzt. Nicht von ungefähr bezeichnet sich die 50er Gruppe, die derzeit TISA verhandelt, selber als die „wirklich guten Freunde der Dienstleistungen“. Besonders interessant ist hieran zudem, dass die WTO-Regularien es zulassen, die getroffenen TISA-Vereinbarungen später einfach zu „multilateralisieren“ und somit für alle Mitglieder verbindlich zu machen ( Jennar 2014: 17). Hinzu kommen US-amerikanische Interessenslagen, die durch ihre verfolgte Handelspolitik auf eine Schwächung Chinas auf dem Weltmarkt zielen. So verhandeln die USA bspw. parallel zu TTIP die Trans-Pacific-Partnership (TPP) unter Ausschluss Chinas. Die Sozialdemokratie muss entsprechend wachsam sein, mit wem sie im Falle der Freihandelspolitik Koalitionen eingeht. Wenn Sigmar Gabriel im Vorwärts (22.08.2014) davon spricht, dass die Verhandlungen um das TTIP einen Beitrag zur 11


Gestaltung der Globalisierung durch demokratische Politik leisten könne, dann sollte dies Warnung und Auftrag sein, sich die bisherigen Verhandlungen und deren Ergebnisse noch einmal vor Augen zu führen. Sowohl Sigmar Gabriel als auch Bernd Lange (2014), handelspolitischer Obmann der SozialistInnen im Europäischen Parlament, machen deutlich, wie ein Abkommen nicht aussehen darf, bzw. welche Punkte nicht Bestandteil der Vereinbarungen sein dürfen, sprechen sich indes aber für die Weiterführung der begonnen Verhandlungen aus. Auch der Parteikonventsbeschluss2 vom September greift diese Linie auf. Dabei wird aber übersehen, dass das Verhandlungsmandat3 der Staats- und Regierungschefs zu TTIP und das fertig ausgehandelte CETA-Abkommen4 vorliegen. Beide reißen die definierten roten Linien und trotzdem soll weiter verhandelt werden. Konsequenter und glaubwürdiger wäre eigentlich, die TTIP-Verhandlungen sofort zu stoppen und unter sozialdemokratischen Bedingungen neu zu beginnen. Vielleicht sind Teile der Sozialdemokratie aber auch schon der neoliberalen Propaganda-Maschinerie mit prophezeiten Wachstumsschüben und Jobwundern5 erlegen oder im Zweifel sogar selber zu stark in das neoliberale Hegemonieprojekt eingebettet. Ein sozialdemokratischer Gestaltungsanspruch in Bezug auf eine sozial und nachhaltig begleitete Globalisierung sollte jedenfalls anderen Prämissen folgen.

2) http://www.spd.de/linkableblob/123760/data/ 20140920_parteikonvent_beschluss_ttip.pdf 3) http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ ST-11103-2013-DCL-1/de/pdf 4) http://www.tagesschau.de/wirtschaft/cetadokument-101.pdf 5) Zur kritischen Auseinandersetzung mit den vorgelegten Studien zu TTIP (u.a. vom Bundeswirtschaftsministerium) siehe u.a. Beck & Scherrer (2014).

12

Literatur: Beck, S. & Scherrer, C. (2014). Das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) zwischen der EU und den USA. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Brand, U. (2009). Die Multiple Krise. Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Bréville, B. & Bulard, M. (2014). Profit als höchstes Rechtsgut. Le Monde diplomatique Juni 2014, S. 19. Buckel, S.; Georgi, F.; Kannankulam, J. & Wissel, J. (2012). Kräfteverhältnisse in der europäischen Krise. In Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hrsg.), Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling (S. 11-48). Münster: Westfälisches Dampfboot. Ecke, M. (2011). Integraler Staat, Hegemonie und Philosophie der Praxis – Der Marxismus Antonio Gramscis. Argumente 3/2011. S. 29-33. Eurostat (20.06.2014). Pressemitteilung: USA mit 313 Milliarden Euro bei Weitem der größte Investor in die EU28 im Jahr 2013. (http://europa.eu/rapid/press-release_STAT14-99_de.pdf [16.09.2014]). Fritz, T. (2014a). Geheimwaffe TTIP: Der Ausverkauf der öffentlichen Güter. Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2014. S. 93-100. Fritz, T. (2014b). TTIP: Die Kapitulation vor den Konzernen. Eine kritische Analyse der Trans atlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft. Berlin: PowerShift. Gabriel, S. (22.08.2014). Wir müssen TTIP entmystifizieren. Vorwärts 8/2014. Gill, S. (1998): European Governance and New Constitutionalism: Economic and Monetary Union and Alternatives to Disciplinary Neoliberalism in Europe. New Political Economy 1/1998. S. 5-26. Jennar, R. M. (2014). Vorsicht, Tisa! Le Monde diplomatique September 2014. S. 17. Lange, B. (30.08.2014): Die roten Linien von TTIP. Unter welchen Bedingungen wir dem Abkommen zustimmen werden. Internationale Politik und Gesellschaft. (http://www.ipgjournal.de/kommentar/artikel/die-roten-linien-von-ttip-559/ [30.08.2014]). Marx, K. (1848). Rede über die Frage des Freihandels. (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_444. htm [15.09.2014]). Der neoliberale Umbau geht weiter Argumente 2/2014


Oberndorfer, L. (2012). Hegemoniekrise in Europa – Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus? In Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hrsg.), Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling (S. 49-71). Münster: Westfälisches Dampfboot. van Apeldoorn, B. (2009). The Contradictions of ‘Embedded Neoliberalism‘ and Europe’s Multi-Level Legitimacy Crisis: The European Project and its Limits. In Ders.; Drahokoupil, J. & Horn, L. (Hrsg.). Contradictions and Limits of Neoliberal European Governance. From Lisbon to Lisbon (S. 21-43). Basingstoke: Palgrave Macmillan. Zacune, J. (2013). Privatising Europe. Using the Crisis to Entrench Neoliberalism. Amsterdam: Transnational Institute.

Johannes Gerken studierte Politik-Wirtschaft und Geschichte fürs Gymnasiallehramt, arbeitet derzeit am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Kassel, ist Mitglied im Juso-Bundesvorstand sowie stellv. Vorsitzender der Kasseler SPD. Er arbeitet gerade an seinem Promotionsvorhaben im Bereich europäischer Integrationsforschung.

MAGAZIN

13


Die Energie-Wende im Stromsystem und die Reformen des Strommarktdesigns von Felix Chr. Matthes, Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut

Die Umgestaltung des Stromsystems hin zu erneuerbaren Energien bildet den Kern der Energiewende. Sie befindet sich in der Endphase der ersten Etappe – im Jahr 2014 wird die Marke von 25% am gesamten Stromaufkommen deutlich überschritten werden. Erneuerbare Energien leisten nicht nur einen signifikanten Beitrag zur Stromerzeugung insgesamt, sie beginnen auch, das Stromsystem und die Strommärkte deutlich zu prägen. Noch vor 2020 wird in einer zunehmenden Zahl von Stunden der gesamte Strombedarf in Deutschland von Wind- und Solarenergie gedeckt werden können, mit der Folge, dass die Preise an den Strombörsen auf Null fallen. Der heutige Strommarkt, aufgesetzt in einer Welt aus Gas- und Kohlekraftwerken, verliert massiv an Ertragskraft. Weder können sich Investitionen in Sonnenoder Windkraftwerke, noch die notwendigen Ergänzungselemente des Systems, wie Backup-Kraftwerke, Einrichtungen zur Flexibilisierung des Strombedarfs oder Speicher, über den heutigen Strommarkt refinanzieren. Gerade in einer solchen Situation be14

kommt die Reform des Strommarktdesigns eine ganze neue Relevanz und Dringlichkeit.

Im Kern geht es darum, ob es möglich sein wird, in einem grundsätzlich über Wahlfreiheit der Verbraucher und wettbewerbliche Strukturen gekennzeichneten Strommarktsystem einen sehr großen Anteil der Stromerzeugung nach dem Prinzip der regulierten Kostenerstattung zu flankieren.

Zunächst geht es dabei um das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Ursprünglich eingeführt, um eine Initialzündung für erneuerbare Energien zu erzeugen, zeigt sich mehr und mehr, dass es auch langfristig nicht möglich sein wird, auf ein Instrument zu verzichten, das die Lücke zwischen den im herkömmlichen Strommarkt erzielbaren Erlösen (s.o.) und der Refinanzierung der notwendigen Investitionen schließen kann. Wenn aber ein solches Refinanzierungsinstrument langfristig notwendig bleibt, stellt

Die Energie-Wende im Stromsystem und die Reformen des Strommarktdesigns Argumente 2/2014


sich die Frage, wie es ausgestaltet werden muss, wenn es um die hälftige oder mehrheitliche Übernahme der Stromversorgung geht. Dabei geht es um spezifische wirtschaftliche Anreize und Funktionalitäten, aber auch um die Passfähigkeit in das größere wirtschafts- und gesellschaftspolitische Bild und damit auch um sehr grundsätzliche Aspekte. Einerseits betrifft dies die Passfähigkeit zum Grundmodell des Strommarktes. Im Kern geht es darum, ob es möglich sein wird, in einem grundsätzlich über Wahlfreiheit der Verbraucher und wettbewerbliche Strukturen gekennzeichneten Strommarktsystem einen sehr großen Anteil der Stromerzeugung nach dem Prinzip der regulierten Kostenerstattung zu flankieren – und das in einer Europäischen Union, für die der wettbewerblich organisierte Binnenmarkt für Strom einen hohen und rechtsverbindlich kodifizierten Stellenwert hat. Es geht es aber auch darum, wie in diesem Rahmen einer der bisher großen Erfolge des EEG, die sehr breite ökonomische Partizipation („Bürgerenergie“) an der Energiewende gesichert werden kann.

schließlich eine Maximierung der erzeugten Strommenge anzureizen, auch wenn ein zunehmender Anteil zu Zeiten produziert wird, in denen der Strom keinen Wert mehr hat? Insbesondere, wenn andere Anlagenkonzepte existieren (Schwachwindanlagen, west/-ost-ausgerichtete Solaranlagen), die möglicherweise etwas weniger Strom produzieren, dies aber zu Zeiten, in denen der Strom eine höhere Wertigkeit hat? Und ist es wirklich sinnvoll und längerfristig (politisch) haltbar, dass die Risiken des Strommarktes für die Regenerativproduzenten weitgehend von der Allgemeinheit übernommen werden, gleichzeitig aber diejenigen Akteure, die in Maßnahmen zur Nachfrageflexibilisierung, in Backup-Kraftwerke oder Stromspeicher investieren, den Marktrisiken voll ausgesetzt bleiben? Und werden in einem europäischen Binnenmarkt rein nationale Finanzierungsinstrumente für erneuerbare Energien Bestand haben können?

Ist es wirklich zukünftig noch sinnvoll, ausschließlich eine Maximierung der erzeugten Strommenge anzureizen, auch wenn ein zunehmender Anteil zu Zeiten produziert wird, in denen der Strom keinen Wert mehr hat?

Einfache Antworten auf diese Herausforderungen gibt es nicht. Vor allem die zeitliche Einordnung der Reformnotwendigkeiten und möglicher Reformschritte ist besonders kritisch. Daher spricht viel dafür, einen schrittweisen Reformprozess zu konzipieren, der die notwendigen Veränderungsnotwendigkeiten akzeptiert und – in überschaubaren Reformetappen organisiert –, Lernprozesse und Harmonisierungsschritte ermöglicht.

Neben diesen fundamentalen, oft ausgeblendeten bzw. nur selektiv wahrgenommenen Fragen, muss aber auch besser reflektiert werden, welche Anreizwirkungen das heutige Finanzierungsmodell für regenerative Stromerzeugungsanlagen hat. Ist es wirklich zukünftig noch sinnvoll, aus-

Die gerade abgeschlossene EEG-Reform adressiert einige der notwendigen Reformschritte, lässt aber keine strukturelle Vision eines zukünftigen Energiemarktes erkennen. Sie schafft den zentralen Aufkauf der Regenerativstrommengen ab und verpflichtet die Produzenten oder entsprechend spezialisierte Dienstleister, den

MAGAZIN

15


Strom direkt zu vermarkten. Letztlich sind die damit einhergehenden materiellen Veränderungen gering. Mit Blick auf die generelle Struktur des Strommarktes ist dieser Schritt wahrscheinlich richtig. Gleiches gilt für die Einführung von Ausbaukorridoren, die, wenn sie richtig parametrisiert sind (was derzeit nicht gänzlich der Fall ist), den Ausbau der regenerativen Stromerzeugung stabilisieren können. Grundsätzlich richtig ist sicher auch das Auslaufen der Finanzierung von Biomasseverstromung, die mit Blick auf die längerfristig erwartbaren Kosten wie auch die Nachhaltigkeitsproblematik keine große Rolle in einem Stromerzeugungssystem der Zukunft spielen kann.

Es geht vor allem darum, dass ohne strukturelle Vorstellungen zum zukünftigen Strommarkt die Gefahr wächst, dass grundsätzlich notwendige und richtige Reformschritte in der falschen Reihenfolge und Intensität angelegt werden.

Überstürzt ist ganz sicher der sehr breite Übergang zu Ausschreibungen für die Finanzierung erneuerbarer Energien. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die strukturelle Reform der Finanzierung (also weg von der Mengenmaximierung und hin zur Wertoptimierung) einer wettbewerblichen Vergabe der Finanzierung vorgeschaltet sein sollte. Nach den derzeitigen Entwicklungen wird die vorschnelle und breite Einführung von Ausschreibungen ab 2017 mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass ein nicht zukunftsfähiges Finanzierungsmodell (Honorierung der Strommengen) mit großem Aufwand wettbewerblich organisiert wird 16

und der Übergang zu einem längerfristig sinnvollen Modell (Honorierung des Stromwerts und der systemdienlichen Anlagenauslegung) eher behindert wird. Dies bedeutet natürlich keineswegs, dass staatlich festgelegte Vergütungen im derzeitigen Grundmodell eines liberalisierten Strommarktes längerfristig bestandsfähig sein können. Es geht vor allem darum, dass ohne strukturelle Vorstellungen zum zukünftigen Strommarkt die Gefahr wächst, dass grundsätzlich notwendige und richtige Reformschritte in der falschen Reihenfolge und Intensität angelegt werden. Damit können erhebliche Komplikationen entstehen, die wiederum den Reform- und letztlich auch Ausbauprozess insgesamt behindern und verzögern. Zunehmend unakzeptabel ist auch der mit der EEG-Novelle von 2014 zementierte Ansatz, dass die Umbaukosten des Stromsystems (in dem auch ohne Energiewende erhebliche Investitionen notwendig wären) gänzlich auf die Schultern der kleinen Haushalts-, Gewerbe- und Industriekunden abgeladen bzw. sehr breite Teile der Industrie mehr oder weniger vollständig von diesen Kosten entlastet werden. Die Frage einer nachhaltigen ökonomischen Basis des Stromsystems und der dafür notwendigen Reformen beschränkt sich jedoch nicht nur auf die regenerative Stromerzeugung. Auch für die anderen Segmente des Stromsystems, die langfristig eine Rolle spielen werden (CO2-arme Backup-Kraftwerke, Nachfrageflexibilität, Stromspeicher), müssen letztlich die gleichen Fragen gestellt und beantwortet werden. Auch hier sind die Antworten weder materiell noch politisch einfach (Stichwort: Kapazitätsmärkte!), müssen aber in einem schrittweisen Reformprozess angegangen werden. Auch wenn dies nicht immer einfach ist, wird man dabei nicht umhinkommen, für

Die Energie-Wende im Stromsystem und die Reformen des Strommarktdesigns Argumente 2/2014


Konsistenz und auch Konvergenz zwischen den Grundannahmen und Prioritäten im regenerativen und im nicht-regenerativen Segment des Strommarktes zu sorgen.

Denn die Energiewende kann auch noch scheitern, nicht nur, aber auch aus ökonomischen Gründen.

Insgesamt zeigt sich, dass die verschiedenen Arrangements im Strommarktdesign vor einem längeren Prozess schrittweiser Anpassungen stehen, in dem Irrtümer und Kurskorrekturen wohl nicht vermieden werden können. Wenn das grundsätzliche Zielsystem jedoch verstanden ist und die Reformen strategisch angelegt sind, können Verwerfungen während des Reformprozesses minimiert werden. Hier gibt es dringenden Nachholbedarf. Während die Energiewende im technischen Bereich visionskräftig verstanden wird, sind strategische Vorstellungen zu den Arrangements, die eine nachhaltige ökonomische Basis dieses Systems im Kontext eines ambitionierten Umbaus des Stromsystems absichern, eher rar. Diese Lücke im wissenschaftlichen, aber auch und besonders im politischen Diskurs gilt es schnellstmöglich zu schließen. Denn die Energiewende kann auch noch scheitern, nicht nur, aber auch aus ökonomischen Gründen.

MAGAZIN

Felix Chr. Matthes, diplomierter Elektrotechnik-Ingenieur und promovierter Politologe ist Forschungskoordinator für Energieund Klimapolitik am Öko-Institut. Er hat in den letzten 25 Jahren am Öko-Institut zu vielfältigen Themen nationaler und internationaler Energie- und Klimapolitik gearbeitet, war und ist Mitglied verschiedener Beratergremien von Bundes- und Landesregierungen in Deutschland sowie der Europäischen Kommission. Das Strommarktdesign der Energiewende bildet einen seiner aktuellen Forschungsschwerpunkte.

17


Einwanderungs-/ Einbürgerungsland Deutschland – Gerechtigkeitslücken schließen! von Ceylan Özcetin, Ökonomin und stellv. Vorsitzende der Juso AG Mannheim-Innenstadt/Jungbusch

ArbeitsmigrantInnen, Flüchtlinge und AussiedlerInnen bilden die drei großen Zuwanderungsbewegungen nach Deutschland. Diese Menschen sind gekommen, um zu bleiben. Kriege, Armut, Globalisierung, Ressourcenverknappung, demografischer- und Klimawandel lassen mit einem Wachsen der weltweiten Migrationsströme rechnen und dürften somit für eine Zunahme der Zuwanderung nach Deutschland sorgen. Die Modernisierung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts wurde und wird von Kontroversen geprägt. Auf Initiative der SPD ist der Optionszwang für junge Menschen abgeschafft, die nach 2000 in Deutschland geboren sind und neben der ausländischen Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auch über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen. Die Abschaffung des Optionszwangs gilt auch für die Jahrgänge von 1990 bis 1999, die neben der ausländischen Staatsangehörigkeit den deutschen Pass nachträglich bis zum 31. Dezember 2000 beantragen konnten. Im letzteren Fall wäre es sinnvoller gewesen, statt einer Einjahresfrist eine längere mehrjährige Frist für die 18

Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit zu setzen. Die Signalwirkung für die jungen Menschen, die von der Abschaffung des Optionszwangs profitieren, darf nicht unterschätzt werden. Sie müssen sich nicht mehr im Alter von 18 bis 23 Jahren zwischen der einen oder anderen Staatsangehörigkeit entscheiden. Die Mehrstaatlichkeit wird akzeptiert. Bei Staatsangehörigen aus den Mitgliedsstaaten der EU, der Schweiz und Ländern, die ihre Angehörigen generell nicht aus der Staatsangehörigkeit entlassen, gilt die Einbürgerung ebenso unter Annahme der Mehrstaatlichkeit. Menschen, die in Deutschland geboren sind, bei Geburt nur die ausländische Staatsangehörigkeit ihrer Eltern erhalten haben und zur Gruppe der nicht derart privilegierten Länder gehören, haben jedoch weiterhin keine Möglichkeit, die doppelte Staatsangehörigkeit zu erlangen. Ein aufgedrücktes „Entweder oder“ entspricht aber keinem zeitgemäßen Verständnis von Staatsangehörigkeit, genau so wie die Debatte über deutsche Leitkultur der Vergangenheit angehören sollte. Darüber hinaus folgt auf eine Ausgrenzung in Deutschland

Einwanderungs-/Einbürgerungsland Deutschland – Gerechtigkeitslücken schließen! Argumente 2/2014


eine solche im Herkunftsland, werden doch viele der Eingewanderten bzw. hier Geborenen in ihren ursprünglichen Herkunftsländern als Deutsche angesehen. Schritt für Schritt schreiten wir voran – Ein Rückblick Im Staatsangehörigkeitsrecht spielt die Nation (lat. Natio: „Geburt, Herkunft, Volk“) eine zentrale Rolle. Für Nationalstaaten war lange Zeit die Vermeidung von Mehrstaatlichkeiten kennzeichnend: „Das Verhältnis von Staat und Bürger galt als exklusiv und die politische Loyalität als unteilbar.“ (Gerdes et al.,2006) Bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit kann aber prinzipiell zwischen dem Kriterium des Geburtsorts (lat. ius-soli) und der Herkunft (lat. ius-sanguinis) unterschieden werden. Bereits Heinz Kühn merkte in seinem Memorandum aus dem Jahr 1979 an, dass den jungen Menschen, die in Deutschland bleiben würden, nicht zugemutet werden könne, auf Dauer vom Ausländerrecht abhängig zu sein (vgl. Kühn 1979, 43). Hiermit wird zugleich auch eine politische Artikulation verwehrt – dies, obwohl das Wählerpotenzial in einigen Städten im zweistelligen Prozentbereich liegt. 1999 entfachte sich im Vorfeld der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts durch die rot-grüne Regierungskoalition unter Kanzler Gerhard Schröder eine heftige Kontroverse. Die rechte Stimmungsmache im hessischen Landtagswahlkampf im selben Jahr durch den CDU-Spitzenkandidaten und späteren Ministerpräsidenten Roland Koch brachte die unrühmliche Unterschriftenkampagne „Ja zur Integration – nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“ hervor. „Kann ich hier gegen die vielen Ausländer unterschreiben?“ gehörte dabei zu den MAGAZIN

oft auftauchenden Fragen (vgl. Wolfrum 2013, 330). Im Jahr 2000 wurde schließlich das veraltete Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 1913 modernisiert und um das Geburtsprinzip ergänzt. Aufgrund der Blockadehaltung der CDU wurde jedoch auch der Optionszwang als ein unglücklicher Kompromiss im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat mit aufgenommen. Der anschließende Rückgang der Einbürgerungen, insbesondere bei Menschen aus den Herkunftsländern Türkei und Russland (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, 12) wäre mit der doppelten Staatsangehörigkeit weniger drastisch ausgefallen. Mit der diesjährigen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und der Beseitigung des Optionszwangs ist nun auf eine höhere Anzahl an Einbürgerungen zu hoffen, da die unsägliche und wahrscheinlich sogar verfassungswidrige Praxis der Ausbürgerung wie auch die massenhafte Belastung der Vewaltungen beseitigt sind. Gerechtigkeitslücken und Relevanz

„Denn nicht das, was sie sagen, ist entscheidend, sondern das, was gehört wird.“ (Spivak 2008, S.8)

Wer über kein Wahlrecht verfügt, kann politische Entscheidungen nicht beeinflussen. Die Spaltung in BürgerInnen und EinwohnerInnen ohne politische Mitbestimmungsrechte muss überwunden werden. Jede und jeder hat das gleiche Recht auf die politische Gestaltung seines Gemeinwesens! Das Fehlen der deutschen Staatsangehörigkeit (bzw. die eines EU-Mitglieds19


landes) sorgt auch für eine eingeschränkte Berufswahl, da bspw. das Beamtentum nicht angestrebt werden kann. Auch sorgt es für eine eingeschränkte Mobilität, da die Aufenthaltsgenehmigung ab einer bestimmten Zeitdauer im Ausland erlischt. Die Tatsache, dass die Institutionen die Bevölkerung vor Ort nicht abbilden, sorgt für eine Misstrauenskultur. Die Akzeptanz der diskriminierungsfreien Mehrstaatlichkeit würde hingegen die Misstrauenskultur beenden und die Verwaltungen entlasten, indem langwierige Ausbürgerungsverfahren entfallen würden. Dass die Argumentation von konservativer Seite, Doppelstaatlichkeit führe zu politischen Loyalitätskonflikten, in sich nicht stimmig ist, bewies übrigens gerade der niedersächsische CDU-Ministerpräsident und Doppelstaatler David McAllister. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, ist es gerade notwendig, dass alle hier lebenden Menschen mit am Tisch sitzen und gemeinsam entscheiden. 20 % der in Deutschland lebenden Menschen haben mittlerweile einen Migrationshintergrund. Der Anteil unter den jungen Menschen ist dabei wesentlich höher, dies vor allem in den multikulturellen Großstädten. Führend ist Frankfurt am Main, in dem sieben von zehn Kindern unter dem 6. Lebensjahr über einen Migrationshintergrund verfügen (vgl. Murr 2012). Die Gesellschaft wandelt sich weiter, Zeit für neue Mehrheiten: Sind die Jusos präsent in allen relevanten Gruppen? In die Bundestagswahl 2013 und die anschließenden Koalitionsverhandlungen ist die SPD mit dem Versprechen der Einfüh20

rung der diskriminierungsfreien doppelten Staatsbürgerschaft gegangen. Was in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU gefolgt ist, war ein politischer Kompromiss.

„Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert.“ (Koalitionsvertrag 2013, Seite 74)

Die Reform ist dennoch ein Erfolg für alle jungen Menschen. Sie ist eine Grundsatzentscheidung und ein Einstieg zur diskriminierungsfreien Mehrstaatlichkeit. Ohne eine SPD-Regierungsbeteiligung wäre dies nicht möglich gewesen. Wir wollen den Doppelpass für Alle! Es gilt, Mehrheiten zur Fortsetzung dieser Reformen zu organisieren, damit die Gerechtigkeitslücken in unserer Gesellschaft geschlossen werden. Alte WählerInnengruppen sind verloren gegangen bzw. existieren nicht mehr, neue tun sich dafür auf. Oftmals wird der „Ausschluss derer, die keine politischen Rechte haben, weil sie entweder nicht die richtige Staatsbürgerschaft besitzen oder illegalisiert werden, nicht erwähnt.“ (Salgado 2010, Seite 11-3) Die Jusos können, vor allem unter den jungen nach Emanzipation strebenden Menschen mit Migrationshintergrund neue MitstreiterInnen und WählerInnen gewinnen. Eine stärkere Öffnung personeller und programmatischer Art innerhalb der SPD ist auch Grundlage für politische Mehrheiten in der Zukunft. Hierfür benötigen wir eine Kommunikation auf Augenhöhe, die klar unsere politischen Ziele benennt. Eine wesentliche Säule stellt die Politisierung der

Einwanderungs-/Einbürgerungsland Deutschland – Gerechtigkeitslücken schließen! Argumente 2/2014


jungen Menschen und deren sichtbare Beteiligung da. Mit ihnen über Mehrstaatlichkeit zu diskutieren und sie in die Reihen der Jusos zu holen, kann dazu beitragen, dass wir unsere Interessen noch überzeugender einbringen und zur politischen Willensbildung und einem modernen und solidarischen Gesellschaftsentwurf beitragen, der von der Mehrheit getragen wird.

Wichtig ist in der Einwanderungsgesellschaft nicht nur, wogegen man sich wehren muss, sondern auch, wofür man gemeinsam einstehen will. Dieses schon mehrfach erwähnte solidarische „Wir“, das das tragende wechselseitige Grundvertrauen in der demokratischen Einwanderungsgesellschaft sichert, ist Extremisten auf allen Seiten ein Dorn im Auge; denn nichts ist für sie lähmender als Anerkennung durch Teilhabe und die gelebte Akzeptanz kultureller Vielfalt in sozialem Frieden. (Bade 2013, 365)

Da, wo kein Stimmrecht vorhanden ist, sind die Menschen auch nicht in der politischen Artikulation ihrer Interessen geübt. Langfristig sind zwei Szenarien denkbar, soll die Politisierung nicht allein ausländischen Parteien und ihren Auslandsorganisationen überlassen werden: Entweder binden die etablierten deutschen Parteien diese Menschen und ihre Interessen ein, oder aber es bilden sich mehr noch als auf Bundes- oder Landesebene in den Großstädten WählerInneninitiativen und eventuell neue Parteien, die sich um die Interessen der jeweiligen Gruppen kümmern.

MAGAZIN

Fazit Mit der Abschaffung des Optionszwangs schließen sich die Gerechtigkeitslücken im Staatsangehörigkeitsrecht immer weiter. Der Kampf um den Doppelpass für alle bleibt auch in den kommenden Jahren ein großes Thema für die Jusos! Durch den Aufbau notwendiger Rahmenbedingungen in der Gemeinde können Einbürgerungen vereinfacht werden. Lange Warte- und Bearbeitungszeiten in den Behörden sollten der Vergangenheit angehören. In der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit sind diese Schritte notwendig, damit ein Mensch seine Chancen unabhängig von seinen Identität(en) nutzen kann.

Literatur: Bade, Klaus J. (2013), Kritik und Gewalt – Sarrazin-Debatte, „Islamkritik“ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Wochenschau Verlag; Auflage: 1 Gerdes, Jürgen / Faist, Thomas (2006), Von ethnischer zu republikanischer Integration – Der Diskurs um die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, Berliner Journal für Soziologie. 2006;16(3):313–335 Koalitionsvertrag (2013), Deutschlands Zukunft gestalten – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2013 Kühn, Heinz (1979), Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und langjähriger sozialdemokratischer Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Kühn-Memorandum – Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland, 7.11-7.12 Murr, Günter (2012), Einwanderer – Hauptstadt Frankfurt, Frankfurter Neue Presse, August 2012 Salgado, Rubia (2010), In der Demokratie gibt es keine Ausnahme. Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Magazin Erwachsenenbildung.at, Ausgabe 11

21


Spivak, Gayatri C. (2008), Can the subaltern speak? – Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia + Kant Statistisches Bundesamt (2013), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Einbürgerungen, Wiesbaden, Fachserie 1 Reihe 2.1 Wolfrum, Edgar (2013), Rot-Grün an der Macht: Deutschland 1998-2005, C.H.Beck, Auflage 1

Ceylan Özcetin hat an den Universitäten Mannheim und Heidelberg Volkswirtschaftslehre studiert. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Juso AG Mannheim-Innenstadt/Jungbusch.

22

Einwanderungs-/Einbürgerungsland Deutschland – Gerechtigkeitslücken schließen! Argumente 2/2014


Now and then – 25 Jahre SDP-Gründung von Andrej Stephan, Historiker an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und stellvertretender SPD-Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt Als sich am 7. Oktober 1989 im Pfarrhaus im brandenburgischen Schwante die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) gründete, betonte sie ihren programmatischen Anspruch einer „ökologisch orientiert[en] soziale[n] Demokratie“ (zitiert nach Initiativgruppe 1989). In einer Situation, in der zunächst nicht auszuschließen war, dass die Staatsführung der taumelnden DDR für den Machterhalt zu Härte greifen würde (beispielhaft Grashoff 2004), war der Gründungsakt von 43 mutigen Menschen ein Novum: In Schwante ereignete sich die folgenreiche Bildung einer wirklich neuen Partei.

einen offiziellen Antrag auf Zulassung stellte die SDP nie. Rasch entstanden lokale Gliederungen. Parteibeitritte erfolgten spontan – etwa, wenn in Versammlungen der SDP in den nicht-öffentlichen Teil übergegangen wurde und anwesende Gäste sich das nicht entgehen lassen wollten. Sitzungen fanden in improvisierten Tagungsräumen wie Pfarr- oder Kirchengemeindehäusern statt.

Im Gegensatz zu FDP und CDU, die als Auffangbecken für die in jeder Weise fragwürdigen Blockparteien LDPD, NDPD und die Ost-CDU dienten, und erst recht im Gegensatz zur PDS, der SEDNachfolgepartei, startete die SDP politisch und organisatorisch völlig neu. Sie schleppte keine personellen Altlasten mit sich herum (aber auch keine Mitgliederlisten, kein Vermögen, keine Immobilien), sondern vereinte QuereinsteigerInnen und Politikneulinge.

Zahlen zur Mitgliederentwicklung der jungen SDP sind nur mit größter Vorsicht anzugeben: Ende November soll die junge Partei 10.000 Mitglieder gehabt haben. Im Juni 1990 könnte diese Zahl auf 30.000 gestiegen und bis 1992 stabil geblieben sein. Zum Vergleich: Die Block-CDU startete im „Umbruch“ mit 130.000 Mitgliedern! Der Zauber des Anfangs der SDP bildete sich in einer Mischung aus einem empathischen, aber unprofessionellen Politikansatz ab. Erst die ab Januar 1990 einsetzende Hilfe der West-SPD führte zur Etablierung von Parteistrukturen, wie die alte Bundesrepublik sie kannte. Auf der Ebene der DDR-Bezirke gründeten sich nun entsprechende Gliederungen, die 1990

Improvisierte Anfänge Improvisiert war daher aller Anfang: Ein Parteiengesetz kannte die DDR nicht, MAGAZIN

Der Zauber des Anfangs der SDP bildete sich in einer Mischung aus einem empathischen, aber unprofessionellen Politikansatz ab.

23


nach der Restitution der (Bundes)-Länder in die Entstehung der heutigen Landesverbände mündeten. Vom 22. bis 25. Februar 1990 fand in Leipzig der erste Parteitag der am 14. Januar in SPD umbenannten Partei statt: Vorsitzender wurde ein Mann, der sich Ibrahim Böhme nannte, rasch große Popularität gewann und der Partei Selbstvertrauen und Zuversicht einhauchte (vgl. zur Gründungsphase von zur Mühlen 1993, aus Sicht der Beteiligten Meckel / Reiche 2010). Hochfliegende Erwartungen und große Ernüchterung: Das Superwahljahr 1990 Die Hoffnungen vieler Genossinnen und Genossen auf einen erdrutschartigen Wahlsieg bei der Volkskammerwahl im März 1990 wurden jedoch bitter enttäuscht – wie auch so manche persönliche Ambition. Die SPD erreichte klägliche 21,9 Prozent (Fikentscher 2006). Die junge Partei geriet in ihre erste Krise. Auch, weil Böhme, der erste Star der Partei, Anfang April 1990 als Hochstapler entlarvt wurde und aufgrund von Stasi-Vorwürfen von allen Ämtern zurücktreten musste. 1992 schloss die Partei ihren charismatischen Kopf der ersten Stunde aus. Wie Böhmes Karriere, so lösten sich auch die Hoffnungen der SPD auf die politische Führung in der demokratisierten DDR und dem späteren Ostteil des wiedervereinigten Deutschland in Luft auf: Nicht nur bei den Volkskammerwahlen im März 1990, sondern auch bei fast allen folgenden Landtagswahlen (Ausnahme: Brandenburg) siegte politisch nicht der Wunsch nach behutsamer Reform und drittem Weg, sondern vielmehr die Hoffnung, die Segnungen der sozialen Marktwirtschaft nach 40 Jahren real existierendem Sozialismus 24

möglichst schnell am eigenen Leibe zu erfahren. Das Versprechen der „blühenden Landschaften“, angesichts des folgenden (und absehbaren) Strukturumbruchs in den Ländern wohl der schrecklichste intellektuelle Irrläufer Helmut Kohls, überzeugte im Wahljahr ebenso stark wie der Glaube an die schnelle Einheit und die Verlockungen der D-Mark. Am 27. September 1990 schließlich vereinigten sich die SPDen in Ost und West in Berlin zur gesamtdeutschen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: zwei Parteien, die sich seit den ersten Begegnungen im Herbst 1989 angenähert und in vielem dennoch fremd geblieben waren (pointiert dazu Gabriel 2010, aus historischer Perspektive für den Weg hierhin seit der Gründung Gohle 2014). „Die“ SPD im Osten? Seitdem hat die SPD in Ostdeutschland eine wechselvolle Geschichte erlebt. Vielleicht müssen wir nach 25 Jahren einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in den neuen Ländern – ausgenommen Berlin, weil es eine gesonderte Darstellung verdient – eine besondere, eine spezifische Form der Sozialdemokratie gibt, die in vielem dennoch der SPD in den alten Ländern ähnelt: Eine Partei (in Brandenburg und MecklenburgVorpommern) nämlich, die das Regieren und das Entscheiden als Tagesgeschäft kennt und bei den Wahlergebnissen, nicht aber in der Struktur, Volksparteicharakter erreicht, also den Verbänden in NordrheinWestfalen, Niedersachsen, RheinlandPfalz, Bremen, Hamburg und im Saarland ähnelt. Eine SPD, die gegen übermächtige konservative Konkurrenz antreten muss (in Sachsen, inzwischen leider auch in Thüringen) – wie die SPD in Bayern und in Baden-Württemberg. Und eine SPD zwi-

Now and then – 25 Jahre SDP-Gründung Argumente 2/2014


schen Baum und Borke (in Sachsen-Anhalt), mit der Aussicht auf eine institutionalisierte Große Koalition oder dem Wagnis „neuer“, zumindest aber anderer Mehrheiten, die Überschneidungen mit dem (jüngeren) Schicksal der SPD in Hessen und Schleswig-Holstein aufweist. Jedenfalls gibt es nicht DIE ostdeutsche Sozialdemokratie schlechthin – sondern etwa 22.000 Parteimitglieder in benachbarten, in Struktur und Geschichte aber unterschiedlichen Landesverbänden. In Ostdeutschland hat die SDP/SPD niemals die Gesamtbevölkerung in ihrer Mitgliedschaft abgebildet. SozialdemokratInnen hier sind nicht in der Wolle eingefärbt. Sie berufen sich, je nach Herkunft, auf sehr unterschiedliche Prägungen, auch auf unterschiedliche Wurzeln. In Ostdeutschland ist die Partei in besonderer Weise akademisiert und intellektualisiert. Waren die Gründungsmütter und -väter noch stark naturwissenschaftlich und theologisch geprägt, wandelt sich dies seit etwa 15 Jahren. Ein Großteil der Menschen, der heute in die SPD eintritt, studiert oder hat eine Gesellschaftswissenschaft oder Jura studiert. Die übergroße Mehrheit ist immer noch männlich (siehe zu den Neueintritten Reiche 2013).

einer rot-grünen Minderheitskonstellation, ab 1998 allein unter Reinhard Höppner im so genannten Magdeburger Modell. 2002 endete diese Episode für die SPD mit einem Absturz um 16 auf 20 Prozent, weil sie es nach einem großen Wahlsieg 1998 versäumte, entweder die PDS koalitionsvertraglich zu binden oder die nach dem erschreckenden Wahlerfolg der rechtsextremen DVU gebeutelte und desorientierte CDU freundschaftlich zu „umarmen“ (zum Magdeburger Modell siehe Höppner 2003). Andere ostdeutsche Bundesländer kennen andere Konsequenzen rot-roter Streicheleinheiten: Sowohl in MecklenburgVorpommern (ab 1998) als auch in Brandenburg (ab 2009) gelang es, die SED-Nachfolgepartei nicht nur politisch einzubinden und damit ihren Status zu normalisieren, sondern auch, sie politisch durch In-die-Pflichtnahme zu entzaubern, wie die Wahlen 2002 (in Mecklenburg-Vorpommern) und 2014 (Brandenburg) unter Beweis gestellt haben. Das Beispiel Thüringen wird uns nun (wahrscheinlich) zeigen, in welcher Weise die Führung der Regierung eines Bundeslandes durch die Linke wirkt. Ein Blick in die Zukunft

25 wechselvolle Jahre Blicken wir nun auf einige wichtige Wegmarken der letzten 25 Jahre. Im „Beitrittsgebiet“ erwies sich rasch, dass regierendes Personal für Wahlausgänge von entscheidender Bedeutung war – aus Sicht der SPD mal mit positivem (Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt in Brandenburg 1994), mal mit negativem Ausgang (1994 in Sachsen gegen Kurt Biedenkopf ). Brandenburg probierte es ab 1990 mit einer Ampel, Sachsen-Anhalts SPD ging weiter und regierte ab 1994, von der PDS geduldet, in MAGAZIN

Nach wechselvollen 1990er und 2000er Jahren scheint inzwischen festzustehen: In der politischen Arithmetik wird die SPD in aller Regel für stabile Regierungen (noch) gebraucht; schwankend zwischen der Führungsrolle und der Rolle als Juniorpartner. Alternativen zu schwarz-rot oder rot-rot sind aber kaum oder nicht vorhanden. Ob sich das mit weiter gesteigertem Machtwillen (etwa durch Öffnung nach rechts) bei der CDU ändern wird, ist gegenwärtig nicht abzusehen. Trotzdem: Dass es, anders als im Westen der Republik, kaum Aussich25


ten auf rot-grüne Regierungsmehrheiten gibt, ist ein Problem der SPD in den östlichen Bundesländern. Die CDU versteht sich nämlich gerade in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen als Staatspartei und ist in vielen Punkten noch konservativer als die bundesdeutsche Gesamtpartei, gelegentlich sogar reaktionär – verwiesen sei hier nur auf Positionen zu Homosexualität und salonfähige Liebäugeleien mit der AfD. Die Frage nach rot-roten Bündnissen zieht sich daher als Schicksalsfrage durch einige Landesverbände. Viele, gerade ältere Parteimitglieder haben nicht vergessen, dass ein Bekenntnis zur Sozialdemokratie vor 1989 im Grunde unmöglich war. „Sozialdemokratismus“ wurde seit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED im Jahr 1946 zur Disziplinierung innerhalb der Einheitspartei instrumentalisiert. Sozialdemokratismus galt aber gleichzeitig als zutiefst abwertendes Schlagwort und lange Zeit wirksames Mittel gegen jede Form der Abweichung von zentralen Dogmen. Immer schwang der Vorwurf von „Reformismus“ oder Opportunismus mehr oder weniger deutlich mit (vgl. Plener 2004). Teile dieser Haltungen scheinen auch das 25. Jahr nach dem Umbruch in der DDR überdauert zu haben – trotz früher Lippenbekenntnisse (zur strategischen Nähe beider Parteien schon Gysi 1990), trotz eines fortgeschrittenen Generationswechsels. Provokativ gesprochen: Einigen Linken scheint die Freude am Bruder/Schwesterkampf gegen die SPD und das Austeilen gegen „die“ Sozialdemokratie wichtiger zu sein als Übereinstimmungen in der Sachpolitik oder Kongruenzen in der Programmatik. Fragwürdige Haltungen gerade älterer „Linker“ zum Charakter der SED-Diktatur und ein nicht nur im Verborgenen schwelender Konflikt zwischen 26

Altkadern und MfS-Belasteten sowie (jüngeren) PragmatikerInnen treten als offene Probleme hinzu.

Zu oft enden hoffnungsvolle Juso-Karrieren in der trügerischen Sicherheit von Abgeordnetenbüros oder anderen hauptamtlichen Strukturen der Partei.

Bündnisfragen sind aber nur die eine Seite der Medaille. Eine spitzfindige Sichtweise könnte unterstreichen, dass in den ostdeutschen SPD-Landesverbänden – das gilt dort mehr, dort weniger – eine berufspolitische, aus kommunalen MandatsträgerInnen und Landtagsabgeordneten bestehende Funktionselite existiert, welche die Gremien dominiert und seit zehn, fünfzehn oder noch mehr Jahren die Parteiarbeit prägt. Böse Zungen könnten hinzufügen: Für diese Gruppierung würde das Ausscheiden aus dem Parlament, die nicht erfolgende Wiederwahl einem Weltuntergang gleichkommen. Entsprechend defensiv „verwaltet“ sie Politik und schrumpfende Haushalte, wenn sie in Regierungsverantwortung steht. Davon bleibt leider auch die eigene Personalpolitik, das intergenerationale Miteinander nicht unberührt. Politischer Nachwuchs wird kaum oder nicht ausreichend gefördert, zu oft enden hoffnungsvolle Juso-Karrieren in der trügerischen Sicherheit von Abgeordnetenbüros oder anderen hauptamtlichen Strukturen der Partei. Eine relevante Verjüngung haben die Landtagsfraktionen, ganz besonders aber viele Kreistagsfraktionen im ländlichen Raum aus unterschiedlichen Gründen bisher nicht erfahren – erfreulichen Einzelbeispielen zum Trotz.

Now and then – 25 Jahre SDP-Gründung Argumente 2/2014


Dies alles mag bisher ein wenig resigniert und frustriert klingen – quasi wie das Klischee vom Jammer-Ossi es idealtypisch hergibt. Doch weit gefehlt, liebe Freundinnen und Freunde! Der Osten ist wichtig – gegen ihn können keine Wahlen gewonnen werden (denken wir an 2002!). Hier schlummern Potentiale und Reserven. Wie kann es in den „neuen“ Bundesländern für die SPD weitergehen? Abhängig vom Ausgang der Koalitionsverhandlungen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird die Partei zum Jahresende wahrscheinlich überall an den Fleischtöpfen sitzen – bei gleichzeitiger problematischer Entwicklung der eigenen Strukturen. Nur als beteiligende Mitgliederpartei, behaupte ich, in der breit über Programm und Personal beraten und entschieden werden kann, in der ab dem Ortsverein eine Stimmung, dabei zu sein und mitbestimmen zu können, dominiert, wird die SPD, werden die fünf SPDLandesverbände ihre Stellung konsolidieren können. SPD am Scheideweg Die SPD in den neuen Ländern steht am Scheideweg. Bis etwa 2020 wird sich a) elektoral, b) strukturell und c) inhaltlich entscheiden, welchen Weg die Partei nimmt. Dafür wird es unverwechselbare, auf die jeweils in den Bundesländern offen liegenden Problemlagen abgestimmte Politikansätze brauchen: Kann die SPD südlich von Elster und Elbe aus dem 20-ProzentTurm ausbrechen? Wie stellt sich die ostdeutsche Sozialdemokratie die Zukunftsfähigkeit weitgehend deindustrialisierter Regionen mit erheblichen demografischen Problemen vor? Welche Politikansätze entwickelt sie, die über dröge Haushaltskonsolidierung hinausgehen und die negativen sozialen, ökonomischen, kulturellen und MAGAZIN

ökologischen Nebenwirkungen der Globalisierung mindestens spürbar mildert? Findet sie Rezepte gegen Entpolitisierung, Politikverdrossenheit und Mitgliederschwund? Und: Welches Personal wird für zukunftsfähige Politik stehen? Die zum Teil überfälligen Antworten auf diese Fragen sind spannend – aber sie sind offen. Mit uns zieht die neue Zeit.

Literatur: Fikentscher, Rüdiger: Zwischen König und Bebel. Deutsche Geschichten aus zwei Jahrtausenden, Stuttgart/Leipzig 2006. Gabriel, Sigmar: 20 Jahre Vereinigung der SPD in Ost und West. Rede am 25. September 2010, Onlineressource: http://www.spd.de/scalableImageBlob/4204/data/20100925_rede_gabriel_20_ jahre_vereinigung_der_spd-data.pdf, letzter Zugriff am 1. Oktober 2014. Gohle, Peter: Von der SDP-Gründung zur gesamtdeutschen SPD : die Sozialdemokratie in der DDR und die Deutsche Einheit 1989/90, Bonn 2014. Grashoff, Udo: Keine Gewalt! Der revolutionäre Herbst 1989 in Halle an der Saale. Dokumente und Interviews, Halle 2004. Gründungsurkunde der SDP, Onlineressource: http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/ne wsletter/newsletter/NL%202007/NL%2002% 202007/pics022007/Gohle/urkunde.html, letzter Zugriff am 30. September 2014. Gysi, Gregor: Das Wahlprogramm der PDS für die Volkskammerwahlen und die Aufgaben der Partei im Wahlkampf, in: Wahlparteitag der Partei des Demokratischen Sozialismus. 24./25. Februar 1990, Berlin 1990, S. 7-57. Höppner, Reinhard: Acht unbequeme Jahre. Innenansichten des Magdeburger Modells, Halle 2003. Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der DDR, Flugblatt vom 12. September 1989, Onlineressource: http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/ne wsletter/newsletter/NL%202007/NL%2002% 202007/pics022007/Gohle/flugblatt.html, letzter Zugriff am 30. September 2014. Meckel, Markus / Steffen Reiche (Hrsg.): „Nichts muss bleiben, wie es ist“: Gedanken zur Gründung der Ost-SPD, Berlin 2010.

27


Plener Ulla: »Sozialdemokratismus« – Instrument der SED-Führung im Kalten Krieg gegen Teile der Arbeiterbewegung (1948-1953), in: UTOPIE kreativ Heft 161 (März 2004), S. 248-256. Reiche, Steffen: Zur Situation der SPD in Ostdeutschland, in: Ilse Fischer (Hrsg.), Von der frei gewählten Volkskammer zum vereinten Deutschland. Politik- und Alltagserfahrungen sozialdemokratischer Volkskammerabgeordneter, Bonn 2013, S. 199-208. von zur Mühlen, Patrick: Die Gründungsgeschichte der Sozialdemokratie in der DDR, in: Wolfang Herzberg / Patrick von zur Mühlen (Hrsg.), Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989. Interviews und Analysen, Bonn 1993, S. 38-60.

Andrej Stephan forscht als Historiker an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Halle (Saale) zum Thema „Innere Sicherheit“. Deutschlandweite Aufmerksamkeit erlangte er durch seine Mitarbeit am Buch „Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik“. Von 2008 bis 2014 war er Landesvorsitzender der Jusos SachsenAnhalt. Derzeit ist er Stellvertretender SPD-Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt.

28

Now and then – 25 Jahre SDP-Gründung Argumente 2/2014


Das Innere nach außen kehren Rezension zu Heiner Karuscheits „Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg“ von Moritz Rudolph, Jusos Nordost (Berlin)

Zum 100-Jährigen verhandelt die Historikerzunft die Schuldfrage des Ersten Weltkriegs neu und derzeit sieht es ganz danach aus, dass sie dabei einen Konsens verschiebt: Fritz Fischers These vom deutschen „Griff nach der Weltmacht“ gerät unter Beschuss. Das Kaiserreich sei mitverantwortlich, aber nicht hauptschuldig gewesen; das Böse ist wieder teilbar. Doch verteilt wird es horizontal, auf andere Staaten, weniger vertikal auf die Kräfte im Land. Im Schatten der Mammutwerke von Christopher Clark oder Herfried Münkler beteiligt sich auch eine kleine Studie von Heiner Karuscheit an der Neuverhandlung der Schuldfrage, konzentriert sich dabei aber auf eine Kategorie, die gemeinhin unterbelichtet bleibt: die gesellschaftliche Klasse. Dafür geht Karuscheit zurück zu den Anfängen des Kaiserreichs und entwickelt die These, dass die deutsche Kriegslust von 1914 nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Klassenkompromisse seit 1848 zu verstehen sei. Nach der gescheiterten 48er Revolution unternahmen die Liberalen in den 1860er Jahren noch einmal einen DemokratisieMAGAZIN

rungsversuch. Bismarck gelang es dabei jedoch, sie zu spalten und den nationalliberalen Flügel für seine Zwecke einzuspannen. Ein Bündnis aus Großagrariern und Großbürgertum bildete fortan die bismarcksche Machtbasis. Diese „Doppelherrschaft mit Militärvorrang“ wirkte in Zeiten ungeheurer wirtschaftlicher Dynamik als „Modernisierungsblockade“ und staute immense gesellschaftliche Spannungen auf. 1909 zerbrach der Klassenkompromiss an einem Steuerstreit. Ein demokratisches Reformbündnis zwischen Liberalen und den inzwischen zur dritten Kraft herangewachsenen Sozialdemokraten kam jedoch nicht zustande, sodass dem Reich die Regierungsunfähigkeit drohte. 1912 versuchte die altpreußisch-konservative Elite noch einmal vergeblich, sich durch einen Staatsstreich die Macht zu sichern. Und so gipfelten die Konflikte schließlich im Sommer 1914 – der Weltkrieg erschien als „Alternative zum Staatsstreich“, als „Krieg zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung“; frenetisch bejubelt, da er die unerträglichen gesellschaftlichen Spannungen nach außen leitete. Ein Pulverfass ist hier Deutschland, nicht der Balkan. Und dann ist da noch die Rolle der SPD, deren Führungsriege Karuscheit scharf angreift. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten ist für ihn kein Verrat, son29


dern notwendige Folge eines Rechtsrucks, der die Parteioberen mit dem Reich versöhnte. Weil Karuscheit den Bogen weit spannt, gelingt es ihm, das Kriegsjahr 1914 zu historisieren. Es steht nun nicht mehr unvermittelt im geschichtsleeren Raum, sondern erscheint als Aufgipfelung gesellschaftlicher Entwicklungslinien, die ihren (erzählerischen) Ausgang 1848 nehmen und sich im Sommer 1914 schneiden. Damit ist ein zweiter Vorzug der Studie angesprochen: Außenpolitik wird innenpolitisch geerdet. Karuscheit greift Eckart Kehrs These vom „Primat der Innenpolitik“ auf und führt Regierungshandeln auf das Machtringen gesellschaftlicher Gruppen zurück; alles Innere kehrt sich nach außen. Das Unheil von 1914 wird weder mechanistisch auf der Strukturebene des internationalen Staatensystems noch bei einigen wenigen Handelnden in den Hauptstädten verortet. Stattdessen bekommt es ein Klassengesicht. Somit sind wir beim dritten bemerkenswerten Punkt des Buches angelangt: Karuscheits geschichtlicher Motor sind gesellschaftliche Klassen: Junker, Bürger, Arbeiter; weniger die großen Staatenlenker. Und so erscheint die „Weltpolitik“ als liberales Weltmarktprojekt, während der Weltkrieg die Macht der Konservativen sichern sollte. Karuscheits Anti-Guido-Knoppismus, der nicht nur auf handelnde Eliten schaut (vgl. Treitschkes Diktum „Männer machen Geschichte“) ist erfrischend. Und dennoch ist er darin nicht konsequent. Seine These, dass die Clique der Arbeiteraristokraten, von der Basis entfremdet, das Proletariat in die Irre geführt habe – und zwar nicht erst im August 1914, sondern bereits in den Jahrzehnten zuvor – führt geradewegs zu30

rück in den Guido-Knoppismus, der ja doch nur die Männer an der Spitze des Eisbergs in den Blick nimmt. In der Geschichtsschreibung muss es aber um dessen Rumpfelemente gehen, um jenes Gemenge aus Warenproduktion und materieller Praxis, aus Diskursen, Ideologien und kollektiven Identitäten, kurzum: Es geht um Politik, Ökonomie und Kultur, nicht so sehr um einzelne Helden, Bösewichte und deren Lakaien. Was schweißte den Burgfriedensblock zusammen? War es nicht ein Gemisch aus Nationalismus, Zivilisationshybris gegen die russische Despotie und anti-westlichem Kulturdünkel, Ideologien also, deren Wurzeln die bloße Kategorie der Klasse überschreiten und tiefer reichen als bis in die Chefetagen der Parteien und Unternehmen? Sind nicht auch Karuscheits Figuren – die Bebels und Bethmann Hollwegs – „Schlafwandler“, die sich im Rahmen gesellschaftlich produzierter Ideologiemuster bewegen? An diesem Punkt muss man mit Karuscheit über Karuscheit hinausgehen, den Klassismus wieder ein bisschen zurücknehmen, stattdessen herumschwirrende Ideologien in den Blick nehmen und die Entscheidungen analytisch weiter aufdröseln. Doch abgesehen von derlei Orthodoxie liest man Karuscheits Studie durchaus mit Gewinn. Selbstverständlich liefert sie keine umfassende Darstellung des 1914er-Ursachengeflechts. Aber vielleicht gerade weil dies kein detailverliebtes Mammutwerk ist, sondern eine schmale 250-Seiten Studie, die dabei die Abstraktion nicht scheut, lässt sie die Konturen der 1914er Rumpfelemente mitunter schärfer hervortreten als viele der weitaus umfangreicheren WeltkriegsBestseller. Im Kern enthält sie den VorDas Innere nach außen kehren Argumente 2/2014


schlag, Fritz Fischers These vom deutschen „Griff nach der Weltmacht“ auf historischmaterialistische Grundlagen zu stellen und zu zeigen, wie sich das Innere gesellschaftlicher Kämpfe nach außen übersetzt; ein kluger, wohltuender Beitrag zur Debatte. Heiner Karuscheit: Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg VSA-Verlag, Hamburg 2014 256 Seiten, 19,80 Euro

Moritz Rudolph studiert(e) Politik, Geschichte, Ökonomie und Philosophie und ist bei den Jusos Nordost (Berlin) aktiv.

MAGAZIN

31


Zeit ist Leben – Neoliberalismus und totalitäre Beschleunigung von Magnus Neubert, Student der Philosophie und Wirtschaftswissenschaften, Mitglied im Juso-Bundesausschuss und im Perspektivprojekt „Transformation der Wirtschaftsweise“ Das Phänomen der Beschleunigung Lebenszeit ist die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod und damit die Quantifizierung von Leben. Da der Mensch sich seines eigenen Endes bewusst ist, aber nicht genau weiß, wann sein Leben endet, avanciert die Lebenszeit zu einem sehr wertvollen Gut.

Den Menschen läuft zunehmend ihre Lebenszeit davon.

Umso besorgniserregender ist das in der heutigen Zeit aufkommende Gefühl der Zeitknappheit. Den Menschen läuft zunehmend ihre Lebenszeit davon – ein Phänomen, welches dem Soziologen Hartmut Rosa als Ausgangspunkt für seine Beschleunigungstheorie dient. Neben einer Beschleunigung des technischen Fortschritts und des sozialen Wandels beobachtet Rosa auch eine Beschleunigung des Lebenstempos. Das Gefühl der Zeitknappheit ist für ihn der subjektive Ausdruck eben dessen. Objektiv definiert Rosa die Beschleunigung des Lebenstempos als die „Steigerung der Zahl an Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit.“ (Rosa 2013) Eine parado32

xe Entwicklung: Obwohl es technisch möglich ist, mehr Dinge pro Zeiteinheit erledigen zu können, wächst das Gefühl, dass die gegebene Lebenszeit nicht dazu ausreicht. Erklärt werden kann dies damit, dass das Arbeitspensum deutlich stärker wächst als die Zeiteffizienz durch technischen Fortschritt. Dafür führt Rosa folgendes Beispiel an: Während man früher schätzungsweise eine halbe Stunde benötigte, um einen Brief zu schreiben, sei man heute in der Lage in der gleichen Zeit vier E-Mails zu verfassen. Nun würden wir, so Rosa, aber nicht mehr nur vier, sondern fünf E-Mais schreiben, womit das Arbeitspensum trotz Zeiteffizienz steige (vgl. Rosa 2013). Drei Ursachen für erlebte Beschleunigung Für diese (erlebte) Beschleunigung des Lebenstempos gibt es drei Ursachen. Die erste und offensichtlichste ist der Wettbewerb. Arbeitnehmer wie Arbeitgeber befinden sich in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf untereinander. Dieser Konkurrenzkampf beschränkt sich nicht nur auf die ökonomische Sphäre, sondern er erstreckt sich zunehmend auf alle Bereiche des menschlichen Lebens. Der zweite Grund, der durchaus mit

Zeit ist Leben – Neoliberalismus und totalitäre Beschleunigung Argumente 2/2014


dem Wettbewerb verknüpft ist, ist der Drang nach Nutzen- und Erlebnismaximierung. Die Motivation im Konkurrenzkampf ist die Beschaffung von vor allem ökonomischem Kapital um dieses erlebnisorientiert konsumieren oder reinvestieren zu können. Die begrenzte Lebenszeit drängt den Konsumenten dazu, möglichst viel pro Zeiteinheit zu konsumieren und zu erleben. „Lebe, als gäbe es kein Morgen mehr“ lautet das Motto. Jedes verpasste Erlebnis ist eines zu viel. Der Beschleunigungszirkel stellt die dritte Ursache dar. Die das gesamte menschliche Leben durchdringende Wettbewerbssituation, mit der sich jeder konfrontiert sieht, aktiviert auch all jene, die lediglich den Status quo bewahren wollen. „Rasender Stillstand“ nennt Rosa dieses Phänomen. Alle verausgaben sich im Konkurrenzkampf, nur um ihre Position zu halten, die durch diesen bedroht wird (vgl. Rosa 2013). Humankapitaltheorie als Grundlage neoliberaler Praxis Theoretisch sind diese Ursachen auf eine prominente neoliberale Strömung zurückzuführen. Die Humankapitaltheorie von Gary Becker begreift den Menschen als Homo oeconomicus und vertritt die Auffassung, dass alles menschliche Handeln mit dem Nutzenmaximierungskalkül dieses Homo oeconomicus erklärbar sei. Becker bezeichnete sich selbst als ökonomischen Imperialisten, weil er mit mikroökonomischen Methoden weite Teile des menschlichen Lebens analysiert. Das Grundhumankapital sei demnach die Lebenszeit des Menschen. Diese gelte es zu investieren, damit am Ende der maximale Nutzen (Genuss und Erleben) für das Individuum herauskomme. Daraus erwachse der sogeSCHWERPUNKT

nannte Selbstoptimierungsimperativ, demnach das Individuum seine Ressourcen ergebnisoptimal einsetzen soll (vgl. Bröckling 2013). Beispielsweise resultiert aus einer Zeitinvestition in einen Hochschulabschluss ein höherer Marktwert in Form eines höheren Gehaltes. Auch Investitionen in die Gesundheit (gesunde Nahrungsmittel oder sportliche Aktivität) zahlen sich in weniger Krankentagen und somit in mehr investierbarer Zeit aus. Und selbstverständlich ist es eine Investition in die Attraktivität des Körpers, der auf den Marktplätzen des Begehrens (Partnerbörsen oder Diskotheken) einen äquivalenten Gegenwert in Gestalt eines ebenso attraktiven Körpers erzielt. Diese totale Kommodifizierung (urspr.: Vermarktung menschlicher Arbeitskraft) des Menschen ist die vollständige Verdinglichung des menschlichen Lebens und der menschlichen Beziehungen. Dass es nicht nur bei der Humankapitaltheorie blieb, sondern darauf aufbauend auch eine neoliberale Praxis realisiert wurde, zeigt das Phänomen der Beschleunigung. Der Arbeiter fordistischer Prägung wird langsam vom Arbeitskraftunternehmer neoliberaler Prägung abgelöst. Diese Transformation der Lohnarbeit wird von staatlichen Aktivierungsmaßnahmen begleitet. Was mit Thatcher und Reagan im angelsächsischen Raum begann, wurde in Deutschland mit der Agenda 2010 aufgegriffen und verwirklicht (vgl. Bröckling 2013). Die Verknüpfung sozialstaatlicher Leistungen mit Sanktionierungsmaßnahmen von ALG-II-Empfangenden bei nicht ausreichender Selbstvermarktungsaktivität ist nur ein Beispiel. Die damit verbundene totale Durchdringung des menschlichen Lebens mit der Maxime der Nutzenmaximierung stellt einen Paradigmenwechsel dar. Die Wettbewerbspolitik im Ordolibe33


ralismus, die sich nur auf die ökonomische Sphäre beschränkte, wird nun auf alle Bereiche menschlichen Lebens ausgedehnt. Sie ist eine Kombination aus Sicherstellung unternehmerischer Freiheit und Beseitigung von Wettbewerbshemmnissen (vgl. Bröckling 2013). Die Wirkmächtigkeit des Selbstoptimierungsimperativs rührt von den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen her. Die Produktionsmittel befinden sich im Eigentum einer sehr kleinen gesellschaftlichen Schicht. Alle anderen, denen nichts bleibt als ihre Arbeitskraft und Lebenszeit, müssen diese hingegen vermarkten, um an der Konsumption der hergestellten Produkte teilzuhaben. Diese Klassengegensätze traten im präkeynesianischen Kapitalismus offen zutage und wurden später durch die Sozialpartnerschaft zunehmend verschleiert. Die Ideologie des Selbstoptimierungsimperativs jedoch verdeckt diese Klassengegensätze komplett. Es ist die proklamierte Freiheit, durch die die Verantwortung völlig subjektiviert wird. Wer meint, dass sein Handeln nicht von außen determiniert ist, kann auch schlecht die Verantwortung an eine äußere Macht abtreten. Wer sich frei fühlt, trägt auch bereitwillig die Verantwortung für seine Situation – auch für sein Scheitern. In der Humankapitaltheorie ist Scheitern gleichbedeutend mit einer Fehlinvestition von Ressourcen, insbesondere von Lebenszeit. Es ist jedoch ein logisches Faktum, dass eine Konkurrenzsituation zwangsläufig Verlierer hervorbringt. Eine Konkurrenzsituation tritt nur da auf, wo Angebot und Nachfrage quantitativ nicht übereinstimmen. Sobald sich auf eine offene Stelle mehr als ein Mensch bewirbt, kommt es zur Konkurrenz zwischen den BewerberInnen. Da aber nur einer die Stelle bekommen kann, gehen alle anderen als Verlierer aus dem Konkurrenzkampf 34

hervor. Dieses Faktum wird meist ignoriert, egal wie sehr sich jeder Einzelne anstrengt. Neoliberaler Totalitarismus sticht Lebenszeit Die Beschleunigung des Lebenstempos und dessen ideologische Legitimierung verdichten sich zu einem neoliberalen Totalitarismus, der nach Rosa folgende Eigenschaften besitzt (2013): Erstens übe die herrschende Gewalt Druck auf den Willen und das Handeln des Subjektes aus. In der neoliberalen Gesellschaft wird der Selbstoptimierungsimperativ zur allgemeinen Handlungsmaxime. Da dies ein Resultat der verschärften Wettbewerbssituation und der subjektivierten Verantwortung ist, erfüllt die neoliberale Gesellschaft das erste Kriterium.

Während es in totalitären Diktaturen in der Regel Nischen des Rückzugs oder Möglichkeiten des Opponierens gibt, erweist sich der neoliberale Totalitarismus als deutlich totaler.

Zweitens erfasse die herrschende Gewalt alle Subjekte. Selbst wer zufrieden mit dem Status quo sei, müsse sich zum Erhalt dessen dem Konkurrenzkampf stellen. Drittens durchdringe die Gewalt alle Bereiche menschlichen Lebens, was dem Kerngedanken der Humankapitaltheorie und ihrer Praxis entspricht. Und viertens sei es faktisch unmöglich, sich der Gewalt zu entziehen und gegen sie zu opponieren. Auch dieses Kriterium erfüllt der neoliberale Totalitarismus, da mit dem Selbstoptimierungsimperativ als allgemeine Handlungsmaxime der Zwang zur Kommodifizierung

Zeit ist Leben – Neoliberalismus und totalitäre Beschleunigung Argumente 2/2014


des eigenen Lebens internalisiert wird. Gegen sich selbst zu opponieren, ist allerdings unmöglich, wenn ich mich freiwillig der Selbstoptimierung bediene, um im Wettbewerb bestehen zu können. Während es in totalitären Diktaturen in der Regel Nischen des Rückzugs oder Möglichkeiten des Opponierens gibt, erweist sich der neoliberale Totalitarismus als deutlich totaler (vgl. Rosa 2013). Da Totalitarismus dem emanzipatorischen Anspruch des Demokratischen Sozialismus diametral widerspricht, erwächst aus der momentanen gesellschaftlichen Lage die immense Verantwortung für uns JungsozialistInnen, diesen neoliberalen Totalitarismus zu überwinden. Zeit ist Leben. Eine Gesellschaft, in der Zeit und damit das Leben als ökonomische Ressource vom kapitalistischen Verwertungsprozess eingesaugt wird, ist keine lebenswerte Gesellschaft. Deshalb müssen wir über Maßnahmen nachdenken, die das menschliche Leben vor der kapitalistischen Verwertung bewahrt. Die bisherigen Antworten der gesellschaftlichen Linken auf die Problematik der Zeitautonomie sind nicht weitgehend genug, denn sie verweilen innerhalb des kapitalistischen Systems. Ziel jungsozialistischer Politik muss eine umfassende Wiederherstellung der individuellen Zeitautonomie durch die demokratische Neuorganisation der gesellschaftlich notwendigen Arbeit und der bedarfsgerechten Allokation der Güter sein. Das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus endete im Totalitarismus. Die Freiheit aller Menschen kann nur im Sozialismus verwirklicht werden.

SCHWERPUNKT

Literatur: Bröckling, U. (2013). Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/Main: Suhrkamp Rosa, H. (2013). Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp

Magnus Neubert ist Student der Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Er vertritt die Jusos Sachsen-Anhalt im Juso-Bundesausschuss und arbeitet derzeit im Perspektivprojekt „Transformation der Wirtschaftsweise“ des Juso-Bundesverbandes mit.

35


„Entgrenzung von Arbeit“ und das Dilemma einer wirksamen Arbeitszeitpolitik von Dieter Sauer, Professor für Soziologie und Sozialforscher am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München Die (Arbeits-)Zeiten ändern sich… Die Geschichte der Industrialisierung und des Kapitalismus wurde in den letzten 150 Jahren begleitet und wesentlich beeinflusst durch den Trend einer massiven Arbeitszeitverkürzung. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich dieser Trend stark verlangsamt und ist in den 90er Jahren zum Stillstand gekommen. Seitdem gibt es einen Gegentrend zur Verlängerung der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten – in Deutschland gegenwärtig auf etwas über 40 Stunden pro Woche.

Wir haben es mit einer eindeutigen Polarisierung zu tun, und zwar vor allem entlang Geschlecht und Qualifikations niveau.

Hinter diesen Durchschnittszahlen verbergen sich jedoch massive Differenzierungen für verschiedene Beschäftigtengruppen und auch gegensätzliche Entwicklungen. Eine wachsende Gruppe arbeitet immer 36

länger, eine ebenso wachsende immer kürzer. Eine andere Gruppe, die im tariflichen Normbereich zwischen 30 und 40 Stunden arbeitet, schrumpft. Damit haben wir es mit einer eindeutigen Polarisierung zu tun, und zwar vor allem entlang Geschlecht und Qualifikationsniveau. Geringer qualifizierte Frauen arbeiten immer kürzer (unter 30 bis unter 15 Stunden) und höher qualifizierte Männer immer länger (über 40 bis über 48 Stunden). Das verschärft die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung. Befragungen zu den Arbeitszeitwünschen zeigen, dass beide Gruppen damit unzufrieden sind. Ihre Vorstellungen davon, wie sie arbeiten möchten, liegen nahe dem tariflichen Normbereich. Die Arbeitszeitrealität polarisiert sich demnach zwischen denjenigen, die weniger arbeiten als gewünscht, und denjenigen, die deutlich länger arbeiten als vertraglich vereinbart und gewünscht (vgl. Holst/Seifert 2012, Hacket 2011). Betrachtet man die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Beschäftigten – sie liegt unter 35 Stunden – so könnte man an einen Erfolg gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik denken. Sie ist jedoch vielmehr Ausdruck der erreichten Ungleichheit in der Verteilung von Arbeitszeiten und der

„Entgrenzung von Arbeit“ und das Dilemma einer wirksamen Arbeitszeitpolitik Argumente 2/2014


dahinterstehenden Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Kern der Arbeitszeitgestaltung der letzten 20 Jahre ist die Tendenz einer Flexibilisierung von Arbeitszeit: Von der Gleitzeit zu Arbeitszeitkonten bis zur Einführung von Vertrauensarbeitszeit geht es um neue Spielräume für die Selbstorganisation der Arbeitszeit, individuell oder in der Arbeitsgruppe. Im weitergehenden Modell der Vertrauensarbeitszeit verbindet sich die Arbeitszeitflexibilisierung mit der ergebnisorientierten Steuerung von Arbeit. Für die Bestimmung der Leistung ist nicht mehr die Aufwandseite, sondern das Resultat der Leistungsverausgabung ausschlaggebend. Gleichzeitig wird Zeit zur abhängigen Variablen, sie dient nicht mehr als Maßstab der Bemessung, Bewertung und damit auch der legitimen Begrenzung der Arbeits- und Leistungsbedingungen. Die „Zeitkonflikte“ nehmen zu und verschärfen sich Wir beobachten, wie die Erfassung und Kontrolle von Arbeitszeit teilweise gänzlich in die Hände des einzelnen Beschäftigten gelegt wird. Dieser verantwortet dann selbstständig, wie lange und wann er arbeitet. Dies bedeutet einen radikalen Bruch mit der bisherigen Regulierung der Arbeitszeit. Zugleich verschwimmen die institutionell definierten und kollektiv ausgehandelten Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit und damit ein zentrales Merkmal des industriellen Zeitarrangements moderner Gesellschaften. Für den einzelnen Beschäftigten entsteht daraus eine paradoxe Situation: In dem Maß, in dem sich Zeit langsam aus dem betrieblichen Leistungsgeschehen zu verabschieden scheint, erhält der Umgang mit Zeit für den Menschen im Betrieb, aber SCHWERPUNKT

auch in seinem privaten Leben – vor allem im Verhältnis von Arbeit und Leben – einen immer größeren Stellenwert. Die Anforderungen an das „Management der individuellen Zeit“ wachsen: Der richtige Umgang mit der knappen Zeit scheint zur wichtigsten Voraussetzung der Existenzbewältigung zu werden, genauso wie der Umgang mit der „überflüssigen Zeit“ für diejenigen, die aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt werden. Neben das Risiko der Arbeitslosigkeit tritt das Risiko der Zeitnot. Die individuellen und gesellschaftlichen Folgen werden dabei immer deutlicher: Sie zeigen sich zum einen im betrieblichen Zeit- und Leistungsdruck, der zu massiv zunehmenden gesundheitlichen Gefährdungen (insbesondere psychischen Erkrankungen) führt und in der Verlagerung von Zeitkonflikten aus dem Betrieb in die Familie und Partnerschaften. Auf der gesellschaftlichen Ebene findet dies u. a. seinen Ausdruck in ungelösten sozialpolitischen Großprojekten der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der Geschlechtergerechtigkeit und des alternsgerechten Arbeitens. Über diese Ziele herrscht breiter gesellschaftlicher Konsens. Seltsamerweise hat sich dieser Grundkonsens noch nicht auf eine entsprechende Arbeitszeitpolitik übertragen (vgl. Groß/Seifert 2010). Arbeitszeitpolitik – weiterer Niedergang oder Renaissance? Der Kampf der Gewerkschaften um die 35-Stundenwoche in den 80er Jahren war die letzte große politische Auseinandersetzung um die Arbeitszeit noch in der historischen Linie ihrer Verkürzung. Danach ging in den 90er Jahren die Initiative auf die Arbeitgeber über: Die Flexibilisierung der Arbeitszeit war Sache der Unternehmen und ihrer Manager. In den neuen Manage37


mentkonzepten zur Steuerung von Unternehmen und Arbeit verlor die Auseinandersetzung um die Kontrolle der Arbeitszeit ihre Bedeutung. Gewerkschaften und Betriebsräte gerieten in die Defensive und wurden in mühsame Abwehrkämpfe um die Folgen der Flexibilisierung der Arbeitszeit verwickelt. Es gelang dabei nicht, die darin enthaltenen Optionen für eine an Zeitwohlstand und Zeitsouveränität orientierte nachhaltige Zeitpolitik aufzugreifen und zu nutzen. Eine weitgehend von den Unternehmen dominierte Arbeitszeitgestaltung verlagerte die Risiken der Flexibilisierung auf die Schultern der Beschäftigten und in deren lebensweltliches Umfeld: Das individuelle Leben und die private Lebenswelt werden zum Puffer wachsender betrieblicher Dynamiken und Flexibilitätsanforderungen. Der zunehmende Problemdruck ließ in den letzten zehn Jahren diverse Arbeitszeitinitiativen – der Gewerkschaften, Kirchen und anderer Akteure – entstehen, die von der Hoffnung auf eine Renaissance der Arbeitszeitpolitik beseelt sind. Durchschlagende Erfolge können sie jedoch nicht erzielen und dort, wo sie versuchen, an die früheren Erfolge einer Arbeitszeitverkürzungspolitik anzuknüpfen, bleibt – im Gegensatz zu früher – die gesellschaftlich mobilisierende Wirkung dieser Forderungen weitgehend aus. Als in der großen Krise 2008 in Deutschland Arbeitszeitverkürzungen (Kurzarbeit, Arbeitszeitkonten, u. ä.) den Arbeitsmarkt vor einem Debakel bewahrten, erlebte Arbeitszeitpolitik eine unerwartete Renaissance. Der Nachweis, dass Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze sichern kann, war erbracht. Die damals gestellte Frage, ob es sich hierbei nur um ein beschäftigungspolitisches Intermezzo handle oder über die konjunkturelle Krisenphase 38

hinaus eine Renaissance einer Arbeitszeitverkürzungspolitik zu erwarten ist (vgl. Groß/Seifert 2010; Lehndorff 2010), scheint heute jedoch wiederum negativ beantwortet zu sein. Die reale Arbeitszeitentwicklung mit ihren verheerenden gesundheitlichen und sozialen Folgen gibt auch heute keinen Anlass zu Optimismus. Die Renaissance von Arbeitszeitfragen verbleibt auf der Ebene von Forderungen und Wünschen. Gesellschaftlicher Umbruch und arbeitspolitischer Paradigmenwechsel Es wäre zu einfach, die mangelnde gesellschaftliche Durchsetzung zeitpolitischer Forderungen auf die Schwäche der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie oder anderer gesellschaftlicher Akteure zurückzuführen. Die Schwäche ist selbst Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchprozesses, der bis in die Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreicht und in den 90er Jahren deutlich sichtbar wird. Er indiziert das Ende des Vollbeschäftigungswachstums und auch das Ende vom Traum immerwährender Prosperität, das Endes des sog. „Goldene Zeitalters“ (vgl. Sauer 2005, 2013): In den Unternehmen waren die traditionellen Rationalisierungsformen an Grenzen gestoßen. Produktivitätssteigerungen ließen sich nur mit einer weit reichenden Reorganisation der betrieblichen Strukturen und mit neuen Steuerungsformen von Arbeit erreichen. Diese neuen Steuerungsformen zeichnen sich zum einen dadurch aus, dass Märkte – auch Finanzmärkte – eine größere Rolle für die Unternehmens- und Leistungssteuerung spielen („Vermarktlichung“). Zum anderen werden die Beschäftigten unmittelbar mit der wachsenden Dynamik von externen und internen Marktanforderungen konfrontiert.

„Entgrenzung von Arbeit“ und das Dilemma einer wirksamen Arbeitszeitpolitik Argumente 2/2014


Statt zu tun, was ihnen gesagt wird, sollen sie selbständig auf ständig restriktivere Konkurrenzbedingungen des Unternehmens und vom Management vorgegebene Erfolgsmaßstäbe (Benchmarks, Kennziffern) reagieren („Indirekte Steuerung“). Dies wiederum setzt spezifische Veränderungen der Arbeitsorganisation und der betrieblichen Leistungspolitik voraus und verbindet sich mit Strategien einer Flexibilisierung von Beschäftigung(sverhältnis) und Arbeitszeit. Es kommt zu einem Bruch mit den traditionellen bürokratischen Organisationsprinzipien: An die Stelle von Fremdorganisation und direkter Kontrolle durch Vorgesetzte tritt die Selbstorganisation und die Aufforderung zu unternehmerischem Handeln (Subjektivierung). Traditionelle Formen der Interessenvertretung, sich gegen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu wehren, laufen ins Leere.

Mit den veränderten Modi der Unternehmenssteuerung und der neuen Rolle des Subjekts in der Arbeit hat sich zugleich ein arbeitspolitischer Paradigmenwechsel vollzogen, der früher als gesichert geltende Muster der Arbeitspolitik in Frage stellt. Traditionelle Formen der Interessenvertretung, sich gegen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu wehren, laufen vor diesem Hintergrund ins Leere. Die abhängig Beschäftigten geraten in eine Lage, in der sie, um ihre Arbeitsanforderungen zu erfüllen, von sich aus auf ihnen zustehende Rechte verzichten. Sie unterlaufen von ihnen erkämpfte Regulationssysteme – Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge, Gesetze –, weil sie ihr Arbeitspensum anders nicht schaffen SCHWERPUNKT

und damit befürchten, Arbeitsplätze zu gefährden. Dies bringt z. B. für den Arbeitsund Gesundheitsschutz in den Unternehmen das Risiko mit sich, dass Menschen von sich aus ihre Gesundheit gefährden – und zwar auch dann, wenn sie wissen, dass es so ist („interessierte Selbstgefährdung“). Für die Betriebs- und Personalräte entstehen aus dieser Situation paradoxe Anforderungen: Einerseits beklagen sich z. B. viele Beschäftigte über die Arbeitszeiten. Wenn der Betriebsrat dann aber etwas unternimmt, beklagen sich alle über den Betriebsrat. Ganz offensichtlich greift die Regulierung von Zeit als ehemals wichtigstes leistungspolitisches Instrument immer weniger, bzw. führt sogar zu negativen Effekten. Setzen die Betriebsräte die Einhaltung von Arbeitszeiten durch, sind sie mit erheblichen Akzeptanzproblemen konfrontiert. Sie treiben nicht selten die Beschäftigten in Grauzonen individualisierter Problembewältigung – ein berüchtigtes Beispiel sind die Beschäftigten, die ausstempeln und dann wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Arbeitszeitpolitik als Bestandteil einer „neuen Arbeitspolitik“ Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung war der Kampf um mehr Freiheit jenseits der Arbeit, das Mittel dabei war die strikte Grenzziehung zwischen „Arbeit und Leben“. In die Kontrolle dieser Grenze durch politische Regulierung waren die Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretung eingebunden. Der Preis für die Verschiebung dieser Grenze, für die Ausdehnung der „freien Zeit“, war der zunehmende Verlust von Autonomie, zeitlicher Gestaltungskraft und Lebensimpulsen in der Arbeit, war die Unterwerfung unter ein kommandoförmiges Zeitregime. Damit ging zugleich eine 39


Aufspaltung in verschiedene Politikbereiche einher: Zeitpolitik wurde immer mehr zu Arbeitszeitpolitik, die sich im Wesentlichen mit der Grenze zwischen Arbeits- und Lebenszeit befasste. Demgegenüber ist die Regulierung der Zeit in der Arbeit der zentrale Gegenstand der Leistungspolitik. Mit der Indirekten Steuerung, der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Leben, erscheint politische Gegenmacht allein durch die Regulierung und Kontrolle von Grenzen nicht mehr möglich, weil sie praktisch zunehmend unwirksam wird. Entscheidende Steuerungsgrößen für die Unternehmen liegen heute in den Rahmenbedingungen, sind sehr viel stärker in die neue zeitökonomische Struktur der Arbeitsprozesse eingelagert. Nicht einzelne betriebliche Akteure, nicht hierarchische Instanzen oder Vorgesetzte, sondern in den Arbeitsablauf integrierte Stellgrößen (Termine, Kundenanforderungen, vorhandenes Personalvolumen, Zugriff auf Ressourcen, verfügbare Qualifikationen und nicht zuletzt in Kennziffern gegossene Rendite-Erwartungen) entscheiden über die zeitlichen Arbeitsanforderungen und deren Wirkungen. Diese geraten nun ins Kampffeld der Auseinandersetzung um die „Herrschaft über die Zeit“, denn sie entscheiden – indirekt – über die „Zeitgrenzen“ der Beschäftigten. Betriebsräte und Gewerkschaften stehen damit vor einer historischen Aufgabe: Der Kampf um die Zeit wird zum Kampf um die Einflussgrößen des Arbeitsprozesses und um dessen Gestaltung. Zeitpolitik wird integraler Bestandteil von Arbeitspolitik – einer Arbeitspolitik, die sich nicht mehr auf die Abfederung von Auswirkungen auf die Beschäftigten beschränken kann, sondern sich in die Organisation der Rahmenbedingungen von Arbeit einmischen muss, wenn sie Wirkung erzielen will. Daraus resultiert 40

ein Begriff von Arbeitspolitik, der der realen Verschränkung der unterschiedlichen Handlungsfelder Arbeitszeit, Leistung, Gesundheit und Beschäftigung folgt und zu einer strategischen Neubestimmung der einzelnen Handlungsfelder kommt, aus der dann auch ein integrierter strategischer arbeitspolitischer Handlungsansatz zu entwickeln wäre. In der betrieblichen Realität können sie immer weniger getrennt diskutiert und bearbeitet werden. In dieser strategischen Neubestimmung erhält Leistungspolitik eine herausragende Stellung, weil hier im Kern die Auseinandersetzung mit den neuen Steuerungsformen und generell mit der marktzentrierten Produktionsweise stattfindet. Die entscheidenden leistungspolitischen Steuerungsgrößen und -instrumente liegen im ökonomischen Kernfeld der Unternehmenspolitik, d. h. in der Definition von Erträgen und Gewinn, in Zielen und Terminen und in der Bereitstellung von Ressourcen. Um darauf Einfluss zu gewinnen, wären in einem ersten Schritt die Einfallstore und Stellhebel zu identifizieren, wie z. B. Prozesse der Zieldefinition oder die Personalbemessung und die Bereitstellung anderer Ressourcen. Der Einfluss auf diese Steuerungsgrößen muss jedoch im Arbeitsprozess von den Beschäftigten selbst inhaltlich definiert und getragen werden. Eine von außen nur stellvertretend herangetragene Einflussnahme erweist sich ohne Beteiligung der einzelnen Beschäftigten als immer weniger umsetzbar und wirksam. Auf der anderen Seite gerät dieser Kampf um die „Herrschaft über den Arbeitsprozess“ sehr schnell an die Grundfesten kapitalistischer Herrschaft. Die Nähe zu unternehmerischen Kernkompetenzen macht den Konflikt politisch brisant und schwierig. Er kann deswegen letztlich nur in kollektiven Formen im Betrieb und in der Ge-

„Entgrenzung von Arbeit“ und das Dilemma einer wirksamen Arbeitszeitpolitik Argumente 2/2014


sellschaft ausgetragen werden. Entscheidend wird es deswegen sein, neue produktive Verbindungen von individuellem und kollektivem Interessenhandeln zu finden und weiterzuentwickeln. Literatur: Groß, Hermann/Seifert, Hartmut (Hg.) (2010): Zeitkonflikte. Renaissance der Arbeitszeitpolitik. Berlin Hacket, Anne (2011): Arbeitszeit und Lebenszeit – Die Zeitverwendung abhängig Beschäftigter im Kontext von Erwerbsarbeit. In: Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung (Hrsg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Teilhabe im Umbruch. Zweiter Bericht. Wiesbaden, S. 659-693. Holst, Elke/Seifert, Hartmut (2012): Arbeitspolitische Kontroversen im Spiegel der Arbeitszeitwünsche. In: WSI-Mitteilungen, Heft 2. Lehndorff, Steffen (2010): Arbeitszeitpolitik nach der Kurzarbeit, in: Schwitzer u.a., Zeit, dass wir was drehen! Perspektiven der Arbeitszeitund Leistungspolitik, Hamburg. Sauer, Dieter (2005): Arbeit im Übergang – Zeitdiagnosen. Hamburg. Sauer, Dieter (2013): Die organisatorische Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt – Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten, Hamburg.

Dieter Sauer ist Professor für Soziologie und Sozialforscher am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. in München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Entgrenzung von Arbeit und Leben, die Steuerung von Arbeit und die Leistungspolitik.

SCHWERPUNKT

41


Entgrenzte Arbeitszeit und begrenzte Lebenszeit: Ein Plädoyer für eine neue Zeitsouveränität am Beispiel der Weiterbildung von Günther Schmid, emeritierter Prof. für Ökonomische Theorie der Politik an der Freien Universität Berlin und langjähriger Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Wenn wir von „Entgrenzung“ sprechen, müssen wir die „Grenzen“ benennen. Im gesellschaftlichen Leben sind das die Regeln, an die wir uns halten sollten. Als Regelarbeitszeit galt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die 40-Stunden-Woche, die den Acht-Stunden-Tag mit der Fünf-Tage-Woche kombinierte. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche der IGMetall (1984) blieb ein Intermezzo. Die Arbeitszeiten für Vollzeitbeschäftigte liegen im Schnitt mittlerweile bei 41 Stunden. Darüber hinaus galt als Regel das unbefristete Arbeitsverhältnis und als Rollenbild der Mann, der mit seinem Lohn eine Familie ernähren kann. Zwar gilt „Keine Regel ohne Ausnahme“, aber diese Ausnahmen sind mittlerweile so groß, dass die Regeln selbst infrage zu stellen sind. Die „Entgrenzung“ der Arbeitszeit hat viele Gesichter: Überstunden (wobei im Trend die Zahl der unbezahlten im Vergleich zu den bezahlten zunimmt); außerreguläre Arbeitszeiten wie Schicht-, 42

Nacht- oder Feiertagsarbeit (über ein Viertel arbeitet z. B. regelmäßig am Samstag); Teilzeitarbeit (fast jede zweite erwerbstätige Frau arbeitet weniger als 32 Stunden pro Woche; bei den Männern ist es – bei ansteigendem Trend – jeder Zehnte); befristete Arbeitsverhältnisse (vor allem bei Jugendlichen); und die wachsende Anzahl von Soloselbständigen kennt zum großen Teil schon gar keine Arbeitszeitgrenzen mehr, um zu überleben. Der Blick über die Grenzen bestätigt, dass diese Entgrenzung – trotz teils erheblicher internationaler Unterschiede – kein deutsches Phänomen ist (Schmid 2014). Gründe dafür liegen auf der Hand. Der Bedarf an betrieblicher Flexibilität nimmt zu: Die Volatilität der Aufträge steigt; neue Technologien sind einzuführen; differenzierten Kundenwünschen muss entgegengekommen werden; die Arbeitsorganisation wird zunehmend projektförmig und international vernetzt. Auf der „Arbeit nehmenden“ Seite steigt der Bedarf für eigene Ar-

Entgrenzte Arbeitszeit und begrenzte Lebenszeit Argumente 2/2014


beit: Zeit für Familienarbeit bei gleichberechtigten Partnerschaften, Zeit für Pflege der älter werdenden Familienangehörigen, Zeit für beruflichen Aufstieg oder einen Berufswechsel, aber auch Zeit für eine wachsende Fülle von Erlebnisangeboten. Die Ergebnisse der Befragung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen der IGMetall spricht Bände: Vier von fünf Beschäftigten wünschen sich nicht weniger Arbeit, aber flexiblere Arbeitszeiten. Darüber hinaus stehen junge Erwachsene vor der Herausforderung, Berufserfahrungen an diversen Arbeitsplätzen, möglicherweise auch im Ausland, zu sammeln. Arbeits- und sozialpolitisch höchst bedenklich sind die hohen Risiken der derzeitigen Formen entgrenzter Arbeitsverhältnisse: geringere Löhne und niedrigerer Sozialschutz, höhere Arbeitslosigkeit oder extrem volatile Einkommen bei den neuen Selbstständigen. Eine neue Zeitsouveränität Darum stellt sich die Aufgabe einer neuen Begrenzung der Arbeitszeit, um Flexibilität und Sicherheit für alle Erwerbstätigen in eine neue Balance zu bringen. Bisher dominierte bei der Entgrenzung vor allem das Interesse der Betriebe nach Minderung der Arbeitskosten. Mittlerweile zeigen Untersuchungen, dass die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit über bloße Kostenminderung nicht nachhaltig ist. Die zukünftige demografische Verknappung des Arbeitsangebots, vor allem aber der Fachkräftebedarf, verlangt auch für die Betriebe ein neues Arbeitszeitregime. Dieses muss den Beschäftigten die Sicherheit gewährleisten, dass sich ihre Investitionen in betriebliche Qualifikationen lohnen und sie mit weiterer Beschäftigung – wenn auch nicht unbedingt am selben Arbeitsplatz – rechnen können. Die neue „RegelarbeitsSCHWERPUNKT

zeit“ wird eine – für Männer wie für Frauen – flexible Vollzeitarbeit sein, die je nach den Lebensumständen in der Regel mehr oder weniger in einer Bandbreite von 30 bis 40 Erwerbsarbeitsstunden schwankt. Abweichungen hierzu wird es vor allem in zwei Formen geben: Überstunden (Vollzeit über 40 Stunden), die überwiegend in Arbeitszeitkonten gehen, um Arbeitszeiten unter der Bandbreite auszugleichen; und „Unterstunden“ (Teilzeit unter 30 Stunden), die es erlauben, noch mehr in eigene Arbeit zu investieren.

Für die flexible Vollzeit bedarf es vor allem eines gesetzlich verankerten Rechts auf einklagbare individuelle Arbeitszeitvariation.

Für die flexible Vollzeit bedarf es vor allem eines gesetzlich verankerten Rechts auf einklagbare individuelle Arbeitszeitvariation. Dieses Recht auf Zeitsouveränität wird, wie viele Befragungen zeigen, weniger für müßige Freizeit genutzt werden, sondern überwiegend für eigene Arbeit (Erziehung, Bildung, Pflege, Reparaturen, ehrenamtliche Tätigkeit und vieles andere). Im Übrigen kann das Bandbreitenmodell (Hoff 2014) wohl am besten in Tarifverträgen oder betrieblichen Vereinbarungen geregelt werden; gute Praktiken dazu sind auch schon weit verbreitet. Für die investive Arbeitszeitverkürzung unterhalb der Bandbreite muss dringend ein neuer institutioneller und finanzieller Rahmen geschaffen werden. Dafür habe ich an anderer Stelle die Idee einer Erweiterung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung in die Debatte geworfen. Sie läuft im Wesentlichen darauf hinaus, nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch 43


Übergangsrisiken im Lebensverlauf arbeitsund sozialrechtlich abzusichern. In der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage wird der Schwerpunkt der neuen Zeitsouveränität auf (Weiter-)Bildungsarbeit zu legen sein. Ein konkreter Vorschlag kann hier nur sehr verkürzt vorgestellt werden (Schmid 2011, 2012). (Weiter-) Bildungsarbeit Ein Teil des Beitrags an die Agentur für Arbeit könnte als Weiterbildungsfonds angelegt werden. Diese Zweckbindung eines Teils der Beiträge sollte das Einkommensrisiko von zu geringer, veralteter oder falscher Qualifikation im SGB III explizit anerkennen. Schon jetzt sind die Arbeitsmarktabgaben ja nicht „Beiträge zur Arbeitslosenversicherung“, sondern „Beiträge zur Arbeitsförderung“ (SGB III, § 340, 1). Der Weiterbildungsfonds würde so für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer erwart- und damit planbare Leistungen definieren. Beide Seiten sollten deshalb auch gleichermaßen dazu beitragen. Der Großteil der Beiträge sollte weiterhin der sonstigen Arbeitsförderung gewidmet sein, de facto also vor allem für Arbeitslosengeld verwendet werden, das auch als investive Leistung (produktive Arbeitssuche) anzuerkennen ist. Die Beiträge zum Weiterbildungsfonds sollten durch einen geregelten Steuerzuschuss ergänzt werden, um eine Vorab-Umverteilungsmasse zugunsten vor allem Geringqualifizierter zu erhalten. Alle Beschäftigten könnten so unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit Ziehungsrechte im selben Umfang erwerben. Ein Prozentpunkt des Bruttolohns (anteilig von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen finanziert) erbrächte derzeit beispielsweise ein Volumen von gut acht Mrd. Euro. Mit entsprechend ergänzenden Steuermitteln könnte 44

das Gesamtvolumen des Weiterbildungsfonds auf 16 Mrd. Euro aufgestockt werden. Die allgemeine Beitragspflicht zum Weiterbildungsfonds gewährleistet zum einen die „vertikale“ Umverteilung des eigenen Lebenseinkommens zugunsten der biografischen „rush-hour“. Das heißt: Das Ziehungsrecht aus diesem Fonds stellt den Menschen Geld zur Verfügung, wenn sie es am nötigsten haben. Der geregelte Steuerzuschuss gewährleistet zum anderen in maßvoller Weise die „horizontale“ Umverteilung von Einkommen zugunsten von Menschen, die einerseits in der Erstausbildung benachteiligt und andererseits später hohen Erwerbsrisiken ausgesetzt sind.

Der Weiterbildungsfonds mit individuellen Ziehungsrechten würde Beschäftigte zu stärker selbstbestimmten Investitionen in ihre Fortbildung befähigen.

Das Ziehungsrecht sollte der individuellen Entscheidung überlassen bleiben, aber an bestimmte Bedingungen geknüpft werden. Dazu gehören vor allem vorausgehende Beratungspflicht und Abstimmung mit der Betriebsleitung; das Gegenstück zu dieser Pflicht wäre das Recht der Beschäftigten auf regelmäßige Feststellung ihrer Kompetenzen und gegebenenfalls Qualifikationsdefizite. Entsprechende zugelassene Institutionen müssten dazu eingeschaltet werden, wobei etwa die kommunalen Ämter für Ausbildungsförderung eine bedeutende Rolle bei der dezentralen Umsetzung spielen könnten. Der Weiterbildungsfonds mit individuellen Ziehungsrechten würde Beschäftigte somit zu stärker selbstbestimmten Investitionen in ihre Fortbildung befä-

Entgrenzte Arbeitszeit und begrenzte Lebenszeit Argumente 2/2014


higen, ohne dass der verabredete Umfang der Ziehungsrechte tatsächlich schon angespart ist. Vorrang für nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit Der Weiterbildungsfonds mit individuellen Ziehungsrechten wäre eine Ergänzung und kein Ersatz für den bisher schon bestehenden Anteil „aktiver“ Arbeitsmarktpolitik. In begründeten Fällen sollten Arbeitslose nach wie vor mit vermittlungsfördernden Maßnahmen aus dem nur aus Beitragsmitteln finanzierten Teil der Arbeitsförderung unterstützt werden. Aber mit Blick auf die Logik einer Arbeitsversicherung müsste auch hier arbeitsrechtlich ein weiterer Paradigmenwechsel vollzogen werden. Praktiker beklagen, dass (insbesondere im Falle der Transfergesellschaften) die Weiterbildungsphasen oft zu kurz sind und Umschulung fast gänzlich ausgeschlossen ist. Abschlussbezogene Qualifizierung sollte deshalb den gleichen Stellenwert bekommen wie Vermittlung. Der Vermittlungsvorrang des derzeitigen Arbeitsförderungsgesetzes sollte durch den Vorrang nachhaltiger Beschäftigungsfähigkeit ergänzt werden. Entsprechend sollte es beispielsweise auch die Möglichkeit geben, das Transferkurzarbeitergeld auf 24 Monate auszudehnen, um die Voraussetzung für Umschulungsmaßnahmen und Aufstiegsqualifizierungen zu schaffen.

SCHWERPUNKT

Literatur: Hoff, A. (2014), Was kommt nach der 40-Stunden-Woche?, in: Personalwirtschaft, H. 9, S. 12-13. Schmid, G. (2011), Übergänge am Arbeitsmarkt – Arbeit, nicht nur Arbeitslosigkeit versichern, Berlin, edition sigma Schmid, G. (2012), Von der Arbeitslosen- zur Arbeitsversicherung, in: Leviathan, 40 (2), 248-270, http://www.guentherschmid.eu/pdf/Schmid% 20Leviathan.pdf Schmid, G. (2014), Wann wird der Arbeitsmarkt erwachsen? Folgen des Strukturwandels für die Übergänge zwischen Bildung und Beschäftigung, in: H. von Felden, O. Schäffter, H. Schicke (Hrsg.), Denken in Übergängen – Weiterbildung in transitorischen Lebenslagen, Wiesbaden 2014, Springer VS, 137-169

Günther Schmid war seit 1990 Professor für Ökonomische Theorie der Politik an der Freien Universität Berlin und von 1989 bis 2008 Direktor der Abteilung „Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Arbeit und Arbeitsmarkt sowie Sozialstaat und soziale Ungleichheit.

45


Solo-Selbstständigkeit – zwischen Freiheit und Unsicherheit von PD Dr. Karin Schulze Buschoff, Leiterin des Referates Arbeitsmarktpolitik im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und Privatdozentin an der FU Berlin Aktuelle Situation Mehr als die Hälfte aller Selbstständigen sind solo-selbstständig. Seit mehr als zwanzig Jahren ist in Deutschland eine deutliche Zunahme von selbstständiger Erwerbsarbeit zu beobachten. Im Jahr 2013 lag die Zahl der Selbstständigen mit insgesamt 4,5 Mio. über 1,4 Mio. höher als 1991. Mit einer Selbstständigenquote von knapp 12% an allen Erwerbstätigen liegt Deutschland im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Der Anstieg der Selbstständigkeit ist vor allem auf die wachsende Bedeutung der Solo-Selbstständigkeit zurückzuführen. Mehr als die Hälfte aller Selbstständigen (57%) sind soloselbstständig (Brenke 2013). Die Zahl der Solo-Selbstständigen wächst vor allem in den expandierenden Dienstleistungsbereichen, z. B. im Gesundheitsbereich, im Kulturbereich und bei den unternehmensorientierten Dienstleistungen. Die Gründungen erfolgen häufiger durch Frauen, oftmals ohne oder nur mit geringen Vermögenswerten. Häufig basieren sie auf Tätigkeitsprofilen, die auf Wissen und Fähigkeiten beruhen und geringe 46

Anforderungen an ökonomische und personelle Ressourcen stellen. Der Anteil der Personen mit niedrigem Einkommen je Stunde ist unter den SoloSelbstständigen größer als unter den abhängig Beschäftigten; etwa ein Drittel der Solo-Selbstständigen ist dem Niedriglohnsektor zuzuordnen (Brenke 2013). Lebenswirklichkeit Häufig wird die Selbstständigkeit im Vergleich zum abhängigen Beschäftigungsverhältnis als „Normalfall“ angesehen.

Ergebnis einer qualitativen Studie (Mauss 2013) ist, dass die Solo-Selbstständigen eine sehr heterogene Gruppe mit sehr unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und unterschiedlichen Gründungsbiografien darstellt. Häufig wird die Selbstständigkeit im Vergleich zum abhängigen Beschäftigungsverhältnis als „Normalfall“ angesehen. Dies gilt speziell in der Medien- und Kreativbranche. Unabhängig vom Bildungsstand oder der Gründung „ohne Not“ bzw. „mit Not“ (d. h. aus der Arbeitslosigkeit heraus), äußern die Solo-Selbstständigen eine hohe

Solo-Selbstständigkeit – zwischen Freiheit und Unsicherheit Argumente 2/2014


Zufriedenheit mit der aktuellen Situation. Als Vorteile werden genannt: Freiheit und Selbstverantwortung, hohe Identifikation mit der Arbeit, hohe Wertschätzung durch Auftraggeber/Kunden. Als Nachteile: lange Arbeitszeiten, wenig Urlaub, das häufig problematische „Verschmelzen“ von Arbeit und Freizeit, das ein „Abschalten“ schwierig macht, schwankende Auftragslagen und der damit einhergehende wirtschaftliche Druck sowie die fehlende Verankerung in den Sozialversicherungssystemen. Problematisch wird von vielen Solo-Selbstständigen ihre mangelnde Absicherung gegen Krankheit und – vor allem – gegen Altersarmut gesehen. Im Hinblick auf die Altersvorsorge haben viele den Eindruck, dass sie nicht genügend vorsorgen, dies aufgrund mangelnder finanzieller Mittel aber auch nicht können. Soziale Sicherung Während in der Mehrzahl der europäischen Länder die Selbstständigen durch die staatlichen Pflichtversicherungssysteme systematisch erfasst werden, ist die Pflichtversicherung in Deutschland entsprechend der Tradition der Bismarckschen Sozialversicherung auf wenige Sondergruppen Selbstständiger begrenzt.

Hinsichtlich der sozialen Sicherung Selbstständiger stellt Deutschland im europäischen Vergleich eine Besonderheit dar: Während in der Mehrzahl der europäischen Länder die Selbstständigen durch die staatlichen Pflichtversicherungssysteme systematisch erfasst werden, ist die Pflichtversicherung in Deutschland entsprechend der SCHWERPUNKT

Tradition der Bismarckschen Sozialversicherung auf wenige Sondergruppen Selbstständiger (bzw. Scheinselbstständiger) begrenzt. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Selbstständigen für sich selbst vorsorgen können und nicht des kollektiven Schutzes der Solidargemeinschaft der Versicherten bedürfen. Dies gilt auch heute noch – mit Ausnahme von Sonderregelungen, die einzelne Gruppen von Selbstständigen in die Sozialversicherung mit einbeziehen. Bei diesen einzelnen Gruppen von Selbstständigen wurde davon ausgegangen, dass die Annahme fehlender Schutzbedürftigkeit nicht gerechtfertigt ist. Als Folge wurden sie schrittweise in die staatliche Alterssicherung integriert. So bestehen heute für etwa ein Viertel der Selbstständigen obligatorische Sondersysteme, wobei die Bedingungen je nach Berufsgruppe sehr unterschiedlich sind. Obligatorische Alterssicherungssysteme gelten für Hausgewerbetreibende, LehrerInnen, ErzieherInnen, Pflegepersonal, Hebammen, SeelotsInnen, KüstenschifferInnen und KüstenfischerInnen, HandwerkerInnen mit Eintrag in die Handwerksrolle und BezirksschornsteinfegermeisterInnen, KünstlerInnen und PublizistInnen, LandwirtInnen; sowie Freie Berufe wie RechtsanwältInnen, NotarInnen oder ÄrztInnen. Für selbstständige KünstlerInnen und PublizistInnen besteht die Versicherungspflicht in der Kranken- und Rentenversicherung mit der Schaffung der Künstlersozialkasse (KSK) seit 1983. Die Beitragshöhe in der KSK richtet sich nach dem im Voraus geschätzten Jahreseinkommen, das in Monate umgerechnet wird. Die Versicherten haben wie abhängig Beschäftigte die Hälfte der Beitragssumme an die Sozialversicherung zu zahlen, die zweite Hälfte wird durch einen Bundeszuschuss und die vom 47


Auftraggeber zu entrichtende Künstlersozialabgabe aufgebracht. Offensichtlich ist, dass auch weitere Gruppen von Selbstständigen nicht anders als die bislang schon pflichtversicherten Selbstständigen in gleicher Weise sozialen Risiken ausgesetzt sind. Vielfach gefordert wird deshalb die Erweiterung der staatlichen Pflichtversicherung der Altersvorsorge um Selbstständige aller Berufsgruppen. Eine solche Erweiterung staatlicher Systeme der sozialen Sicherung um den Versichertenkreis der Selbstständigen aller Berufsgruppen ist jüngst in der Arbeitslosen- und in der Krankenversicherung erfolgt. Seit 2006 besteht die Möglichkeit der Weiterversicherung Selbständiger in der Arbeitslosenversicherung (im Anschluss an abhängige Beschäftigung). Seit 2009 besteht die Versicherungspflicht in der Krankenversicherung für die gesamte Bevölkerung, und damit auch für die Selbständigen. Handlungsoptionen Eine der größten und zugleich schwierigsten Herausforderungen besteht in der konkreten Ausgestaltung eines längst überfälligen Reformschrittes, nämlich der Ausweitung der Pflichtversicherung der gesetzlichen Rentenversicherung auf alle Erwerbstätigen und damit auch alle Selbstständigen.

Die soziale Sicherung der Solo-Selbstständigen stellt sich derzeit als lückenhaft dar. Eine der größten und zugleich schwierigsten Herausforderungen besteht in der konkreten Ausgestaltung eines längst überfälligen Reformschrittes, nämlich der Ausweitung der Pflichtversicherung der gesetz48

lichen Rentenversicherung auf alle Erwerbstätigen und damit auch alle Selbstständigen. Für die in der gesetzlichen Rentenversicherung wenigen pflichtversicherten Berufsgruppen von Selbstständigen und für die freiwillig versicherten Selbstständigen gilt derzeit: Bestehen keine besonderen Konditionen wie z. B. bei der KSK, dann müssen sie ihren Beitrag vollständig selbst aufbringen (d. h. bei der im Prinzip paritätisch angelegten Beitragszahlung ‚fehlt‘ der Arbeitgeberanteil und muss von den Beschäftigten mitgetragen werden). Wegen dieser Rahmenbedingungen sind die Beiträge relativ hoch. Die derzeit geltenden Regelungen in den gesetzlichen Sozialversicherungssystemen führen insbesondere für pflichtversicherte Selbstständige im unteren Einkommensbereich zu einer erheblichen relativen Belastung. Ver.di als Organisation mit insgesamt ca. 30 000 selbstständig tätigen Mitgliedern tritt seit langem für die Einbeziehung der Selbstständigen in das solidarische System der staatlichen Alterssicherung ein und propagiert analog zur Künstlersozialkasse die Beteiligung der Auftraggeber an den Sozialversicherungsbeiträgen, die den „fehlenden“ Arbeitgeberanteil ausgleichen könnte. Eine weitere Variante wäre ein Zuschuss aus Steuermitteln zu den Sozialversicherungsbeiträgen bei kleinen Einkommen, die sich der Staat durch eine Auftraggeberabgabe rückerstatten lassen könnte (ver.di 2005: 134). Nicht nur in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch in den anderen Sozialversicherungszweigen bestehen akute Probleme, die einer Neuregelung bedürfen. So werden z. B. in der gesetzlichen Krankenversicherung die Beiträge der Selbstständigen nicht am Realeinkommen bemessen, sondern mit einem ‚angenommen Mindesteinkommen‘ festgelegt, das oftmals

Solo-Selbstständigkeit – zwischen Freiheit und Unsicherheit Argumente 2/2014


faktisch nicht erreicht wird. Bei niedrigem Einkommen kann der Beitrag auf Antrag angepasst werden, er sinkt aber nicht unter 309 Euro monatlich (ohne Anspruch auf Krankengeld, Angabe für 2014). Auch mit diesem reduzierten Satz sind viele Selbstständige finanziell überfordert.

Die Zahl der Selbstständigen in der Arbeitslosenversicherung hat sich von 2010 bis 2013 nahezu halbiert.

Weiterhin ist die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Existenzgründer, die vorerst bis 2010 befristet war, zwar positiv evaluiert worden und wird seit 2011 unbefristet weitergeführt, dies jedoch zu erheblich schlechteren Konditionen. Die monatlichen Versicherungsbeiträge sind auf das Vierfache gestiegen, von knapp 18 Euro auf knapp 79 Euro (im Westen). Die Zahl der Selbstständigen in der Arbeitslosenversicherung hat sich von 2010 (mit 261 000 Versicherten) bis 2013 (mit 133 000 Versicherten) nahezu halbiert. Nach einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gaben die Selbstständigen, die trotz weiter bestehender Selbstständigkeit die Arbeitslosenversicherung wieder verlassen haben, als Grund hierfür die als zu hoch empfundenen Beiträge an (IAB 2013). Um Gründer besser abzusichern und diese „Massenflucht“ zu stoppen, sollte daher die drastische Verteuerung der Beiträge zurückgenommen werden.

SCHWERPUNKT

Literatur: Brenke, Karl (2013). Allein tätige Selbstständige: starkes Beschäftigungswachstum, oftmals nur geringe Einkommen, DIW-Wochenbericht 7/2013, Berlin. IAB (2013). Etwas mehr Sicherheit. IAB-Kurzbericht 12/2013, Nürnberg. Mauss, Alexander (2010). ver.di – Gewerkschaft der Selbstständigen. Gruppendiskussionen mit organisierten und nicht-organisierten Selbstständigen. Mauss-Research-Präsentationsbericht. Berlin. Ver.di, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, Abteilung Sozialpolitik/Gesundheitspolitik (2005). Sozialpolitische Informationen. Daten/Fakten/Hintergründe, 1. Halbjahr 2005.

PD Dr. Karin Schulze Buschoff ist Leiterin des Referates Arbeitsmarktpolitik im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Zudem arbeitet sie als Privatdozentin an der Freien Universität Berlin.

49


Die Lebensgestaltung junger Menschen zwischen Optionsvielfalt und Ungewissheit von Martina Gille, Wissenschaftliche Referentin und Leiterin des Kompetenzteams Jugend im Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden beim Deutschen Jugendinstitut e.V. in München.

Die junge Generation wird hinsichtlich ihrer mentalen Grundhaltung in jüngster Zeit in Medien und Wissenschaft häufig sehr kritisch bewertet. Zum einen wird ihr vorgeworfen, dass sie sich zur sehr auf sich selbst und ihr privates Glück konzentriere – von einer „Kuschel-Generation“ (Book/ Hergert/Prange 2014) oder „Me Me Me Generation“ (Stein 2013) ist die Rede. Überhaupt seien die jungen Leute zu sehr auf Sicherheit und eine heile persönliche Umwelt konzentriert und vernachlässigten ihre Rolle als politische Bürgerinnen und Bürger – verhielten sich eben wie eine „Generation Biedermeier“ (rheingold 2010). Die starke persönliche Ordnungs- und Sicherheitssuche soll dabei die Ängste bei den jungen Leuten zurückdrängen, in ihren persönlichen Beziehungen und/oder in ökonomischer Hinsicht, Schiffbruch zu erleiden. Zum anderen wird die junge Generation durch ihre vermeintliche Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, charakterisiert. Dies findet ihren Ausdruck in Etiketten wie Generation „Maybe“ ( Jeges 2012) oder „Generation Y“ (Hurrelmann/Albrecht 2014). Angesichts vielfältiger Optionen, aber auch ungewisser Zukunftsperspektiven halten 50

sich die jungen Leute möglichst viele Entscheidungen offen und zögern biographisch-bindende Festlegungen wie z.B. die Gründung einer Familie möglichst lange hinaus. Als „Egotaktiker“ reagieren sie mit großer Sensibilität auf ihre Umwelt, wägen Kosten und Nutzen möglicher Handlungsfolgen sorgfältig ab und sind stets auf ihren Vorteil bedacht. Politische Rebellion ist nicht angesagt, doch unterwandern die jungen Leute in vielen Bereichen festgeschriebene Traditionen wie z.B. die herkömmlichen Geschlechterrollen und wirken so wie „heimliche Revolutionäre“.

Zum anderen wird die junge Generation durch ihre vermeintliche Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, charakterisiert.

Dieser Mentalitätswandel bei der jungen Generation heute spiegelt die veränderten Bedingungen des Aufwachsens für die jüngeren Altersgruppen wider. Zieht man zum Vergleich die Nachkriegsgeneration, die „skeptische Generation“ (Schelsky 1957),

Die Lebensgestaltung junger Menschen zwischen Optionsvielfalt und Ungewissheit Argumente 2/2014


heran, so wird der Wandel in den objektiven Lebensbedingungen und den Zukunftsperspektiven der verschiedenen Jugendgenerationen deutlich (Bertram 2012). Die „skeptische Generation“, deren Kindheit durch den 2. Weltkrieg überschattet wurde, sehnt sich nach Sicherheit, bescheidenem Wohlstand und hält sich fern von politischen Parolen. Ihr Lebensweg in der industriell geprägten Nachkriegsgesellschaft ist klar vorgezeichnet. Die zentralen vier Entwicklungsaufgaben des Jugendalters – 1. Ablösung vom Elternhaus, Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen 2. Erwerb schulischer und beruflicher Qualifikationen, 3. Entwicklung eines eigenen Lebensstils, eines selbstständigen und eigenverantwortlichen Umgangs mit Angeboten des Freizeit-, Kultur- und Mediensektors und 4. die Entwicklung eines Werte- und Normensystems sowie die Übernahme der Rolle als politische Bürgerin bzw. politischer Bürger – werden in einer relativ kurzen Zeitspanne und in einer festen Reihung bewältigt: Schule – Ausbildung – Beruf – Heirat – Kinder. Der Erwachsenenstatus ist klar definiert. Er ist erreicht, wenn der Jugendliche berufstätig und ökonomisch selbständig ist, sowie eine Familie gegründet hat. Heute lassen sich die verschiedenen Lebensetappen des Jugendalters nicht mehr so deutlich voneinander abgrenzen und auch ihre Abfolge ist zunehmend variabel: Phasen von Ausbildung und Erwerbstätigkeit oder auch Auszeiten werden beliebig kombiniert, wobei das „Hotel Mama“ trotz schon bestehender Partnerschaften immer länger und auch als Rückkehrer/in immer wieder in Anspruch genommen wird. Die Jugendphase hat sich zeitlich auf ca. 15 Jahre ausgedehnt. Zum einen tritt die Pubertät früher ein und zum anderen wird das Erwachsenwerden biographisch immer weiter aufgeschoben. Dabei gestaltet sich der AusSCHWERPUNKT

gang der Jugendphase als zunehmend offen. So werden der Berufseinstieg oder auch die Familiengründung von vielen jungen Erwachsenen bis zum 30. Lebensjahr nicht erreicht. Damit werden aber auch die Definitionskriterien für den Erwachsenenstatus zunehmend obsolet.

Die Jugendphase hat sich zeitlich auf ca. 15 Jahre ausgedehnt.

Entscheidender Motor für die Ausdehnung der Jugendphase sind die in den Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften geforderten hohen schulischen und beruflichen Qualifikationen. Der 14. Kinderund Jugendbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2014) stellt heraus, dass die Bildung für junge Menschen heute zur Schlüsselressource geworden ist, um sich erfolgreich in der Gesellschaft zu platzieren. Keine junge Generation zuvor hat so viel in Bildung investiert. So liegt mittlerweile der Anteil junger Menschen, die zum Studium berechtigt sind, bei über 50%, bei den Frauen sogar bei 58% (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 124). Die zunehmende Lebenszeit, die junge Menschen in Bildungsgängen verbringen ist aber nicht mit einem „Bildungsmoratorium“ gleichzusetzen, in dem junge Menschen sich ausprobieren und geschützt von den Anforderungen der Erwachsenengesellschaft ihre Bildungsqualifikationen erwerben können (Heitmeyer/Mansel/Olk 2011). Jugendliche sollen für den Arbeitsmarkt „fit“ gemacht werden in möglichst kurzen Bildungsgängen wie etwa dem achtjährigen Gymnasium oder Bachelor-Studiengängen. Die straffe und zunehmend ganztägige Bildung führt zu einer Verringerung jugendlicher Zeitsouveränität und 51


zu einem Verlust an Experimentierräumen. Den jungen Menschen fehlen somit zunehmend Gelegenheiten, ihre Identitätsentwürfe auszuprobieren, ohne dass ökonomische Nutzenkalküle eine Rolle spielen.

Die straffe und zunehmend ganztägige Bildung führt zu einer Verringerung jugendlicher Zeitsouveränität und einem Verlust an Experimentierräumen.

Der Eintritt in die Berufswelt findet heute sehr viel später im Lebenslauf statt als bei der Nachkriegsgeneration. Er beginnt für junge Menschen häufig nicht mit einem Normalarbeitsverhältnis, das sich durch eine Vollzeittätigkeit, einem unbefristeten Arbeitsvertrag sowie soziale Absicherung charakterisieren lässt. Heute sind in der Bundesrepublik Deutschland 43% aller Jobs keine Normalarbeitsverhältnisse mehr sondern Minijobs, Teilzeitstellen oder Leiharbeit (Hans-Böckler-Stiftung, 2014). Nur wenigen jungen Frauen und Männern gelingt es, nach der Ausbildung einen attraktiven Arbeitsplatz zu bekommen, der unbefristet ist, eine gute ökonomische Absicherung und auch Aufstiegschancen bietet. Sie müssen häufig mit gering bezahlten Praktika oder befristeten Arbeitsverträgen Vorlieb nehmen. Zugleich müssen sie regional sehr mobil sein. All dieses aber erschwert langfristige Zukunftsplanungen im Hinblick auf einen gemeinsamen Haushalt mit der Partnerin/dem Partner und Familiengründung. Bertram (2012) spricht von der heutigen Jugendgeneration als einer überforderten Generation, denn sie muss in einem relativ knappen Zeitfenster nach dem 30. Lebensjahr die zuvor aufgeschobenen 52

Lebensereignisse wie Familiengründung und auch berufliche Etablierung nachholen. Dabei wollen heute die jungen Männer und Frauen beides: eine interessante und anspruchsvolle Berufstätigkeit und eine Familie. Im Hinblick auf die traditionellen Geschlechterrollen hat sich seit der „skeptischen Generation“ ein deutlicher Wandel vollzogen. Die jungen Frauen und Männer lehnen die herkömmliche Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann ab und fordern eine möglichst egalitäre Arbeitsteilung in der Familie. Allerdings ist die Realisierung dieses Anspruchs nicht so einfach und es sind auch heute die jungen Frauen die häufiger und für einen längeren Zeitraum für die Betreuung von Kindern, die Erwerbsarbeit unterbrechen oder in Teilzeit arbeiten. Der Anstieg des Bildungsniveaus und die damit verknüpfte längere Schulzeit oder Berufsausbildung führen dazu, dass der Eintritt ins Berufsleben und eine Familiengründung häufig erst zwischen 30 und 40 Jahren oder noch später erfolgen. Die junge Generation weist aber heute eine starke Familienorientierung auf und ist an flexiblen Arbeitszeitmodellen interessiert. Hier könnte die Politik die Wünsche der jungen Generation aufgreifen und zum einen mehr Unterstützungsmöglichkeiten schaffen, in der Ausbildung oder im Studium eine Familie zu gründen. Zum anderen geht der Vorstoß von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig das Elterngeld stärker zu flexibilisieren und auch hier die Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen in Richtung der Vorstellungen der jungen Generation nach mehr Zeitsouveränität in der Gestaltung von Arbeits- und Familienphasen. Im Folgenden soll der oben beschriebene Wandel in den Wertorientierungen und den Haltungen der jungen Generation zum politischen System anhand ausgewählter Ergebnisse der empirischen Jugendfor-

Die Lebensgestaltung junger Menschen zwischen Optionsvielfalt und Ungewissheit Argumente 2/2014


schung dargestellt und diskutiert werden (Gille 2008). Basis sind hierfür die Jugendstudien des Deutschen Jugendinstituts, die seit Beginn der 1990er-Jahre regelmäßig durchgeführt werden. Sie erlauben es, im Hinblick auf die Lebensverhältnisse und Befindlichkeiten der Jugend Zeitreihendaten zu erstellen und somit Wandlungstendenzen nachzuzeichnen. Ergänzend wird auch auf Ergebnisse der Shell Jugendstudien Bezug genommen (Deutsche Shell 2010). Zunächst soll auf die gewandelten Zukunftsentwürfe junger Menschen eingegangen werden. Was verbirgt sich hinter der

gestiegenen Suche nach privatem Glück und persönlicher Sicherheit? Bittet man junge Menschen darum, verschiedene Lebensbereiche wie Herkunftsfamilie, Freizeit, eigene Familie, Arbeit und Politik u.a. nach ihrer persönlichen Wichtigkeit zu bewerten, so zeigen sich für die Erhebungsjahre 1992 und 2009 – die Ergebnisse der dazwischen liegenden Untersuchungen von 1997 und 2003 werden hier nicht dargestellt – deutlich veränderte Bewertungsprofile (vgl. Abbildung 1, unten). Sichtbar wird vor allem eine gestiegene Familienorientierung: Zum einen hat sich die hohe Wichtigkeit der Herkunftsfamilie

Abb. 1: Wichtigkeit von Lebensbereichen – Rangreihe nach Mittelwerten, 1992 und 2009 1992

MW

2009

MW

1.

Freunde u. Bekannte

5,2

Eltern und Geschwister

5,5

2.

Freizeit und Erholung

5,2

Freunde u. Bekannte

5,5

3.

Eltern und Geschwister

5,0

Partnerschaft

5,5

4.

Partnerschaft

4,9

Schul- u. Berufsausbildung

5,4

5.

Schul- u. Berufsausbildung

4,8

Eig. Familie u. Kinder

5,2

6.

Beruf und Arbeit

4,8

Beruf und Arbeit

5,2

7.

Eig. Familie u. Kinder

4,2

Freizeit und Erholung

5,2

8.

Kunst u. Kultur

3,6

Politik

4,1

9.

Politik

3,4

Kunst u. Kultur

3,8

Religion

2,6

Religion

3,0

10.

Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992 (gewichtet) und AID:A – DJI-Survey 2009 (gewichtet), 16- bis 29-Jährige, N=14.468. * Frage: Wie wichtig sind für Sie persönlich die folgenden Lebensbereiche? Mittelwerte einer Skala von 1 = "überhaupt nicht wichtig" bis 6 = "sehr wichtig". Lesehilfe: Je höher der Mittelwert, desto wichtiger ist der Lebensbereich.

SCHWERPUNKT

53


noch weiter verstärkt. Hierfür ist nicht nur der immer längere Verbleib im Elternhaus verantwortlich, sondern auch das überwiegend gute Verhältnis zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern. Zum anderen erfährt die eigene (zukünftige) Familie zunehmend Wertschätzung. Auch die Shell Jugendstudien können einen Anstieg in der subjektiven Bedeutung der Familie bei jungen Menschen nachweisen – zwischen 2002 und 2010 (Leven/Quenzel/Hurrelmann 2010: 57). Die Peers und Freunde/Freundinnen sowie der Partner/die Partnerin spielen im Ablösungsprozess junger Menschen vom Elternhaus sowie für den Erwerb von Geschlechtsidentität eine entscheidende Rolle. Sie stehen in der Bewertungshierarchie sehr weit oben. Bemerkenswert ist die hohe und auch gestiegene Bedeutung von „Schul- und Berufsausbildung“ sowie von „Arbeit und Beruf“. Den jungen Leuten wird immer mehr bewusst, dass sie nur mit sehr guten Schulnoten und Berufsqualifikationen eine Chance haben, sich erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. In ihren Lebenskonzepten sind sie durchaus bereit, Schule, Ausbildung und Arbeit einen hohen Stellenwert zu geben – und dies gilt heute für junge Frauen und Männer gleichermaßen. Anfang der 1990er-Jahre zeigten die jungen Frauen noch eine deutlich geringer Berufsorientierung als die jungen Männer. Die gestiegene Bedeutung des Lebensbereichs Arbeit und Beruf verdeutlicht aber auch den starken Druck, der auf der jungen Generation lastet, erfolgreich am Erwerbsleben teilzunehmen. Die größere Ernsthaftigkeit in den Lebensentwürfen junger Menschen spiegelt sich auch im Bedeutungsverlust des Lebensbereichs Freizeit und Erholung wider. Obwohl der Lebensbereich Freizeit und Erholung zu beiden Zeitpunkten das gleiche absolute Bewertungsniveau erreicht, 54

rutscht er doch in der Rangreihe deutlich nach unten (vom 2. auf den 7. Platz). Zusammenfassend kann man feststellen: Nicht nur der Lebensbereich „Beruf und Arbeit“ wird wichtiger, sondern auch die privaten Lebensbereiche. Möglicherweise werden private soziale Netzwerke immer wichtiger, um dem Leistungs- und Konkurrenzdruck sowie der wachsenden Unsicherheit hinsichtlich der Planbarkeit von Ausbildungsund Berufswegen standzuhalten.

Die größere Ernsthaftigkeit in den Lebensentwürfen junger Menschen spiegelt sich auch im Bedeutungsverlust des Lebensbereichs Freizeit und Erholung wider.

Der Lebensbereich Politik ist in seinem Stellenwert gegenüber den privaten Lebensbereichen bei jungen Menschen deutlich nachgeordnet. Dies bedeutet aber nicht, dass sich die heutige junge Generation weniger für Politik oder gesellschaftlicher Belange interessieren würde als frühere Generationen. Betrachtet man verschiedene Indikatoren von sozialer und politischer Aktivität über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich eher eine Zunahme an gesellschaftlicher Beteiligung. Allerdings ist die Beteiligung zumeist nicht kontinuierlich, sondern beschränkt sich auf einzelne Aktionen (Gaiser/Gille 2012). Zunächst soll die soziale Partizipation junger Menschen, die sich über Mitgliedschaften und Aktivitäten in Vereinen und Verbänden beschreiben lässt, im zeitlichen Wandel betrachtet werden. Sie gehört zu den klassischen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements und ist Ausdruck von persönlicher Partizipation, Vernetzung und

Die Lebensgestaltung junger Menschen zwischen Optionsvielfalt und Ungewissheit Argumente 2/2014


sozialer Integration zumeist über einen längeren Zeitraum. Betrachtet man den Anteil junger Menschen, die mindestens in einem Verein oder Verband Mitglied sind, so zeigt sich – bis auf einen Einbruch 1997 – eine unverändert hoher Wert von ca. 60% (vgl. Abbildung 2).

Das politische Interesse, das eine wichtige Voraussetzung für politische Partizipation ist, hat bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 2003 und 2009 deutlich zugenommen. Auch die Shell Jugendstudien konstatieren einen Anstieg des politischen Interesses zwischen 2006 und

Abb. 2: Entwicklungstrends: Politisches Interesse, Partizipation und Aktivitäten, 1992-2009 (in %)

Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992, 1997, 2003 (gewichtet) und AID:A – DJI-Survey 2009 (gewichtet); 18- bis 29-jährige Befragte mit deutscher Staatsangehörigkeit; N=22.449. Verfasste politische Partizipation (mindestens 1 Aktivität): Bereits an Wahlen teilgenommen oder in einer Partei mitgearbeitet. Protestaktivität (mindestens 1 Aktivität): Bisher an (genehmigten oder nicht-genehmigten) Demonstrationen oder an Unterschriftensammlungen oder an einem Boykott teilgenommen. Mind. 1 Mitgliedschaft: AID:A 2009: Frage: "Sagen Sie mir bitte, ob Sie in den folgenden Vereinen oder Verbänden aktiv sind. Nachfrage bei jenen Befragten, die aktiv sind: "Und sind Sie dort Mitglied?" DJI-Jugendsurveys: Zuerst Frage nach Mitgliedschaft, dann nach Aktivität. Politisches Interesse: Zusammenfassung der Befragten, die sich sehr stark oder stark für Politik interessieren (5-stufige Skala: sehr stark/stark/mittel/wenig/überhaupt nicht). Mindestens 1 Aktivität in NSB: Aktivität/Teilnahme in Umweltschutzgruppe, Friedensinitiative, Menschenrechtsgruppen, Stadtteil-/Nachbarschafts-/regionale Initiativen, Globalisierungskritiker oder Bürgerinitiativen. Mindestens 1 Aktivität (Umwelt, Frieden, Menschenrechte): Aktivität/Teilnahme an Umweltschutz-, Friedensinitiativen, Menschenrechtsgruppen oder Bürgerinitiativen.

SCHWERPUNKT

55


2010 (Schneekloth 2010). Zudem kann man feststellen, dass die politische Beteiligung in Form punktueller Aktionen zugenommen hat. Dies zeigt sich im Hinblick auf verfasste Partizipationsformen, wie zur Wahl gegangen zu sein oder in einer Partei mitgearbeitet zu haben, aber besonders deutlich im starken Anstieg der protestorientierten Aktionen wie Teilnahme an Demos oder Unterschriftensammlungen. Das Engagement in den Neuen Sozialen Bewegungen, das häufig auf spezifische Themen ausgerichtet, anlassbezogen und zeitlich begrenzt ist, kann durch Umfragen in seiner langfristigen Entwicklung nur in etwa abgeschätzt werden. Aber es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Beteiligungsform an Bedeutung verliert. Zusammenfassend lässt sich zur Entwicklung der verschiedenen Partizipationsformen bei jungen Menschen sagen, dass die dargestellten Ergebnisse keinen Anlass für negative Zukunftsszenarien bieten, die eine zunehmende Abkehr der Jugend von Gesellschaft und Politik heraufbeschwören.

Literatur: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2014). Bildung in Deutschland 2014. Bielefeld: Bertelsmann Verlag. Bertram, H. (2012). Von der skeptischen Generation zur überforderten Generation. Humboldt-Universität zu Berlin. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) (2013). 14. Kinder- und Jugendbericht. Berlin. Book, S./Hergert, S./Prange, S. (2014). Die Kuschel-Generation. In: Handelsblatt, 13.08.2014, S. 1. Gaiser, W. & Gille, M. (2012). Soziale und politische Partizipation im Wandel. In T. Rauschenbach & W. Bien (Hrsg.), Aufwachsen in Deutschland. AID:A – der neue DJI-Survey (S. 136-159). München/Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

56

Gille, M. (Hrsg.) (2008). Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung. Ergebnisse aus dem replikativen Längsschnitt des DJI-Jugendsurvey. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gille, M. (2013). Jugend heute – Lebenslagen und Herausforderungen. In Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (Hrsg.), Stark für Bildung und soziale Gerechtigkeit. Beiträge zum Bundeskongress Schulsozialarbeit. (S. 39-47). Frankfurt am Main. Hans-Böckler-Stiftung (2014). Atypisch ist fast normal. Böcklerimpuls 14/2014. Heitmeyer, W., Mansel, J. & Olk, T. (2011). Individualisierung heute: Verdichtung und Vernichtung? In W. Heitmeyer, J. Mansel & T. Olk (Hrsg.), Individualisierung von Jugend S. (7-25). Weinheim und Basel: Juventa. Hurrelmann, K. & Albrecht, E. (2014). Die heimlichen Revolutionäre. Weinheim/Basel: Beltz. Jeges, O. (2012). Generation Maybe. Die Welt, 23.03.2012. rheingold (Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen) (2010). „Die Absturz-Panik der Generation Biedermeier“. rheingoldJugendstudie 2010. Köln. Leven, I., Quenzel, G. & Hurrelmann, K. (2010) Familie, Schule, Freizeit: Kontinuitäten im Wandel. In Shell Deutschland (Hrsg.), Jugend 2010 (S. 53-128). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Schelsky, H. (1957). Die skeptische Generation – eine Soziologie der deutschen Jugend. München: Diederichs. Shell Deutschland (Hrsg.) (2010). Jugend 2010. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Schneekloth, U. (2010) Jugend und Politik: Aktuelle Entwicklungstrends und Perspektiven. In Shell Deutschland (Hrsg.), Jugend 2010 (S. 129-164). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Stein, J. (2013): Millenials: The Me Me Me Generation. Time, 20.05.2013.

Die Lebensgestaltung junger Menschen zwischen Optionsvielfalt und Ungewissheit Argumente 2/2014


Martina Gille ist studierte Soziologin und hat ihren Diplomabschluss 1980 an der LudwigsMaximilians Universität München erhalten. Seit 1985 ist sie Mitarbeiterin im Deutschen Jugendinstitut, eines der größten sozialwissenschaftlichen Institute für Forschung und Entwicklung in Deutschland in den Themenbereichen Kindheit, Jugend, Familie und den darauf bezogenen Politik- und Praxisfeldern. Seit 2008 ist sie verantwortliche Koordinatorin des Kompetenzteams Jugend im Projekt "Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten".

SCHWERPUNKT

57


Kommentierungen Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende Jusos in der SPD: Die Politisierung von jungen Menschen ist ein Kernanliegen der Arbeit der Jusos. In den letzten Jahren sehen wir ein zunehmendes Interesse an unserer Arbeit. Der Zuspruch von jungen Menschen zu unseren inhaltlichen Forderungen war insbesondere in den letzten Wahlkämpfen deutlich erlebbar. Gleichzeitig kämpfen die aktiven Jusos mit immer mehr Problemen, ihr politisches Engagement mit anderen Lebensbereichen zu vereinbaren. Viele Juso-Mitglieder sind heute eher bereit, an themenbezogenen einzelnen Aktionen teilzunehmen. Wir müssen den Zeitdruck dem viele Jugendliche heute stehen deshalb deutlich zurückdrängen. Junge Menschen planen ihr Leben heute wesentlich stärker als das früher der Fall war. Eine Kultur der Umwege, der Fehler und des Ausprobierens ist verloren gegangen. Die Jahrzehnte des Neoliberalismus und der Selbstoptimierung ist tief in das Bewusstsein der jungen Menschen eingegangen. Die Angst nicht genug leisten zu können und die Unsicherheit beruflich abgehängt zu werden, sind gestiegen. Wir brauchen wieder mehr Planbarkeit in den Lebensläufen und Freiräume in der persönlichen Entfaltung.

gung auf. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den möglichen Ursachen wird öffentlich aber nicht geführt. Indes ist aktuell auch von „angepassten Studierenden“ die Rede. Martina Gille legt in ihrem Beitrag absolut zurecht dar, dass Ökonomisierungstendenzen die Bildungslandschaft durchziehen. G8, starre Curricula in Schule und Studium, sowie der Druck, den eigenen Lebenslauf optimieren zu müssen, sind einige der Folgen dieser Ökonomisierung. Sie sind zugleich Gründe, warum sich junge Menschen vermehrt spontaneistisch und projektbezogen, nicht aber kontinuierlich oder gar parteipolitisch engagieren. Engagement und politische Aktivitäten an den Schulen und Hochschulen sind jedoch auch massiv eingeschränkt. Ein Beispiel: Während Wahlkämpfen sind in vielen Bundesländern Diskussionen mit politischen Vertreter*innen und somit Veranstaltungen zur Meinungsbildung verboten. Der Grundstein für eine demokratische Gesellschaft muss aber gerade im Bildungswesen als zentralem Sozialisationsort von Menschen gelegt werden. Schulen und Hochschulen müssen politische Orte sein! Als linker, progressiver Studierendenverband kämpfen wir daher für eine umfassende Demokratisierung der gesamten Bildungsund Hochschullandschaft und darüber hinaus aller Lebensbereiche.

Niklas Konrad, Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen:

Lisi Maier, Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR):

Nach den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen flammte die Diskussion über die niedrige Wahlbeteili-

Bravo, Frau Gille! Sie stellen ganz richtig fest, wie auch wir die Situation junger Menschen oft wahrnehmen: Junge Men-

58

Kommentierungen Argumente 2/2014


schen werden entweder nur als Problem oder aber als Ressource wahrgenommen und Jugend oftmals nur als Phase des Durchlaufs gesehen, in der junge Menschen für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden sollen. Gerade die straffe und zunehmend ganztägige Bildung führt zu einer geringeren Zeitsouveränität von Jugendlichen und zu fehlenden "entpädagogisierten" Zeiten und Räumen. Zeiten in denen Jugendliche einfach mal das tun und lassen können auf das sie gerade Lust haben – zum Beispiel frei gewähltes ehrenamtliches Engagement

SCHWERPUNKT

in all seinen Ausführungen, sowohl sozial, als auch politisch, ökologisch... Bei der von Ihnen dargestellten hohen Quote von über 60% der jungen Menschen, die in Vereinen und Verbänden aktiv sind, ein nicht zu unterschätzendes Argument. Deshalb setzen wir uns als DBJR auch für eine 35 – Stunden – Woche für Schülerinnen und Schüler ein. Zu Lernen das Leben eigenständig zu gestalten – mit anderen gemeinsam oder auch mal allein – dazu braucht es auch Erfahrungen außerhalb des Klassenzimmers!

59


Arbeitszeitverkürzung umsetzen von Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Wirtschaftswissenschaftler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Das größte Problem in einer Volkswirtschaft ist Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet für den Einzelnen einen „Gewaltakt, ein(en) Anschlag auf die körperliche und seelischgeistige Integrität“ (Oskar Negt). Arbeitslosigkeit ist Missachten von Kenntnissen und Fähigkeiten, die der Mensch in Familie, Schule, Ausbildung oder an einer Hochschule über Jahre erworben hat. Bei längerer Arbeitslosigkeit droht das erworbene Arbeitsvermögen zu verkümmern, letztlich kann es sogar zu Persönlichkeitsstörungen und psychosomatischen Krankheiten kommen. Die Lasten der Arbeitslosigkeit treffen aber nicht nur den Einzelnen, sondern die gesamte Gesellschaft: Arbeitslosigkeit bedeutet, dass der Einsatz menschlicher Arbeit begrenzt und Teile eines möglichen gesellschaftlichen Reichtums vergeudet werden, da die Gesamtwirtschaft bei Arbeitslosigkeit unter ihren Möglichkeiten lebt. Hinzu kommt, dass Arbeitslosigkeit mit einer enormen Belastung der öffentlichen Haushalte einhergeht. Unter den Bedingungen der Massenerwerbslosigkeit leben die Noch-Beschäftigten mit der ständigen Angst, ebenfalls in die Erwerbslosigkeit abzurutschen. Diese Angst dominiert den Alltag und das Familienleben vieler lohnabhängig beschäftigter Menschen. In Deutschland leidet inzwischen jede/r Sechste unter Angst vor Arbeitsplatzver60

lust. Angst lähmt die Menschen, mindert ihre Kreativität (Innovationskraft) und Leistungsfähigkeit und treibt sie zum Verzicht auf erworbene Rechte in der bloßen Hoffnung, so ihren Arbeitsplatz sichern zu können. Diese Entwicklung hat die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gegenüber den Unternehmerverbänden nachhaltig geschwächt. Nichts macht den Arbeitslosen – aber genauso den Beschäftigten – so gefügig wie bestehende Arbeitslosigkeit. Sie ist der „Knüppel“ fürs Kapital, der diszipliniert. Bei Unterbeschäftigung brechen alle Dämme. Die von den Beschäftigten geleistete Arbeit wird nicht mehr adäquat bezahlt. Das heißt, dass nicht nur die absoluten Löhne gedrückt werden, sondern die Beschäftigten auch nicht mehr an den Produktivitätsfortschritten und Wertschöpfungszuwächsen partizipieren. Der verteilungsneutrale Spielraum aus Inflations- plus Produktivitätsrate wird nicht ausgeschöpft. Im Ergebnis sinkt die Lohn- und es steigt die Gewinnquote. Da jeder Unternehmer – trotz Kündigungsschutzgesetzen – die einmal eingestellten Arbeitskräfte, und sei es auch nur aus Gründen der Gewinnmaximierung, entlassen kann, die Gesellschaft als Ganzes dieses aber nicht kann, müssen die Arbeitslosen (die einzelwirtschaftlich „Externalisierten“) Arbeitszeitverkürzung umsetzen Argumente 2/2014


gesellschaftlich alimentiert werden, wobei diese Unterstützung ständig Gefahr läuft, von der Politik gekürzt zu werden. So entstand unter dem herrschenden neoliberalen Paradigma seit etwa Mitte der 1970er Jahre sukzessive der Nährboden für alle möglichen Zugeständnisse bei der Lohnhöhe, bei der Arbeitszeit und bei den Sozialleistungen. Zudem unterstützt die herrschende (neoliberale) Politik einseitig das Interesse der Unternehmer an maximalem Profit. Es ist offensichtlich: Statt eine Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit und eine zumindest neutrale Verteilung der Wertschöpfungen zu schaffen, entsteht als Dauerzustand ein Machtgefälle zu Gunsten der Kapitalseite. Tarifverhandlungen werden nicht mehr auf Augenhöhe geführt, sondern Unternehmer und ihre Verbände in die Lage versetzt, den Gewerkschaften ihre Handlungsfähigkeit – das wichtigste Gut, das sie im Kapitalismus besitzen – schleichend zu nehmen und ihnen so letztlich bei Tarifverhandlungen die Ziele bezogen auf Arbeitsentgelte und Arbeitszeiten zu diktieren. Im Folgenden soll dazu eine Alternative aufgezeigt werden. Diese heißt Arbeitszeitverkürzung. Die menschliche Arbeit muss zum Vorteil der gesamten Gesellschaft verknappt werden. Ohne Arbeitszeitverkürzung weiter Massenerwerbslosigkeit Die Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall im Herbst 2011 haben einen Neustart für die Debatte um Arbeitszeitverkürzung beschlossen. Passiert ist bisher aber nichts. Die Tarifrunden sind weiter reine Lohnrunden. Um aber die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen wirklich zu verbessern und den heute arbeitslos Ausgeschlossenen durch Arbeit wieder eine eigene Reproduktionsbasis ohne erniedriSCHWERPUNKT

gende staatliche Alimentierungen zu ermöglichen, müssen die Arbeitszeiten verkürzt werden. Gleichzeitig würden durch Arbeitszeitverkürzungen auch die enormen gesellschaftlichen fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit beseitigt werden. Das Ziel der Arbeitsmarktpolitik muss daher eine Verknappung des Arbeitsangebots durch eine kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich sein. „Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich – was ja von Arbeitgeberseite bereits als Zugeständnis verstanden wird – würde an der ungerechten und zugleich nachfrageschädlichen Einkommensverteilung zwischen den verschiedenen Schichten nichts ändern, wenn auch die statistische Arbeitslosenquote sinken könnte. Es käme lediglich zu einer – allerdings solidarischen – Gleichverteilung des Mangels an Arbeitsmöglichkeiten und Einkommen innerhalb der ‚Klasse‘ der normal verdienenden abhängig Beschäftigten. Es handelte sich um den niederländischen Hauptweg, die Beschäftigungsprobleme durch Ausweitung der Teilzeitarbeit zu mildern.“1 Aber auch nur ein Lohnausgleich reicht nicht aus. Die verkürzte Arbeitszeit muss in den Unternehmen ebenso durch Personaleinstellungen (Personalausgleich) kompensiert werden. Ansonsten kann in Deutschland auch in Zukunft die bereits seit den 1960er Jahren bestehende Produktions-Produktivitätslücke (vgl. Tab. 1, Seite 60 oben) nicht mehr geschlossen werden. Bis auf die 1980er Jahre ging das Arbeitsvolumen immer zurück. Kommt es hier nicht zu einer kollektiven Reduzie-

1

Zinn, K. G., Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, Köln 2006, S. 196. Den Weg der Ausweitung von Teilzeit zur Beschönigung der Arbeitslosenzahlen geht man seit 2003 auch verstärkt in Deutschland.

61


Tab. 1: Produktions-Produktivitätslücke in Deutschland (jahresdurchschnittliche Veränderungsraten in v.H.) 1960er Jahre

1970er Jahre

1980er Jahre

1990er Jahre

2000er Jahre

Produktionsrate*

4,4

2,9

2,6

1,6

1,0

Produktivitätsrate**

5,2

3,8

2,4

2,1

1,3

-0,8

-0,9

0,2

-0,5

-0,3

Arbeitsvolumen

*Reales Bruttoinlandsprodukt, **Produktivitätsrate auf Stundenbasis (Erwerbstätige), Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen

rung der Arbeitszeit je Beschäftigten, werden stets weniger Arbeitskräfte benötigt, die Beschäftigung sinkt weiter und die Erwerbslosigkeit kann nicht reduziert werden. Der insgesamt große Reichtum unseres Landes, die weiter auf Grund des technologischen Fortschritts steigenden Produktivitäten und die Gewinne der Unternehmen sowie nicht zuletzt auch die Zins- und Grundrenteneinkommen erlauben allemal den gesamtwirtschaftlichen Schritt einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung. Eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, d.h. eine dem Arbeitsproduktivitätszuwachs entsprechende reale Lohnsteigerung wird dagegen allein nicht genügen, um das Beschäftigungsniveau zu halten, geschweige denn die bestehende Arbeitslosigkeit abzubauen. Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und Personalausgleich Dies gelingt nur durch eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich in Höhe der Produktivitätsrate. Gleichzeitig kann das reale Einkommen der Beschäftigten – bei verkürzter Arbeitszeit – 62

sichergestellt werden. Die Lohnstückkosten steigen ebenso wenig wie die Preise und zwischen Kapital und Arbeit liegt eine Verteilungsneutralität vor. Lohn- und Gewinnquote bleiben konstant, so dass auch die Gewinne bei einer Arbeitszeitverkürzung mit der Produktivitätsrate steigen. Gibt es demnach bei einer Arbeitszeitverkürzung wirklich keine Probleme? Doch! Hier liegt eine lohnklassenimmanente Umverteilung zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen vor. Die Unternehmer beteiligen sich nicht an der Finanzierung des Abbaus der Massenarbeitslosigkeit. Dies ist nicht akzeptabel. Außerdem kann das Volumen der Arbeitszeit nur dann konstant bleiben, wenn unterstellt wird, dass die Wertschöpfung bei einem konstanten Faktoreinsatz (gleicher Input an Arbeitsvolumen) steigt und es damit zu einer Produktivitätserhöhung kommt. Nur dann geht die Beschäftigung bei unveränderter Arbeitszeit nicht zurück. Bei vorliegender Massenarbeitslosigkeit wird diese dann aber auch nicht abgebaut. Dies ginge nur durch eine Arbeitszeitverkürzung mit Umverteilung zu Lasten der Gewinne bzw. zusätzlichen Besitzeinkommen aus Zinsen, Mieten/PachArbeitszeitverkürzung umsetzen Argumente 2/2014


Tab. 2: Gesamtwirtschaftliche Beschäftigungseffekte durch Arbeitszeitverkürzung Jahr

Vollzeitbeschäftigte

Std./ Woche

Std./ Jahr**

Rechnerischer*** Beschäftigungseffekt

Tatsächlicher**** Beschäftigungseffekt

2012*

24.295.000

37,13

1.645

2013

25.141.526

35,36

1.567

1.209.324

846.526

2014

26.026.198

33,68

1.492

1.263.817

884.672

2015

26.936.474

32,08

1.421

1.300.394

910.276

2016

27.884.128

30,55

1.353

1.353.792

947.654

2017

28.853.258

29,09

1.289

1.384.472

969.130

Erg.

4.558.258

- 8,04

- 356

6.511.799

4.558.258

*2012 (Ist-Zahlen), **auf Basis von 44,3 Wochen pro Jahr, *** 2013 – 2017 Berechnung nach der Formel: Mehrbedarf an Arbeitskräften = gekürzte Arbeitszeit x Beschäftigte: Arbeitszeit je Beschäftigten nach Verkürzung der Arbeitszeit, ****nach Abzug von 30 v.H. produktivitätsinduzierter Effekt

ten und/oder einem demografisch bedingten Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots. Um aber realiter die heutige Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 38 Stunden (Stand 2013) auf eine 30-Stunden-Woche zu verkürzen und um damit Erwerbslose und Unterbeschäftigte mit einer 30-Stunden-Woche zu beschäftigen, ist auf Basis makroökonomischer Berechnungen ein Adaptionszeitraum von fünf Jahren notwendig, also eine Arbeitszeitverkürzung um 5 v.H. pro Jahr. Damit würden gut 4,5 Millionen Menschen mit einer 30-Stunden-Woche zusätzlich Arbeit finden. Hierbei ist ein produktivitätsinduzierter Effekt von 30 v.H. berücksichtigt, der dadurch entsteht, dass die Beschäftigten bei verkürzten Arbeitszeiten produktiver arbeiten und somit der rechneSCHWERPUNKT

rische Effekt nicht voll zur Anwendung kommt (vgl. Tab. 2, siehe oben). Eine notwendige Arbeitszeitverkürzung von 5 v.H. pro Jahr übersteigt aber wegen der in der Vergangenheit sträflich unterlassenen Arbeitszeitreduzierungen bei weitem die Produktivitätsraten pro Jahr von etwa 1,5 v.H. im langjährigen Durchschnitt der letzten 30 Jahre. Von 2000 bis 2012 lag die gesamtwirtschaftliche Produktivitätsrate sogar nur noch bei 1,22 v.H. Die reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts war im gleichen Zeitraum mit 1,28 v.H. leicht größer, so dass das Arbeitsvolumen minimal um 0,06 Prozentpunkte zulegte. Dass dennoch die Beschäftigtenzahlen weitaus mehr stiegen, lag fast ausschließlich an einer Zunahme der Teilzeit und geringfügig Beschäftigter mit Arbeitszeiten von ca. 15 Stunden in der Woche. Hierdurch 63


betrug 2012 die rechnerische durchschnittliche Wochenarbeitszeit 30 Stunden. Leider war dies aber nur der Durchschnitt. Und selbst dieser ist noch um 100 v.H. größer, als die von John Maynard Keynes schon 1943 erhobene Forderung nach einer 15Stunden-Woche für Alle, als Prognose für die Industriestaaten um das Jahr 2000 herum. Heute wurde dagegen eine individuelle Arbeitszeitverkürzung durch eine Prekarisierung der Arbeitsmärkte teuer gesellschaftlich erkauft. Das Ergebnis ist für Millionen ein working poor! Damit konnte aber die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsschwelle zum künstlichen (mystifizierten) Abbau der Arbeitslosigkeit gesenkt werden – das eigentliche ökonomische Ziel der Agenda 2010. Um aber realiter die fehlende Differenz zur oben angeführten Arbeitszeitverkürzung in Höhe von 5 v.H. pro Jahr über die nächsten 5 Jahre zur tatsächlich erreichbaren Produktivität von etwa 1,5 v.H., also rund 3,5 Prozentpunkte-, auszugleichen, kommt zwar ein demografischer Rückgang des Arbeitsangebots zur Hilfe. Dieser wird aber nicht ausreichend sein. Zusätzlich ist eine Umverteilung von den Besitz- zu den Arbeitseinkommen notwendig. Das heißt, dass die Gewinnquote sinken muss. Dies ist nur gerecht, weil sich, wie oben aufgezeigt, ansonsten die Unternehmer nicht an der Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung beteiligen. Außerdem hätte es den positiven Effekt, dass den Besitzeinkommensempfängern Einkommen entzogen würde, das dann nicht mehr gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv auf die Finanzmärkte zu Spekulationszwecken fließen kann und/oder nicht ein permanenter Nettokapitalexport zur Kompensation einer binnenwirtschaftlichen Überersparnis notwendig ist Fasst man das Ergebnis zusammen, so kann festgestellt werden, dass ohne eine 64

kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich in Deutschland keine Vollbeschäftigung mehr erreicht werden kann. Dies hätte dann weitere schwerwiegende Folgen nicht nur für die Beschäftigten und Arbeitslosen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Arbeitszeitverkürzung als „KURZE VOLLZEIT FÜR ALLE“ ist zum Vorteil der großen Mehrheit der Gesellschaft in einem der produktivsten, innovativsten und reichsten Länder der Erde ökonomisch machbar. Die Verteilungsverluste der Kapitaleigentümer halten sich in Grenzen. Sie führen weder zu einer Beschneidung des Kapitalistenkonsums noch schwächen sie die Investitionsmöglichkeiten. Nur die Finanzmärkte können nicht mehr wie bisher bedient werden und es können die Nettokapitalexporte zurückgefahren werden. Beides ist gut! Natürlich lehnen die Kapitaleigner und ihre Claqueure in Politik, Wissenschaft und Medien aus egoistischen Profitgründen eine Arbeitszeitverkürzung vehement ab. Dies kann sich in einer Demokratie aber die Mehrheit der Bevölkerung von einer Minderheit nicht länger bieten lassen.

Arbeitszeitverkürzung umsetzen Argumente 2/2014


Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup ist Professor für Wirtschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt Arbeitsökonomie an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen – Bocholt – Recklinghausen. Er ist Mitverfasser und Herausgeber der jährlichen Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. In den letzten zehn Jahren hat Prof. Bontrup zu vielfältigen Themen alternativer Wirtschaftspolitik und dem Aufstieg des Neoliberalismus veröffentlicht. Sein Werk „Arbeit, Kapital und Staat“ (Papyrossa Verlag) enthält eine umfassende Kritik des herrschenden Neoliberalismus und ein Plädoyer für eine demokratische Wirtschafts- verfassung.

SCHWERPUNKT

65


Leben unter Dauerbe lastung – Wie schadet Stress unserer Gesundheit? Von Prof. Dr. Sigrid Michel, Fachhochschule Dortmund

Der Physiologe Walter Canon beschrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie bei Bedrohung des körperlichen Gleichgewichts durch äußere und innere Reize „Kampf- und Fluchthormone“ freigesetzt werden und diese dem Individuum eine Reaktion ermöglichen sowie welche Bedeutung der sich dabei in Angst oder Wut äußernden psychologischen Stressantwort zukommt (vgl. Canon 1934). Seyle, ein Arzt, entwickelte die Lehre vom Stress als generellem Anpassungssyndrom, das pathologische Folgeerscheinungen nach sich ziehen kann. Er unterschied dabei drei Stadien der Stressbewältigung: In der Alarmphase führt die Ausschüttung von Hormonen zur Bereitstellung von mehr Energie, um damit auf verschiedene Anforderungen reagieren zu können. Eine in der Widerstandsphase erfolgende Anpassung gegenüber dem spezifischen Stressor kann dabei zu einer reduzierten Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen Stressoren führen. Die Erschöpfungsphase tritt ein, wenn die Anpassung nicht länger aufrechterhalten werden kann. Auch genetische und Umwelt66

faktoren werden als Determinanten der Stressantwort einbezogen (vgl. Kudielka / Wüst 2010; Pacak / Palkovits 2001). Stress entsteht durch subjektives Erleben, Dinge nicht mehr steuern, Probleme nicht lösen zu können und sich so überfordert zu fühlen. Dauernde Anforderung und Überbelastung, auch Unterforderung können zu chronischer Dysregulation Systems führen und Erkrankungen hervorrufen. Richard Lazarus (1999) unterschied problem, emotions- und bewertungsorientiertes Bewältigungsverhalten (Stresscoping). Beim problemorientierten Coping versucht das Individuum durch Informationssuche, direkte Handlung oder auch Unterlassung von Handlungen Problemsituationen zu überwinden oder sich den Gegebenheiten anzupassen. Beim emotionsorientierten Coping handelt es sich dagegen um einen inneren Vorgang, bei dem versucht wird, die durch die Situation entstandene emotionale Erregung abzubauen. Das bewertungsorientierte Coping dient dazu, das Verhältnis zur Umwelt neu zu bewerten und so damit umzugehen, dass eine Belastung z.B. als Herausforderung interpretiert werden kann. (vgl. Lazarus 1999, 77).

Leben unter Dauerbelastung – Wie schadet Stress unserer Gesundheit? Argumente 2/2014


Reaktionen auf Stress äußern sich körperlich, geistig, psychisch und verhaltensbezogen. Körperliche Signale können Kopfschmerzen, trockener Mund, Schlafstörungenoder eine Zunahme von gesundheitlichen Problemen sein. Psychisch, geistig und emotional kann sich Stress in Unzufriedenheit, Aggressivität, Überempfindlichkeit, Selbstzweifel, Konzentrations/ Entscheidungsschwierigkeitenäußern. Im Verhalten kann Stress zu Leistungsabfall, generellem Misstrauen, Neid, vermehrtem Suchtverhalten und „Workaholismus“ führen. Die Wellness-Bewegung mit Yoga, neuerdings auch "Achtsamkeitsseminaren Fülle von Nahrungsergänzungsmitteln, die die Auswirkungen im Körper reduzieren sollen, bietet individuelle Lösungen gegen Stress an. Die Forschergruppe „Fetale Hirnentwicklung und Programmierung von Erkrankungen im späteren Leben“, wies allerdings nach, dass die Einwirkung von Stresshormonen während der Schwangerschaft langfristig die Stressregulation beim Kind beeinflusst und in Kognitionund Verhalten führt (vgl. Schwab 2005). Alarmierend sind Ergebnisse einer Studie an Mäusen, wonach mit bestimmten Stimuli verbundene Emotionen über männliches Sperma viakünstliche Befruchtung an Nachkommen übertragen werden (vgl. Gapp et. al. 2014). Prävention kann auf Verhalten aufbauen, das die Entstehung von Krankheiten verhindert oder an belastenden Verhältnissen ansetzen. Ursachen von Belastungen sind vielfältig; die Ressourcen, diese zu bewältigen sind ungleich verteilt. Sozialepidemiologische Forschung, liefert Erkenntnisse darüber, welche Faktoren auf die Gesundheit der Bevölkerung Einfluss haben, unabhängig davon, über welche jeweils individuell verschiedenen Bewältigungsstrategien Betroffene verfügen. Ein Beispiel ist die SCHWERPUNKT

Reaktion des Körpers auf Lärm. Menschen sind während des Tages häufig mehreren Lärmbelastungen durch Flugzeuge, Verkehr, am Arbeitsplatz sowie in der Freizeit ausgesetzt, deren Wirkung kumuliert. Kürzlich wurden weitere Erkenntnisse über die gesundheitsschädigende Wirkung von Fluglärm veröffentlicht (vgl. Schmidt et. al. 2014). Bürgerinitiativen gegen die Ausweitung von Nachtflügen setzen um, was die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1986) mit dem Paradigmenwechsel weg vom wesentlich vom biomedizinischen Krankheitsverständnis geprägten Denken hin zur präventiven Gesundheitsförderung einleitete:

„Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.“

Ein ebenso durch individuelles Bewältigungsverhalten nicht beeinflussbarer Faktor ist die Belastung durch Feinstaub, welcher zu sog. oxidativem Stress führt. Hirnveränderungen bei Kindern, die Feinstaubbelastungen ausgesetzt waren sind nachgewiesen (vgl. Calderón-Garcidueñas 2014). Kinder, die weniger als fünfzig Meter von einer Hauptverkehrsstraße entfernt wohnen, haben ein deutlich höheres Risiko, an Asthma zu erkranken (vgl. Samoli 2011. Die Senkung der Feinstaubbelastung durch Einschränkung des Passivrauchens führte 67


zu einem Rückgang der Herzinfarkte (vgl. Lightwood / Glantz 2009). In der Bundesrepublik rauchen Personen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen unabhängig vom Geschlecht durchschnittlich mehr als die mit mittleren und hohen Bildungsabschluss (RKI 2010). Darauf ist intensivere Gesundheitserziehung nicht die alleinige Antwort, weil individuelles Gesundheitsverhalten durch Kontextfaktoren beeinflusst wird. Schon in der Ottawa-Charta wurden Voraussetzungen für Gesundheit benannt:

„Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen." (WHO 1986, 1)

Ein Phänomen anderer Art ist die Zunahme von psychischen und die Abnahme körperlicher Belastungen am Arbeitsplatz seit dem Übergang in die Informationsgesellschaft und der voranschreitenden Globalisierung. Als häufigste Stressfaktoren werden von Beschäftigten Zeit- und Leistungsdruck, Doppelbelastung durch und die Angst vor Arbeitsplatzverlust angegeben (vgl. OSHA 2014).Probleme mit Vorgesetzten und unzureichende Vorbereitung auf die Einführung neuer Arbeitsmethoden bei gleichzeitig schwindenden Entlastungsspielräumen erweisen sich als Stressoren. Ein Ansteigen psychischer Erkrankungen, insbesondere von Depressionen, ist weltweit zu verzeichnen. Das Burn-out Syndrom ist im International Code of Diseases der WHO unter der Zusatzdiag68

nose „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ (ICD10 Z. 73) verborgen und geht in schweren Fällen mit einer Depression einher. Laut DAK haben sich zwischen 1997 und 2012 die Fehltage durch Depressionen und andere psychische Krankheiten mehr als verdoppelt (vgl. Kordt 2014) und die mit der Einnahme von Suchtmitteln verbundene Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage ist in den letzten zehn Jahren um rund 17 Prozent angestiegen. Alkoholkonsum und Rauchen sind laut Fehlzeiten-Report 2013 der AOK (WIdO) hierfür die Hauptursachen aber auch den Trend zu einer verstärkten Einnahme von leistungssteigernden Mitteln. Psychische Belastungen wurden verpflichtend in die Gefährdungsbeurteilung von Arbeitsplätzen mit aufgenommen. Dies ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Gesundheit am Arbeitsplatz. Auch Arbeitslosigkeit wirkt sich nachteilig auf den gesundheitlichen Zustand von Menschen aus. Von der Gesundheitsförderung zur Gesundheitspolitik „Der 116. Deutsche Ärztetag 2013 stellt fest, dass zwischen den oberen und unteren Einkommensschichten auch in Deutschland trotz eines relativ hohen Wohlstandsniveaus ein deutlicher Unterschied hinsichtlich Lebenserwartung und Krankheitslast besteht...Die beobachtbaren Unterschiede korrelieren mit unterschiedlichen materiellen Lebensbedingungen, der Verteilung psychosozialer Belastungsfaktoren, Unterschieden des Gesundheitsverhaltens sowie Faktoren

Leben unter Dauerbelastung – Wie schadet Stress unserer Gesundheit? Argumente 2/2014


der gesundheitlichen Versorgung. Auch die Unterschiede in der Wahrnehmung von Bildungschancen spielen eine wichtige kausale Rolle.“ (Bundesärztetag 2013, 1)

Damit wurde auf Determinanten Bezug genommen, die auf die Gesundheit einwirken. Die WHO (2004) veröffentlichte Fakten zu den sozialen Determinanten von Gesundheit. Dazu zählen in erster Linie das soziale Gefälle, Stress, soziale Ausgrenzung, Arbeit, Arbeitslosigkeit, soziale Unterstützung, Sucht, Lebensmittel und Verkehr und führt dazu aus:

„Je weiter unten auf der sozialen Rangskala einer Gesellschaft sich jemand befindet, desto geringer ist seine Lebenserwartung und desto größer seine Anfälligkeit für Krankheiten.“ (a.a.O 2004, 10)

Die Auswirkungen vielfältiger Formen von Benachteiligung verstärken sich wechselseitig. Kinderarmut ist häufig mit Entwicklungsrisiken, Risikoverhalten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden. In Armut aufwachsende Kinder leben unter erschwerten Bedingungen und sind mehr Frustrationen ausgesetzt als ihre sozioökonomisch besser gestellten Altersgenossen. Die Folgen sind schlechtere Schulleistungen, häufigeres Auftreten von Drogenabhängigkeit und Anfälligkeit für Erkrankungen. Bei der Mehrheit aller in Armut aufgewachsenen Kinder bestehen auch im Erwachsenenalter große Probleme (vgl. Zander 2005). Systematische Diskriminierung sozial benachteiligter Kinder führt letztendlich dazu, dass diese sich allzu oft selbst die Verantwortung für ihre Situation zuschreiben (vgl. Geene/ Gold 2008) Auch Marmot und Wilkinson weisen darauf hin, dass belastende Lebensumstände Menschen besorgt, ängstlich und handlungsunfähig machen – wie schon in den dreißiger Jahren durchgeführte, berühmte Marienthalstudie belegt -, und fordern daher, dass Gesundheitspolitik soziale und

Abbildung: Einflussfaktoren auf die Gesundheit: das Regenbogen-Modell nach Whitehead und Dahlgren (1991), Quelle: Fonds Gesundes Österreich SCHWERPUNKT

69


wirtschaftliche Determinanten beeinflussen muss, wenn die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig verbessert werden soll (vgl. WHO 2004, 10). Es besteht nicht nur ein Gefälle in der Lebenserwartung der Bevölkerung von Industrienationen und Entwicklungsländern. Abhängig von der sozioökonomischen Lage, differiert die Lebenserwartung von Menschen innerhalb eines Landes und sogar in Städten dramatisch. Für London zeigen die Daten, wie sich die Lebenserwartung zwischen U-Bahnstationen als Messpunkten, sogar innerhalb eines Straßenzuges unterscheidet (vgl. Cheshire 2012). Bei uns wird das Thema Umweltgerechtigkeit nur in Fachkreisen thematisiert, obwohl längst richtungsweisende Veröffentlichungen existieren. (zuletzt Boehme et al. 2014) Von der WHO wurden Vorschläge erarbeitet, wie Gesundheitsgerechtigkeit herzustellen ist. Der erste Satz der Empfehlung der Kommission lautet:

„Soziale Gerechtigkeit ist eine Angelegenheit von Leben und Tod. Sie beeinflusst die Art und Weise wie Menschen leben, ihre Chance krank zu werden, gesund zu bleiben und das Risiko vorzeitig zu sterben.“ (CSDH 2008).

Mit der Umsetzung der Empfehlungen kann die Kluft gesundheitlicher Ungleichheit verringert werden. Es mutet zynisch anauf positive Ergebnisse der Gesundheitswirtschaft zu hoffen anstatt Behandlungskosten durch gesundheitsfördernde Investitionen einzusparen. Gesundheitsförderung bringt sowohl für Einzelne wie für die Volkswirtschaft Vorteile. 70

Steuerliche Anreize Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz zu betreiben, existieren nur für gewinnorientierte Unternehmen. Die Förderung der Gesundheit ist nicht als Pflichtaufgabe in Schul- und Hochschulgesetzen benannt. Studierende lernen weniger über das Thema als Gleichaltrige in der gewerblichen Ausbildung. Das Schließen der Kluft von gesundheitlicher Ungleichheit verlangt aber nach professionellen Kompetenzen in Bezug auf Gesundheitsförderung in allen Handlungsfeldern. Kampagnen wie „Kein Kind zurücklassen“ sind nur ein Schritt auf dem Weg. Die systematische Erfassung von belastenden sozialen und Umweltfaktoren sollte selbstverständlicher Bestandteil von ärztlichen Diagnosen und Therapievorschlägen werden. Stadtentwicklung sollte konsequent auf Gesundheitsförderung (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2014) und Herstellung von Umweltgerechtigkeit setzen. Literatur: Badura/Ducki/Schröder/Klose/Meyer (Hrsg.) (2013): Fehlzeiten-Report 2013, Schwerpunktthema: Verdammt zum Erfolg – die süchtige Arbeitsgesellschaft? , Berlin, http://www.wido.de/fzr_2013.html; abgerufen am 23.09.2014 Böhme, Ch.; Preuß, T.; Bunge, Ch. (2014) Umweltgerechtigkeit im städtischen Raum – Erfolgsfaktoren für eine Implementierung im kommunalen Handeln UMID:Umwelt und Mensch – Informationsdienst 2, 2014 S. 5- 10 Bundesärztekammer (Hrsg.) (2013): 116. Deutscher Ärztetag: Beschlussprotokoll; Berlin Calderón-Garcidueñas, L. (2014): Air Pollution and Children: Neural and Tight Junction Antibodies and Combustion Metals, the Role of Barrier Breakdown and Brain Immunity in Neurodegeneration. Journal of Alzheimer's Disease, August 2014 DOI: 10.3233/JAD141365 Canon, W. B. (1934): Stresses and Strains of Homeostasis; The American Journal of the Medical Sciences 12/1934; 189(1), S. 13-14

Leben unter Dauerbelastung – Wie schadet Stress unserer Gesundheit? Argumente 2/2014


Cheshire, J. A. (2012): Lives on the Line: Mapping Life Expectancy Along the London Tube Network.; Environment and Planning A 44(7), S. 1525 – 1528; http://life.mappinglondon.co.uk/health; abgerufen am 25.09.2014 CSDH (2008): Closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health. Final Report of the Commission on Social Determinants of Health. World Health Organization; Geneva, http://www.who.int/social_determinants/final_ report/csdh_finalreport_2008.pdf; abgerufen am 25.09.2014 Dahlgren, G.; Whitehead, M. (1991): Policies and strategies to promote social equity in health: background document to WHO – strategy paper for Europe. Institute for Future Studies, Stockholm Gapp, K. et. al. (2014): Implication of sperm RNAs in transgenerational inheritance of the effects of early trauma in mice. In: Nature Neuroscience 17, S. 667–669 Geene, R.; Gold, C. (Hrsg.): (2008): Kinderarmut und Kindergesundheit, Bern Hanschek, M. (2012): Neurophysiologische Aspekte der Stressphysiologie bei Süchtigen und gesunden Kontrollen; Diss., Graz Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit (2014) Schwerpunkt Kommune als Setting Newsletter 2/2014 S. 1 Kordt, M. (2014): DAK Gesundheitsreport. Die Rushhour des Lebens. Gesundheit im Spannungsfeld von Job, Karriere und Familie. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten; DAK-Gesundheit/ DAK-Forschung; Berlin, http://www.dak.de/dak/download/Vollstaendiger_bundesweiter_Gesundheitsreport_2014-1374196.pdf; abgerufen am 23.09.2014 Kudielka, B. M. / Wüst, S. (2010): Human models in acute and chronic stress: Assessing determinants of individual hypothalamus-pituitaryadrenal axis activity and reactivity. Stress In: Chronobiology International; Vol. 13(1): S. 114

OSHA (2014): Stress und psychosoziale Risiken. Arbeitsbedingter Stress und seine Auswirkungen; Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, https://osha.europa.eu/fop/germany/de/topics/psychische_fehlbelastungen/014; abgerufen am 28.09.2014 Pacák, K. / Palkovits M. (2001): Stressor Specificity of Central Neuroendocrine Responses: Implications for Stress-Related Disorders. In: Endocr Rev. Aug; 22(4): S. 502-48 Samoli, E. et. al. (2011): Does the presence of desert dust modify the effect of PM10 on mortality in Athens, Greece?; Sci Total Environ. 2011, 409: S. 2049–2054 Schmidt, F. et. al. (2014): Nighttime aircraft noise impairs endothelial function and increases blood pressure in patients with or at high risk for coronary artery disease; Clinical Research in Cardiology, Aug 2014; Heidelberg Schwab, M. (2005): Pränataler Stress, sensorische Stimuli und die Programmierung des ZNS; Thüringer Ärzteblatt 10: S. 468-470 Ståhl, T. et. al. (2006): Health in All Policies: Prospects and potentials, Ministry of Social Affairs and Health and European Observatory on Health Systems and Policies; Helsinki http://www.amsa.at/images/2006_Health_in_a ll_policies.pdf; abgerufen am 25.09.2014 WHO (1986): Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G. pdf; abgerufen am 22.09.2014 WHO (2004): Wilkison, R./ Marmot, M. (Hrsg.): Soziale Determinanten von Gesundheit. Die Fakten. Zweite Ausgabe; WHO Europe, Kopenhagen http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_fil e/0005/98438/e81384.pdf; abgerufen am 25.09.2014 Zander, M. (2005): Kinderarmut: Einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis; Wiesbaden

Lazarus, R.S. (1999): Stress and Emotion. A new Synthesis; London Lightwood J.M. / Glantz, S.A. (2009): Declines in acute myocardial infarction after smoke-free laws and individual risk attributable to secondhand smoke; Circulation, 2009 Oct 6, 120(14): S. 1373-1379

SCHWERPUNKT

71


Sigrid Michel ist Ärztin, Soziologin und Psychotherapeutin sowie seit 1992 Professorin für Sozialmedizin und Psychopathologie an der Fachhochschule Dortmund. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Gesundheitsförderung für Sozial Benachteiligte. Sie ist Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheitsfördernde Gemeinde- und Stadtentwicklung am Deutschen Institut für Urbanistik und vertritt den Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen auf internationaler Ebene und in der AG Hochschule – Bildung für Nachhaltige Entwicklung.

72

Leben unter Dauerbelastung – Wie schadet Stress unserer Gesundheit? Argumente 2/2014


Grundlagendokument: Antrag „Arbeiten, um zu leben“, Antrag des JusoBezirks Hessen-Süd zum Juso-Bundeskongress 1988 Passend zum Schwerpunktthema möchten wir euch in diesem Heft einen Antrag des Juso-Bezirks Hessen-Süd zum Bundeskongress 1988 vorstellen. Dieser beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von Arbeit und freier Zeit. Die Frage nach diesem Verhältnis ist so alt wie die Arbeiterbewegung selbst. Schon der französische Sozialist Paul Lafargue (1842-1911) forderte 1880 in seiner zentralen Schrift ein „Recht auf Faulheit“ und stand mit dieser Forderung im Gegensatz zum klassisch-marxistischen Verständnis der „Zentralität der Erwerbsarbeit“. Dieser „alte“ Streit wurde beim Bundeskongress 1988 innerverbandlich fortgeführt. Dabei kann grob gesagt werden, dass die Antragsteller aus Hessen-Süd, die sich dem reformsozialistischen Flügel zuordneten, die zentrale Rolle der Erwerbsarbeit bestritten. Die JusoLinke, die sich dem klassisch-marxistischen Verständnis von Erwerbsarbeit verbunden sah, stellte mit dem Antrag „Der moderne SCHWERPUNKT

Sozialismus und die Zukunft der Arbeit“ den Gegenpol dar. Die Mehrheit der Delegierten folgte dem Antrag der Juso-Linken. Bis heute ist im Verband die Position vorherrschend, dass Erwerbsarbeit als Basis des ökonomischen Systems nach wie vor zentral und notwendig ist. [...] II. Arbeit 1. Das Arbeitsethos hat sich gewandelt. Rund zwei Drittel der Bevölkerung bezeichnet sich als »materiell gesättigt«. Vor diesem Hintergrund haben gesellschaftliche Probleme, wie zunehmende Gesundheitsbelastungen, Umweltzerstörung und Gefahren, die durch den Einsatz neuer Technologien entstehen, an Bedeutung gewonnen. Deshalb wird das herrschende Produktionssystem von immer größer werdenden Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt. Obwohl nach wie vor die Erwerbsar73


beit, insbesondere bei jungen Arbeitnehmern, bei der Bestimmung des Selbstwertgefühls eine bedeutende Rolle spielt, hat sich einiges verändert. Hatte Arbeit früher an sich sinnstiftende Funktion (Arbeitsethos), so ist heute eine stärkere Orientierung auf sinnvolle und qualifizierte Arbeit angestrebt.

[...] ­ 3. Die Fremdbestimmtheit der Erwerbsarbeit In einem hochindustrialisierten und kapitalistischen Land wie der Bundesrepublik zeichnet sich die Erwerbsarbeit durch ein hohes Maß an Fremdbestimmung aus. Sie ist unvermeidliche Folge der Vergesellschaftung des Produktionsprozesses und erwächst aus der Aufteilung und Organisation der Produktion in großen Wirtschaftsräumen, aus ihrer Mechanisierung und Kybernetisierung. [...] Die Koordinierung einer sehr großen Vielfalt spezialisierter Aufgaben erfordert festgelegte Formen und Regeln, die die Autonomie des Individiums einschränken. Der Apparat gesellschaftlicher Produktion funktioniert nach Art einer einzigen großen Maschine, der alle besonderen Tätigkeiten untergeordnet sind. Für die Selbstentfaltung des einzelnen Arbeitnehmers bleibt dabei meist kein großer Raum. Dies führt dazu, daß Arbeitnehmer sich mit ihrer Arbeit nicht ausreichend identifizieren können, sie monoton und langweilig, stressig und mühsam finden. Viele dieser negativen Aspekte der fremdbestimmten Arbeit ließen sich beseitigen [...]. Qualitative Verbesserung der Arbeit kann aber dort ihre Grenzen finden, wo der durch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im weiteren Sinne hervorgerufene Produktivitätsverlust für die Gesellschaft 74

nicht mehr tragbar wäre. Hier erfährt die im Bereich der notwendigen Arbeit mögliche individuelle Selbstentfaltung also ihre Beschränkung. Selbst bei einer Aufhebung kapitalistischer Ausbeutung und den damit verbundenen Herrschaftsstrukturen zu Gunsten einer demokratischen Organisation der Produktion und Distribution löst sich der bestehende Widerspruch zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen (demokratisch-legitimierten) Anforderungen nicht vollständig auf. Gesellschaftliche Formen der Produktion setzen einer rein individualistischen Bedürfnisbefriedigung in der Erwerbsarbeit nach wie vor Schranken. [...] Deshalb müssen Möglichkeiten zur Entfaltung individueller Identität in Zukunft auch in anderen Bereichen gesucht werden: In der Freizeit, wo freiwillige Arbeit wirklich selbstbestimmt werden könnte, wo jegliches ökonomische oder kommerzielle Interesse vernachlässigt werden soll und wo man/frau bei der Arbeit seinen/ihren Neigungen, Leidenschaften und Freuden frönen könnte, ohne an den unmittelbaren Nutzen zu denken. […] 5. Erwerbsarbeit historisch gesehen In den westlichen Industrieländern leistete ein brutaler Manchesterkapitalismus einen Beitrag zur Disziplinierung der Arbeiter. Sie waren zuvor meist in der Landwirtschaft tätig gewesen und dort nicht an regelmäßige, pausenlose und absolut fremdbestimmte Arbeit gewöhnt. Deshalb gestaltete sich der Prozeß ihrer Umerziehung zum disziplinierten Arbeiter, der zu vorgegebenen Zeiten kontinuierlich zwölf oder vierzehn Stunden am Tag arbeitete, extrem schwierig und mußte mit äußerster Bruta-

Antrag des Juso-Bezirks Hessen-Süd zum Juso-Bundeskongress 1988 Argumente 2/2014


lität durchgesetzt werden. Das, was uns also heute als normal erscheint, nämlich soundsoviele Tage in der Woche 8 Stunden zu festen Zeiten zu arbeiten, ist eigentlich gar nicht normal. Normal und den Menschen angepaßt wäre es vielmehr, daß er selbst bestimmt, wann und wieviel er arbeiten will. Es ist deshalb darüber nachzudenken, wie man die derzeit geltenden festen Normen lockern kann, um den Arbeitnehmern insgesamt, aber auch den Individuen zu ermöglichen, weniger zu arbeiten [...] und selbst zu bestimmen, wann sie arbeiten. [...] 7. Erwerbsarbeit, Konsumarbeit, gesellschaftliche Arbeit Wenn heute von Arbeit, Arbeitseinkommen, Recht auf Arbeit und Arbeitsbedingungen gesprochen wird, wird unter

SCHWERPUNKT

dem Begriff Arbeit ausschließlich der Bereich der Erwerbsarbeit verstanden. Eine Hausfrau mit zwei Kindern, ein Doktorand, ein Rentner, der seinen Schrebergarten beackert und seine kranke Frau zuhause pflegt, arbeiten in diesem Sinne nicht. Ebensowenig derjenige, der sich in seiner Freizeit in der Politik engagiert, im karitativen Bereich, in Sportvereinen etc. Der herrschenden Arbeitsethik zufolge wird das als Arbeit anerkannt, was bezahlt wird, was unter einzelwirtschaftlicher Betrachtung rentabel ist. [...] Diese vorherrschenden Denkstrukturen müssen revidiert werden. Nicht mehr Bezahlung, nicht mehr die monetäre Bewertung, der eine einzelwirtschaftliche Betrachtungsweise zugrunde liegt, darf in Zukunft Beurteilungsmaßstab der Arbeit sein, sondern allein ihr gesellschaftlicher Nutzen. […]

75


Fakten + Lexikon 1.382.700.000

Überstunden wurden von den Beschäftigten im Jahr 2013 geleistet. Damit ist der Trend seit 2003 (1.547,3 Mio. Überstunden) leicht rückläufig. Ein deutlicher Einbruch zeigt sich 2009 (1.045,8 Mio. Überstunden) der auf die schlechte Auftragslage der Unternehmen in der Finanzkrise zurückgeht und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld und dem Ausgleich von Arbeitszeitkonten. Pressemitteilung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom 12.03.201

47,5 %

der Frauen arbeiten in Teilzeit. Demgegenüber stehen lediglich ca. 8 % der Männer, die in Teilzeit arbeiten. Quelle: WSI GenderDatenPortal 2013

23 %

der Berufstätigen fühlen sich am Abend zu erschöpft um privaten Verpflichtungen nachzukommen. Quelle: iga.Barometer 2014

32,9 %

der Beschäftigten liest Job-Mails in der Freizeit. 11,7 % gaben sogar an, täglich oder fast täglich dienstliche Mails außerhalb der Arbeitszeit zu lesen. Die anderen zwei Drittel bekommen keine Dienstmails in der Freizeit oder lesen diese nie bzw. fast nie. Böckler Impuls 20/2013

54 %

der Beschäftigten verfügen im Jahr 2011 über ein Arbeitszeitkonto. Bei der anderen Hälfte der Beschäftigten gibt es keine Erfassung der Arbeitszeit und auch keine Erfassung von Überstunden. IAB-Kurzbericht 3/2013

76

Fakten + Lexikon Argumente 2/2014


1.758.000

Pflegebedürftige wurden 2011 zu Hause gepflegt. In der Mehrheit der Fälle übernehmen Angehörige diese Pflege vollständig. Nur 576.000 Personen wurden mit Unterstützung von ambulanten Diensten gepflegt. In Heimen lebten 743.000 Pflegebedürftige. Böckler Impuls 16/2013

65 %

29 %

der der Väter, Mütter, beantworteten die Frage, warum ihnen Zeit für etwas anderes fehlt mit “Ich muss viel arbeiten, ich bin beruflich stark gefordert”. „Ungünstige Arbeitszeiten“ sahen nur 28 % der Väter und 17% der Mütter als Grund für fehlende Zeit an. Familienreport 2012 im Auftrag des BMFSFJ, S. 64

-30 %

geringer ist die durchschnittliche Beschäftigungsdauer von Menschen bis 30 Jahren in einem Betrieb. Um 30 % geringer ist die durchschnittliche Beschäftigungsdauer von Menschen bis 30 Jahren in einem Betrieb. Dazu wurden verschiedene Geburtsjahrgänge von 1960/61 bis 1978/79 verglichen. Familienreport 2012 im Auftrag des BMFSFJ, S. 64

45 %

der Menschen in Deutschland sind ehrenamtlich engagiert.

Motive des Bürgerschaftlichen Engagements, Studie im Auftrag des BMFSFJ 2014, S.8

33 %

der Menschen die ehrenamtlich engagiert sind oder es waren, haben ihr Engagement mindestens einmal unterbrochen. 4 der 5 meist genannten Gründe stehen im Zusammenhang mit Zeitressourcen. Quelle s.o., S. 26

SCHWERPUNKT

77


Burn-Out / Bore-Out

Familie

Eine Volkskrankheit. Der AOK-Beschäftigtenbefragung zufolge leiden ..% der Beschäftigten in Deutschland an Symptomen von Burn-Out. Der Begriff erlange Bekanntheit durch den Schriftsteller Graham Green und seinen Roman „A Burnout Case“ 1960 in dem ein desillusionierter Architekt seinen Beruf aufgibt, um im afrikanischen Dschungel zu leben. Die ersten Wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigen sich Mitte der 1970er Jahre mit dem Begriff und stammen von den amerikanischen Psychologen Herbert Freudenberger und Christina Maslach. Im Unterschied dazu hat sich neuerdings auch der Begriff BoreOut durchgesetzt, der die Folgen durch Unterforderung im Berufsleben bezeichnen soll.

Freunde sind die Familie, die man sich aussuchen kann. Linke kämpfen aber dafür, dass man sich mehr Familie aussuchen kann. Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare steht dabei im Mittelpunkt. In den Studierendenbefragungen des Bildungsministeriums wird der Lebensbereich Familie von den Befragten regelmäßig auf Platz 1 der Lebensbereiche gesetzt, der wichtig oder sehr wichtig ist. Auch die Frage nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird wichtiger als die eigene Freizeit gesehen.

Entgrenzung Grenzen werden in vielen Bereichen gezogen. Obwohl zu großen Teilen sozial konstruiert sind sie Teil des alltäglichen Lebens. Ob sie sinnvoll sind, oder nicht ist immer wieder Gegenstand von politischen Debatten in allen Themenfeldern. Gewerkschaften und Beschäftigte haben viele Kämpfe geführt, um zwischen Arbeit und Freizeit eine Grenze zu ziehen. Mit dem technischen Fortschritt, der zunehmenden Mobilität und dem digitalen Wandel in der Arbeitswelt droht diese Grenze zu verschwimmen. Die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit wird für viele psychische Arbeitserkrankungen verantwortlich gemacht. Heute geht der Trend wieder von der permanenten Erreichbarkeit weg. Einige ArbeitgeberInnen sperren mittlerweile die Verschickung dienstlicher E-Mails nach 19:00 Uhr.

78

Normalarbeitsverhältnis Eine bedrohte Spezies von Arbeitsverträgen, die dem Arbeitnehmer eine unbefristete und sozialversicherungspflichtige Arbeit in Vollzeit bietet. Nur noch etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland können das von sich behaupten. Seit Jahren sind die Normalarbeitsverhältnisse auf dem Rückzug und werden von atypischer Beschäftigung verdrängt. Dazu zählen vor allem Leiharbeit, Mini-, Midi-, und Teilzeitjobs. Im innerdeutschen Vergleich zeigt sich, dass atypische Beschäftigung vor allem im Westen Deutschlands verbreitet ist. Überstunden Was haben Überstunden und Autos gemeinsam? Beides sind Statussymbole. Viele werden in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis schon einmal Gespräche gehört haben, bei denen die Zahl der Überstunden mit dem Prestige des Jobs aufgewertet wird. Lange auf Arbeit bleiben wird seit vielen Jahrzehnten gleichgesetzt mit Verantwortung und Erfolg, aber auch mit VerbundenFakten + Lexikon Argumente 2/2014


heit zum Betrieb. Erst seit Kurzem wird unter dem Stichwort Work-Life-Balance dieser Präsenzkultur eine andere Vorstellung von Arbeitszeit entgegengesetzt. Vollzeit Unter Vollzeit versteht man die (tarif )vertraglich vereinbarte normale Wochenarbeitszeit von ArbeitnehmerInnen. Teilzeit definiert sich dagegen als die dauerhaft reduzierte Vollzeitwochenarbeitszeit. Im Durchschnitt wird in den Arbeitsverträgen in Deutschland eine Vollzeitarbeitszeit

SCHWERPUNKT

von 39,6 Stunden/Woche bei Männern und 38,4 Stunden/Woche (2012). Davon unterschieden wird die gesetzlich festgelegte Höchstarbeitszeit, die eine EU-Richtline auf 60 Stunden/Woche festlegt. Im historischen Vergleich ist die tatsächliche Wochenarbeitszeit schrittweise gesunken. Zum Beginn der Industrialisierung um 1825 arbeiteten die Menschen noch über 80 Stunden/Woche. Der Kampf um den 8-Stunden-Tag 1918 und die 5-Tage-Woche 1956 haben die Arbeitszeit der Menschen über die Jahrhunderte sinken lassen.

79



ARGUMENTE 2/2014 Zeitpolitik Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin November 2014

ISSN 14399785 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.