Argumente 1/2014 Europawahl 2014

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ARGUMENTE 1/2014 Europawahl 2014 Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin April 2014

ISSN 14399785 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

ARGUMENTE 1/2014 Europawahl 2014


ARGUMENTE 1/2014 Europa

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Johanna Uekermann und Julia Maas Redaktion Jan Kr端ger, Katharina Oerder, Stefan Brauneis, Johannes Gerken und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesb端ro, Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


INHALT

Intro: Europa ............................................................................................................ 4 von Katharina Oerder, Stefan Brauneis und Jan Krüger, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Magazin Blutige Spiele – Tatort Baustelle ............................................................................. 8 von Christian Beck, Bundesjugendsekretär der Industriegewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt (IG BAU) Alt, Männlich, Weiß – die SPD muss bunter werden ........................................... 13 von Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, Nancy Böhning, Leiterin des Büros der stellvertretenden Partei-Vorsitzenden Manuela Schwesig und Johanna Uekermann, Juso-Bundesvorsitzende Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten ................................................................................. 18 von Melanie Blatter, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Saar und Falk Wagner, Landesvorsitzender der Jusos Bremen Das Willy-Brandt-Center Jerusalem 2014 – Immer noch einzigartig im Brennpunkt des Nahostkonflikts ..................................................................... 25 von Christopher Paesen, Projektleiter der Jusos im Willy-Brandt-Center in Jerusalem Der Schock sitzt tief – Erlebnisbericht zur Abstimmung über SVP-Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ ........................................................................... 29 von Salome Adam, Juso-Mitglied, studiert Biochemie in Basel

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Inhalt Argumente 1/2014


Schwerpunkt Warum wir jetzt kämpfen müssen Internetkonzerne und Geheimdienste wollen den determinierten Menschen. Wenn wir weiter frei sein wollen, müssen wir uns wehren und unsere Politik ändern. ................................................................................................................... 32 von Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments und Spitzenkandidat der europäischen SozialdemokratInnen für die Europaparlamentswahl Gemeinsam für ein anderes, besseres Europa ..................................................... 37 von Matthias Machnig, Leiter des Europawahlkampfs der SPD Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa .................... 40 von Ole Erdmann, Wirtschaftsförderung metropoleruhr und Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw. „Right2water“ – eine Erfrischung für die europäische Daseinsvorsorge! ........... 48 von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Kandidatin der SPD für die Europawahl Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung ........................ 52 von Lothar Binding, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? .......................................................... 60 von Constanze Krehl, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament #15JahreBologna: #ftw oder #megafail? ............................................................. 66 von Julian Zado und Erkan Ertan, ehem. Mitglieder im Bundesvorstand der Jusos und der Juso-Hochschulgruppen Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit ........................................ 72 von Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie am ManagementDepartment der Freien Universität Berlin und Nikolaus Kowall, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf

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INTRO: EUROPA von Katharina Oerder, Stefan Brauneis und Jan Krüger, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Einleitung zum Schwerpunkt

Europa besteht nur aus dem Streit über Gurkenkrümmung und Olivenfässchen? Und überhaupt: Warum sollen wir für Griechenland, Portugal und Spanien bezahlen? Bis zum 25. Mai 2014 werden wir diese Statements wieder öfter hören. Dabei besteht die Chance bei dieser Europawahl mit den großen Themen zu punkten. Europa befindet sich seit Jahren in der Krise. Mit dem Zusammenbruch der USamerikanischen Bank Lehman-Brothers zog sich ein beispielloser Dominoeffekt auch durch die europäischen Banken. Viele wurden mit Milliardenbeträgen von den europäischen Staaten gerettet, was die Schuldenstände ansteigen ließ. Die Kreditvergabe an die Realwirtschaft brach zusammen und ist bis heute nicht mehr auf dem Vor-Krisen-Niveau. Geringeres Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit folgten. All dies zusammen ließ auch Zweifel an der Kreditfähigkeit südeuropäischer Länder aufkommen, die wiederum durch Kredite gerettet werden mussten. Auch wenn es derzeit um die

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Intro: Europa Argumente 1/2014

Eurokrise relativ ruhig geworden ist, heißt dies noch lange nicht, dass sie ausgestanden ist. Das ist Europa im Jahr 2014. In dieser schwierigen Lage finden die Wahlen zum Europäischen Parlament für die kommenden fünf Jahre statt. Wir sehen auf der einen Seite Menschen, die von Europa enttäuscht sind, weil die derzeitige wirtschaftliche Lage ihnen keine Perspektive bietet; sie haben das Gefühl, dass Europa sie in die Armut reißt und ihnen nimmt, was über Jahre aufgebaut und angespart wurde. Nach wie vor hat kaum eine politische Initiative der letzten Jahre die Situation vieler Menschen nachhaltig verbessern können. Gleichzeitig wird heute deutlicher als jemals zuvor, dass nur die europäische Ebene und die europäische Zusammenarbeit eine Lösung der Krise hervorbringen kann. „Sie [die SPD] tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der


Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.“ Diesen Satz schrieb sich die SPD 1925 in das bis 1959 geltende Heidelberger Programm. Europa war in den Augen der SPD ein Projekt zur Überwindung der nationalen Feindschaften in Europa, ein Projekt des Friedens, aber auch des Zusammenschlusses der ArbeiterInnen im Kampf für die gerechte Teilhabe an der Gesellschaft. Gerade diese Gerechtigkeit ist in den letzten Jahren für alle offensichtlich unter die Räder gekommen. Die Arbeitslosigkeit in Südeuropa ist ein Alptraum – insbesondere für die junge Generation dort. In einer Zeit, in der ein Großteil dieser Generation unter einer völligen Perspektivlosigkeit leidet, schwindet die Akzeptanz des Projektes Europa. Wir müssen das soziale und solidarische Europa einfordern, das die Beschlüsse schon lange hergeben, das aber nie kam. Erstmals gibt es bei dieser Wahl Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien. Für die SPD und die anderen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa geht Martin Schulz, der amtierende Präsident des Europäischen Parlaments, ins Rennen. Mit ihm hat die PES einen langjährigen Europaparlamentarier ausgewählt, der sich in der Vergangenheit überzeugend für ein Mehr an europäischer Integration stark gemacht und die dramatische Lage immer wieder heftig kritisiert hat. Mit ihm können wir für ein sozialeres, gerechteres und demokratischeres Europa streiten. Darüber hinaus gibt es zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union die Situation, dass nach der Europawahl der Präsident der Europäischen Kommissi-

on nicht allein von den Staats- und Regierungschefs ernannt wird. Das Europäische Parlament hat durch die Veränderung der Europäischen Verträge ein Zustimmungsrecht bekommen, auch wenn der Europäische Rat weiterhin einen Vorschlag unterbreitet. Die Menschen in Europa haben damit die Gelegenheit, über den Kommissionspräsident mitzuentscheiden. Es muss unser Ziel sein, die S&D-Fraktion zur stärksten im Europäischen Parlament zu machen. Die Europawahlkämpfe der Vergangenheit standen immer auch im Fokus nationaler Themen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil der Wahlberechtigten sich mit nationalen Themen eher identifiziert als mit europäischen. Auch die Organisationen der Parteien sind zum großen Teil auf nationale politische Prozesse ausgerichtet. Zwar beeinflusst die europäische Ebene mehr und mehr die Inhalte in Wahl- und Grundsatzprogrammen sowie der Ressourcenverteilung, aber letztlich bleibt eine große Diskrepanz zwischen den Ebenen.1 Ob die Krise im Euroraum diese Wahrnehmung und diese Ausrichtung zumindest ein Stück weit zurückgedrängt hat, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Sicher ist nur, dass diesmal entscheidende Themen im Wahlkampf mehr Aufmerksamkeit erhalten werden. Der gesamte Bereich Wirtschaft und Finanzen wird eine zentrale Rolle spielen. 1

Benjamin von dem Berge und Thomas Poguntke (2013): „Die Europäisierung nationaler Parteien und europäische Parteien“. In Oskar Niedermayer (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung, Springer VS

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Die Kehrseite dieser Entwicklung ist der Zulauf, den rechtspopulistische Parteien wie die AfD erfahren. Die Krise in Europa hat viele Menschen verunsichert. Mit genau diesen Ängsten punktet die AfD, wie auch die CSU in Bayern. Durch den Wegfall der 3 %-Hürde wird es leider immer wahrscheinlicher, dass Nazis und Rechtspopulisten in das Europäische Parlament einziehen. Doch nicht nur in Deutschland bekommen deren Positionen Zuspruch, auch in anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Als jüngstes Beispiel kann das Ergebnis der Kommunalwahlen in Frankreich gelten. Eine dezidiert ProEuropäische-Vision von Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie wird in dieser Situation immer schwerer zu kommunizieren. Gleichwohl besteht genau darin unsere Aufgabe, wollen wir die Europadebatte nicht den PopulistInnen von rechts überlassen. Die Bedeutung der Europäischen Einigung für den Frieden, der seit über 60 Jahren in der Europäischen Union herrscht, ist in den vergangenen Jahren immer wieder betont worden. Sicher ist er eine der zentralen Errungenschaften. Dennoch müssen wir feststellen, dass dieses Argument den Aufstieg von europaskeptischen bis europafeindlichen Parteien nicht verhindert hat. So wichtig dieser Aspekt also ist, wird es beim anstehenden Wahlkampf darauf ankommen, den Menschen ganz konkrete Vorschläge für die zukünftige Ausgestaltung Europas zu machen. Es gilt, die Frage nach der Zukunft Europas zu politisieren, unsere Vorstellungen klar vom status quo und von konservativen Europakonzepten abzugrenzen, eine Richtungsentscheidung mit klaren Alternativen auf zu zeigen. Dabei müssen sich unsere Vorschläge daran

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Intro: Europa Argumente 1/2014

messen lassen, ob sie die konkrete Lebensrealität der Menschen verbessern. Wir Jusos wollen vor allem junge Menschen in den Fokus unserer Kampagne und unserer Aktionen nehmen. Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass wir es schaffen, junge Menschen von unseren Inhalten zu überzeugen. Deswegen werden wir beim bewährten Kampagnenlayout bleiben und vor allem mit den Themen Steuerflucht, Jugendarbeitslosigkeit, öffentliche Daseinsvorsorge, Erasmus+ und Gleichstellung versuchen zu punkten. Vor dieser Herausforderung stehen wir Jusos und steht die SPD. In diesem Heft möchten wir euch Beiträge präsentieren, die euch auf den anstehenden Wahlkampf vorbereiten sollen und die aktuelle europäische Themen umfassend beleuchten.


Die Beiträge im Einzelnen Martin Schulz ist Spitzenkandidat der PES zur Europawahl 2014. Er beschreibt in seinem Beitrag die Gefahren für eine freie Gesellschaft, welche von der Digitalisierung der Welt ausgehen. Von der Entgrenzung der Arbeit über das Sammeln von Daten bis zur Tätigkeit von Geheimdiensten sieht er die Herausforderung, diese Entwicklungen im Sinne einer humanen und zivilisierten Gesellschaft zu gestalten. Matthias Machning war Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Minister in Thüringen. Derzeit leitet er die Europawahlkampagne der SPD im WillyBrandt-Haus. Er analysiert die Ausgangslage des Wahlkampfes und gibt einen Überblick über die Themen, mit denen die SPD punkten will. Für ihn ist entscheidend, dass die Wahlbeteiligung steigt. Ole Erdmann arbeitet bei der Wirtschaftsförderung metropolruhr und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw. Er beginnt seine Betrachtung der Krise in den 1970er Jahren und der anschließenden Deregulierung der Finanzmärkte. Für ihn beginnt die Suche nach Auswegen aus der Krise mit einer grundlegenden Kritik am finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Sylvia-Yvonne Kaufmann war Mitglied des Europäischen Parlaments für die PDS. Nach ihrem Eintritt in die SPD 2009 ist sie nun SPD-Europakandidatin für Berlin. Sie zeichnet die Hintergründe des ersten erfolgreichen Europäischen Bürgerbegehrens, der Kampagne „Right2Water“, nach und plädiert für weitere

Maßnahmen gegen die Privatisierung von öffentlicher Daseinsvorsorge. Lothar Binding ist Mitglied des Deutschen Bundestages seit 1998 und Finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. In seinem Beitrag beleuchtet er die Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung, die nötig sind, um grenzüberschreitende Steuerflucht zu unterbinden. Vor allem gemeinsame europäische Standards und Grundlagen sind aus seiner Sicht der Schlüssel im Kampf gegen den Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten. Constanze Krehl ist Mitglied des Europäischen Parlaments seit 1994 und setzt sich in diesem Heft mit der Gleichstellungspolitik in Europa auseinander. Zwar wurden Regelungen wie die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen schon früh formuliert, aber die reale Umsetzung ist bis heute nicht erreicht. Sie fordert, dass die EU einspringen muss, wenn gleichstellungspolitische Themen in den Mitgliedstaaten nicht ambitioniert genug angegangen werden. Erkan Ertan und Julian Zado waren Mitglieder im Bundesvorstand der JusoHochschulgruppen und haben sich in dieser Zeit intensiv mit dem Bologna-Prozess beschäftigt. Sie argumentieren, dass die Ziele dieses Prozesses in den letzten Jahren genutzt wurden, um eine Reihe von Reformen in den deutschen Hochschulen durchzusetzen, die zu weniger Freiheit im Studium und mehr Leistungsdruck geführt haben. Das Problem ist jedoch weniger der Prozess an sich, als vielmehr dessen Umsetzung. l

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BLUTIGE SPIELE – TATORT BAUSTELLE von Christian Beck, Bundesjugendsekretär der Industriegewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt (IG BAU)

Magazin

Diesen Sommer ist es wieder soweit. 23 Menschen teilen sich ein Fußballfeld, spielen Pässe, versuchen sich Bälle abzuluchsen, rennen, spielen, schießen Tore. Menschen werden wie gebannt auf Fernsehbildschirme schauen, Fahnen schwenken, Tore und Feste feiern, Kinder werden auf Bolzplätzen ihren Stars nacheifern und das Sporthighlight des Sommers feiern. Es geht um Fußball, es geht um die Fußballweltmeisterschaft. Fußball soll wieder mal verbinden, Länder- und Standesgrenzen einebnen, die Menschen in einen Rausch der Freude katapultieren. Und es geht um Fairplay. Das sagen die offiziellen Statements des Fußballweltverbandes FIFA, das sagen die Spieler und die Fans. Zur gleichen Zeit werden am anderen Ende der Welt Menschen sterben. Sie sterben dafür, dass wir auch in ein

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Blutige Spiele – Tatort Baustelle Argumente 1/2014

paar Jahren wieder schöne Spiele erleben können. Sie sterben, weil sich niemand um sie schert. Auch das gehört zur Welt der Fußballweltmeisterschaft. Sterben für die WM, für die FIFA, das geht schnell, schmerzhaft, anonym. Und um es kurz zu machen: Sepp Blatter und die übrigen FIFA-Funktionäre nehmen den Tod von Menschen in Kauf. An ihren Händen klebt Blut. Das alles klingt widersprüchlich, brutal, unvorstellbar und unsinnig? Ist es auch. Aber es gehört zu einem Geschäftsmodell. Wovon reden wir? Stellt dir vor, du bist Bauarbeiter. Stell dir vor, du arbeitest jeden Tag – wenn es gut läuft – 12 bis 14 Stunden. Stell dir vor, nach der Arbeit kommst du in eine verschimmelte Unterkunft ohne Fenster zurück, die du dir mit zwanzig bis vierzig anderen Männern teilst. Es gibt


keine Duschen, nur ein Loch für eure Notdurft.

begrenzt oder neu. Sie findet statt und hat Methode – auch in Deutschland.

Stell dir vor, es ist tagsüber unglaublich heiß und nachts unglaublich kalt – eure einzige Wärmequelle ist ein kleiner Benzinkocher. Stell dir vor, du bist hierhergekommen, weil du geglaubt hast, du könntest mit dem verdienten Geld dich und deine Familie ernähren. Deine Familie hat dafür Geld gespart, dein Ticket bezahlen zu können. Stell dir vor, die Menschen, die dich hierher vermittelt haben, zahlen dir das vereinbarte Geld nicht. Du willst dir zu essen kaufen, hast aber kein Geld dafür.

Manchmal haben die Menschen Glück. Dann treffen sie auf ihre Baugewerkschaft oder Gewerkschaftskampagnen den Nerv der öffentlichen Berichterstattung. Für den Bau der WM-Stadien in Katar ist das geglückt. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat auf Initiative der Bau- und Holzarbeiterinternationale (BHI) ein Thema ans Tageslicht gezerrt, das viele Menschen verstört. Für die meisten war es vergangenen Herbst erstaunlich, dass die WM in Katar noch mehr Schattenseiten haben könnte als die sengende Hitze. Ja, nicht nur Fußballprofis leiden – Bauarbeiter sterben sogar für das WM-Finale im neuen Stadion.

Du bist in einem Land, dessen Sprache du nicht kennst. Du willst zur Polizei oder anderen Behörden, um dich zu wehren, aber du hast deinen Pass nicht mehr – den hat dir die Firma abgenommen. Du willst dich wehren, aber dir wird klar gemacht, dass das auch Gefahr für deine Familie in der fernen Heimat bedeutet. Stell dir vor, es gibt kaum Helme oder Höhensicherung, aber stattdessen altes Werkzeug, offene Kabel. Kommst du mit dem Leben davon, kehrst du ohne Geld nach Hause zurück. Hast du Pech, stirbst du bei einem der unzähligen Arbeitsunfälle. Deiner Familie fehlt jetzt der Ernährer. Stell dir vor, du bist mutig und setzt dich mit deinen Kollegen zur Wehr – dann hast du mit Glück nur die Polizei am Hals. Stell dir vor, du bist Wanderarbeiter. Willkommen in der Welt der Wanderarbeiter – willkommen in Katar. So oder so ähnlich lassen sich die Schicksale von Wanderarbeitern zusammenfassen – weltweit. Denn die Ausbeutung von Wanderarbeitern ist nicht lokal

Bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine ist das nur bedingt an die Öffentlichkeit geraten. Auch hier starben 20 Bauarbeiter beim Bau der Stadien. Auch hier waren die Arbeits- und Lebensbedingungen für Arbeiter und gerade Wanderarbeiter unterirdisch. Mindestlöhne? Arbeitssicherheit? Fehlanzeige! Auch an den Händen der UEFA klebt Blut. Aber Polen und die Ukraine waren näher, die Standortwahl nicht so unverständlich und unbeliebt wie Katar. Die BHI hat mit den örtlichen Gewerkschaften, gerade der ukrainischen Baugewerkschaft, das Thema für die Medien aufbereitet – aber medial hat der unsinnige Tod dieser Menschen kaum eine Rolle gespielt. Schmerzhafte Realität Dass die Situation in Katar so schlimm ist wie berichtet, können wir belegen. Na-

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türlich gibt es in Katar auch „saubere“ Baustellen. Aber die sind nicht die Regel. Denn Wanderarbeiter sind in Katar Menschen ohne Anspruch auf einen menschlichen Umgang – sie sind Sklaven. Wir wissen von den Zuständen vor Ort, weil unsere nepalesischen Schwestergewerkschaften herzzerreißende Berichte von Betroffenen gesammelt haben. Wer das hört oder liest, wer mit Betroffenen spricht oder gar die Situation mit eigenen Augen sieht, der mag verzweifeln. Der fühlt, wie das Herz kurz aufhört zu schlagen, wie es vor Scham und Schmerz brennt. Ja, es ist so schlimm, wie man es sich nicht vorstellen kann – sogar noch schlimmer. Die IG BAU hat sich vor Ort mit einer Delegation der BHI ein Bild gemacht. Wir wissen, wovon wir reden. Denn wir haben die Baustellen gesehen, die nicht auf dem „offiziellen“ Besichtigungsprogramm stehen. Es mag sein, dass Franz Beckenbauer nichts von Sklavenarbeit auf den WMBaustellen weiß. Aber Beckenbauer findet im Regelfall ja auch nur den Weg über die Grenze ins benachbarte Ausland, um in Deutschland keine Steuern zahlen zu müssen. Natürlich, wer auf dem Bau arbeitet, weiß, dass er sich tendenziell in Gefahr begibt. Deshalb gedenken wir als Baugewerkschaft auch jedes Jahr unserer in Ausübung ihres Berufs gestorbenen Brüder und Schwestern. Das tun wir jedes Jahr am 28. April, dem Workers’ Memorial Day. 100-prozentige Sicherheit wird es auf Baustellen nie geben, aber man kann einiges dafür tun, damit möglichst wenig passiert.

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Blutige Spiele – Tatort Baustelle Argumente 1/2014

So zynisch es klingen mag, es ist gut, dass der Stadionbau in Katar einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führt, unter welchen Arbeitsbedingungen Menschen für unser Vergnügen schuften. Wichtig aber ist auch die Feststellung, dass im Kern auf deutschen und europäischen Baustellen die gleichen Probleme existieren. Wir reden über Wanderarbeit und wir reden über die mangelnde Umsetzung von Arbeitsund Sicherheitsstandards. Denn so einfach es ist, jetzt nur nach Katar zu blicken, so sehr sind wir hier in Deutschland aufgefordert, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Auch hier gibt es Wanderarbeiter, denen die Pässe abgenommen werden, die unter übelsten Bedingungen hausen müssen, die betteln gehen, weil ihnen seit Monaten der zugesicherte Lohn vorenthalten wird. Auch in Deutschland sind Baustellen, auch die der öffentlichen Hand, vor allem eines: Tatorte. Zeit, vor der eigenen Haustüre zu kehren Oftmals verweigern Arbeitgeber Wanderarbeitern die ihnen zustehenden (Mindest-) Löhne und missachten weitere Vorschriften. Aktuellstes Beispiel: Eine Großbaustelle in Frankfurt am Main – hier wurden fünfzig rumänische Bauarbeiter um ihren Lohn betrogen. Gegen die Prinzipien der Lohngleichheit und der Nichtdiskriminierung bei den Arbeitsbedingungen wird massiv verstoßen, insbesondere bei der Beschäftigung von Wanderarbeitern und Neuzuwanderern über Werkvertragsfirmen und Leihfirmen statt direkter Anstellung; so wie häufig bei der Saisonarbeit. Schlechte und unsichere Unterkünfte


zu völlig überhöhten Mieten, Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz sind bei ihrer Beschäftigung häufig anzutreffen. Noch schlimmer dran sind all diejenigen Beschäftigten, die bewusst in scheinselbstständiger Form eingesetzt werden. Ihnen werden alle Rechte aus einem regulären Arbeitsverhältnis vorenthalten. Auch hiesige Firmen profitieren von diesem Geschäftsmodell. Wanderarbeit ist dabei per se nichts Schlechtes – im Gegenteil. Wenn Menschen freiwillig ihre Heimat verlassen, weil sie glauben, sich andernorts besser verwirklichen zu können, dann kann das auch positiv sein. Es geht also darum, Wanderarbeit sicher und fair zu gestalten. Nicht nur in Katar, sondern auch in Deutschland! Wir wenden uns gegen jede Form von Mischkalkulationsgerede, durch das den Stammbeschäftigten vorgegaukelt wird, ihre Löhne und Gehälter könnten nur dann in bisheriger Höhe weitergezahlt werden, wenn andere Beschäftigte bei Fremdfirmen dafür zu viel schlechteren Bedingungen beschäftigt werden. Damit sollen sie dazu gebracht werden, sich besser nicht für eine bessere Behandlung der Fremdfirmenbeschäftigten einzusetzen. Sich in ein Schweigekartell einreihen zu lassen, wäre aber dumm und zugleich kurzsichtig. Denn die Folge solcher „Mischkalkulationen“ sind nicht nur kurzfristig Hungerlöhne und schlechteste Arbeitsbedingungen für viele, sondern langfristig auch schlechtere Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten. Gute und sichere Arbeit muss für alle gelten! Wie kann das umgesetzt werden? Natürlich über die Aufklärung von Mandats-

trägern und „normalen“ Menschen. Aber auch eine Reihe von weiteren Maßnahmen kann dazu beitragen, das Elend der Wanderarbeiter in Deutschland zu lindern: •

Faire Behandlung von Wanderarbeitern und Einwanderern.

Durchsetzung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“.

Um Betroffene auf dem Weg dorthin zu unterstützen, muss das kostenlose Beratungsnetz durch Beratungsstellen wie die des DGB („Faire Mobilität“) ausgebaut werden.

Zusätzlich muss die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) ausgeweitet und zu einer echten Arbeitsinspektion umgewandelt werden. Sie muss, neben der Verhängung von Bußgeldern an Arbeitgeber, auch sicherstellen, dass Arbeitnehmer den ihnen vorenthaltenen Lohn bekommen. Gute Beispiele hierfür finden sich in unseren Nachbarländern Frankreich und Polen.

Antidiskriminierungsarbeit muss auch bei den Behörden umgesetzt werden (wie am Beispiel des Namens Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu sehen ist).

Um Scheinselbstständigkeit zu verhindern, muss es eine entsprechende Beratung durch die Behörden und Sozialversicherungsträger geben.

Es muss sichergestellt werden, dass sie Scheinselbständigkeit in „reguläre Arbeitsverhältnisse“ umwandeln können. Hierzu muss die Personaldecke dieser Stellen massiv aufgestockt werden.

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Um Wanderarbeitern ohne legalen Aufenthaltsstatus und/oder Arbeitsberechtigung zumindest die Möglichkeit zu geben, ihre Löhne sowie Ansprüche bei Arbeitsunfällen durchzusetzen, ohne dass dies automatisch zu ihrer Abschiebung führt, muss die Meldepflicht der Arbeits- und Sozialgerichte sowie anderer Stellen, an die sich Betroffene bei Problemen wenden, dringend entfallen.

Die Vorstöße, die indes durch die EU – Stichwort „Durchsetzungsrichtlinie“ – kommen, sind dabei eher kontraproduktiv. Zurück nach Katar. Es ist an der Zeit, dass Katar die WM entzogen wird. Zeit zu handeln gab es genug – passiert ist wenig. Eine kürzlich erlassene Charta zum Arbeitnehmerschutz ist vollkommen unzureichend. Für IG BAU und BHI ist dieses Dokument sogar eher eine „Beleidigung für das international anerkannte System der Schaffung von Arbeitsnormen“.2

bezeitraum einer WM, sondern generell zu verbessern. Die FIFA hat ihre Politik bisher nicht grundlegend verändert. Sie hat Katar nicht dazu gedrängt, ihre Beschäftigungspolitik zu ändern – ihr Druck hat nur auf die Erlassung von Arbeitsschutznormen abgezielt. Ein wichtiger Schritt, aber die Regeln gelten nur für Hauptvertragsnehmer – nicht für Subunternehmer. Die FIFA, aber auch die UEFA, müssen für künftige Turniervergaben ihre Politik ändern. Sie müssen deutlich machen, dass, wer den Zuschlag bekommen will, Mindeststandards an Menschen- und Arbeitnehmerrechten erfüllen muss. Die entsprechenden Signale hierzu können und müssen auch aus Deutschland kommen. Eines aber ist klar: An jedem Tag, der ohne konkretes Handeln vergeht, sind Menschen in Gefahr. Denn auf den Baustellen der FIFA und der UEFA sind Armut, Sklavenarbeit und sogar der Tod ständige Begleiter.

Trotzdem macht es Sinn, dass bis zum Entzug der WM eine klare Frist gesetzt wird. Bis dahin bleibt Zeit, die Arbeitsbedingungen noch einmal grundlegend anzupacken. Dafür braucht es dann aber einen belastbaren Zeitplan und konkrete Beweise für Verbesserungen. Denn eines ist klar: Selbst wenn jetzt sofort ein anderes Land den Zuschlag für die WM 2022 erhält, ändert sich für die Wanderarbeiter und die miserablen Arbeitsbedingungen in Katar nichts. Darum muss es aber auch gehen; nämlich durch eine entsprechende Vergabepolitik die Arbeitsbedingungen nicht nur für den Verga-

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Es wird Zeit, das zu ändern. l

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Statement der Bau- und Holzarbeiterinternationale (BHI) vom 13. Februar 2014.


ALT, MÄNNLICH, WEISS – DIE SPD MUSS BUNTER WERDEN von Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, Nancy Böhning, Leiterin des Büros der stellv. Partei-Vorsitzenden Manuela Schwesig und Johanna Uekermann, Juso-Bundesvorsitzende

Der Artikel ist das Ergebnis vieler Diskussionen mit vielen intelligenten, engagierten jungen Frauen – der Zukunft der SPD. Inhaltlich hat sich die SPD im Wahlkampf 2013 deutlich besser aufgestellt als noch 2009. Viele Forderungen, die lange aus der Parteispitze nur belächelt wurden, konnten Eingang in das Wahlprogramm der SPD finden. Gleichstellungspolitisch wurden wichtige Punkte durchgesetzt und im Wahlkampf vertreten. Während 2009 noch die 40%-Quote in Aufsichtsräten die einzige prominente gleichstellungspolitische Forderung der SPD im Wahlkampf war, stellt sich dieser 2013 deutlich diverser dar. Die Abschaffung des Ehegattensplittings fordert die ASF bereits seit ihrer Gründung – im Dezember 2012 fand diese Forderung endlich ihre Entsprechung im Wahlprogramm. Auch die Einführung eines Entgeltgleichheitsgesetzes stand sogar im 100-Tage Programm. Diese Diversität

und Vielfältigkeit ist notwendig, um Wählerinnen für die SPD zu begeistern – denn auch Frauen sind divers. Verschiedene Lebensmodelle, verschiedene Lebenssituationen können nicht auf eine einzige Formel heruntergebrochen werden. Deshalb ist es wichtig, auch die sozialdemokratische Gleichstellungspolitik an diese verschiedenen Bedürfnisse anzupassen. Dennoch: Nur knapp 26% der wahlberechtigten BürgerInnen haben am 22. September 2013 ihr Kreuz bei der SPD gemacht. Gerade bei Wählerinnen haben wir erneut unterdurchschnittlich schlecht abgeschnitten. Nur ca. 22% der Frauen zwischen 25 und 45 Jahren haben die SPD gewählt, in derselben Altersklasse entschieden sich fast doppelt so viele Wählerinnen für Angela Merkel. Immer noch geben wir nach außen leider oft eher das Bild einer Partei der männlichen Schwergewichte ab als das einer

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Partei der modernen Gesellschaftspolitik. Wir haben Stimmung und Lebensgefühl der Frauen nicht getroffen. Ein Alarmsignal für uns alle. DIE Partei für Frauenpolitik, deren ehemaliger Vorsitzender mit „Die Frau und der Sozialismus“ Feminismus auf eine neue intellektuelle Ebene gehoben hat, deren berühmtes Mitglied Clara Zetkin 1911 den ersten internationalen Frauentag ins Leben gerufen hat, die für Frauenwahlrecht und Frauenquote gestritten hat, konnte Frauen nicht mehr überzeugen. Andere Parteien, allen voran die Grünen und die CDU, wirkten auf Frauen moderner, gerechter, weiblicher. Wir konnten die verlorene Glaubwürdigkeit der letzten Jahre (auch in der Gleichstellungspolitik) nicht zurückerobern – Glaubwürdigkeit ist schnell verloren, aber schwer gewonnen. Diese hat die SPD jedoch nicht nur in den Regierungsjahren mit neoliberaler Politik verloren. Mit Politiken, die den Mensch nicht mehr in den Mittelpunkt gestellt, sondern ihn höchstens noch als Mittel verstanden hat. Glaubwürdigkeit verliert eine Organisation auch dann, wenn sie das eine predigt und selbst das andere tut. Die SPD verlangt öffentlich nach Frauenquoten – schickte aber im Wahlkampf selbst nur drei Männer vor die Kameras – halbherzig am Bildrand positionierte Frauen wirkten häufig nur wie Staffage. Drei Männer: in etwa gleich alt, vergleichbarer Habitus und ähnlicher Background – ihr Team und Stil haben dabei offensichtlich nicht verfangen. Mit „Klartext“ und der festen Überzeugung, laute Worte und der Mittelfinger seien es,

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was das deutsche Wahlvolk will, ist Peer Steinbrück in den Wahlkampf gezogen. Dieser Stil verfing. Er verfing bei mittelalten bis alten weißen Männern aus dem Westen. Diese Gruppe stellt jedoch in Deutschland schon lange nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung dar – und auch nicht mehr die Meinungsmehrheit. Frauen fühlten sich von diesem Stil weder angesprochen noch repräsentiert. Wie auch 2009 konnte die SPD 2013 gerade bei Wählerinnen nicht ihr volles Potenzial abschöpfen. Aber auch für viele andere Menschen in unserer diversen Gesellschaft, wie MigrantInnen, junge Menschen, Ältere oder Homosexuelle hat die SPD kein personelles Angebot geliefert. Die SPD hat sich in diesem Wahlkampf vielleicht inhaltlich als Kämpferin für Frauenrechte verhalten. Aber mit der Inszenierung eines Kanzlerkandidaten, der eben kein Frauenversteher sei und sich einer „politischen Geschlechtsumwandlung“ verweigert einerseits und einer weiblichen Kanzlerin mit sehr hohen Sympathiewerten andererseits, verwundert das Wahlergebnis nicht: Die Mehrheit der Deutschen ist weiblich: 31,8 Millionen Frauen waren aufgerufen, ihr Kreuz bei der SPD zu machen. Getan haben es wenige. Viel zu wenige. Neben den Wählerinnen waren und sind auch viele aktive junge Frauen innerhalb der SPD enttäuscht. Enttäuscht davon, dass nach schönen Reden über Gleichstellung auf Parteitagen, Frauen kaum mehr eine Rolle gespielt haben, wenn es darum ging, welche Themen in Wahlkampf in den Vordergrund gerückt werden – und vor allem, wer das tut. Der

Alt, männlich, weiß – die SPD muss bunter werden Argumente 1/2014


Klassiker: Verbale Aufgeschlossenheit bei weitestgehender Verhaltensstarre. Im Wahlkampf haben wir uns die gleichstellungspolitische Vorreiterpartei ja selbst nicht abgekauft – wie sollen es dann andere tun? Nach der inhaltlichen Erneuerung der letzten Jahre, in denen sich die SPD vielen neuen Themen (endlich) geöffnet hat, muss nun auch eine personelle folgen. Auch die personelle Aufstellung einer Partei hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun. Frauen reicht es nicht mehr, wenn über sie gesprochen wird. Sie wollen mitreden. Und die SPD hat sie – die qualifizierten, engagierten jungen Frauen, die glauben: Echte Gleichstellung lässt sich nur mit der SPD durch- und umsetzen. Im Wahlkampf konnten wir die Diversität unserer Gesellschaft durch unser Personal nicht widerspiegeln. Dies ist mit einer der Gründe, warum die SPD gerade bei Frauen erneut so schlecht abgeschnitten hat. Dem wollen wir begegnen. Die SPD muss jünger, weiblicher, diverser werden – auch in Spitzenfunktionen und das nicht erst im nächsten Wahlkampf. Auch das gehört zur Glaubwürdigkeit der SPD dazu. Deshalb ist es wichtig, dass die SPD ein weiblicheres Gesicht bekommt. Dafür muss die SPD TESH werden. Frauen ernst nehmen Frauen haben ein Gespür dafür, ob man nur ihre Stimme haben will oder tatsächlich für ihre Anliegen kämpft. Viele Frauen sind skeptisch. Sie wollen überzeugt werden.

Dafür muss die SPD die richtigen Themen setzen. Frau ist nicht gleich Frau. Junge Frauen haben andere Ansprüche und Erwartungen an Politik als Frauen in der Familienphase oder Frauen, die mit beiden Beinen in der Berufstätigkeit stehen. Eine junge Studentin interessiert sich vielleicht mehr für ihre reproduktiven Rechte – z. B. den rezeptfreien Zugang zur Pille danach oder die Streichung des § 218 StGB – , als für eine Reform der Minijobs. Frauen in der Familienphase stellen sich Vereinbarkeitsfragen, die für Frauen, die bereits in Rente sind, so nicht mehr aufkommen. Das sind also völlig unterschiedliche Zielgruppen. Jede Frau hat eine andere Lebensrealität. Die Zielgruppe Frauen darf nicht als homogene Masse, sondern muss differenziert betrachtet werden. Schließlich ist auch noch niemand auf die Idee gekommen, Politik für Männer unter dem Sammelbegriff “Männerpolitik” zu denken und einen 18-jährigen Auszubildenden in einen Topf mit dem 60-jährigen Vorstandsvorsitzenden kurz vor der Rente zu stekken. Wir müssen die richtige Sprache sprechen. Wenn wir Frauen und Männer erreichen wollen, müssen wir auch Frauen UND Männer ansprechen. Dafür brauchen wir eine konsequente geschlechtsneutrale Sprache. Generalklauseln sind billige Ausreden. Kein Mensch will komplizierte und trockene Satzkonstruktionen. Frauen wünschen sich eine lebendige Sprache. Politiksprech ist oft abgehoben und distanzierend. Viele Politiker und auch Politikerinnen sehen Frauen als die Erwerbsreserve für die

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Beseitigung des Fachkräftemangels oder als Gebärmaschinen, um den demografischen Wandel mit einer Armee Babys zu stoppen. Das darf nicht der Ansatz der SPD sein. Wählerinnen haben ein feines Gespür, wann jemand ehrlich ist und wann sie angelogen werden. Für die weibliche Zielgruppe bedeutet das: Durch innere Haltung die richtigen Inhalte nach außen kommunizieren, um bei Frauen Vertrauen erzeugen. Dafür müssen wir auch unsere eigenen Mitglieder sensibilisieren. In vielen Vorständen von Ortsvereinen, Kreisverbänden und Unterbezirken ist echte Gleichstellung und Sensibilität für Gendergerechtigkeit noch lange nicht im Alltag angekommen. Die SPD repräsentiert sehr gut, woran wir glauben – und repräsentiert gleichzeitig extrem schlecht, wer wir sind. Möchte die SPD in 2017 nicht schon wieder die gleichen Fehler machen, sondern endlich wieder als die Gleichstellungspartei wahrgenommen werden als die sie gegründet wurde, muss sich einiges ändern. Wir brauchen eine glaubwürdige Gleichstellungspolitik, in der Frauen als wahre Partnerinnen auf Augenhöhe, nicht als hübsche Deko verstanden werden. Die Quote muss konsequent eingehalten werden. Es darf nicht mehr sein, dass Vorstände, Ortsvereine oder Listen ohne (mindestens) 40% Frauen auskommen und so von höheren Gremien bestätigt werden. Trotz eines eindeutigen Parteitagsbeschlusses zum Reißverschlussverfahren bei der Listenaufstellung wurden auch bei den anstehenden Kommunalwahlen in vielen

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Unterbezirken und Kreisverbänden Listen verabschiedet, die nicht unserem Standard einer sozialdemokratischen Gleichstellungspolitik entsprechen. Eine Partei für Frauenpolitik muss sich an ihren eigenen Handlungen messen lassen. Des Weiteren ist es zentral, Quotierung auch in inoffiziellen Gremien wie Verhandlungsgruppen einzuhalten. Gerade in solchen Gruppen, in denen Quoten nicht offiziell eingehalten werden müssen, sind Männer weiterhin deutlich überrepräsentiert. Dass Frauen nicht nur beteiligt werden, wenn sie es qua eines Parteitagsbeschlusses müssen, sondern in der Partei immer eine Rolle spielen, symbolisiert die wahre Gleichstellungsfähigkeit einer Partei. Die Vielfältigkeit der SPD muss öffentlich – auch im Wahlkampf – dargestellt werden. Nur so können wir die Vielfältigkeit der Menschen in Deutschland verstehen und repräsentieren. Eine weiblichere SPD bedeutet: mehr Frauen für die Mitarbeit in der SPD gewinnen. Deshalb müssen wir uns gezielt überlegen, wie wir Frauen für die politische Arbeit in der SPD werben können. Und mehr Frauen in der ersten Reihe! Wir wollen die Frauen nicht mehr hinten links zwischen drei Männer-Köpfen hindurchblitzen sehen. Frauen gehören in die erste Reihe, als Vorsitzende, nicht nur als Stellvertreterinnen. Erst wenn dies realisiert wird, können auch Gremien wie MinisterpräsidentInnen-Runden oder Zusammenkünfte der Landesparteivorsitzenden ausreichend quotiert sein. Das bedeutet Glaubwürdigkeit für eine sozialdemokratische Partei.

Alt, männlich, weiß – die SPD muss bunter werden Argumente 1/2014


In unserem Grundsatzprogramm steht: „Wer die menschliche Gesellschaft will muss die männliche überwinden“. Dies gilt auch für die Sozialdemokratische Partei. Wer die menschliche SPD will, muss die männliche überwinden. Wir wollen nicht mehr die Partei der alten, weißen Männer sein! l

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ARBEITNEHMERKAMMERN: BAUSTEIN EINER STÄRKUNG DER MACHTRESSOURCEN VON ABHÄNGIG BESCHÄFTIGTEN von Melanie Blatter, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Saar und Falk Wagner, Landesvorsitzender der Jusos Bremen

Spätestens seitdem mit der Agenda 2010 auch die letzte SPD-geführte Bundesregierung einem wirtschaftsliberalen Paradigma gefolgt ist, ist ein verstärktes strukturelles Übergewicht der ArbeitgeberInnen-Interessen in wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen Deutschlands und der EU zu beobachten. Es stellt sich aus sozialistischer Perspektive die Frage, wie die Machtressourcen der ArbeitnehmerInnen-Seite strukturell gestärkt werden können. Den Unternehmensverbänden stehen im außertariflichen Raum die Industrie- und Handelskammern zur Seite, die politische Diskurse zugunsten der Unternehmen beeinflussen. Den ArbeitnehmerInnen fehlt ein solches Unterstützungsorgan der Gewerkschaften vie-

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lerorts noch. Dabei gibt es bereits erfolgreiche Beispiele. Arbeitnehmerkammern in Deutschland In Deutschland gibt es aktuell in Bremen die Arbeitnehmerkammer und im Saarland die Arbeitskammer. Beide Kammern sind Körperschaften öffentlichen Rechts und die Aufgaben sind in den jeweiligen Kammergesetzen geregelt. Mitglieder sind jeweils alle ArbeitnehmerInnen, die in Bremen und Bremerhaven sowie im Saarland beschäftigt sind – unabhängig vom Wohnsitz. Die Beiträge belaufen sich jeweils auf 0,15 Prozent des Bruttolohns.3 3

http://www.arbeitnehmerkammer.de/ueber-uns/; http://www.arbeitskammer.de/ueber-uns.html;

Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014


Organisatorisch sind beide Kammern durch die Verwaltung einerseits und die Selbstverwaltung andererseits gekennzeichnet. Unterschiede gibt es im Bereich der Wahl der Selbstverwaltung. Im Saarland werden die Mitglieder der Vertreterversammlung auf Vorschlag der Fraktionen (CGB und DGB) vom Landtag gewählt, wohingegen in Bremen eine Urwahl der Selbstverwaltung stattfindet. Insgesamt werden somit rund 715.000 Beschäftigte durch Arbeitnehmerkammern vertreten. Arbeitnehmerkammern in Österreich und Luxemburg In Österreich gibt es eine bundesweite Struktur mit der Dachorganisation Bundesarbeitskammer sowie in jedem Bundesland eine Länderkammer (Arbeiterkammer) für ArbeitnehmerInnen und Angestellte. Somit vertritt die Arbeiterkammer die Interessen von rund 3,4 Millionen ArbeitnehmerInnen gegenüber Regierung und Wirtschaft. Organisatorisch sind die Arbeiterkammern auch in Österreich Selbstverwaltungskörper des öffentlichen Rechts und die Mitgliedschaft ist gesetzlich geregelt.4 In Luxemburg vertritt die „chambres des salaries“ alle ArbeitnehmerInnen und RentnerInnen (ca. 430.000) mit Ausnahme der BeamtInnen und öffentlichen Angestellten. Die Arbeitnehmerkammer ist eine öffentlich-rechtliche Institution unter Aufsicht des Ministers für Arbeit und Beschäftigung. Sie verfügt über eine eigene Rechtspersönlichkeit und ist finanziell unabhängig.5

Sprachrohr der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Grundsätzlich vertreten die Kammern in Bremen und dem Saarland die Interessen ihrer Mitglieder, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im jeweiligen Bundesland. Beide Kammern müssen jährlich einen Bericht an die Regierung des Landes zur wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Lage der Kammerzugehörigen im jeweiligen Bundesland abgeben und haben das Recht bei Gesetzesentwürfen, die die Belange der Beschäftigten tangieren, angehört zu werden. Die Kammern sind aus sozialistischer Perspektive sehr wertvoll, denn sie verschieben den Diskurs nach links. Aufgrund der Pflichtmitgliedschaft haben sie auch bei sehr geringen Beiträgen die Möglichkeit zu Politikberatung durch wissenschaftliche Arbeit, Gutachten und Diskussionsveranstaltungen mit EntscheidungsträgerInnen. Die Kammern sind aber auch als Dienstleister im Bereich der Beratung tätig. So können sich die Mitglieder kostenlos in den Bereichen Arbeits- und Sozialrecht sowie Steuerrecht beraten lassen. Die Kammern haben darüber hinaus die Aufgabe, für ArbeitnehmerInnen Maßnahmen zur Förderung der beruflichen, der politischen und der allgemeinen Bildung, der Beschäftigung, der Kultur, der Gesundheit, des Verbraucherschutzes, der Gleichberechtigung von Frauen und Män4

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http://www.arbeiterkammer.at/ueberuns/leistungen/Die_AK__Ihre_Interessensvertretung.html http://www.csl.lu/historique

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nern und der Integration von AusländerInnen zu treffen. Die Ausgestaltung ist dabei natürlich von Region zu Region unterschiedlich. So gibt es neben den jeweiligen Fachabteilungen, die Dienstleistungen und Politikberatung durchführen, diverse angegliederte Einrichtungen wie beispielsweise im Saarland das Bildungszentrum der Arbeitskammer in Kirkel oder in Bremen die Wirtschafts- und Sozialakademie. Nicht Konkurrenten, sondern verlängerter Arm der Gewerkschaften Eine gerade aktuell häufig aufgestellte These ist die Konkurrenz zu den Gewerkschaften. Die Arbeitnehmerkammern jedoch haben nichts mit der Tarifpolitik zu tun – sicherlich ein originäres Interesse der Beschäftigten –, das ist das ureigene Hoheitsgebiet der Gewerkschaften. Vielmehr sind die Gewerkschaften diejenigen, die die Ausrichtung der Kammern in den jeweiligen Selbstverwaltungen bestimmen und lenken können. Die Stimme der Gewerkschaften, insbesondere der DGB-Gewerkschaften, wird durch die Stimme der Kammern wesentlich gestärkt. An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Kammern. Gewerkschaften sind ihrem Ursprung nach Kampfverbände, entstanden aus dem Gegensatz zu den Arbeitgebern, denen gegenüber die Ansprüche der abhängigen ArbeitnehmerInnen auf gerechten Lohn und angemessene Arbeitsbedingungen durchzusetzen waren (vgl. BverfGE 38, 281 (305ff.)). Ihrer ganzen Arbeit ist daher von Haus aus der Bezug auf den sozialen Gegenspieler eigen, mit dem sie verhan-

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deln, dem sie fordernd entgegentreten. Ihre Tätigkeit ist deutlich interessengerichtet. Die Konzeption, von der aus die Arbeitnehmerkammern ins Leben gerufen worden sind, ist eine andere. Die Initiative zu ihrer Gründung ist in Bremen wie im Saarland vom Staat ausgegangen. Der Blick der Kammern soll nach der Intention des Gesetzgebers stets auf die Interessen der Arbeitnehmerschaft im Ganzen gerichtet sein; das Verbindende bei dieser Gruppe ist die soziale Stellung als ArbeitnehmerIn ohne Rücksicht, bei welchem Arbeitgeber gearbeitet wird. Die Kammerarbeit ist immer auf das Ganze von Staat und Gesellschaft bezogen, nicht auf einen sozialen „Gegner“. Die Erfahrungen zeigen, dass sich die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerkammern in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zwar klar abgrenzen, aber in der Summe sehr gut ergänzen. Hier kann sicherlich die Beratung der Mitbestimmung von Betriebs- und Personalräten genauso als positives Beispiel genannt werden wie die politikberatenden Tätigkeiten der Kammern, deren Leitlinien über die Selbstverwaltung von den Gewerkschaften festgelegt werden. Vom Konzept der Arbeitnehmerkammern klar abzugrenzen ist der Gedanke von „Pflegekammern“, deren Einführung derzeit in einigen Bundesländern debattiert wird. In ihnen sollen alle Pflegenden, in allererster Linie also abhängig Beschäftigte, zahlende Mitglieder werden, um der Pflegebranche mehr Aufmerksamkeit und Geltung innerhalb der Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zu verschaffen. Dies ist aus zwei Gründen kritisch zu be-

Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014


trachten: Erstens werden keine ArbeitnehmerInneninteressen vertreten, sodass sich die Frage nach der Gerechtigkeit der Finanzierungsform stellt. Zweitens würde die politische Durchsetzbarkeit einer weiteren Kammer zur tatsächlichen Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen in die Ferne rücken. Pflegekammern: Ablenkungsmanöver mit Langzeitwirkung und verteilungspolitischer Skandal Kerngedanke des Pflegekammerkonzeptes ist eine berufsständische Sicht auf Machtkonflikte: Das Hauptargument der BefürworterInnen von Pflegekammern ist, dass die Rahmenbedingungen der Pflege von Betriebswirten und anderen Fachfremden fremdbestimmt werde, daher solle „die“ Pflege stärker selbst die Politik zur Regulierung der Branche beraten und dafür verkammert werden. Ziel ist also eine Verschiebung von Machtressourcen im Verteilungskampf zwischen den einzelnen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens. Verschieben sich diese zugunsten des Pflegesektors, profitiert davon aber nicht „die“ Pflege – wie BefürworterInnen argumentieren, indem sie die Existenz zweier Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital ignorieren –, sondern unmittelbar nur die Seite der Pflege-ArbeitgeberInnen. PflegeArbeitnehmerInnen können erst durch anschließende Erfolge im Arbeitskampf auf eine Verbesserung ihrer Situation hoffen. Auch die weiteren geplanten Aufgaben der Pflegekammern, soweit hier überhaupt ein klares Konzept vorliegt, lassen keine Verfolgung von ArbeitnehmerInnen-Interessen erkennen.

So sollen sie die Ausbildungsgänge gestalten und Abschlussprüfungen abnehmen. Dies sind im Bereich der dualen Ausbildung klassische Aufgaben der ArbeitgeberInnen-finanzierten Industrieund Handelskammern, an denen die Gewerkschaften nach dem Berufsbildungsgesetz paritätisch zu beteiligen sind – und dies für die Seite der ArbeitnehmerInnen völlig „kostenlos“. Dieses Modell wäre auch für die Pflege wünschenswert, weil Azubis der bisher schulischen Ausbildungsgänge dann endlich eine Vergütung erhalten würden, was sowohl aus sozial- als auch gleichstellungspolitischer Sicht geboten scheint. Mit der geplanten Prüfungsübergabe an die Pflegekammer würde ein solcher Reformansatz zunächst in die Ferne rücken – und gleichzeitig die Kosten der bisher staatlichen Ausbildungsprüfung weitestgehend auf die Pflege-ArbeitnehmerInnen abgewälzt. In Rheinland-Pfalz etwa soll die Pflegekammer die flächendeckende Pflegeversorgung der Bevölkerung durch entsprechende Bedarfsanalysen sicherstellen. Dies ist bisher Aufgabe der Gesundheitspolitik. Erneut ist hier der Staat der Gewinner, der sich einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe dauerhaft auf Kosten der Pflege-Beschäftigten entledigen kann und gleichzeitig den öffentlichen Eindruck vermittelt, den Missständen in der Pflege handlungsfähig zu begegnen, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen – ein Ablenkungsmanöver mit Langzeitwirkung. Am eindringlichsten scheint aber, dass die Pflegekammern Imageförderung für den Berufsstand der/des Pflegebeschäftigten betreiben sollen. Die Arbeitskräfteknappheit der Branche ist derzeit aber für

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die Forderung nach Lohnerhöhungen und besseren Arbeitsbedingungen eines der wenigen Druckmittel überhaupt. Künftig würden Pflege-Beschäftigte mit Beiträgen aus ihrem Arbeitslohn das Abstellen dieses Problemdrucks bezahlen – ein verteilungspolitischer Skandal. Ständische Argumentationsmuster gegen Gewerkschaften Zwar wäre auch denkbar, dass die Betriebe die Finanzierung dieser ausschließlich in ihrem Interesse und teilweise im Gegensatz zu den Interessen der Beschäftigten liegenden Aufgaben übernehmen, derartige Vorschläge sind bisher aber nicht gemacht worden. Auch die Gewerkschaft ver.di wendet sich daher gegen Pflegekammern. Von Pflegekammer-BefürworterInnen wird ver.di vielerorts vorgeworfen, sich nicht an den Belangen der Pflegenden zu orientieren. Die Gewerkschaft sei keine legitime – weil, so wird implizit argumentiert, angeblich fachfremde -Interessenvertretung der Beschäftigten und habe lediglich Angst vor eigener Machtbeschneidung6 – wenngleich für jedeN einsichtig ist, dass Kammern die Kernfunktion der Sozialpartner – Tarifpolitik – nicht berühren. Mit diesem berufsständischen Argumentationsmuster werden klassische anti-gewerkschaftliche Ressentiments bemüht. Die strukturelle Schwäche der gewerkschaftlichen Organisation im Pflegebereich und die daraus resultierenden Defizite in der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit werden sich gezielt zu Nutze gemacht. Und dies durchaus erfolgreich: Viele BefürworterInnen von Pflegekammern sind Beschäftigte in der Pflege, die hier ihre Chance auf eine gezielte Interessenvertretung sehen und Verbesserun-

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gen ihrer Arbeitsbedingungen erhoffen. Getrennte Marschrichtungen in den Bundesländern Die Zustimmung von Beschäftigten zum Konzept der Pflegekammer variiert regional stark und ergibt völlig unterschiedliche Sachstände in den Bundesländern. In einer Reihe von Bundesländern wird die Forderung nicht in nennenswertem Umfang diskutiert. In anderen sind hingegen schon konkrete Schritte für eine Pflegekammer unternommen worden, mit unterschiedlichem Erfolg. ln einigen Bundesländern ist im Anschluss an Meinungserhebungen inzwischen eine Pflegekammer geplant, so in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz. Befragungen von Pflegenden (Beschäftigten wie Selbstständigen) ergaben hier jeweils Mehrheiten für die Errichtung einer Pflegekammer7, wenngleich Pflegende in Rheinland-Pfalz zunächst ein Registrierungsverfahren durchlaufen mussten und sich in Schleswig-Holstein die relative Mehrheit der in einer Umfrage Befragten gegen jeden Beitrag zu einer Kammer aussprach. Die Gesetzgebungsverfahren sind in diesen Ländern bereits initiiert.8

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z. B.: http://www.pflegekammerrlp.de/2013/07/24/offener-brief-an-ver-di-blockadehaltung-aufgeben/ http://www.schleswigholstein.de/MSGFG/DE/Service/Presse/PI/2014 /140123_msgfg_LTpflegekammer.html; http://www.pflegekammerrlp.de/2013/09/23/475/ http://www.pflegekammerrlp.de/2014/01/09/gruendungskonferenz-im-dialog/

Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014


Derzeit ungeklärt ist der Stand in Bayern, Sachsen, Niedersachsen und Berlin. In Bayern, Sachsen und Niedersachsen ergaben sich ebenfalls in Umfragen Mehrheiten für eine Pflegekammer. In Bayern ist jedoch die Methodik der Befragung umstritten9, in Niedersachsen sprachen sich die Befragten mehrheitlich gegen die kammerdefinierende Pflichtmitgliedschaft aus10, in Sachsen wurde die Methodik der Befragung nicht offengelegt11 und in Berlin ist eine Befragung erst noch geplant. Gescheitert ist das Vorhaben dagegen in Hamburg. Dort sprachen sich 48 % der Befragten gegen eine Pflegekammer aus, nur 36 % dafür. Der Senat entschied daher Anfang Februar 2014, keine Pflegekammer einzuführen.12 Aktive Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen wird verhindert Die Hamburger Entscheidung ist aus gewerkschaftlicher Perspektive zu begrüßen, denn die Problematik der Pflegekammern beschränkt sich nicht nur darauf, dass ihr Konzept keine aktive Vertretung von ArbeitnehmerInnen-Interessen vorsieht. Eine solche Ausrichtung wäre auch nicht sinnvoll. Um überhaupt eine tragfähige organisatorische Struktur bilden zu können, müsste eine branchenspezifische, relativ kleine Kammer wie die Pflegekammer wesentlich höhere Beiträge erheben als die branchenübergreifenden Kammern, um auf denselben Effekt zu kommen. Angesichts des niedrigen Einkommens der potenziellen Mitglieder dürften diese sich – anders als im Falle von Arbeitnehmerkammern – umso mehr überlegen, ob sie zusätzlich zum Kammerpflichtbeitrag noch einen Gewerkschaftsbeitrag aufbringen

wollen und können. Die gewerkschaftliche Organisation geriete noch weiter unter Druck. Auch die Einführung von Arbeitnehmerkammern würde mittelfristig blockiert. Keine der bisher bestehenden Kammern, denen ArbeitnehmerInnen berufsständisch zugeordnet werden (etwa Handwerkskammer, Apotheken-, Ärzte- und Architektenkammer) würde einen derart hohen Anteil abhängig Beschäftigter und gleichzeitig eine derart niedrige Entlohnungsstruktur aufweisen. Die Einrichtung und Bezahlung einer weiteren Kammer dürfte den Pflegebeschäftigten nur schwer zu vermitteln sein. Fazit: Stärkung gewerkschaftlicher Machtressourcen statt Symbolpolitik Die Probleme in der Pflege lassen sich nicht mit Symbolpolitik lösen. Um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu erreichen, braucht es eine konsequente Stärkung der Machtposition der ArbeitnehmerInnen-Seite. Dies bedeutet zuvorderst eine stärkere gewerkschaftliche Organisation in der Branche, um Forderungen effektiv durchsetzen zu können. Dies ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen werden kann, weder in der Pflege-, noch in irgendeiner anderen Bran9

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https://gesundheit-soziales-bayern.verdi.de/ presse/pressemitteilungen/++co++1cb149d85cce-11e3-b910-52540059119e http://www.ms.niedersachsen.de/aktuelles/ presseinformationen/antwort-auf-diemuendliche-anfrage-wie-geht-es-weiter-mit-derpflegekammer-116205.html www.pflegerat-sachsen.de/csdata/download/1/de/ zeitungsartikel_befragung_pflegekammer_13.pdf http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/ 4262544/2014-02-04-bgv-pflegekammer.html

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che. Aber auch bereits kurzfristig können die Gewerkschaften die Position der abhängig Beschäftigten im politischen und sozialen Geschehen stärken: Den grundsätzlichen politischen Willen der jeweiligen Landesregierung vorausgesetzt, wird es an den Gewerkschaften liegen, ob eine Arbeitnehmerkammer und damit eine strukturelle Stärkung der Machtressourcen abhängig Beschäftigter zustande kommt. l

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Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014


DAS WILLY BRANDT CENTER JERUSALEM 2014 – IMMER NOCH EINZIGARTIG IM BRENNPUNKT DES NAHOSTKONFLIKTS von Christopher Paesen, Projektleiter der Jusos im Willy-Brandt-Center in Jerusalem

Besucht man den Nahen Osten, um den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu verstehen, trifft man die Konfliktparteien in aller Regel in ihrem eigenen Kontext. In Ramallah unterhält man sich beispielsweise mit Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde, in Tel Aviv trifft man sich mit einer Aktivistin von Peace Now oder einer Knessetabgeordneten. Von Tel Aviv ist es nicht weit nach Sederot, wo Anwohner in ständiger Angst vor dem andauernden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen leben müssen. Im Aida-Flüchtlingscamp bei Bethlehem möchten die Bewohner vermitteln, warum ihnen das Recht auf Rückkehr zu den Häusern ihrer Eltern, Großeltern und inzwischen sogar Urgroßeltern so wichtig ist. In allen Fällen erfährt man individuelle Geschichten,

die sich bei den Besucherinnen und Besuchern der Region wie ein Mosaik zu einem eigenen Bild zusammensetzen. Besucht man das Willy Brandt Center in Jerusalem, ist das anders. Hier findet man junge Israelis und PalästinenserInnen, die gemeinsam über den Konflikt sprechen, argumentieren und auch streiten. Die Partner eint das Streben nach einer gewaltfreien Verwirklichung der Zwei-StaatenLösung und die Überzeugung, dass schon jetzt Chancen genutzt werden müssen, um die Grundlage für einen kommenden Frieden zu legen. Seit 1996 hat die Kooperation zwischen Young Fateh in Palästina, Young Labour und Young Meretz in Israel und den Jusos in Deutschland zahlreiche Krisen und Gewaltausbrüche überstanden. Diese dauerhaften Anstrengungen im Wil-

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ly Brandt Center machen es zu einem einzigartigen Projekt im Brennpunkt des Nahostkonflikts. Wo steht das Projekt im Jahr 2014 und in welche Richtung wird es sich in der nächsten Zeit entwickeln? Der wichtigste Faktor, um diese Frage zu beantworten, ist der Fortgang der aktuellen Verhandlungen um ein Rahmenabkommen für eine dauerhafte Lösung des Konflikts. Seit Ende Juli 2013 sitzt die Verhandlungsgruppe aus israelischen und palästinensischen Regierungsvertretern nun schon zusammen, um alle in Rede stehenden Fragen, Forderungen und Ansprüche in einen vertraglichen Einklang zu bringen. Eine Mammutaufgabe, bedenkt man die Komplexität und die lange Geschichte des Konflikts. Dennoch lassen sich vier Hauptfelder aus der Summe der Themen zusammenfassen. Zunächst ist das Thema Grenzen und Territorium innerhalb einer Zwei-StaatenLösung von Bedeutung. Grundsätzlich bleibt die Grüne Linie von 1967 die Basis für die Gespräche. Jedoch stehen zahlreiche Veränderungen dieser Grenze auf der Tagesordnung, da seit 1967 Fakten entstanden sind, denen Rechnung getragen wird, um die Akzeptanz des Abkommens nicht durch übermäßige Bevölkerungstransfers von vornherein zu untergraben. Konkrete Vorschläge für einen Landtausch zwischen Israel und einem künftigen palästinensischen Staat liegen z. B. mit der Genfer Initiative zwar auf dem Tisch, aber dennoch ist klar, dass ein Tausch hart errungen werden muss, da keine der beiden Seiten bereit ist, ihre Ansprüche einfach aufzugeben. Einen Tausch will man sich teuer erkaufen. Dazu gehört auch die Frage nach dem Status Ostjerusalems, das für Pa-

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lästinenserInnen von der West Bank derzeit nur durch Checkpoints aus zu erreichen ist. Wie eine Grenzziehung durch die miteinander verwachsenen Stadteile von West- und Ostjerusalem vonstattengehen soll, ist ebenfalls eine zu klärende Frage. Eng mit der Frage der Grenzen ist der Themenkomplex Sicherheit verbunden. Im Zuge einer Zwei-Staaten-Lösung wäre der Jordanfluss die Außengrenze eines palästinensischen Staates. Israel hingegen betrachtet seine militärische Präsenz im Jordantal und die Flugabwehrstellungen auf den angrenzenden Bergen als essenziell, um das Land gegen Angriffe aus dem angrenzenden Raum zu verteidigen. Auf dem Verhandlungstisch liegen nun Vorschläge, internationalen Truppen die Grenzsicherung am Jordan zu übertragen. Präsident Abbas brachte sogar öffentlich die NATO für diese Aufgabe ins Spiel. Auf israelischer Seite herrscht große Skepsis gegenüber internationalen Truppen an den eigenen und palästinensischen Außengrenzen. Beispielhaft werden die schlechten Erfahrungen angeführt, die aus der Sicht Israels mit den internationalen Grenzsicherungssoldaten an der libanesischen und ägyptischen Grenze gemacht wurden. Drittens ist die Frage nach dem Status der palästinensischen Flüchtlinge von 1948/49 von Bedeutung. In Palästina hört man häufig die Forderung „Das Recht auf Rückkehr ist heilig“. Für viele PalästinenserInnen ist das sogenannte Rückkehrrecht ein tiefer Bestandteil ihrer Identität. Für die israelische Seite hingegen ist eine vollständige Rückkehr aller Flüchtlinge und ihrer Nachkommen zu ihren ehemaligen Wohnorten nicht tragbar, da aus ihrer Sicht eine mögliche palästinensische Be-

Das Willy-Brandt-Center Jerusalem 2014 – immer noch einzigartig im Brennpunkt des Nahostkonflikts Argumente 1/2014


völkerungsmehrheit in den Grenzen Israels den Charakter des Landes als jüdischen und demokratischen Staat in Frage stellt. Um diesem Problem zu begegnen, liegen Vorschläge zur finanziellen Entschädigung der Flüchtlinge auf dem Tisch. Unklar sind aber die Höhe, die Berechnungsgrundlage und der Kreis der Empfangsberechtigten. Da es um viel Geld geht, sind auch hier harte Verhandlungen zu erwarten. Nicht zuletzt steht die Frage des Zugangs zu Ressourcen auf der Tagesordnung. Infrastrukturell sind Israel und Palästina eng miteinander verwoben. Das betrifft die Schlüsselressource Wasser genauso wie die Frage der Stromversorgung. Schon im Oslo-Abkommen gibt es grundlegende Regeln zur Nutzung des Wassers und zum Handel mit Strom. Diese müssen aber der veränderten Situation 2014 angepasst werden und einen gerechten Zugang zu den Ressourcen garantieren, damit auf beiden Seiten eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht wird. Fragt man danach, wie der Verlauf der Verhandlungen bewertet wird, so wird schnell deutlich, dass die Erwartungen im Vergleich zu den Verhandlungen um das Oslo-Abkommen in den 90er Jahren wesentlich geringer sind. Eine Begeisterung für den Verhandlungsprozess findet sich auf keiner der beiden Seiten. Vielmehr werden die Gespräche als „schwere Geburt“ wahrgenommen, weil die Fronten stark verhärtet sind. Als positives Zeichen wird zumeist die bislang grob gewahrte Vertraulichkeit der Gespräche gewertet. Dass nur wenige Inhalte nach außen dringen, dient vielen als Hinweis auf einen wirklich vorhandenen Erfolgswillen der Verhandlungsgruppen. Für Young Labour

hat die Vorsitzende und Mitglied der Knesset, Michal Biran, die treffende Formulierung gefunden, dass im Prinzip sämtliche Fakten für die Verhandlung eines Abkommens auf dem Tisch liegen. Es komme aber zu keinem Abschluss, weil es an starken politischen Persönlichkeiten fehle, die vorbildhaft die Implementierung eines finalen Status vorantrieben. In Palästina macht sich zusätzlich das Gefühl breit, dass die politische Führung um Präsident Abbas zu schnell Ansprüche aufgebe und dadurch die Position der Palästinenser verschlechtere. Hinzu kommt der ungelöste Bruch innerhalb Palästinas zwischen der von Fateh kontrollierten West Bank und dem von Hamas kontrollierten Gazastreifen. Dennoch stehen die Chancen, den derzeitigen Status quo durch ein weitergehendes Rahmenabkommen abzulösen, so gut wie lange nicht. Den meisten Beteiligten ist klar, dass ein „Weiter so“ keine Alternative ist und ein Scheitern darüber hinaus negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Dies geht soweit, dass manche Analysten einen sich weit ausbreitenden Ausbruch von Gewalt in der West Bank nicht ausschließen, der sich möglicherweise sogar gegen die Autonomiebehörde selbst richten könnte. Die Folgen wären größere Instabilität und Unsicherheit als vor den Verhandlungen, was viele Seiten vermeiden möchten. Deswegen gehen nicht wenige davon aus, dass Ende April 2014 zum geplanten Ende der Verhandlungen zumindest in irgendeiner Form ein Abkommen auf dem Tisch liegen wird. Sollten sich die Verhandlungsgruppen möglicherweise vertagen, wäre nach weitverbreiteter Auffassung

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zumindest noch in diesem Jahr mit der Vorlage eines Ergebnisses zu rechnen. Unabhängig davon, wer bei den Verhandlungen den besseren Schnitt gemacht haben wird, bleibt zu erwarten, dass sowohl die israelische, als auch die palästinensische Gesellschaft einige „bittere Pillen“ zu schlucken haben werden. In Israel könnte beispielsweise die Räumung von Siedlungen in der Westbank zu großen Verwerfungen führen. In der derzeitigen Regierungskoalition um Benjamin Nethanjahus Parteienbündnis Likud Israel Beitnu (Israel unser Haus) ist neben der Chefverhandlerin Tzipi Livni mit ihrer Partei Hatnuah (Die Bewegung) auch Naftali Bennett von der Partei Habeyit Hayehudi ( Jüdisches Heim) vertreten, die sich offensiv für die Sache der Siedler engagiert. Zwischen den beiden Polen Livni, die höchstwahrscheinlich das von ihr verantwortete Verhandlungsergebnis verteidigen wird, und Bennett, der vehement gegen das Abkommen angehen wird, könnte die Koalition zerbrechen, so dass es zu Neuwahlen kommt. Dann liegt es in der Hand der israelischen Bürgerinnen und Bürger, über den Abschluss des Rahmenabkommens abzustimmen. Wie diese Abstimmung ausgeht ist jedoch, ohne den konkreten Inhalt der Vereinbarung zu kennen, unmöglich vorherzusagen. Auf der palästinensischen Seite könnten Widerstände aus einer Verneinung des Rückkehrrechts für Flüchtlinge resultieren. Das Narrativ rund um die von den Palästinensern Nakba genannte Vertreibung von 1948/49 ist sehr stark in der gesamten palästinensischen Gesellschaft verbreitet. Viele würden die Aufgabe dieser Position als eine große Niederlage für die palästi-

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nensische Sache verstehen. Die erfolgreiche Akzeptanz des Abkommens hängt wesentlich davon ab, inwiefern es der palästinensischen Führung gelingt, wichtige nationale Symbole wie Ostjerusalem als Hauptstadt zu erlangen und die Souveränitätsrechte eines künftigen Staates durchzusetzen. Dies wären die greifbaren Verbesserungen, die sich im alltäglichen Leben der Menschen bemerkbar machen würden. In diesem Spannungsfeld kann das Willy Brandt Center seinen einzigartigen Ansatz nutzen. Mit den gebauten Kanälen zwischen Jugendverbänden in beiden Gesellschaften, besteht die Chance, eine Bewegung mit dem Ziel nach vorne zu bringen, den neuen Status auf dem Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung gemeinsam zu gestalten. Natürlich hängt der Erfolg des Projekts stark von den großen politischen Ereignissen ab, die mit ihrer Dynamik die Arbeit im Center mit einem Fingerstreich vom Kopf auf die Füße stellen können. Und es lohnt sich auch nicht, Illusionen über die Leichtigkeit dieses Weges zu haben. Im Gegenteil wird es mit einer größeren Anstrengung verbunden sein, die Vorteile eines finalen Status inmitten der „bitteren Pillen“ zu sehen. Nichtsdestotrotz bleibt es ein erstrebenswertes Ziel, zu erleben, dass sich die Einzigartigkeit der Idee des Willy Brandt Centers und die geleistete Arbeit der vergangenen Jahre unter den Vorzeichen eines tragfähigen Rahmenabkommens auszahlen. l

Das Willy-Brandt-Center Jerusalem 2014 – immer noch einzigartig im Brennpunkt des Nahostkonflikts Argumente 1/2014


DER SCHOCK SITZT TIEF – ERLEBNISBERICHT ZUR ABSTIMMUNG ÜBER SVP-VOLKSINITIATIVE „GEGEN MASSENEINWANDERUNG“ von Salome Adam, Juso-Mitglied, studiert Biochemie in Basel

Wer in der Schweiz lebt, gewöhnt sich schnell an die ca. alle drei Monate stattfindenden Volksabstimmungen auf kantonaler und/oder nationaler Ebene. In den Wochen vor der Abstimmung hängen Plakate mit den Argumenten der Befürworter oder Gegner der anstehenden Initiativen und Referenden, und in den Medien werden entsprechend mehr oder weniger emotionale Debatten geführt. Ich selbst, als Nicht-Schweizerin, empfinde diese Kultur meist als sehr erfrischend – wird doch dadurch oft über konkrete Themen und Ziele debattiert. Ein gutes Beispiel dafür war zum Beispiel die Initiative „1:12– für gerechte Löhne“, die von der JUSO Schweiz lanciert wurde und mit 34,7 % Zustim-

mung einen Achtungserfolg erzielte – immerhin wollte man mit der Initiative in der Verfassung verankern, dass in jedem Unternehmen der höchstbezahlte Angestellte nur noch maximal das 12fache des am wenigsten verdienenden Angestellten bekommen darf. Bei der am 9. Februar 2014 durchgeführten Abstimmung über die von der nationalkonservativen/rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierten Initiative „Gegen Masseneinwanderung“, die zum Inhalt hat, die Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer*innen zu beschränken bzw. zu kontingentieren, war es jedoch anders. Ich hatte das Gefühl, dass am Anfang – ca. drei bis vier Monate vor der Abstimmung –, zuerst eine gewisse

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Ruhe vorherrschte. Die SVP schürte wie üblich bei Initiativen dieser Art und wie es von einer rechtskonservativen Partei nicht anders zu erwarten war, die Angst vor „Überfremdung“. Das NEIN-Lager setzte sich zusammen aus linken Gesellschaftsinitiativen, Gewerkschaften (vor allem die UNIA), allen anderen Parteien (am Anfang vor allem SP und Grüne) und Wirtschaftsverbänden, die entweder auf Grundlage der Menschenrechte oder des wirtschaftlichen Vorteils des freien Personenverkehrs mit der EU eine Kampagne gegen die Annahme dieser Initiative führten. Von vornherein war klar, dass eine Annahme der Initiative unangenehme Folgen haben würde, weil mit der Auflösung der Personenfreizügigkeit alle bilateralen Verträge mit der EU in Gefahr wären. Jedoch gab es schon häufiger Initiativen in diese Richtung und seit Jahren gehen sie, wenn auch knapp, immer positiv, im Sinne der Beibehaltung der EU-Verträge und gegen eine Verschärfung der Beschränkungen für Aufenthaltsgenehmigungen für EU-Bürger aus. Daher gab es natürlich Kampagnen auf beiden Seiten, aber von großer Aufregung war keine Spur – vor allem, nachdem eine Prognose sechs Wochen vor der Abstimmung 55 % Nein- und 40 % JaStimmen vorhersagte. In der Vergangenheit waren solche auf Umfragen basierenden Prognosen ein verlässlicher Indikator für das zu erwartende Ergebnis. Die Seite der Gegner*innen atmete deutlich auf. Dieses Mal kam es jedoch anders. Im Januar begannen die Zustimmungsraten Woche für Woche zu steigen. Genauso stieg die Anzahl derer, die überhaupt abstimmen wollten, so dass es immer schwieriger wurde, das Ergebnis einzuschätzen. Die SVP-Kampagne zog immer mehr

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Der Schock sitzt tief Argumente 1/2014

Leute in ihren Bann. Die Versprechen von bezahlbarerem Wohnraum, weniger überfüllten Nahverkehrsmitteln, Arbeitsplatzvorrang für Schweizer*innen, einer Eindämmung der „Ausländerkriminalität“ und des Asylmissbrauchs sowie weniger Lohndumping klangen offenbar zu verlockend – und die Lösung dieser Probleme durch eine Beschränkung der Personenfreizügigkeit so einfach. Außerdem wollte man der EU zeigen, wer eigentlich regiert (nämlich das Volk und nicht die „EU-Bürokraten“), dass man als Schweiz eigenständig ist und sich nicht weiter dem „Diktat der EU“ unterwerfen will. Wie den medialen Meldungen zu entnehmen war, verfingen diese Argumente immer stärker. Die Gegner*innen versuchten, dem entgegenzusteuern, fanden jedoch mit ihrer eher technokratischen Argumentationsweise immer weniger Gehör. Die Befürworter*innen hingegen argumentierten immer emotionaler. Die Probleme, die mit der Annahme der Initiative folgen würden, wurden ausgeblendet und die angeblich heilsame Wirkung der Initiative auf immer weitere Aspekte ausgeweitet – es wurde nun auch davon gesprochen, dass man die Islamisierung stoppen könnte und weniger „People of Colour“ ins Land kommen würden. Der Inhalt der Initiative beschränkt sich dabei jedoch nur auf den Stopp der Personenfreizügigkeit zwischen Schweiz und dem EU-Raum. Es wurde auf unseriöseste Weise hochgerechnet, wie hoch der Anteil der Ausländer*innen bald sein würde, insbesondere der Anteil der Bevölkerung mit islamischem Glauben. Dass das Schweizer Bundesamt für Statistik diese Zahlen als falsch deklarierte, wurde nicht mehr wirklich zur Kenntnis genommen und von den Medien nur unge-


nügend wiedergegeben. Die Angst auf der Gegenseite wurde im Angesicht dieser Entwicklungen, die niemand vorausgesehen hat, immer größer und mit ihr auch die gefühlte Handlungsunfähigkeit. Sachliche wie emotionale Argumente kamen nicht mehr durch und so überwog am Ende die Hoffnung, doch noch mal mit einem blauen Auge davon zu kommen. Am Sonntag der Abstimmung kam jedoch der Schock. Es wurde nach den ersten Ergebnissen aus den Kantonen immer deutlicher, dass das Ergebnis sehr knapp ausfallen würde. Mit Ausnahme von Zug stimmten alle ländlichen Kantone der Deutschschweiz für die Initiative. Das Tessin hatte sogar eine Zustimmungsquote von 68,0 % und die Wahlbeteiligung lag überall über 50 %, so dass sehr früh mit einem hohen Absolutstimmenanteil zu rechnen war. Dadurch wurde klar, dass selbst bei einer Ablehnung der Initiative durch alle Kantone des französischsprachigen Teils der Schweiz sowie der Städte in der Deutschschweiz (die Städte und die Westschweiz zeigen in Migrations- und außenpolitischen Fragen oft ein sehr ähnliches Abstimmungsverhalten) die Initiative ablehnen würden, der Absolutstimmenanteil nicht reichen konnte. Am Ende hing alles am Ergebnis des Kantons Bern, jedoch hätte nur noch ein Wunder geholfen um die Stimmendifferenz von 36.500 für die Initiative ins Gegenteil zu verkehren. Das Wunder blieb aus – 19.500 Stimmen Unterschied, 50,3 % Zustimmung.

Die Hoffnung, dass man dies jetzt noch alles irgendwie klären könnte, ist gerade für Angehörige der Schweizer Hochschullandschaft schnell verflogen. Ende Februar wurde verkündet, dass die Schweiz nicht mehr an den Programmen Erasmus+ und Horizon 2020 partizipieren kann. Weiterhin werden die EU-Förderungen für den Kulturbereich gestrichen. Das alles passiert so schnell, weil eine Bedingung für diese Programme die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien war, was aber nun natürlich nicht passieren wird. Die Auswirkungen sind enorm – wird doch die Mobilität der Studierenden erheblich eingeschränkt und gehen den Hochschulen viele Projekte und damit auch viele Wissenschaftler*innen verloren. Am 1. März sind in Bern 12.000 Menschen auf die Straße gegangen, um für eine solidarische und offene Schweiz zu demonstrieren und die Verhandlungen zur Umsetzung der Initiative, die jetzt zügig stattfinden sollen, positiv zu beeinflussen. Jedoch sollten wir uns hüten, mit dem ausgestreckten Finger auf die Schweiz zu zeigen. Diese Reaktion habe ich leider in den Medien und in vielen Diskussionen erlebt. Die aktuellen Debatten in vielen EULändern und die EU-Abschottungspolitik an sich zeigen nur zu deutlich die Entwicklung der Stimmung in Europa. Daher müssen wir gerade als junge Menschen anderen die „Angst vor dem Fremden“ nehmen, zusammen für eine solidarische EU einstehen und diese auch fordern! l

Ich empfand einfach nur noch Verzweiflung, genau wie meine Schweizer Freunde. Was da jetzt wirklich passiert ist und was folgen wird, konnten wir nicht fassen.

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WARUM WIR JETZT KÄMPFEN MÜSSEN Internetkonzerne und Geheimdienste wollen den determinierten Menschen. Wenn wir weiter frei sein wollen, müssen wir uns wehren und unsere Politik ändern. Von Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments und Spitzenkandidat der europäischen SozialdemokratInnen für die Europaparlamentswahl

Schwerpunkt

Anfang der 1980er Jahre prognostizierte Ralf Dahrendorf in einem berühmt gewordenen Essay das bevorstehende Ende der Sozialdemokratie. Schon damals formulierte er die These, dass die politische Linke ihre historische Aufgabe erfüllt habe, weil in den OECD-Staaten die sozialdemokratischen Ziele von Freiheit, Gleichheit und Solidarität weitgehend verwirklicht seien. „Mission accomplished“ könnte man sagen, historische Mission erfüllt. Und tatsächlich: Im Vergleich zum Industrieproletariat, das im 19. Jahrhundert noch unter den Bedingungen des Manchester-Kapitalismus arbeiten musste, muten die heutigen Arbeitsbedingungen der meisten Arbeitnehmer in Europa vergleichsweise paradiesisch an: Das Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeiten unter 40 Stunden in der Woche, be-

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Warum wir jetzt kämpfen müssen Argumente 1/2014

zahlter Urlaub, wirkungsvolle Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitnehmerrechte sind weitgehend durchgesetzt. Auch im Bereich der Freiheitsrechte und beim komplizierten Grundwert der Solidarität sind wir in Europa weit gekommen. Weltweit werden wir für unser europäisches Gesellschaftsmodell bewundert. Muss sich also nach ihrem 150-jährigen Kampf die Sozialdemokratie auf ihren Ruhestand einstellen, weil sie alles erreicht hat? Ich halte diese These für falsch, weil unsere Gesellschaft nicht alleine wegen, aber sicher in besonderer Weise durch die Digitalisierung und massenhafte Datenerfassung im jungen 21. Jahrhundert vor mindestens ebenso epochalen Umwälzungen steht, wie unsere Urahnen vor 150 Jahren. Der Aufstieg der Sozialdemokratie ist verbunden mit einer technischen Revolution im 19. Jahrhundert. Nach der Entwick-


lung der Dampfmaschine entstanden moderne Fabriken und mächtige Konzerne, big player, die wir teilweise noch heute kennen. Diese Revolution hat vielen Menschen Wohlstand gebracht und zu epochalen Veränderungen geführt. Vordergründig krempelte sie zunächst nur die damalige Arbeitswelt komplett um. Aber die neue Technologie revolutionierte die alte Gesellschaftsordnung tiefgreifender: Großstädte und neue soziale Schichten entstanden; es bildeten sich bis dahin unbekannte soziale Bewegungen und Parteien; eine neue Kunst, Philosophie und ein neues Denken kamen auf. Es war eine Zeit des Umbruchs, in der alte Werte durch neue ersetzt wurden. Diese Entwicklung verlief aber nicht nur linear in eine Richtung. Denn die Industrialisierung führte gleichzeitig zu einer Prekarisierung breiter Schichten, zu neuen Krankheiten und zu Umweltzerstörung. Als sich im Zeitalter der Industrialisierung die Maschinisierung und die mit dem Namen Henry Ford verbundene Arbeitsteilung durchsetze, bedeutete dies eine bemerkenswerte Umkehr in der Subjekt-Objekt-Beziehung, auch wenn es bereits im vorindustriellen Zeitalter brutale Formen der Sklaverei und entwürdigenden Arbeiten gegeben hatte. Aber der Arbeiter, der an der Akkordmaschine in der Fabrikhalle stand, hatte sich den Regeln, dem Tempo, ja den Bedürfnissen der Maschine anzupassen, die seinen Arbeitsprozess und Takt unerbittlich vorgab. Selten ist diese Maschine-MenschBeziehung in beeindruckenderen Bildern dargestellt worden als in den 1920er Jahren in dem legendären Film Metropolis von Fritz Lang. Neuer Wohlstand und neues Elend lagen – oft auch räumlich – nah beieinander. Der Wohlstand und die Freiheit der einen, waren zunächst einmal die Ar-

mut und Unfreiheit der anderen. Dass dieser Prozess letztlich auf unserem Kontinent zu einem gesellschaftlichen Fortschritt führte, der Wohlstand und Freiheit für viele brachte, war das Ergebnis eines langen politischen Kampfes. Dieser Fortschritt kam nicht automatisch, war nicht das Ergebnis einer unsichtbaren Hand. So wie die sozialen Bewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die entstehende Industriegesellschaft und den neuen radikalen Kapitalismus zähmen und humanisieren mussten, stellt sich heute wieder eine vergleichbare Aufgabe. Denn die Digitalisierung der Welt hat bislang nur das Potenzial, um Wohlstand und große Innovation hervorzubringen. Denn genauso wie damals, wird durch die rasante technische Entwicklung nicht zuallererst unsere Arbeitswelt herausgefordert, sondern unsere Gesellschaft und unser Denken werden in ihrer Gesamtheit revolutioniert. Ich habe keine kulturpessimistische Sicht auf diese technologische Entwicklung. Im Gegenteil, es geht mir um ein Nachdenken darüber, wie diese atemberaubende Technik zum Nutzen der vielen und nicht der wenigen in unsere Gesellschaft integriert werden kann. Meine Frage ist, ob und wie es uns gelingt, zu einer Zivilisierung und Humanisierung dieser neuen technischen Revolution zu kommen. Denn bislang steht nicht fest, ob die neuen Entwicklungen mehr Gutes oder mehr Schlechtes bringen werden. Viele Fragen sind noch offen: Bedeutet es ein Mehr an Unabhängigkeit und Flexibilität, wenn immer mehr Menschen ihre Emails jederzeit auf ihrem Smartphone lesen und sie per elektronischem Kalender noch kurz vor dem Schlafengehen zu einer Teambesprechung am nächsten Morgen einladen?

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Oder führt dies zu einer Entgrenzung von Arbeit, wodurch wir das lang erstrittene Recht auf Freizeit, ohne es zu merken, einfach aufgeben? Macht das Speichern von Bewegungsbildern und Kommunikationsdaten unsere Welt wirklich sicherer, wie das seit 9/11 behauptet wird, oder wird damit der Staat, der ein neues „SuperGrundrecht Sicherheit“ schützen will, nicht vielmehr selbst zum Sicherheitsrisiko für seine Bürger? Bringt ein permanentes Online-Voting eine direktere Demokratie hervor oder führt sie eher zu einer Trivialisierung von komplexen Problemen? Das sind Fragen, die unsere Gesellschaft beantworten muss, wenn es nicht zu fatalen Fehlentwicklungen kommen soll. Denn es klingt zwar verführerisch, wenn ein online überwachtes Auto automatisch bremst, sobald die Höchstgeschwindigkeit überschritten ist oder wenn herzinfarktgefährdete Menschen im Alltag rund um die Uhr medizinisch überwacht werden, weil diese Überwachungen individuelle und kollektiven Vorteile zu bringen scheinen. Schon jetzt versprechen Versicherungen Beitragsermäßigungen für dieses „vernünftige Verhalten“, in einem nächsten Schritt werden von denjenigen Risikoaufschläge verlangt werden, die sich dieser „freiwilligen“ Kontrolle ihres Verhaltens entziehen. Es ist absehbar, dass am Ende aus dem Risikoaufschlag ein Zwang zur Kontrolle werden wird, natürlich immer mit dem fürsorglichen Argument, dass vernünftiges Verhalten gut für den einzelnen und billiger für die Gesamtheit sei. Eine solche Entwicklung wird schlussendlich aber zum „am Netz hängenden Menschen“ führen, der in allen Lebenssituationen überwacht wird. Und ein weiterer bedrükkender Trend zeichnet sich ab: Wenn wir

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Menschen durch diese Vernetzung nur noch die Summe unserer Daten sind, in unseren Gewohnheiten und Vorlieben komplett abgebildet und ausgerechnet, dann ist der gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen. Schon heute ist es das Geschäftsmodell von Facebook und anderen, unsere emotionalen Regungen und sozialen Beziehungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen und unsere Daten gewinnbringend zu nutzen. Wenn die Messung unseres Augenzwinkerns oder die Beschleunigung unseres Pulses beim Ansehen bestimmter Produkte in Echtzeit in die Datenbank von multinationalen Konzernen fließen, ist der neue Mensch nur noch die Summe seiner Reflexe und wird biologistisch komplett determiniert. Am Ende könnte eine solche Entwicklung dazu führen, dass wir nur noch über jene Kaufangebote informiert werden, die vermeintlich zu uns passen. Und der Schritt, dass wir dann auch nur noch die politischen und kulturellen Informationen erhalten, die unseren vermuteten Interessen entsprechen, ist ein kleiner. Damit wäre dann die Vorstellung vom Menschen, der sich frei entwickeln und der es durch Bildung und harte Arbeit nach „ganz oben schaffen“ kann, endgültig erledigt. Ein neuer Mensch würde entstehen: der determinierte Mensch. Denn die „vermuteten Interessen“, die angeblichen „Präferenzen“ eines Menschen, sind vielleicht gut und schön, wenn ein Online-Händler unsere Absichten vorwegnimmt und, wie wir unlängst erfahren haben, das Paket schon losschickt, ehe wir überhaupt wissen, dass wir etwas kaufen wollten. Wie steht es aber mit dieser Entschlüsselung angeblicher Absichten, wenn Menschen sich um einen Beruf, einen Kre-


dit, eine Ausbildung bewerben? Was bedeutet es, wenn wir bald nicht nur im Büro, sondern auch im Haushalt, im Auto, überall gelesen werden und ein Abbild von uns erstellt wird, das der Bundespräsident den „digitalen Zwilling“ nennt und von dem wir nicht wissen, was ihn zusammensetzt. Wie aktuell diese Fragen sind, zeigte sich unlängst beim BGH-Urteil zu der Frage, ob Kreditscoring-Unternehmen wie die Schufa den Menschen mitteilen müssen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. Der quantifizierte Mensch wird uns künftig wie ein Schatten begleiten: Zusammengesetzt aus den Signalen und Daten, die wir und alle anderen senden. Das wird, wie jeder heute schon bemerkt, dem Einzelnen durchaus enorme Vorteile bringen. Aber es wird ihn auch zum Bestandteil einer Rechnung machen. Es kann nicht sein, dass diese Rechnung ohne unsere Kenntnis, unser Zutun und unsere Interventionsmöglichkeiten gemacht wird. Um das zu verhindern, müssen wir handeln. Denn von alleine wird nichts gut werden. So, wie die „unsichtbare Hand“ eines sich selbst regulierenden Marktes in der Vergangenheit ein Trugschluss war, ist die heute so populäre Annahme, dass durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch ein Mehr an Lebensqualität, Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Effizienz erreicht werden wird, eine naive Fehleinschätzung. Denn die täglichen Berichte über völlig enthemmte Geheimdienste offenbaren ein zunehmend paranoides Staatsverständnis und deshalb scheint die Prognose, dass es zu einem freiheitlichen Rückschritt kommen wird, wenn die Sammelwut von Daten und die Digitalisierung aller Lebensbereiche unreguliert fortgeführt wird, wahrscheinlicher

als die These, dass wir am Beginn eines neuen goldenen Zeitalters stehen. Noch haben wir es nur mit einer alles durchdringenden Technologie, aber noch nicht mit einem totalitären politischen Willen zu tun. Doch die Verbindung von big data, also der gewaltigen Sammelleidenschaft von Daten durch Private und den Staat, und big government, also der hysterischen Überhöhung von Sicherheit, könnte in die anti-liberale, anti-soziale und anti-demokratische Gesellschaft münden. Wenn der Bürger nur zum Wirtschaftsobjekt degradiert wird und der Staat ihn unter Generalverdacht stellt, kommt es zu einer gefährlichen Verbindung von neoliberaler und autoritärer Ideologie. Deshalb wird eine soziale Bewegung gebraucht, die den Mut aufbringt, das Notwendige zu tun und die dafür notwendigen normativen und historischen Prägungen mitbringt. Wie am Ende des 19. Jahrhunderts wird eine Bewegung gebraucht, die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, und die nicht zulässt, dass der Mensch zum bloßen Objekt degeneriert. Diese Bewegung muss ein liberales, ein demokratisches und ein soziales Staatsverständnis haben. Sie muss im Bereich der Datensammlung, -speicherung und -weitergabe rechtliche Pflöcke einschlagen, die klarstellen, dass die Privatheit eines jeden ein unveräußerliches Grundrecht ist und einen etwaigen Missbrauch eindeutig sanktionieren. Sie muss überdies durch eine kluge Wirtschaftspolitik sicherstellen, dass wir in Europa technologischen Anschluss halten, damit wir aus der Abhängigkeit und Kontrolle der heutigen digitalen Großmächte befreit werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um

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Nationalstaaten oder globale Konzerne handelt. Ein freies Netz, ein an Grundrechten orientierter regulierter Datenmarkt und die Erinnerung daran, dass die Autonomie des Individuums unser Mensch-Sein begründet, kann eine bessere, eine neue Welt schaffen. In dieser Welt könnten die Chancen einer neuen Technologie zum Wohle aller genutzt und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche verhindert werden. Es geht um nichts weniger als um die Verteidigung unserer Grundwerte im 21. Jahrhundert. Es geht darum, die Verdinglichung des Menschen nicht zuzulassen. l (Der Namensartikel erschien am 6. Februar 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.)

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GEMEINSAM FÜR EIN ANDERES, BESSERES EUROPA von Matthias Machnig, Leiter des Europawahlkampfs der SPD

Es gibt ein starkes Signal aus Rom. Ein Signal der Geschlossenheit, der Einigkeit, der Demokratie, des Wandels und des Aufbruchs. In Rom ist vor wenigen Tagen Martin Schulz zum gemeinsamen Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokratie gewählt worden. Das gab es noch nie. Über 91 Prozent wollen mit ihm an der Spitze in die Europawahl ziehen, sie wollen, dass er der nächste EU-Kommissionspräsident wird – denn darum geht es. Nach dem Vertrag von Lissabon können die Staats- und Regierungschefs die Besetzung dieses wichtigen Postens nicht mehr im Hinterzimmer ausklüngeln. Sie kommen nicht mehr am Votum des Parlaments vorbei. Europa wird demokratischer. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus 28 EU-Staaten haben sich ein gemeinsames Programm gegeben, das Manifest für die Europawahl. Ein Manifest für ein Europa der Menschen, nicht des

Geldes. Ein Europa der Demokratie, nicht der Bevormundung. Ein Europa für mehr Miteinander, nicht Gegeneinander. Ein Europa der Vielfalt – das jungen Menschen eine gute und verlässliche Perspektive gibt. Wir wollen die Finanzmärkte endlich wirksam regulieren, wollen mehr gemeinsame Steuer- und Sozialstandards. Wir wollen bei der Gleichstellung von Frauen und Männern vorankommen und vor allem auch bei dem Riesenproblem der Jugendarbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas. Gemeinsam für ein anderes, ein besseres Europa kämpfen. Das ist unser Auftrag. Und das ist unser Profil. Denn wir sind klar pro-europäisch – aber eben auch nicht europapolitisch naiv. Das ist das Signal von Rom und das macht Hoffnung auf eine gemeinsame gute Zukunft in einem erfolgreichen und gerechten Europa.

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Populisten und Skeptizismus... Aber machen wir uns auch nichts vor. Das alles ist kein Selbstläufer. In ganz Europa sind Populisten unterwegs, rechts ebenso wie links. Sie könnten viele Sitze im Europäischen Parlament besetzen. Ihr Antrieb sind Ressentiments, auch bedient durch ein katastrophales Krisenmanagement konservativer Regierungschefs. Im Angebot haben sie vermeintlich einfache Antworten. Sie wollen ausgrenzen, abschotten, zurück zum Nationalstaat. Dagegen kämpfen wir – mit Leidenschaft, Überzeugung und der Kraft besserer Argumente. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, jegliche Kritik an der Struktur der Europäischen Union zu ignorieren. Denn es gibt auch ganz berechtigte Vorbehalte gegen eine überzogene Regelungsdichte aus Brüssel, gegen zentrale Vorgaben in Bereichen, die besser regional geregelt werden. Die gezielt zu hinterfragen, ist vernünftig. Martin nimmt diesen Gedanken auf. Was kennzeichnet außerdem den Rahmen, in dem wir uns bewegen? Trotz weit verbreiteter Kritik waren Europawahlen in der Vergangenheit nur wenig politisiert. Die Wahlbeteiligung ist seit vielen Jahren stetig gesunken. Sie lag 2009 nur noch bei 43 Prozent – 15 Jahre zuvor waren es immerhin noch 60. Und eine geringe Teilnahme schadet uns immer mehr als den anderen. Nur rund ein Drittel der Menschen, die uns bei den letzten Bundestagswahlen ihre Stimme gegeben haben, machten bei der folgenden Europawahl dann auch ihr Kreuz bei der SPD – die meisten blieben einfach zu Hause. Konser-

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vative Wählerinnen und Wähler zum Beispiel sind schlicht disziplinierter. Für uns heißt das: Wir müssen jetzt unsere Betriebstemperatur steigern. Hinzu kommt: Immer weniger Menschen glauben, dass sie mit ihrer Stimme Einfluss auf europäische Entscheidungen nehmen können. Und sie vertrauen den europäischen Institutionen nicht. ...und unsere Antwort Das sind die Rahmenbedingungen, auf deren Grundlage wir in den Europawahlkampf ziehen. Schwierig? Allemal. Hoffnungslos? Quatsch! Denn dieselben Menschen stehen nach wie vor Europa und der EU-Mitgliedschaft Deutschlands sehr positiv gegenüber. Das sagen fast 90 Prozent. Die Menschen wollen ein anderes, besseres Europa, transparenter, demokratischer, gerechter. Das sind unsere Themen. Und die Menschen vertrauen Martin Schulz mehr als Juncker. Was heißt das alles für unseren Wahlkampf? Wir führen eine europäische Kampagne und stellen Martin Schulz in den Mittelpunkt. Ein überzeugter Europäer soll Präsident der Kommission werden. Unser Ziel ist, stärkste Kraft im Europäischen Parlament zu werden. Und das ist möglich – wenn wir es schaffen, den Menschen die Bedeutung der Wahl zu vermitteln, wenn wir unsere Stammwählerschaft mobilisieren und auch bisherige Europa-Skeptikerinnen und -Skeptiker erreichen, wenn wir die Wahlbeteiligung erhöhen!

Gemeinsam für ein anderes, besseres Europa Argumente 1/2014


Eine Chance bieten die zehn Kommunalwahlen, die parallel zur Europawahl am 25. Mai stattfinden. Beides müssen wir miteinander verzahnen, um noch mehr Frauen und Männer an die Wahlurnen zu bringen. Wenn wir mit den Menschen sprechen, sollten wir dort, wo Kommunalwahlen sind, auch darüber reden, warum Europa wichtig ist – dass wir gemeinsam etwas gegen Dumping-Löhne tun können, dass es Wohlstand und Sicherheit nur miteinander und nicht gegeneinander gibt. Aber auch, dass wir in Europa nur das entscheiden wollen, was nicht besser vor Ort geregelt werden kann. Und viele werden auch überzeugt sein, wenn sie Martins Leidenschaft für Europa und für die Bedürfnisse der Menschen erleben. Wenn sie ihn reden hören über seine Ideen, seine Ziele und Werte. Dafür wird er in ganz Europa auf Tour sein: in Paris, Wien, Helsinki, Ljubljana, Warschau, Ovieda, Prag, Straßburg und an vielen anderen Orten. 17 Großveranstaltungen macht er allein in Deutschland – los geht’s am 29. März in Hamburg. Die Kampagne steht, die Vorbereitungen sind nahezu abgeschlossen. Jetzt geht es darum, dass wir auf die Straßen und Plätze gehen. Dass wir mit möglichst vielen Menschen über die Wahl sprechen. Ihnen sagen, dass ihre Stimme Gewicht hat. Dass sie mitentscheiden können, wer der nächste Präsident der EU-Kommission wird. Dass ihre Stimme wichtig ist – für ein anderes, besseres Europa! Wenn junge Menschen mit Leidenschaft für diese Ziele kämpfen, werden auch andere überzeugt sein. Das ist die Schlüsselrolle der Jusos. l

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DER GEGENANGRIFF: FINANZINVESTOREN ZERSTÖREN DAS SOZIALE EUROPA von Ole Erdmann, Wirtschaftsförderung metropoleruhr und Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw.

1. Einleitung Im Februar 2014 debattieren die EUFinanzminister von elf Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, Italien und Frankreich, die Einführung einer Mehrwehrsteuer auf Finanzdienstleistungen. Was Globalisierungskritiker und das attac-Netzwerk seit vielen Jahren fordern (attac 2013: 9), könnte nun bald Wirklichkeit werden. Die große Koalition in Berlin hat die Unterstützung für diese Steuer im Dezember 2013 in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Gelingt nun der Durchbruch bei der Regulierung der Finanzmärkte? Haben wir die Krise hinter uns? Im Folgenden wird versucht, mit einer Krisenanalyse deutlich zu machen, warum die Finanzkrise noch nicht vorbei ist. Die Beschäftigung mit der Krisendeutung und die daraus folgenden

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Antworten auf die Krise sollen dann helfen, die grundsätzlichen Probleme in der derzeitigen Krisenbewältigung aufzuzeigen. Abschließend werden einige Überlegungen zu inhaltlichen und strategischen Antworten der Krise aus jungsozialistischer Sicht zusammengestellt, die aus diesen Problemen folgen müssten. 2. Krisenursachen und Krisendeutung Kritische Wirtschaftswissenschaftler sehen in der nachlassenden Wachstumsdynamik und den dadurch einbrechenden Gewinnen der Unternehmen in den westlichen Industrienationen in den 1970er Jahren den Ausgangspunkt für die heutige Krise. Um sich weitere Finanzierungs- und Profitmöglichkeiten zu erschließen, drängten Großunternehmen und Finanzindustrie aus Europa, Japan und den USA auf die Deregulierung der Finanzmärkte

Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014


(Scherrer und Beck 2013: 426). Gleichzeitig wurde der Druck auch an die Beschäftigten weitergegeben, in vielen Industrieländern stagnierten die Löhne. Um die Nachfrage im US-amerikanischen Binnenmarkt trotz dieser Tatsache hoch zu halten, wurde mit staatlicher Unterstützung die Schuldenaufnahme, insbesondere für den Immobilienerwerb oder auch für Hochschulbildung, gefördert. Diese zunehmende Verschuldung der privaten Haushalte sollte durch die Illusion unveränderter Konsummöglichkeiten der Mittelschichten dafür sorgen, dass die zunehmende Umverteilung von unten nach oben politisch abgesichert wurde (Stiglitz 2012: 133). Hier entstand der Treibsand, in dem die Finanzmärkte 2007/2008 einsanken. Die Situation in Europa unterschied sich in einigen Bereichen, die Grundzüge sind jedoch vergleichbar. So stagnierten seit den 1990er Jahren auch in Deutschland die Löhne, was zu einer lang anhaltenden Nachfrageschwäche führte. Wegen der lahmenden Binnenkonjunktur exportierten Banken und Investoren ihr Kapital ins Ausland, u. a. auf die boomenden Finanzmärkte in den USA, statt in die Realwirtschaft zu investieren. Hier nahm die Vernetzung der europäischen Banken mit dem US-Markt ihr später in der Krise so problematisches Ausmaß an. Eine besondere Situation lag in Europa jedoch mit der Einführung des Euros um den Jahrtausendwechsel vor. Durch die einheitliche Geldpolitik im Euroraum konnten die Nationalstaaten nicht mehr flexibel auf die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften durch Ab- oder Aufwertung der Währung reagieren. Die Verschuldung wurde aufgrund der einheitlichen Geldpolitik in Ländern wie Spanien und Irland so

günstig, dass vor allem im Immobiliensektor Vermögenspreisblasen und Überschuldung die Folge waren (böcklerimpuls 8/2013). In Ländern wie Griechenland oder Italien stiegen zudem die Löhne über das durch Produktivitätszuwächse gerechtfertigte Maß, was zusätzlich zur oberflächlich guten Entwicklung dieser Länder beitrug. Exportstarke Länder wie Deutschland oder Österreich profitierten durch die wachsenden Ausfuhren in diese EuroPartnerländer. Die Banken vor allem aus Frankreich und Deutschland finanzierten private und öffentliche Schulden in den heutigen südeuropäischen Krisenstaaten (Lindner 2013: 7). Als 2008 die Bank Lehman Brothers kollabierte und auch britische und deutsche Banken mit in den Strudel gerieten, nahm diese Marktdynamik ein jähes Ende. Die Antworten, die in Europa auf diese Krise gegeben wurden, lassen sich grob in zwei Phasen unterteilen. In einer ersten Phase zog man Konsequenzen aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise nach 1929 und stabilisierte international abgestimmt die Nachfrage durch massive staatliche Ausgabenprogramme. Außerdem wurden Banken verstaatlicht bzw. mit öffentlichen Mitteln unterstützt, um sie vor dem Kollaps zu schützen und eine Kreditklemme zu verhindern. Damit wich man im Moment der akuten Krise von den neoliberalen Glaubenssätzen, dass der Markt sich am besten allein regulieren sollte, massiv ab. Nachdem sich die Lage zunächst stabilisiert hatte, traten in einer zweiten Phase ab 2010 massive Finanzierungsschwierigkeiten der Euro-Staaten auf, denen eine differenzierte, produktive Wirtschaft mit einem stabilen industriellen Kern fehlte. Ihre vorrangig auf Dienstlei-

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stungen und/oder Immobilien gegründeten Volkswirtschaften waren nicht in der Lage, die massiv gestiegene private und öffentliche Verschuldung zu bedienen. Da nun aber die Krise in den öffentlichen Haushalten sichtbar wurde, nutzten die Neoliberalen die Chance zum Gegenangriff, um ihre nach 2008 in Frage gestellte Deutungshoheit über politisches und ökonomisches Handeln wiederherzustellen. Eine Krise, die aus ökonomischer Ungleichheit und problematischen Investitions- und Verschuldungsverhalten vor allem von privaten Akteuren entstand, wurde zu einer Krise umgedeutet, bei der unverantwortlich handelnde Staaten über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Mit den Hilfsprogrammen wurden nun kurzerhand zunächst die Finanzinteressen der Großbanken in den nordeuropäischen Staaten gesichert, d.h. ein Ausfall von Staatsanleihen der Krisenstaaten, die eben diese Banken in ihren Bilanzen hatten, weitgehend abgewendet (Lindner 2013: 12). Gleichzeitig wurden durch den Zwang zur Privatisierung von Staatsbetrieben und zu Arbeitsmarktliberalisierung (den sog. „Strukturreformen“) die Interessen privater Investoren durchgesetzt. Das Lohniveau und öffentliche Investitionen in den Krisenstaaten brachen ein, was zu einer weiteren und anhaltenden Kontraktion der betroffenen Volkswirtschaften führte. Kündigungsschutz und Tarifverträge wurden beschnitten, Renten gekürzt und die Gewerkschaften massiv geschwächt (Busch, Hermann, Hinrichs, Schulten 2012). Mit dieser v.a. von Deutschland durchgesetzten Austeritätspolitik wurde auf breiter Front ein neoliberales Kampfprogramm in den Krisenstaaten umgesetzt, wie es Jahre zuvor kaum durchsetzbar gewesen wäre.

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Dieser neoliberale Gegenangriff ist im Bereich der Finanzmärkte ebenfalls erfolgreich. Zwar wurden seit 2009 zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz, dem Verbot einiger Aktivitäten, Erhöhung der Eigenkapitalverpflichtungen für Banken und der verbesserten Finanzaufsicht (Stichwort Bankenunion) durch die EU-Mitgliedstaaten, das EUParlament und die EU-Kommission durchgesetzt. Sie bewegen sich aber ausschließlich im Rahmen der neoklassischen Krisendeutung: die Herstellung von mehr Transparenz und von mehr Haftungsverantwortung der handelnden Einzelakteure würde ein grundsätzlich funktionierendes System wieder zum Laufen bringen. Weder wurden die Mechanismen des Herdentriebs, der nachgewiesenermaßen die eben nicht rational handelnden Investoren antreibt (Lux 2013: 17), die nach wie vor unendlich große Komplexität verschiedener Finanzprodukte und Teilmärkte, noch die wachsenden Einkommensungleichheiten innerhalb der Volkswirtschaften und die Ungleichgewichte zwischen ihnen angegangen. Eben diese drei Aspekte sind jedoch die grundlegenden Krisenursachen (Dullien 2013: 27). Als Konsequenz ist eine sich verfestigende Krise mit explodierenden Arbeitslosenraten in den südlichen Krisenstaaten festzustellen. Dass die Krise derzeit im Frühjahr 2014 nicht weiter ausgreift und sich im EU-Durchschnitt eine leichte Erholung abzeichnet, ist derzeit vor allem mit der Geldpolitik der EZB, d.h. ihrer Bereitstellung großer Liquidität und niedriger Zinsen, sowie der stabilen Weltkonjunktur zu erklären. Private Investoren haben in der Krise gelernt, dass die Staaten letztlich ihre Risiken übernehmen und die Krisenkosten auf

Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014


Lohnabhängige und Steuerzahler abwälzen. Eine nennenswerte Beteiligung der privaten Finanzmarktakteure an den Krisenkosten hat bislang nicht stattgefunden. Die Flutung der Märkte mit Liquidität hat zwar kurzfristig zur Stabilisierung im Euro-Raum geführt, birgt aber das Risiko zum Aufbau neuer Spekulationsblasen. Angesicht der Lohneinbußen, der eingebrochenen Nachfrage im Euroraum und ausbleibender privater und öffentlicher Investitionen ist damit die nächste Krise vorprogrammiert (böcklerimpuls 2/2014). Insbesondere in Deutschland, das zeigt die Bundestagswahl 2013, hat die Krisendeutung einer selbst verschuldeten Staatsschuldenkrise der betroffenen Länder, bei einer großen Mehrheit der Wähler gegriffen. Die Erzählung, der deutsche Steuerzahler solle nicht mehr für den unproduktiven Südländer aufkommen, dieser müsste sich durch Sparanstrengung vielmehr selbst retten, ist erfolgreich von CDU, FDP und AfD verbreitet worden. Das blendet die (fortdauernden) eigentlichen Krisenursachen und die Vorteile, die die deutsche Volkswirtschaft aus den Krisenländern gezogen hat, völlig aus. Und es versetzt hier wie dort die neoliberalen Eliten in die Lage, weiter angeblich zu hohe Löhne und Steuern, zu umfassende öffentliche Beschäftigung und staatliche Regulierung von Arbeits- und Finanzmärkten als Ursache für ökonomische Probleme zu deuten. Die so gegeneinander in Stellung gebrachten Wählerschaften der verschiedenen europäischen Länder drohen schon bei der nächsten Europawahl im Mai 2014 mit Abwanderung Richtung anti-europäischer Populisten. Die Fliehkräfte in der EU nehmen auch auf Seiten der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten zu, wie etwa

mit der Androhung einer Abstimmung über den EU-Austritt in Großbritannien. Diese Situation lässt die Grundlagen der europäischen Einigung und des europäischen Sozialmodells in dramatischer Art und Weise erodieren. Kurzum: die Investoren und Banken an den Finanzmärkten haben sich von der Krise erholt, die Kosten weitgehend auf Steuerzahler und Arbeitnehmer abgewälzt und bekämpfen die notwendige Regulierung und ihre Kostenbeteiligung auf das Aggressivste. Die Allianz einer neoliberalneoklassisch geprägten Wirtschaftswissenschaft, den Unternehmerverbänden, konservativ-liberalen Parteien, weiten Teilen der EU-Kommission und vielen nationalen Finanz- und Wirtschaftsministerien setzt die europäische Einigung und die sozioökonomische Existenz großer Teile der EU-Bevölkerung aufs Spiel, um die Profite weniger hundert Investoren und Großkonzerne zu sichern. 3. Alternative Krisenantworten und deren Durchsetzung Für die JungsozialistInnen stellt sich die Frage, wie auf diese Gemengelage reagiert werden kann. Zum einen geht es um die inhaltliche Erfassung der Krise und die sich daraus ableitenden Maßnahmen. Zum anderen geht es darum, sich angesichts der Entwicklung des Krisendiskurses seit 2010 um die Vermittlung und Durchsetzung dieser Maßnahmen Gedanken zu machen. Denn selbst das offenkundige Scheitern der Austeritätspolitik in den südlichen Krisenstaaten und die massive Gefährdung der Grundlagen der europäischen Einigung, scheinen keine alternative Krisenbearbeitung anzustoßen.

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Hinsichtlich der inhaltlichen Antwort auf die Krise, die einen nachhaltigen Wachstumspfad unter Berücksichtigung der sozialen und ökologischen Kosten zum Ziel hat, haben progressive Ökonomen wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Vertreter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung oder Globalisierungskritiker von attac zahlreiche Vorschläge gemacht. Im Kern steht für diese die Stärkung der unteren Einkommen sowie der Investitionskraft der öffentlichen Hand vor allem in den Krisenstaaten, aber auch in Deutschland. Die Kosten dafür sollten die Krisenverursacher und -profiteure aufbringen, also die Finanzinvestoren, große Unternehmen und Banken. Auf den Finanzmärkten muss die von der EUKommission 2013 vorgeschlagene Finanztransaktionssteuer zügig umgesetzt werden. Durch eine einmalige umfassende Vermögensabgabe können zusätzlich Einnahmen für die öffentliche Hand zur Bewältigung der Krisenkosten erzielt werden. Mit einer Genehmigungspflicht für JEDES Finanzprodukt und der Sanktionierung von Geschäften mit Schattenbanken und Steueroasen kann der Wildwuchs und das exponenzielle Anwachsen spekulativer Finanzinstrumente zumindest gedämpft werden. Natürlich ist auch sowohl in Deutschland wie auch den Krisenländern eine effektive Steuerverwaltung und die systematische Bekämpfung von Steuerhinterziehung ein wichtiger Baustein, wobei dieser jedoch auf die Krisendynamik an den Finanzmärkten kaum Auswirkungen haben dürfte. Die Finanzmarktregulierung ist aber nur ein wichtiger Schritt hin zu einer alternativen Krisenbewältigung. Für die Attrak-

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tivität einer alternativen Wirtschaftspolitik ist eine positive Perspektive entscheidend: Arbeit, Leistung, technologischer und sozialer Fortschritt müssen zu einer neuen Erzählung zusammengefügt werden. Anreize für und Förderung von Investitionen für die Entwicklung und Verbreitung von ökologisch nachhaltigen Technologien bieten enormes Potenzial für Wachstum und Beschäftigung. Innovationsfähigkeit und Produktivität wird durch die gesetzliche und tarifpolitische Förderung stabiler und gut bezahlter Arbeitsbeziehungen gesichert (böcklerimpuls 11/2013). Eine gerechtere Verteilung der Gewinne würde zur Stärkung der Binnennachfrage im Euroraum führen und die Krisendynamik in den südlichen Ländern stoppen helfen (EuroMemorandum 2014: 2). Die immer stärker auf Wissen aufbauende wirtschaftliche Dynamik moderner Volkswirtschaften verlangt massive öffentliche Investitionen in Bildung und Forschung. Martin Schulz hat dazu schon 2009 die Einführung eines europäischen Sozialpaktes vorgeschlagen, der analog zum Stabilitäts- und Wachstumspakt die Mitgliedstaaten zu einer vergleichbaren prozentualen Höhe der Sozial- und Bildungsausgaben verpflichten würde. Eine Angleichung der Leistungsbilanzungleichgewichte, also eine Stärkung der Importe in den derzeitigen Exportüberschussländern wie Deutschland würde ebenso zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung UND der sozialen Situation in ganz Europa und vor allem in der EuroZone beitragen. Dies lässt sich über eine so genannte Clearing Union erreichen, die die großen Abweichungen in der Handelsbilanz ausgleichen hilft (Dullien 2013: 29; attac 2013: 15).

Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014


Mit Blick auf die politische Durchsetzung solcher Maßnahmen stellt sich die schwierigere Frage: Wie kann ein nachhaltiges Bündnis für eine solche Politik geschmiedet und die entsprechende öffentliche Unterstützung gewonnen werden? Konstantin Vössing analysiert die Stimmungslagen in den verschiedenen europäischen Ländern in einem Artikel in der Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft (Vössing 2013: 33). Er rät dazu, statt einer Umverteilung zwischen Staaten die Umverteilung innerhalb der Staaten in den Mittelpunkt zu stellen. Verschafft man der Logik Raum, dass eben vor allem die Wirtschaftseliten (und nicht die Staaten und die abhängig Beschäftigen) über ihre Verhältnisse gelebt und sich nun der ökonomischen Verantwortung bei Steuerzahlung und Investitionen entzogen haben, kann man dieser sowohl in den Krisenländern als auch in Deutschland folgen. Es geht im Kern darum, die Profiteure der Krise zu identifizieren und politisch anzugreifen. Einen Appell an Solidarität mit den Krisenländern übersetzen in der aktuellen Situation viele Arbeitnehmer und durchschnittliche Steuerzahler mit einer weiteren Belastung für ihr eigenes Portemonnaie. Gelingt es stattdessen, italienische, griechische und spanische Milliardäre von den Sympathiewerten eines Berlusconi, Steuerhinterzieher wie Uli Hoeneß und manipulativ tätige Banken wie die Deutsche Bank in den Mittelpunkt der Kritik zu rücken, die systemischen Ursachen also mit realen Personen und Unternehmen zu verknüpfen und das systemische Versagen damit zu „personalisieren“, könnte eine andere Diskursdynamik entstehen. Ergänzt werden muss diese mit einer positiven Perspektive. Hier sollte neben dringend notwendigen Aufwendungen für

höhere Löhne, vor allem die Investition in Bildung und nachhaltige Technologien und Infrastrukturen im Mittelpunkt stehen. Schlussendlich müssen die JungsozialistInnen auch wieder stärker einen alternativen soziökonomischen Wissenschaftsdiskurs verfolgen und dessen Erkenntnisse für sich nutzen. Vielfach ist in den letzten Jahren selbst unter bislang eher als neoklassisch geprägten Ökonomen wie Prof. Straubhaar oder Prof. Binswanger, dem Doktorvater von Josef Ackermann, die Erkenntnis gereift, dass die neoklassisch erstarrte Wirtschaftswissenschaft wie sie bislang vor allem an europäischen Universitäten gelehrt und angewendet wird, keine brauchbaren Antworten für die Zukunft hat (Binswanger 2013, Straubhaar 2011). Neben der Einbeziehung der Disziplinen der Soziologie, Politikwissenschaft und der Psychologie bedarf es grundsätzlich anderer Annahmen, um ökonomische Prozesse zu analysieren und neue Antworten auf die größte Krise seit 1929 jenseits der neoliberalen Dreifaltigkeit (niedrige Löhne, niedrige Steuern, weniger Staat) zu finden. Der Soziologe Dirk Helbing weist beispielsweise empirisch nach, dass statt des „homo economicus“ (der Mensch optimiert egoistisch seinen eigenen Nutzen) oftmals eher der „homo socialis“ (der Mensch optimiert den Nutzen für die soziale Gruppe, der er angehört) wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse und Dynamiken bestimmt. Ausgehend von dieser grundsätzlichen anderen Sichtweise auf die Entscheidungsdynamik in der Wirtschaft, entwirft er das Konzept der „partizipativen Marktgesellschaft“, die er auch als „socionomics“ beschreibt. Das Konzept ist inspirierend für eine moderne (jung)sozialistische Diskus-

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sion über die Wirtschaft der Zukunft (Helbing 2013: 31). 4. Fazit In der Diskussion um die Bewältigung der europäischen Finanzmarktkrise geht es längst nicht mehr um nur die Wahl der richtigen Maßnahmen zur Regulierung der außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte. Es geht zum einen um eine grundsätzliche Kritik des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der mit den globalen unregulierten Finanzmärkten Strukturen, Prozesse und mächtige Einzelkapitalien erzeugt hat, deren Handeln die produktive Basis und die soziale und politische Ordnung, die seiner eigenen Erhaltung dienen, zu zerstören drohen. Und es geht um realistische Perspektiven für ein neues Wirtschaftsmodell (vgl. Dullien, Herr, Kellermann 2009: 227). Der aktuelle öffentliche und politische Diskurs bewegt sich weiterhin in der geschlossenen Weltsicht neoklassischer Markthörigkeit und blendet die eigentlichen Ursachen der Krise aus. Aber erste Elemente einer darüber hinaus gehenden Logik sind mit der Finanztransaktionssteuer in greifbare Nähe gerückt. Über einzelne Instrumente zur Regulierung der Finanzmärkte und zur Umverteilung hinaus, wird ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel jedoch nur gelingen, wenn auch ein wirtschaftswissenschaftlicher, um nicht zu sagen, politökonomischer Paradigmenwechsel forciert wird. Anzeichen für einen solchen Paradigmenwechsel gibt es.

Europa die Logik der Politik für bestimmte soziale Gruppen (Einkommensschwache, Arbeitnehmer, innovative sozial-ökologische Unternehmer, soziale Entrepreneurs etc.) und gegen bestimmte soziale Gruppen (Finanzinvestoren, Großkonzerne, Banken, Millionärsclans, Steuerhinterzieher) an die Stelle einer Logik von Politiken für oder gegen bestimmte Staaten zu setzen. Solidarität funktioniert nur als Solidarität zwischen Menschen bestimmter Gruppen und nicht zwischen Staaten. Der Auseinandersetzung um die Regulierung der Finanzmärkte kommt dabei eine zentrale Rolle zu, da sich dort die problematischen Folgen von Reichtumsumverteilung und Marktversagen am sichtbarsten und schnellsten zuspitzen. Hilfreich dabei ist das Verständnis von politischen Diskursen und deren Verankerung in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen (Mikfeld, Turowksi 2013: 64ff ). Darauf aufbauend können entsprechende „Narrative“ entwickelt werden, mit denen die oben nur angedeuteten Allianzen gesellschaftlicher Gruppen anzusprechen und zu mobilisieren sind. Es gilt, den neoliberalen Gegenangriff abzuwehren und die verschiedenen Ansätze für ein progressives Wirtschaftsmodell endlich zu einem neuen Fortschrittsprojekt des sozialen Wachstums (Dauderstädt 2012: 42) zu verknüpfen. Hier sind Ideen, Erfahrungen und Vorschläge der JungsozialistInnen dringend gefragt. l

Schlussendlich kommt es aber vor allem darauf an, in der aktuellen Diskursauseinandersetzung um die Krisendeutung in

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Quellen:

Joseph Stiglitz: „Der Preis der Ungleichheit“, München 2012.

Attac – Bundes-AG Finanzmärkte und Steuern: „Vorschläge zur Neuregulierung der Finanzmärkte – zweite aktualisierte Fassung“, Juni 2013.

Thomas Straubhaar: „Der große Irrtum“ in Financial Times Deutschland vom 09.10.2011.

Stefan Beck, Christoph Scherrer: „Die Finanzialisierungslücke der Varieties of Capitalism“, prokla 172, Münster 2013.

Jan Turowski, Benjamin Mikfeld: „Gesellschaftlicher Wandel und politische Diskurse“, Werkbericht Nr. 3 denkwerk demokratie, Berlin 2013.

Christoph Binswanger: „Wachstum braucht Geld, Energie und Imagination“, in FAZ vom 09.01.2013, Frankfurt 2013.

Konstantin Vössing: „Sozialdemokratie und Europäische Integration“ in spw Nr. 199, Dortmund 2013.

Böcklerimpuls 8/2013: „Gemeinsame Währung braucht Fiskalunion“, nach Hubert Gabrisch, Düsseldorf 2013. Böcklerimpuls 11/2013: „Das alte Europa punktet bei Produktivität“, nach Alfred Kleinknecht, Düsseldorf 2013. Böcklerimpuls 2/2014: „Im Strudel der Deregulierung“, nach Stephan Schulmeister, Düsseldorf 2014. Klaus Busch, Christoph Hermann, Karl Hinrichs, Thorsten Schulten: „Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell“, FriedrichEbert-Stiftung – Internationale Politikanalyse, Berlin 2012. Dr. Michael Dauderstädt: „Soziales Wachstum“, in Argumente 3/2012; Berlin 2012 Dullien, Herr, Kellermann: „Der gute Kapitalismus, Kapitel 4.2. Globale Finanzen brauchen globales Management“, transcript Verlag, Berlin 2009. Euromemorandum 2014: „Europa spaltet sich. Die Notwendigkeit für radikale Alternativen zur gegenwärtigen EU-Politik“, EuroMemo Gruppe 2014. Dirk Helbing: „Economics 2.0: The natural Step towards a self-regulating, participatory market society“, Institute for New Economic Thinking, Research Note #032, New York 2013. Fabian Lindner: „Banken treiben Eurokrise“, IMK Report 82, Düsseldorf 2013 Thomas Lux: „Effizienz und Stabilität von Finanzmärkten: Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel?“, Wirtschaftsdienst 2013, Sonderheft 93. Jahrgang, Hamburg 2013.

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„RIGHT2WATER“ – EINE ERFRISCHUNG FÜR DIE EUROPÄISCHE DASEINSVORSORGE! von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Kandidatin der SPD für die Europawahl

Es ist wohl kein Zufall, dass die Europäische Bürgerinitiative (EBI) „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht“ als eine der ersten Bürgerinitiativen den Zugang zu einem öffentlichen Gut behandelte. Sie diente wohl auch als ein Ventil für das aufgestaute Bedürfnis von Bürgerinnen und Bürgern, sich dem steigenden Liberalisierungsdruck bei der Daseinsvorsorge entgegenzustellen. Man kann den Initiator/innen und Unterzeichner/innen der EBI „right2water“ für den Einsatz eines direktdemokratischen Instruments für den Aufbau eines sozialen Europas nur danken. Die bereits verbuchten Erfolge dieser EBI haben unter Beweis gestellt, dass ein Bedürfnis besteht, die öffentliche Daseinsvorsorge vor Wettbewerbsfanatikern besser zu schützen – ein klarer Auftrag für die europäische Sozialdemokratie auch nach der Europawahl.

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Wie die EBI für das öffentliche Gut Wasser einen Damm gebrochen hat Die EBI „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht!“ (die häufig verwendete Kurzform „right2water“ entspringt dem Homepagenamen „www.right2water.eu“) wurde im April 2012 von einem Zusammenschluss europäischer Gewerkschaften bei der EUKommission eingereicht. Im Mai 2013 hatte man nach guter Öffentlichkeitsarbeit europaweit über 1,5 Millionen Unterschriften gesammelt und in acht EU-Ländern (Belgien, Deutschland, Finnland, Litauen, Luxemburg, Österreich, Slowenien und in der Slowakei) das notwendige Mindestquorum erreicht. Schließlich hatte die EBI bereits im September 2013 vor Fristablauf fast 1,9 Millionen Unterschriften. Die Initiative orientierte sich an der UN-Resolution 64/292 aus dem Jahr 2010,

„Right2water“ – eine Erfrischung für die europäische Daseinsvorsorge! Argumente 1/2014


welche die Trinkwasser- und Sanitärversorgung als Menschenrecht definiert. Die Initiator/innen der EBI verwiesen berechtigterweise darauf, dass bei Wasser keine Liberalisierungspolitik wie bei Handelswaren, sondern der Grundsatz der Daseinsvorsorge gelten sollte. Sie forderten erstens eine Garantie von der EU und den Mitgliedstaaten auf das Recht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung. Zweitens sprachen sie sich gegen die Unterwerfung der Versorgung mit Trinkwasser und der Bewirtschaftung der Wasserressourcen unter die Binnenmarktregeln aus und wandten sich gegen eine Liberalisierung der Wasserwirtschaft. Schließlich forderten sie verstärkte Initiativen von der EU, um einen universellen Zugang zu Wasser und sanitärer Grundversorgung zu erreichen. Warum setzte sich die Bürgerinitiative für einen Rechtsakt ein, der die erwähnte UN-Resolution respektiert sowie „eine funktionierende Wasser- und Abwasserwirtschaft als existenzsichernde öffentliche Dienstleistung für alle Menschen fördert“? Es ging um Gesetzesvorschläge der EU, die auf eine Einschränkung der öffentlichen Daseinsvorsorge hinausliefen. Die Reformpläne der Kommission behandelten Dienstleistungskonzessionen, die dazu dienen, kommunale Aufgaben von der Kommune auf einen Dritten zu übertragen. Diese waren bis dahin von spezifischen EU-Regelungen ausgeschlossen; ab 2010 lag aber der Kommissionsvorschlag (KOM(2010) 608) auf dem Tisch, der für Dienstleistungskonzessionen eine Pflicht zur Ausschreibung einführen würde. Die Wasserversorgung sollte nach ersten Kompromissvorschlägen zunächst lediglich bis 2020 und nur bei hundertprozentigen Besitzverhältnissen der öffentlichen Hand

ausgenommen werden. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bundestag und im Europäischen Parlament, auch der gesamte Bundesrat, sprachen sich jedoch gegen solch weitreichende Pläne aus. Vor dem Hintergrund dieses Kampfes um die Wahrung der Daseinsvorsorge bei Wasser und Abwasserdiensten war die EBI nicht nur hilfreich, sondern schließlich überaus erfolgreich. Die Europäische Kommission fühlte sich veranlasst, aufgrund des großen öffentlichen Drucks die öffentliche Wasserversorgung aus der Konzessionsrichtlinie ganz herauszunehmen. Evelyne Gebhardt (SPD), Sprecherin der S&D-Fraktion für Binnenmarkt und Verbraucherschutz im Europäischen Parlament, meinte hierzu: „Der Widerstand von Sozialdemokraten im Europäischen Parlament und von Bürgerbewegungen, wie der Europäischen Bürgerinitiative ,right2water‘, hat auch bei der Europäischen Kommission zur Erkenntnis geführt, dass der bisherige Vorschlag politisch nicht akzeptabel war.“ Der Schulterschluss zwischen Zivilgesellschaft und den Sozialdemokraten erwies sich also mehr als zielführend, um ein öffentliches Gut und Menschenrecht zu schützen. Das passte bestens zum allgemeinen Anspruch des seit 2012 existierenden, neuartigen Instruments der Europäischen Bürgerinitiative, das es der Zivilgesellschaft ermöglichen soll, das europäische Projekt selbst in die Hand zu nehmen (dazu auch meine Rede „Kurze Geschichte und Genese der Europäischen Bürgerinitiative“ in „EU-in-BRIEF“, Ausgabe 12-3 in 2012, Europäische Bewegung Deutschland).

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Durch die am 17. Februar 2014 durchgeführte öffentliche Anhörung zur EBI „right2water“ im Europäischen Parlament, erhielt die breite öffentliche Diskussion rund um das Thema weitere Impulse. Die EU-Kommission veröffentlichte am 19. März (Pressemitteilung der Kommission vom 19.3.2014; IP-12-277) ihre Stellungnahme, aus der hervorgeht, dass sie die Anliegen der EBI ernst nimmt. Sie kündigte verschiedene konkrete Maßnahmen an, wo ihres Erachtens auf EU- und auf nationaler Ebene Handlungs- bzw. Verbesserungsbedarf besteht. U. a. versprach sie, auch bei internationalen Handelsverhandlungen sicherzustellen, dass die auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene getroffenen Entscheidungen über die Verwaltung von Wasserdienstleistungen respektiert und gesichert werden. Es ist erfreulich, dass das Thema daher auch in den kommenden Jahren im Fokus der öffentlichen politischen Debatte bleiben wird. Öffentliche Daseinsvorsorge im rechtlichen Spannungsfeld Mit dem in Deutschland gebräuchlichen Begriff der „(öffentlichen) Daseinsvorsorge“ ist gemeint, dass der Staat für seine Bürgerinnen und Bürger die Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern bzw. Leistungen gewährleisten soll. Ganz allgemein werden darunter Leistungen verstanden, die im Interesse der Allgemeinheit liegen, wie etwa die Belieferung mit Strom, Gas oder Wasser. Die europäischen Verträge kennen den Begriff der Daseinsvorsorge nicht. Hier ist vielmehr von „Diensten bzw. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ die Rede. Im Vertrag von Lissa-

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bon wird die besondere Bedeutung der sog. „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ in Art. 14 AEUV und in Protokoll Nr. 26 unterstrichen. Es besteht eine gemischte Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Auch wird durch die Protokollbestimmung den nationalen, regionalen und lokalen Behörden ein weiter Ermessensspielraum zugestanden. Dennoch, das rechtliche Spannungsfeld mit den EU-Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes und dem Vergabe- und Beihilferecht ist nach wie vor gegeben, und die Auseinandersetzungen um die Richtlinie zur Konzessionsvergabe zeigten, dass Leistungen der Daseinsvorsorge unter Verweis auf Wettbewerbsfragen auch künftig unter Druck geraten können. Vor diesem Hintergrund bleibt es für uns eine wichtige politische Aufgabe, den Schutz der öffentlichen kommunalen Daseinsvorsorge genau im Auge zu behalten. Die Gefahren der schnellen Privatisierung zu Gunsten von einmaligen Finanzspritzen lauern europaweit und entfalten längerfristig oft verheerende Wirkung. Einige der Daseinsvorsorge ehemals zugerechneten Dienste wurden in der Vergangenheit bereits mit Zustimmung der Mitgliedstaaten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zumindest in Teilen liberalisiert, dazu gehört der Telekommunikations-, Verkehrs-, Post- und Strom- bzw. Energiebereich. So manche Kommune hat inzwischen bedauert, voreilig gehandelt zu haben – und ruderte im Nachhinein wieder zur öffentlichen Daseinsvorsorge zurück. Es ist an uns mitzubestimmen, wie die Daseinsvorsorge in der EU künftig aufgestellt ist!

„Right2water“ – eine Erfrischung für die europäische Daseinsvorsorge! Argumente 1/2014


Europäische Fragen der Daseinsvorsorge sind heute aktueller denn je. Jede EUBürgerin und jeder EU-Bürger ist davon betroffen. So, wenn beispielsweise sichergestellt werden muss, dass kommunale Dienstleistungen nicht in die laufenden Verhandlungen zum europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommen („TTIP“) einbezogen werden. Die SPD-Gruppe im Europäischen Parlament konnte zudem erst kürzlich vermelden, dass im Zuge der Revision der Vergaberichtlinie auch die Rettungsdienste europaweit nicht dem Privatisierungszwang ausgesetzt sein werden – ein weiterer Erfolg auf dem Weg zu einer stärkeren Daseinsvorsorge und einem sozialeren Europa, an dessen Fundament wir weiterbauen müssen.

schen der Zivilgesellschaft und kommunalen Unternehmen und Verbänden aufzubauen, das für die Wahrung der öffentlichen Daseinsvorsorge in Europa aktiv wird. Die EBI zum Recht auf Wasser trug ihrerseits erfolgreich dazu bei, indem sie durch den Aufbau zivilgesellschaftlichen öffentlichen Drucks die sozialdemokratischen politischen Kräfte stärkte und mit verhinderte, dass die Bereitstellung von Wasserdienstleistungen aus der Richtlinie der Konzessionsvergabe herausgenommen wurde. Ich hoffe daher, dass weitere solche Bürgerinitiativen folgen! l

Die SPD hat sich ebenso auf Bundesebene dafür stark gemacht, im Koalitionsvertrag mit der Union eine Klausel zu verankern, nach der die Daseinsvorsorge in Europa geschützt und dem Wettbewerbsprinzip des EU-Binnenmarktes zugunsten des öffentlichen Gemeinwohls Schranken gesetzt werden sollen: „Wir werden jeder weiteren Einschränkung der Daseinsvorsorge durch EU-Politiken offensiv entgegentreten. Nationale, regionale und lokale Besonderheiten in der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen durch europäische Politik nicht ausgehebelt werden.“ Die EU soll auch nach dem Willen unseres gemeinsamen sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Martin Schulz noch näher an die Bedürfnisse von EU-Bürgerinnen und -Bürger rücken. Eine konsequente Anerkennung der öffentlichen Daseinsvorsorge würde hierfür einen wichtigen Beitrag leisten. Wichtig wäre zudem, ein europaweites Bündnis zwi-

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BEKÄMPFUNG VON STEUERHINTERZIEHUNG UND STEUERVERMEIDUNG von Lothar Binding, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion

Der Preis für eine zivilisierte Gesellschaft „Steuern sind der Preis, den wir für eine zivilisierte Gesellschaft zahlen“ äußerte 1870 Oliver Wendell Holmes im Juso-Alter von 29 Jahren, ab 1902 Richter am obersten US-Bundesgericht. Diese Einsicht scheint bei einigen derjenigen, die sich Elite nennen und bei vielen international tätigen Unternehmen verloren gegangen zu sein. Bürger entziehen sich ihrer Steuerpflicht vor allem, indem sie ihre Gelder in Staaten mit einem strikten Bankgeheimnis parken und indem sie Stiftungskonstruktionen nutzen, die den wahren Eigentümer im Dunkeln lassen. Der Umfang der Steuerhinterziehung, d.h. der rechtswidrigen Entziehung vor der Steuerpflicht, lässt sich nur vage schätzen. Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt die Steuerhinterziehung in Deutschland auf rd.

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50 Mrd. Euro pro Jahr. Bei international tätigen Unternehmen lassen sich immer komplexere Strategien zur Steuervermeidung feststellen, durch die Gewinne in Niedrigsteuerländer verlagert werden. Im Unterschied zur Steuerhinterziehung handelt es sich bei der Steuervermeidung um eine missbräuchliche, aber formal legale Ausnutzung von Lücken im Steuersystem. Dieses Verhalten rechtfertigt sich aus der Annahme, es sei alles erlaubt, was nicht verboten ist. Wäre diese Annahme jedoch richtig, könnte es keine zivilisierte Gesellschaft geben. Das Ausmaß illegaler Steuerhinterziehung und formal legaler Steuervermeidung gefährdet die Handlungsfähigkeit des Staates. Wichtige öffentliche Leistungen wie Bildung, Infrastruktur, die sozialen Sicherungssysteme aber auch die öffentliche Sicherheit, können auf Dauer nur erbracht werden, wenn alle Bürger und Unterneh-

Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014


men entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Finanzierung des Staates beitragen. Wer Steuern hinterzieht, lebt somit auf Kosten seiner Mitbürger. Ein vom Staat geduldeter Steuerbetrug verletzt das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen und untergräbt die Akzeptanz des Steuersystems. Steuerbetrug ist gelebte Ungerechtigkeit. In den letzten Jahren sind Steuerhinterziehung und Steuervermeidung wieder stärker ins Visier geraten. Den ersten Versuch, eine Brücke in die Steuerehrlichkeit zu bauen, unternahm Hans Eichel. Reumütige Steuerhinterzieher, die Geld in Steueroasen transferiert hatten, konnten zwischen dem 1. Januar 2004 und 31. März 2005 straffrei und sogar zu günstigen Konditionen das Geld repatriieren, also nach Deutschland zurückholen und hier künftig legal versteuern. Das Ergebnis dieser Ehrlichkeitsoffensive war niederschmetternd. Der Beweis war erbracht: Mit sanften Mitteln würden sich die Betrüger nicht überzeugen lassen, wieder steuerehrlich zu werden. Deshalb müssen wir auch kein Mitleid haben, wenn sich Zehntausende trotz Selbstanzeige heute schlechter stellen oder ohne Selbstanzeige mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen – sie haben die damalige Chance nicht nutzen wollen. Die im Zusammenhang mit dem Ankauf von Steuer-CDs bekannt gewordenen Fälle von Steuerhinterziehung Prominenter haben eine breite öffentliche Debatte über Steuerhinterziehung ausgelöst. Durch das Rechercheprojekt „Offshore Leaks“ des International Consortium of Investigative Journalists wurde ein bisher kaum vorstellbares Ausmaß an Steuerhinterziehung aufgedeckt.

Bekämpfung der Steuerhinterziehung Die SPD tritt schon lange für eine effektivere Bekämpfung von Steuerhinterziehung ein. In einer Zeit, in der aus schwarz-gelber Richtung bevorzugt der „Sozialschmarotzer“, der „Sozialhilfe-Betrüger“ thematisiert und Steuerhinterziehung eher als Kavaliersdelikt angesehen wurde, hat sich die SPD-Fraktion darum gekümmert, die nationalen Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten der Finanzverwaltung zu erweitern. Noch vor wenigen Wochen wurde in der CDU- Arbeitsgruppe Finanzen von „Jugendsünde“ gesprochen – aber Steuerhinterziehung ist nichts für den Beichtstuhl, Steuerhinterziehung ist eine Straftat. Durch die Einführung des Kontenabrufs wurde das Bankgeheimnis in Deutschland praktisch geknackt. CDU/CSU und FDP hatten Tränen in den Augen beim wehmütigen Blick in die Schweiz, die ihr Bankgeheimnis damals mit Zähnen und Klauen verteidigte. Seit 2005 kann das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) Anfragen für die Finanzbehörden und andere Behörden durchführen, wenn ein Steuerpflichtiger keine hinreichenden Angaben über seine Einkommensverhältnisse geben kann oder will. Bei Verdacht auf bandenmäßige Umsatz- und Verbrauchsteuerhinterziehung wurde die Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung eingeführt. Die Verjährungsfristen für die Verfolgung besonders schwerer Steuerhinterziehungsfälle wurden verlängert. Steuerhinterziehung erfolgt aber vor allem durch Flucht in ausländische Steueroasen. Für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist deshalb vor allem die Durchsetzung eines wirksamen, d.h. auto-

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matischen internationalen Informationsaustausches über die von Steuerpflichtigen im Ausland gehaltenen Vermögen und erzielten Einkünfte entscheidend.

einschließlich der Schweiz, Luxemburg und Österreich haben mittlerweile bilaterale Abkommen mit den USA über die Umsetzung von FATCA abgeschlossen.

Die Durchsetzung eines automatischen internationalen Informationsaustausches scheiterte bisher am Widerstand der Steueroasen. Innerhalb der Europäischen Union soll ein solcher Informationsaustausch durch die EU-Zinsrichtlinie und die EUAmtshilferichtlinie schrittweise eingeführt werden. Echte Fortschritte wurden aber bisher vor allem durch Luxemburg und Österreich blockiert. Eine Revision der EU-Zinsrichtlinie, die eine Ausweitung ihres Anwendungsbereichs auf sämtliche Zinseinnahmen und eine Verminderung der Abschirmwirkung zwischengeschalteter Stiftungskonstruktionen vorsieht, wird von beiden Ländern mit dem Verweis auf die fehlende Einbindung von Drittländern abgelehnt. Umgekehrt nehmen Drittländer wie die Schweiz, Liechtenstein, San Marino, Monaco und Andorra diese beiden EU-Länder als Vorwand, um sich einem automatischen Informationsaustausch zu entziehen.

Einen weiteren Durchbruch stellt der neue globale OECD-Standard für einen automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der Staaten dar, den die Finanzminister der G20 auf ihrem Treffen in Sydney begrüßten. Nach diesem Standard sollen alle Arten von Kapitalerträgen wie auch Kontostände und Verkaufserlöse aus Finanzgeschäften ausgetauscht werden. Betroffen sind natürliche und juristische Personen, auch Einzelunternehmen. An einer Zielsetzung, dass auch bei Stiftungen bzw. Trusts der wirtschaftlich Berechtigte identifiziert werden muss, ist zu erkennen, welche enorme Aufgabe dabei angepackt wird.

Den USA ist es allerdings gelungen, mit ihrem „Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA) eine Bresche für den automatischen Informationsaustausch zu schlagen. Mit dem Gesetz wird das USSteuer-Reporting von ausländischen Finanzinstituten deutlich verschärft. Um einem Quellensteuerabzug von 30 Prozent auf alle US-Einnahmen zu entgehen, müssen sich die Finanzinstitute gegenüber der US-Steuerverwaltung zu einer umfangreichen Berichterstattung über Auslandskonten und Auslandserträge von US-Bürgern verpflichten. Die europäischen Staaten,

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Nachdem sich die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen im September auf diesen OECD Standard verständigt haben, muss er in nationales Recht umgesetzt werden. Im Falle der Europäischen Union wird dies durch eine Anpassung der EU-Amtshilferichtlinie geschehen. Damit dürfte der Widerstand von Luxemburg und Österreich gegen einen automatischen Informationsaustausch endgültig überwunden werden. CDU/CSU/FDP – den Rechtsstaat auf den Kopf gestellt Aber auch bei Union und FDP mangelte es in der Vergangenheit am Willen, sich für eine konsequente Verfolgung grenzüberschreitender Steuerhinterziehung einzusetzen. Dies wurde im Streit um die Steuer-CDs und bei den Verhandlun-

Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014


gen über das Steuerabkommen mit der Schweiz besonders deutlich. Vertreter von Union und FDP versuchten, den Ankauf von Steuer-CDs als Hehlerei hinzustellen. Damit wurde der Rechtsstaat auf den Kopf gestellt. Finanzbeamte wurden kriminalisiert, während die Steuerhinterzieher ungeschoren davon kommen sollten. Die Diffamierungen endeten erst, als das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des Ankaufs von Steuer-CDs bestätigte. Auch bei den Verhandlungen über ein Steuerabkommen mit der Schweiz hätten Union und FDP auf eine lückenlose Aufdeckung von Steuerhinterziehung verzichtet. Die Täter wären straffrei und anonym geblieben. Der Steuerbetrug über Schweizer Banken wäre auch nach Abschluss des Abkommens nicht durchgängig beendet worden. Die SPD lehnte das löchrige Steuerabkommen mit der Schweiz konsequent ab und stoppte es mit der rot-grünen Ländermehrheit im Bundesrat.

wir aber weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Diese zusätzlichen Maßnahmen wurden bereits im Bundestagswahlkampf im Rahmen der „Braunschweiger Erklärung für mehr Steuergerechtigkeit“ aufgezeigt. Von zentraler Bedeutung ist vor allem der Aufbau einer bundesweiten Steuerfahndung, die für die Ermittlungen in Fällen grenzüberschreitender Steuerkriminalität zuständig ist. Sie soll außerdem die Finanzbehörden der Länder bei der Aufdeckung und Verhinderung von Steuerstraftaten unterstützen. Notwendig ist auch ein bundesweit gleichmäßigeres Vorgehen der Finanzbehörden gegen Steuerhinterziehung. Die Länder müssen insbesondere die Betriebsprüfung, die Steuerfahndung, die Bußgeld- und Strafsachenstellen und die Staatsanwaltschaften mit mehr Personal ausstatten. Außerdem sollten einheitliche bundesweite Standards bei der Steuererhebung mit den Bundesländern vereinbart werden.

Gestützt auf die öffentliche Diskussion in Deutschland und die internationalen Debatten rund um von der OECD vorgeschlagene Maßnahmen gegen Steuergestaltung, gelang es der SPD-Delegation in den Koalitionsverhandlungen, dass die Große Koalition im Unterschied zum schwarz-gelben Vorgänger entschlossen gegen Steuerhinterziehung vorgehen wird. Im Koalitionsvertrag haben SPD und Union vereinbart, dass sie für einen automatischen steuerlichen Informationsaustausch als internationalem Standards eintreten.

Der Anwendungsbereich der EUZinsrichtlinie soll auf alle Kapitaleinkünfte und alle natürlichen und juristischen Personen ausgedehnt werden. Der Umsatzsteuerbetrug soll durch den gezielten Einsatz verschiedener Instrumente eingedämmt werden. Durch Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) soll künftig vor allem eine doppelte Nichtbesteuerung verhindert werden. Die Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige sollen verschärft werden. Wie vorsichtig, ja ängstlich mit solchen Vorschlägen noch immer umgegangen wird, ist daran zu erkennen, dass im Koalitionsvertrag nur eine „Weiterentwicklung“ statt einer „Verschärfung“ formuliert wurde. Ein Kompromiss eben. Dabei soll unter anderem der Offenbarungszeitraum für den Steuerpflichtigen auf

SPD für Steuergerechtigkeit – Sisyphos war ein glücklicher Mensch Über die vage Kompromissformulierung im Koalitionsvertrag hinaus brauchen

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zehn Jahre verlängert werden. Schließlich sollten die Verjährungsfristen für Steuerbetrug weiter verschärft werden. Verstöße gegen das Steuerrecht sollen künftig nicht mehr spätestens nach zehn Jahren verjähren, sondern zumindest die Laufzeit verdächtiger Finanzkonstrukte abdecken. Bei der strafbefreienden Selbstanzeige muss die Schwelle für schwere Steuerhinterziehung abgesenkt und die in diesen Fällen zu entrichtenden zusätzlichen Zuschläge (Strafen) erhöht werden. Bei systematischen Verstößen von Banken gegen das Steuerrecht sollen aufsichtsrechtliche Sanktionen bis hin zum Lizenzentzug verhängt werden. Bekämpfung der Steuervermeidung internationaler Konzerne Außer der Steuerhinterziehung gehen den Staaten durch die Steuervermeidung internationaler Konzerne umfangreiche Steuereinnahmen verloren. Internationale Konzerne weisen in vielen Fällen trotz hoher Gewinne nur niedrige Steuerquoten aus. Dies gilt speziell für die ausländischen Einkünfte von US-Konzernen. Die Hauptursache für die Möglichkeit zur Steuervermeidung liegt darin, dass die nationalen Steuersysteme mit der wirtschaftlichen Globalisierung nicht Schritt gehalten haben. So bieten die unabgestimmten nationalen Besteuerungsregime den international tätigen Konzernen eine Vielzahl von Angriffspunkten für Steuergestaltungen. Außerdem berücksichtigen traditionelle steuerliche Regelungen weder die gestiegene Bedeutung des geistigen Eigentums noch den eCommerce im Internet für die Wertschöpfung in der gebotenen

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Weise. Daneben unterstützt der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten die Steuerumgehung internationaler Konzerne. Schädliche Steuerpraktiken sind dabei durch niedrige effektive Steuersätze, die Privilegierung ausländischer Einkünfte, fehlende Transparenz und mangelnden grenzüberschreitenden Informationsaustausch gekennzeichnet. Schädliche Steuerpraktiken finden wir u. a. in den Niederlanden, Luxemburg und Großbritannien. Als Beispiel möchte ich Patent- und Lizenzboxen nennen. Damit wird eine weitgehende Steuerverschonung für Lizenzeinnahmen vorgesehen und der grenzüberschreitenden Gewinnverlagerung Vorschub geleistet. Die Unternehmen wenden ausgeklügelte Strategien zur Steuervermeidung an. Gewinne werden durch überhöhte Fremdkapitalaufwendungen und unangemessene konzerninterne Verrechnungspreise aus dem Quellenstaat in Steueroasen mit vorteilhaften Steuersystemen abgesaugt. Eine andere Vorgehensweise besteht in der Umgehung des Betriebsstättenstatus, um auf diese Weise die Steuerpflicht in einem Staat ganz oder teilweise zu vermeiden. Es werden außerdem Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehreren nationalen Steuersystemen ausgenutzt, um die Steuerschuld zu senken. Diese Strategien zielen auf einen doppelten Abzug ein und derselben Aufwendung in verschiedenen Staaten. Sie können aber auch auf einer doppelten Nichtbesteuerung beruhen, bei der Einkünfte weder im Quellen- noch im Ansässigkeitsstaat des Unternehmens besteuert werden. Die SPD und die SPD-Bundestagsfraktion haben in der Vergangenheit bereits verschiedene nationale Maßnahmen

Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014


gegen diese grenzüberschreitende Steuervermeidungsstrategien der Konzerne vorgeschlagen und ergriffen. Im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 2008 wurde die sogenannte Zinsschranke eingeführt, die den Abzug überhöhter Zinsaufwendungen beschränkte. Um nicht marktgerechte Verrechnungspreise leichter korrigieren zu können, wurde der Fremdvergleichsgrundsatz (Dealing-at-Arm'sLength-Grundsatz) im deutschen Außensteuergesetz präzisiert. Steuerpflichtigen, die Geschäftsbeziehungen zu nicht kooperativen Steueroasen unterhalten, wurden erhöhte Mitwirkungs- und Informationspflichten gegenüber der deutschen Steuerverwaltung auferlegt. In jüngerer Zeit wurden Maßnahmen zur sogenannten korrespondierenden Besteuerung eingeführt. Eine Steuerbefreiung von Dividenden wird danach von Deutschland nur gewährt, wenn diese bei der leistenden Körperschaft im Ausland nicht als Betriebsausgaben abziehbar sind. Alle diese unilateralen Maßnahmen haben aber nur eine beschränkte Wirksamkeit. Einzelne Maßnahmen wurden von der schwarz-gelben Koalition im so genannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz verwässert – beispielsweise die Funktionsverlagerung oder der Mantelkauf. So müssen die nationalen Instrumente gegen Steuergestaltung erneut geschärft und den grenzüberschreitenden Steuervermeidungsstrategien der Konzerne mit international abgestimmten Ansätzen begegnet werden. Internationale Unterstützung durch die OECD und die Europäische Kommission Angesichts der zunehmenden Aggressivität bei Steuergestaltungen internationaler Konzerne haben sich die Industriestaa-

ten erstmals zu einem abgestimmten Vorgehen verabredet. Die Europäische Kommission hat im Dezember 2012 einen „Aktionsplan zur Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“ vorgelegt. Darin schlägt sie konkrete Schritte zur Verstärkung der Zusammenarbeit der Finanzbehörden und bezüglich des Umgangs mit Steueroasen und aggressiver Steuerplanung vor. Der Aktionsplan bezieht auch die Initiativen der G20 und der OECD mit ein und unterstützt diese aktiv. Die OECD hat im Februar 2013 den Bericht „Adressing Base Erosion and Profit-Shifting“ (BEPS) zum Umfang und zur Funktionsweise der aggressiven Steuerplanung veröffentlicht. Auf der Grundlage dieses Berichts wurde auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der G20 in Moskau am 19./20. Juli 2013 ein Aktionsplan mit 15 Maßnahmen verabschiedet. Mit dem Aktionsplan verfolgt die OECD vor allem das Ziel, die Konsistenz bei der Unternehmensbesteuerung auf internationaler Ebene sicherzustellen. Die Besteuerung der Einkünfte und die wirtschaftliche Substanz, die der Entstehung der Einkünfte zugrunde liegt, sollen miteinander in Einklang gebracht werden. Außerdem soll die Transparenz hinsichtlich der Aktivitäten internationaler Unternehmen verbessert und damit den nationalen Finanzbehörden die Aufdeckung aggressiver Steuergestaltungen ermöglicht werden. Die 15 Vorschläge der OECD lassen sich in fünf Maßnahmenpakete gliedern: 1. Besteuerung der digitalen Wirtschaft,

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2. Bekämpfung der aggressiven Steuergestaltung, 3. Überarbeitung der OECD-Verrechnungspreisrichtlinie, 4. Verbesserung der Transparenz und 5. Verbesserung der Konfliktlösungsmechanismen bei abkommensrechtlichen Streitigkeiten zwischen den Staaten. Die Maßnahmen des Aktionsplans sollen möglichst schnell ausgearbeitet und umgesetzt werden. Die OECD hat deshalb für jede Maßnahme eine Frist gesetzt, die zwischen September und Dezember 2015 liegt. Im Koalitionsvertrag wird der Kampf gegen grenzüberschreitende Gewinnverlagerungen internationaler Unternehmen und gegen den schädlichen Steuerwettbewerb als zentrale steuerpolitische Aufgabe herausgestellt. Die BEPS-Initiative der OECD wird ausdrücklich unterstützt. Der Aktionsplan der OECD ist die erste umfassende multilaterale Initiative zur Bekämpfung der Steuervermeidung internationaler Konzerne. Allerdings greifen die Maßnahmen des Aktionsplans zu kurz. Die Maßnahmen des Aktionsplans beziehen sich zum großen Teil auf die Abgrenzung der Besteuerungsrechte zwischen den Staaten. Es bleibt noch viel zu tun Langfristig kann schädlichem Steuerwettbewerb nur durch die Festlegung einer einheitlichen Gewinnermittlung bzw. Bemessungsgrundlage und der Vereinbarung von Mindeststeuersätzen bei der Körperschaftsteuer begegnet werden. Entscheidend für die Eindämmung des schädlichen

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Steuerwettbewerbs ist vor allem die Beseitigung von steuerlichen Präferenzregelungen für bestimmte Einkünfte oder Gewinne, z. B. die erwähnten Zins- und Lizenzboxen. Sollte eine allgemeine Ächtung dieser Präferenzregelungen nicht gelingen, wäre vor allem die Ablösung der alten Strategien zur Steuervermeidung durch neue Gestaltungen zu befürchten. Wie bei allen internationalen Initiativen werden die beteiligten Staaten auch beim Aktionsplan BEPS eigene Interessen verfolgen. Echte Fortschritte im Kampf gegen die Steuervermeidung lassen sich aber nur erzielen, wenn sich die Verhandlungspartner auf Lösungen einigen, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgehen. Angesichts dieser Gefahr sieht der Koalitionsvertrag vor, dass weitergehende nationale Maßnahmen ergriffen werden, falls sich unsere Ziele im Rahmen des Aktionsplans bis Ende 2015 nicht realisieren lassen. Der Bekämpfung der Steuervermeidung, insbesondere auch der von internationalen Konzernen wollen wir oberste Priorität einräumen. Ich bin sehr gespannt, wie weit wir damit in der Großen Koalition kommen werden. In jüngster Zeit nehmen wir den inflationären Gebrauch der Worte „Kultur“ und „Kulturwandel“ wahr. Selbst aus der Schweiz bzw. aus Schweizer Banken, aber auch international und in der deutschen Bankenlandschaft hören wir, dass eine neue Kultur helfen soll, „weiße Einkünfte“ zu vermeiden. Mit den über Jahrzehnte gemachten Erfahrungen ist es sicher klug, zu beobachten, wie ernst solche Ankündigungen gemeint sind.

Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014


Aber noch wichtiger ist ein gesellschaftlicher Kulturwandel. Bisher scheint erlaubt, was nicht verboten ist. Deshalb sind jenseits von Regulierung, Verordnung, Abkommen und Gesetz ethische Grundsätze und Maßstäbe für gesellschaftsdienliches Verhalten von viel größerer Bedeutung – und verdienen einen eigenen Aufsatz. l

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FRAUEN IN EUROPA – EIN EUROPA FÜR FRAUEN? von Constanze Krehl, stellv. Vorsitzende der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament

Vor 95 Jahren sprach Marie Juchacz, Sozialdemokratin und Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, vor dem deutschen Reichstag. Sie war damit die erste Frau, die eine Rede vor einem deutschen Parlament halten sollte. Überhaupt erst kurz zuvor hatten mutige Genossinnen das aktive und passive Frauenwahlrecht in Deutschland erstritten. Marie Juchacz sagte in ihrer ersten Rede vor dem Reichstag, dass sie es als eine Selbstverständlichkeit betrachte, dass „die Frau als gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin neben dem Manne stehen wird“. Es sollte in vielen Teilen Europas jedoch noch Jahrzehnte dauern, bis die aktive Beteiligung von Frauen am politischen, ja gesellschaftlichen Geschehen zu einer Selbstverständlichkeit wurde.

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Noch bis weit in die 60er und 70er Jahre hinein waren Frauen vor allem auf die Sphäre des Haushalts beschränkt; die gesellschaftlichen Realitäten blieben hinter der formalen politischen Anerkennung, gegeben durch das aktive und passive Wahlrecht, zurück. Ein selbstbestimmtes Leben, getragen von gesellschaftlicher Teilhabe und eigener Berufstätigkeit, konnten weiter nur wenige Frauen leben. Dies trifft auf Deutschland, mit Ausnahme der DDR, sowie eine Vielzahl der Staaten in Europa zu. Erst die aufkommende Frauenbewegung in den späten 60er Jahren ermöglichte einen grundsätzlichen Sinneswandel. Doch auch der zweite Schritt, das heißt die gesellschaftliche Teilhabe, brachte noch lange keine allgemeine Gleichberechtigung für die Frauen in Europa. Weiterhin verwehrt blieb den Frauen im Großen und Ganzen der Griff nach politi-

Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? Argumente 1/2014


scher Macht. Noch bis in die frühen 80er Jahre war es ganz selbstverständlich, dass Frauen im Bundeskabinett völlig unterrepräsentiert waren, bis 1991 gab es höchstens zwei Ministerinnen gleichzeitig in einer Legislaturperiode. 1993 wurde mit Heide Simonis die erste Frau Ministerpräsidentin. Dies ist zwar heute gemessen an der Zahl der Ministerpräsidentinnen (vier!) weiterhin keine Selbstverständlichkeit, doch hat sich die Einstellung der meisten Menschen hier geändert – immerhin hat Deutschland heute eine weibliche Bundeskanzlerin. Sind Frauen allein deshalb schon im Begriff, nach der politischen, vielleicht sogar nach der gesellschaftlichen Macht zu greifen? Sind Frauen wirklich schon gleichberechtigte Staatsbürgerinnen neben den Männern? Zwar haben viele engagierte Frauen dazu beigetragen, das gesellschaftliche Bild zu verändern und die politische Teilhabe von Frauen zur Norm zu machen. Dennoch gibt es ein unbestreitbares Gefälle zwischen den Geschlechtern. Deutschland ist damit jedoch nur ein Spiegelbild der Entwicklungen in Europa. Sicherlich, es gibt große Unterschiede zwischen Ost und West, Nord und Süd. Der holprige Pfad hin zu mehr gesellschaftlicher, beruflicher, sozialer und politischer Gleichstellung lässt sich jedoch in ganz Europa beobachten. Gleichstellung in Europa Wenn wir heute auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicken, können wir feststellen, dass in Europa bereits viel für die Gleichberechtigung erreicht wurde. Innerhalb der Europäischen Union stellt die Gleichstellung der Geschlechter mittlerweile scheinbar eine Selbstverständlichkeit

dar – soweit die Theorie. Bereits die Römischen Verträge verpflichteten die Unterzeichner darauf, nicht nur allgemein die Gleichstellung von Mann und Frau sicherzustellen. Speziell war auch die Entgeltgleichheit bei gleicher Arbeit festgeschrieben. Immerhin, dieses Ziel wurde bereits 1957 formuliert. Mehr als 50 Jahre später ist es jedoch immer noch nicht erreicht. Auch wenn in den darauf folgenden Verträgen über die Europäische Integration das Thema Gleichstellung immer wieder ein selbstverständlicher Bestandteil selbiger gewesen ist, sind wir von einer wirklichen Gleichstellung in unseren Gesellschaften, allen voran in der Arbeitswelt, noch weit entfernt. Es fehlt nicht an Forderungen nach einer wirklichen Gleichstellung der Geschlechter – allein, oft fehlt der politische Wille zur Umsetzung beziehungsweise zur konsequenten Durchsetzung bestehender Rechtsakte. Die Entgeltgleichheitsrichtlinie von 1975 und 2006 wurde zwar beispielsweise umgesetzt, jedoch bleibt die nationale Gesetzgebung hinter den europäischen Vorgaben zur Entgeltgleichheit zurück. Auffällig ist insbesondere im Bereich der Gleichstellungspolitik Folgendes: Immer wieder bringen die Mitgliedstaaten bei Vorstößen, die für mehr Gleichstellung in der Arbeitswelt sorgen sollen, Subsidiaritätsbedenken an. Die Argumentation ist einfach: Die geforderten Maßnahmen und Ziele könnten auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten getroffen werden, europäische Regelungen seien nicht nötig. Zuletzt haben wir diese Bedenken von Seiten der Mitgliedstaaten und Teilen der Europäischen Kommission gehört, als Justizkommissarin Viviane Reding, zuständig auch für Fragen der Gleichstellung, einen Vor-

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schlag zur Frauenquote in Aufsichtsräten vorgelegt hatte. Dieser wurde insbesondere von Seiten der Mitgliedstaaten torpediert. Natürlich ist eine Regelung auf Ebene der Mitgliedstaaten denkbar. Jedoch auch nur dann, wenn die Mitgliedstaaten wirkliche Ambitionen hätten, diese Regelungen zu treffen. Das ist aber bei Maßnahmen, die auf eine tatsächliche Verbesserung der Situation von Arbeitnehmerinnen zielen, schlichtweg nicht ersichtlich. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von unterschiedlichen sowie wenig bis gar nicht ambitionierten einzelstaatlichen Gesetzgebungen. Und gerade deshalb sind EU-weite Regelungen notwendig – auch mit Blick auf die Bundesrepublik. Mehr Gleichberechtigung in der Arbeitswelt Die Europäische Union hat seit ihrem Bestehen eine große Anzahl von Gleichstellungsmaßnahmen beschlossen. Allen voran die Gleichbehandlungsrichtlinie hat für eine deutliche Besserung der Stellung von Frauen in der Arbeitswelt geführt, vor allem im Bereich der Antidiskriminierung auf Grundlage des Geschlechts. Dennoch ist gerade die Arbeitswelt derjenige Bereich, der noch weit von einer wirklichen Gleichstellung der Geschlechter entfernt ist. Seit vielen Jahren steigt die Erwerbstätigenquote bei Frauen stetig an, in der EU bis 2013 auf 63 Prozent. Sie liegt damit aber noch immer mehr als zehn Prozentpunkte unter der Erwerbstätigenquote von Männern. Ein genauer Blick auf die Art der Beschäftigung enthüllt auch, dass die hohe Erwerbsbeteiligung unter Frauen insbesondere auf eine große Zahl an Teil-

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zeitarbeitsverhältnissen und geringfügigen Beschäftigungen zurückgeht. Frauenarbeit ist oft auf Minijobs und Teilzeitbeschäftigung beschränkt. Noch 2008 ging fast die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen in Deutschland einer Teilzeitbeschäftigung nach. Bei den männlichen Kollegen waren dies nur etwa ein Zehntel aller Beschäftigten. Erschreckend ist auch, dass die überwiegende Mehrzahl der Minijobs von Frauen gefüllt wird: fast zwei Drittel waren es 2008. In der EU ist etwa ein Drittel der Frauen in Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt. Gerade die Arbeitszeit hat dabei entscheidenden Einfluss auf die unterschiedlichen Karriereverläufe von Frauen und Männern. Eine vereinbarte Verringerung der Wochenarbeitszeit in Führungspositionen stellt noch immer die Ausnahme dar und eine Erwerbsunterbrechung wirkt sich in Deutschland noch immer negativ auf die Karriere aus. Insbesondere Frauen sind durch Schwangerschaft und Erziehungszeit davon betroffen. Dies wirkt sich für Frauen negativ auf die in Deutschland übliche betriebsinterne Rekrutierung aus. Darüber hinaus ist auch das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen auf häufige und lange familienbedingte Erwerbsunterbrechungen von Frauen zurückzuführen. Schon ein Jahr Unterbrechung durch Kindererziehung kann zu einer Verringerung des Lohnniveaus um 5% im Vergleich zu einer durchgängig erwerbstätigen Frau führen. Die Geburt eines Kindes und die folgende Erziehungszeit wird also in vielerlei Hinsicht zu einem Hemmschuh für die Erwerbskarriere von Frauen – und darüber hinaus. Denn Erwerbsunterbrechungen wirken sich auch auf eine spätere Rente aus. Noch immer erreichen Frauen in

Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? Argumente 1/2014


Deutschland im Durchschnitt ein spürbar geringeres Rentenniveau als Männer. Oft geht die Rente nicht einmal über ein existenzsicherndes Minimum hinaus. Auch hier wirken sich geschlechtsspezifische Ungleichheiten, vor allem Erwerbsunterbrechungen und Einkommensunterschiede, direkt auf die Höhe der Rente aus. In einer Gesellschaft, die zwar in immer wiederkehrenden Phasen den Rückgang der Geburtenstärke beklagt, gleichzeitig aber unfähig erscheint, diese Sachlage auch vom Ende her zu denken, gibt es anscheinend eine Schieflage. Alternative Arbeitszeitmodelle, auch Teilzeitbeschäftigung, sind weiterhin wichtig. Sie erst ermöglichen die Vereinbarung von Familie und Beruf – für Männer und Frauen. Der Schlüssel zu einer geschlechtergerechteren Arbeitswelt bleibt jedoch eine gleiche und gerechte Entlohnung. Das Hauptproblem ist immer noch die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen. Vor allem hierzulande liegt diese weit über dem EU-Durchschnitt. Auch in Deutschland ist ein Großteil der Lohnunterschiede auf die unterschiedlich langen Erwerbsunterbrechungen durch Elternzeiten zurückzuführen. Die Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und FDP im Bundestag haben in der vergangenen Legislaturperiode ein Entgeltgleichheitsgesetz jedoch immer abgelehnt. Um eine gleiche Entlohnung von Frauen und Männern zu erreichen und um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen, so der Vorschlag, sollte die Bundesregierung entsprechende Strategien mit Tarifpartnern, Frauen- und Wirtschaftsverbänden entwickeln – auf freiwilliger Basis. Es scheint also weiterhin angebracht, auch die Lohnungleichheit auf europäischer Ebene

zu thematisieren und die Mitgliedstaaten zumindest an die Inhalte der europäischen Verträge zu erinnern. Auch in Europa verdienen Frauen im Durchschnitt 16 Prozent weniger als Männer. Geringere Löhne, verkürzte Arbeitszeiten und Arbeitszeitunterbrechungen sowie die generell niedrigere Erwerbstätigenquote führen dazu, dass Frauen in Europa eine etwa 39 Prozent niedrigere Rente erhalten als Männer – hier müssen EU und Mitgliedstaaten zwingend gegensteuern. Altersarmut wird damit zunehmend zu einem originär weiblichen Problem. Die Europawahl und Gleichstellung Doch die fehlende Gleichstellung ist nicht nur in der Arbeitswelt zu beobachten. Wir müssen uns fragen, ob wir effektive Gleichstellungsmechanismen in der Europäischen Union überhaupt durchsetzen können, wenn schon auf der politischen Ebene noch immer mehrheitlich Männer die Entscheidungen treffen. Auch ein Blick auf die Europawahl lässt hier aufhorchen. Die SpitzenkandidatInnen für die Europawahl am 25. Mai stehen fest. Auffällig ist, dass nur die europäischen Grünen überhaupt eine weibliche Spitzenkandidatin bestimmt haben. Frauen sind in der europäischen politischen Landschaft noch immer ein unterrepräsentiertes Geschlecht. Nur ein Drittel aller Mitglieder der jetzigen EU-Kommission sind Frauen. Dass die europäische Exekutive, die immerhin die europäischen Verträge überwacht – in denen, ganz nebenbei, auch die Geschlechtergleichstellung ihren Platz hat – und die auch die Europäische Bevölke-

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rung repräsentieren sollte, nicht einmal annähernd zur Hälfte durch Frauen besetzt ist, entspricht schlichtweg nicht mehr den heutigen Realitäten. Auch dass der Präsident des Europäischen Parlaments, der Ratspräsident und der Kommissionspräsident jeweils männlichen Geschlechts sind, steht der Europäischen Union schlecht zu Gesicht. Die deutschen SozialdemokratInnen haben zwar eine Bundesliste gewählt, die fast durchgängig das Reißverschlussprinzip anwendet. Die allermeisten Listen der Parteien, die zur Europawahl antreten, bestechen jedoch weiterhin durch Männlichkeit. Bereits auf nationaler Ebene mangelt es an der Rekrutierung weiblichen Spitzenpersonals für die europäische Politik – nur 27 Prozent der Abgeordneten in den nationalen Parlamenten sind weiblichen Geschlechts. Es ist also kaum verwunderlich, warum so wenige Frauen den Weg auf die europäische Bühne finden. Im Europäischen Parlament sind immerhin etwa 35 Prozent der Abgeordneten weiblich. Mehr Frauen in Spitzenpositionen der Europäischen Union würden dabei mitnichten die Politik als solche verändern. Die Macht- und Interessenfrage stellt sich für Frauen genauso wie für Männer. Dennoch, die Art und Weise, wie politische Entscheidungen errungen werden, könnte einer Veränderung unterzogen werden – das habe ich in meiner eigenen politischen Karriere bereits erlebt. In langwierigen Verhandlungen mit dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission hat sich der erfolgreiche Fortgang von Verhandlungen nicht zuletzt daran bemessen, wie viele Personen im Raum weiblichen Geschlechts waren. Es geht letztlich darum, ein gemischtes Publikum mit ganz un-

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terschiedlichen Erfahrungshorizonten zusammenzubringen. Auch die Europawahl selbst wird zur grundlegenden Entscheidung für mehr oder weniger Gleichstellung, für mehr oder weniger Frauenrechte. Insbesondere die vergangenen Monate haben gezeigt, dass es im Europäischen Parlament noch immer eine Mehrheit für rückwärtsgewandte Politik gibt. Immer wieder wurden fortschrittliche Berichte, die ein Mehr an Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung gefordert haben, von einer konservativen und erz-konservativen Mehrheit niedergestimmt. Wir müssen die Europawahl auch zu einer Abstimmung darüber machen. Wir können nicht hinnehmen, dass die Gesetzgebungen zum Schwangerschaftsabbruch in einem Mitgliedsland der Europäischen Union, wie aktuell in Spanien und Kroatien, wieder umgekehrt werden und in alte konservative Muster zurückfallen. Wir müssen uns hier für europaweite Regelungen einsetzen. Auch deshalb brauchen wir eine sozialdemokratische Mehrheit im Europäischen Parlament. Wir müssen die Europawahl also auch zu einer Abstimmung über Frauenrechte und damit über die grundlegenden Menschenrechte machen! Wir benötigen eine öffentliche und breite Debatte über die Rechte der Frauen in Europa. Dies müssen wir im Wahlkampf thematisieren und auch über unsere SpitzenkandidatInnen in den Mitgliedstaaten und über Martin Schulz transportieren. Ziel muss es sein, eine nachhaltige gesellschaftliche Debatte in Europa anzustoßen. Nur eine Gesellschaft, in der die Geschlechter gleichberechtigt miteinander leben, ist eine moderne Ge-

Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? Argumente 1/2014


sellschaft. Nur eine Gesellschaft von gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern kann auch eine solidarische Gesellschaft sein. Wir kämpfen für eine moderne europäische und solidarische Gesellschaft.

Bestandteil der Ausschussarbeit im Parlament werden. Gleichstellungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe – diese Rolle sollte ihr im Parlament auch zu teil werden.

Effektive Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung ergreifen

Viertens benötigen wir eine langfristige Debatte über die Rolle und das Selbstverständnis von Frauen und Männern in unseren europäischen Gesellschaften. Dazu gehört nicht nur eine Debatte über Entgeltund Rentengleichheit, sondern auch über sexuelle Selbstbestimmung, Schwangerschaftsabbruch und nicht zuletzt über Gewalt gegen Frauen.

Wir haben in den vergangenen Jahren auf europäischer Ebene bereits eine große Anzahl von Maßnahmen für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben getroffen. Trotzdem ist das Ziel zur Schaffung von gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern noch nicht erreicht. Mit Blick auf die Europawahl müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Erstens müssen wir die bestehenden europäischen Regelungen, die auf eine Gleichstellung der Geschlechter abzielen, konsequenter durchsetzen. Hier ist auch die Kommission stärker gefragt. Sie zeichnet für die Einhaltung der Regelungen verantwortlich.

Noch immer werden Frauen in Europa nicht in allen Lebensbereichen als gleichberechtigte Bürgerinnen behandelt. Es scheint also, als wäre es fast 95 Jahre nach der Rede von Marie Juchacz keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen als „gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin neben dem Manne“ stehen. l

Zweitens muss die europäische Gesetzgebung noch konsequenter auf die Gleichstellung der Geschlechter ausgerichtet werden. Wenn die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, die in den Verträgen garantierte Gleichstellung zu gewährleisten, muss die EU einspringen. Wir müssen, drittens, die Frage der Chancengleichheit in der europäischen Gesetzgebung weiter stärken. Die Geschlechterfrage sollte in allen Richtlinien und Verordnungen eine herausragende Stellung haben und selbstverständlicher

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#15JAHREBOLOGNA: #FTW ODER #MEGAFAIL? von Julian Zado und Erkan Ertan, Julian Zado war Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen von 2006 – 2008 und stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender von 2011 – 2013. Erkan Ertan war Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen von 2008 – 2010 und kooptiert im Juso-Bundesvorstand von 2009 – 2010.

Im Jahr 1999 unterzeichneten in der italienischen Universitätsstadt Bologna Vertreter(-innen) aus 29 europäischen Staaten die sog. „Bologna-Erklärung“, mit der das Projekt der Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums in Gang gesetzt wurde. 15 Jahre später hat sich viel verändert – aber wenig zum Guten. Der Bologna-Prozess als europäische Idee

nen wie „Überforderung“, „Verschulung“, „schlechte Studienbedingungen“ oder auch „Burn-Out“ hervor. Natürlich sind diese negativen Zuschreibungen oft medialer Effekthascherei geschuldet. Allerdings zeigt der Umstand, dass viele Hochschulangehörige, allen voran die Studierenden, seit Beginn des Prozesses immer wieder die Umsetzung des Prozesses kritisieren, dass wohl nicht alles richtig laufen kann mit dem Bologna-Prozess. Aber was ist eigentlich dran an der Kritik?

Vor mittlerweile eineinhalb Jahrzehnten wurde der „Bologna-Prozess“ gestartet. Nachdem die Europäische Union etabliert war und der europäische Integrationsprozess kontinuierlich voran schritt, lag es nahe, auch die Hochschullandschaft in Europa zu europäisieren. Heute ruft das Stichwort „Bologna“ vor allem Assoziatio-

Der Bologna-Prozess sollte an seinen Zielen gemessen werden. Hauptziele des Bologna-Prozesses waren die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Bildungssystems und die Erhöhung von Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit. Dazu wurde vereinbart, Studienabschlüsse zweistufig auszugestalten und

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#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? Argumente 1/2014


grundsätzlich vergleichbarer zu machen. Außerdem sollte ein „credit-point“-System eingeführt sowie Mobilitätshindernisse für Studierende und Lehrende beseitigt werden. Auf den zweijährigen Bologna-Konferenzen kamen weitere Ziele dazu, u. a. die stärkere Berücksichtigung der ,sozialen Dimension‘ des Bologna-Prozesses. Der Grundgedanke der Bologna-Reform war, dass die Hochschulen, also Forschung und Lehre, enger zusammen wachsen. Bildung sollte weniger nationalstaatlich ausgestaltet sein. Was ist hiervon umgesetzt worden? Was hat sich getan? Erreicht werden sollten diese Ziele bis zum Jahr 2010. Schon im Jahr 2010 war aber klar, dass diese Zielmarke verfehlt wurde.13 Der Grund hierfür war jedoch nicht mangelnder politischer Antrieb. Im Gegenteil: Insbesondere die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer SPD-Bildungsministerin Edelgard Bulmahn hat einen enormen Reform-Eifer an den Tag gelegt. Umgesetzt wurde eine einschneidende Reform der Hochschulen. Bekanntes Beispiel hierfür ist die Einführung eines zweistufigen Abschlusssystems: Mittlerweile wurden fast alle Studiengänge auf das Bachelor/Master-System umgestellt. Ausnahmen bilden hier im Wesentlichen nur einige Staatsexamens-Studiengänge, in denen sich eine Umstellung der Abschlüsse bisher nicht abzeichnet. Auch das Kreditpunktesystem wurde eingeführt. Prüfungsleistungen werden nun nicht mehr in Form von „Scheinen“ abgebildet, stattdessen erhält man eine gewisse Anzahl von „creditpoints“, also Leistungspunkten. Die Idee dabei ist, Studienleistungen vergleichbarer zu machen. Anstatt einen genau umrissenen Schein für eine bestimmte Prüfungs-

leistung zu erhalten, die bei einem Hochschulwechsel erst in einem aufwändigen Verfahren auf „Anrechnungsfähigkeit“ hin untersucht werden muss, sollten pauschal Kreditpunkte anerkannt werden. So sollen Hochschulwechsel und Studienaufenthalte im Ausland leichter gemacht werden. Die Umsetzung brachte Probleme Die Ziele sind durchaus diskutierbar. Es war die deutsche Umsetzung an den Hochschulen und Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK), die Studierenden wie Lehrenden gleichermaßen Kopfschmerzen und Probleme bereitete. Ein Grund hierfür ist – gerade mit Blick auf die europäische Perspektive – die Länderhoheit in der Bildungspolitik. Ein anderer ist, dass die Umsetzung von radikalen Änderungen der Studiengänge und Curricula nicht zentral organisiert, sondern oftmals wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen zusätzlich und ohne einen unterstützenden und befähigenden Prozess aufgebrummt wurde. Die unterschiedliche Ausgestaltung der Studiengänge durch die Bundesländer führte trotz einheitlicher Abschlüsse und „credit-points“ dann dazu, dass schon innerhalb Deutschlands kaum noch ein Studienortwechsel möglich war, zum Beispiel, wenn Studiengänge stark spezialisiert und Leistungen anderer Universitäten deshalb nicht anerkannt wurden. Fakt ist: Studierende sind heute weniger mobil als noch in den traditionellen Studiengängen. 22 % der Bachelor-Studierenden haben bis zum Ende des 8. Hochschulsemesters einen Auslandsaufenthalt 13

Vgl. Zado, 10 Jahre Bologna-Prozess II, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 3/2010, S. 37-39.

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absolviert. Bei Master-Studierenden liegt diese Quote ab dem 12. Hochschulsemester bei 42 %.14 Die politische Zielmarke, dass 50 % der Absolventinnen und Absolventen Auslanderfahrungen sammeln sollen, ist damit noch immer in weiter Ferne. Vieles spricht dafür, dass es auch das starre System der Studienleistungen ist, das viele auf einen Auslandsaufenthalt verzichten lässt. Sozialerhebungen zeigen zudem immer wieder, dass vor allem die schlechte finanzielle Situation von Studierenden hemmend auf einen Auslandsaufenthalt wirkt. Die weiterhin unzureichende Studienfinanzierung durch das Bafög ist hierfür ein Beispiel. Die soziale Schere geht hier weit auseinander, denn Studierende aus einem wohlhabenden Haushalt sind doppelt so häufig im Ausland unterwegs. Das aktuelle Auslands-BAföG scheint angesichts dieser Fragen für die gewünschte politische Zielsetzung völlig unzureichend. Eine weitere Verbesserung ist dringend geboten. Ein anderes Problem ist die allgemein schlechte Ausstattung der Hochschulen. Das alles führte eher zu einer „Kleinstaaterei“ als zu einer Europäisierung. Diese Umstände haben mit dem eigentlichen Bologna-Prozess nichts zu tun, auch wenn er in den Augen vieler dafür verantwortlich ist. Unterschieden werden muss zwischen den Zielen und der Umsetzung bestimmter Maßnahmen. Zu kritisieren ist hier die deutsche Hochschulpolitik, nicht der Bologna-Prozess als solcher. Auch wenn nicht immer offen zugegeben, so war für viele Rektor/innen die Bologna-Reform von Anfang an eng verbunden mit dem Ziel, die Verweildauer von Studierenden an den Hochschulen zu minimieren und an vorgegebene Regelstudi-

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enzeiten anzupassen. Schon im Prozess der Einführung des gestuften Studiensystems wurde aktiv in die Gesellschaft kommuniziert, dass im internationalen Vergleich Studierende in Deutschland deutlich länger für ihr Studium benötigten und deutlich später für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Mit starr festgelegten Regelstudienzeiten für Bachelor und Master, die nicht mehr einen Richt-, sondern einen Pflichtwert darstellten, sollten schon früh Studierende zu einem effizienteren Studienablauf „erzogen werden“. Die Regelstudienzeiten wurden – außer bei wenigen Ausnahmen – auf sechs Semester im Bachelor und zwei bis maximal vier Semester im Master gestrafft. Die Curricula der Studiengänge wurden mit Pflichtwissen und unter den neuen Fokus der Informationsvermittlung sowie Controllingverfahren z. B. durch Prüfungen gesetzt. In den auslaufenden Studiengängen Diplom und Master dagegen herrschte häufig die Philosophie, der Studienverlauf sei nur der Weg zum Ziel. Das Studium bestand oft aus wählbaren „Herausforderungen“. Innerhalb eines Prüfungsbereichs konnte zwischen Seminarangeboten frei gewählt werden. Insbesondere in den Geisteswissenschaften stand die Entwicklung von „kritischem Denken“ und die Befähigung zu „Eigenständigem Arbeiten“ im Fokus der Curricula. Studierende lernten wohl oder übel, mit ihrem Zeitbudget selbstverantwortlich umzugehen, ein mittel- bis langfristig angesetztes Projekt erfolgreich zum Abschluss zu führen und die Notwendigkeit wie auch die Qualität einer wissenschaftlichen Herangehensweise an 14

20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, S.161.

#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? Argumente 1/2014


Problemstellungen. Ebenso war in der Semesterwoche Zeit für die selbstbestimmte Beschäftigung, sei es ehrenamtlich oder universitär, vorgesehen. Der freie Mittwochnachmittag als Gremientag z. B. war vielerorts ein hohes Gut, das selbst von Professor/innen oft verteidigt wurde. Teilnahmescheine waren ebenso gewichtiger Teil des Studiums. Man bekam sie in den Sozial- und Kulturwissenschaften z. B. für die regelmäßige Anwesenheit an Seminaren und Vorlesungen und ohne das Bestehen von Prüfungen. Dies ist heute deutlich seltener anzutreffen. Selbstverständlich existierten auch andere Studienvoraussetzungen und Curricula. Insbesondere zwischen Fachbereichen und Hochschulen konnten große Differenzen in der Ausgestaltung liegen – wie heute. Generell aber waren entscheidende Prüfungsphasen auf Zwischenprüfung/Vordiplom und auf den Abschluss gelegt. Dazwischen waren Studierende in ihrer Entwicklung und Wissensanreicherung mehr oder weniger auf sich gestellt. Dieses Konzept passte nicht in die neue Form. Mit Bachelor und Master wurde nun auch der Weg zum Ziel erklärt. Die Anzahl der abzuleistenden Prüfungen nahm exponenziell zu, der Prüfungszeitraum zieht sich deshalb bis heute in den so genannten „vorlesungsfreien Raum“ – früher „Semesterferien“ genannt. „Verschultes Studium“ wurde zum neuen Modewort. Das Studium erstreckt sich heute nun über das gesamte Jahr. Deutlich erhöhte Inputund Controlling-Verfahren forderten ihren zeitlichen Tribut – auf Kosten der freien Zeit und Psyche der Studierenden. Stress, Überlastung und Depressionen nehmen seitdem zu. Psychologische und Sozialbe-

ratungsangebote von Studentenwerken und ASten sind bis heute gut besucht. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die erhöhte Anzahl an Studienabbrüchen. Vor den Bologna-Reformen lag die Quote durchschnittlich bei 23 %, heute an Universitäten bereits bei 35 %15, insbesondere im Bachelor. Ein anderes Modewort der BolognaReformen ist die so genannte „employability“, die Berufsbefähigung. Während die Verkürzung der Regelstudienzeiten und ein gestuftes Studiensystem mit Bachelor als erstem berufsqualifizierenden Abschluss einen schnelleren Zulauf von akademischer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt sichern sollten, diente die Anpassung der Curricula auch einer passgenauen Ausbildung und Verwertung für den späteren Arbeitgeber. Die „Bummelstudentin“, die sich jahrelang eher mit selbsterkenntnisreichen Studien, als mit qualifiziertem und verwertbarem Wissen auseinandersetzte, sollte der Vergangenheit angehören. Ziel war es, dass Studierende jenes Wissen erlernten, welches später auch im Beruf benötigt wurde- zeitlich konzentriert und effizient. Die Curricula der Studieninhalte wurden dem angepasst. Qualifizierende und evaluierbare Inhalte wurden bevorzugt, freier Entwicklungsraum und Interdisziplinarität (gegen die ursprünglichen Ziele des Prozesses) gekürzt. So kam die kürzere Studiendauer ganz von alleine…

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Die Entwicklung der Schwund- und Studienabbruchquoten an den deutschen Hochschulen, HIS, S. 12

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Was ist mit den Jugendverbänden? Welchen Einfluss hatte Bologna auf Jugendverbände? Ohne Frage stellen Studierende einen großen Anteil an Aktiven etwa bei den Jusos. Bei den Juso-Hochschulgruppen ohnehin. Viele junge Menschen nutzen die flexiblere Zeit des Studiums, um sich politisch zu engagieren. Doch bleibt dafür heute noch Zeit? Diese Frage ist nur sehr subjektiv zu beantworten. Auch vor Bologna gab und gibt es Studiengänge, die schon immer ein höheres Zeitpensum abverlangten. Trotzdem war ein ehrenamtliches Engagement möglich. Jedoch ist nach subjektiver Einschätzung bundesweit ein Rückgang der Kontinuität in Ämtern und Strukturen erkennbar. Vorstände werden immer jünger und Verweildauern immer kürzer. In AStA-Referaten sind Wechsel innerhalb von sechs Monaten eher Regel als die Ausnahme. Jusos erleben vor Ort immer häufiger wechselnde Aktivenkreise. Es ist ohne Frage nicht verkehrt, sich als Jugendverband mit dem Thema zu beschäftigen und allen Interessierten, trotz stressiger Prüfungsphasen, ein flexibles Angebot zum Engagement zu bieten. Die Zeit für Muße und Engagement für Studierende ist knapper geworden, ohne Frage. Das Entscheidende aber ist und bleibt der eigene Wille, in ein politisches und ehrenamtliches Engagement Zeit zu investieren – auf Kosten anderer Lebenswelten. Das war schon immer so. Welches Fazit ziehen wir? Nach 15 Jahren Bologna-Prozess sind die Ergebnisse in der deutschen Umsetzung ernüchternd: Studienzeiten sind verkürzt, feste Regelstudienzeiten bei Bachelor und Master mussten Stück für Stück

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flexibilisiert werden. Studienabbrüche haben zugenommen. Der „Run“ auf die Master-Studiengänge nach dem Bachelor hält ungebrochen an, denn wer auf dem Arbeitsmarkt eine angemessene Chance haben will, benötigt zwingend den Master. Der öffentliche Dienst hat es vorgemacht: Wer in den höheren Dienst möchte, benötigt zwingend einen Master-Abschluss. Der Bachelor scheitert an den formalen Voraussetzungen. Dies gilt für Landes- wie auch für die Bundesebene. Die Wirtschaft hat dieses Denken übernommen. Das Vorurteil, Bachelor-Absolvent/innen hätten gar keine vollständige wissenschaftliche Ausbildung, ist allgegenwärtig. Dies führt zu einer deutlich schlechteren Entlohnung für Bachelor-Absolvent/innen im Beruf. Dieser Punkt geht an die „employability“. Doch wäre es ein Fehler, die Ziele des Prozesses zu einseitig zu betrachten. Ein besser vorgegebener Rahmen bietet Studierenden heute eine Wegmarkierung. Er bietet ihnen die Möglichkeit, Lehrende in die Verantwortung zu nehmen und ein studierbares Angebot einzufordern. Das Studium ist heute transparenter. Durch das „credit-point“-System ist die Anerkennung von im Ausland erworbenen Studienleistungen vereinfacht worden. Ein mit den Jahren verkrustetes System wurde gelüftet. Nicht umsonst hat es auch vor Bologna schon bundesweite Studierendenproteste gegeben. Zwar verbessert sich laut aktueller Studie – auch sicherlich mangels noch real existierender Alternativen – die Zufriedenheit der Bachelor-Studierenden mit Ihrem Studiengang. Die Entwicklung ist aber nur von „ausreichend“ zu einem zaghaften „befriedigend“ zu verzeich-

#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? Argumente 1/2014


nen.16 Die Ansprüche der Reformen wirken im Nachhinein überzogen. Die Ziele wurden aufgrund von Verwertungswünschen priorisiert. Die Studienzeitverkürzung wurde restriktiver und intensiver umgesetzt als z. B. die soziale Dimension. Die Entscheidungen folgten einem TopDown-Prinzip. Die Umsetzung jedoch wurde jedoch einerseits zum Fleckenteppich, andererseits lastete sie vornehmlich auf den Schultern einzelner wissenschaftlicher Mitarbeiter/innen. Das war ein großer Fehler, der erst durch Studierendenproteste aufgegriffen, in nationalen Bologna-Konferenzen diskutiert und mit Gremien vor Ort unter Beteiligung der Studierenden nachgebessert wurde. Der Prozess ist nicht zu Ende. Er wird noch lange fortgeführt werden, spätestens ab der nächsten großen Hürde, die das Fass zum Überlaufen bringt: Dem Zeitpunkt, an dem auch faktisch nicht ausreichend Master-Plätze für bewerbende Bachelor-Absolvent/innen zur Verfügung stehen. l Quellen: 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks Das Bachelor- und Masterstudium im Spiegel des Studienqualitätsmonitors – Entwicklungen der Studienbedingungen und Studienqualität 2009 bis 2012, Deutsches Institut für Hochschul- und Wissenschaftsforschung Die Entwicklung der Schwund-und Studienabbruchquoten an den deutschen Hochschulen, HIS Hochschul Information System, 03/2012 Zado, 10 Jahre Bologna-Prozess II, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 3/2010, S. 37-39 16

Das Bachelor- und Masterstudium im Spiegel des Studienqualitätsmonitors – Entwicklungen der Studienbedingungen und Studienqualität 2009 bis 2012 , Deutsches Institut für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, S. 142ff.

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STANDORTWETTBEWERB: DER IMPERIALISMUS UNSERER ZEIT von Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie am ManagementDepartment der Freien Universität Berlin und Nikolaus Kowall, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf

Genau 100 Jahre nach dem Beginn des „Großen Krieges“ ist nicht nur ein Gedenkjahr, es ist auch ein Jahr der Analogien. Und tatsächlich gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen 1914 und 2014. Wie Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ so eindrücklich beschrieben hat, blickten Europas Intellektuelle 1914 auf eine lange, vergleichsweise friedliche Phase zurück und waren von der Welle kriegerischen Nationalismus zumindest überrascht, so sie nicht von ihr erfasst und mitgerissen wurden. War zuvor von europäischer Einigung die Rede gewesen, lag der Kontinent wenige Jahre später in Trümmern und die nationalistische Saat ging auf. 2014 erwartet auch trotz Krim-Krise niemand eine militärische Eskalation. Dennoch mag ein Blick zurück im Sinne einer Reflexionsanalogie (vgl. Münkler

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2014) dabei helfen, Ideologien und Dynamiken zu identifizieren, die ein respektvolles und menschwürdiges Zusammenleben der Völker gefährden. Bei der herrschenden Konjunktur an Analogieschlüssen gibt es erstaunlicherweise ein Themenfeld, das kaum Erwähnung findet, trotz dessen entscheidender Bedeutung für die Ereignisse 1914. Denn völlig unabhängig von der derzeit wieder einmal diskutierten Frage, ob die europäischen Staaten als „Schlafwandler“ (Christopher Clark; vgl. Clark 2012) in den Krieg „geschlittert“ (Lloyd George) waren oder vor allem der deutsche Griff nach der Weltmacht als ursächlich zu sehen ist (Fritz Fischer; vgl. Fischer 1961), maßgeblich für die Katastrophe war jedenfalls eine dominante imperialistische Ideologie. Unsere These ist, dass wir es 2014 mit einem vergleichbaren, allerdings weniger militärisch und dafür stärker wirtschaftlich ausgeprägten Imperialismus zu tun haben.

Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit Argumente 1/2014


Imperialismus als Wettbewerbsideologie

Imperialismus sogar in erster Linie mit dem ‚Primat der Innenpolitik‘ erklärt [hat]“

Kern imperialistischer Ideologie vor 1914 war die Überzeugung, dass für Wohlstand und Erfolg einer Großmacht Expansion in Form von Kolonien und die damit verbundene Erschließung ausländischer Bezugs- und Absatzmärkte erforderlich sind. Die imperialistische Ideologie war aber nie nur eine wirtschaftliche. Für die Eliten der wilhelminischen Ära waren Kolonien und Weltmachtstreben immer auch eine Frage „des Prestiges, der Ehre, der weltpolitischen Gleichberechtigung“ (Winkler 2008). Eine Einstellung, die in der Forderung des späteren deutschen Reichskanzler Bernhard von Bülow nach einem „Platz an der Sonne“ für Deutschland besonders deutlich wurde. In seiner Reichstagsrede im Jahr 1897 erklärte es von Bülow zu „eine[r] unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen.“ Als roter Faden durch die ganze Rede17 zieht sich die Überzeugung, dass Deutschland im Wettbewerb mit den anderen „Großmächten“ steht. So sollte „der deutsche Unternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge […] geradeso geachtet werden wie diejenigen anderer Mächte.“ Der Blick über die Grenzen des deutschen Reiches hinaus erlaubte außerdem, von wachsenden sozialen Spannungen im Inneren abzusehen, wenn nicht sogar abzulenken. So stellte der britische Imperialist Cecil Rhodes 1895 fest, dass, wer den Bürgerkrieg vermeiden wolle, zum Imperialisten werden müsse. Der britische Historiker Hobsbawm ergänzt dazu, dass man „für manche Länder – insbesondere Deutschland – […] das Aufkommen des

Ein Blick auf die herrschende (Wirtschafts-)Ideologie des Jahres 2014 offenbart erstaunliche Parallelen. Der zentrale Orientierungspunkt deutscher Politik ist jener der „Wettbewerbsfähigkeit“, wie sich schön anhand von Angela Merkels Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos 201318 illustrieren lässt. Merkel forderte dort „eine Wettbewerbsfähigkeit, die sich daran bemisst, ob sie uns Zugang zu globalen Märkten ermöglicht.“ Der Blick richtet sich wie damals vor allem nach außen, zweimal warnt Merkel in ihrer Rede davor, dass Wettbewerbsfähigkeit nicht „irgendwo im Mittelmaß“ oder „beim Durchschnitt aller europäischen Länder“ liegen dürfe. Indikator für Wettbewerbsfähigkeit seien „Überschüsse in den Leistungsbilanzen“, die „wir auf gar keinen Fall aufs Spiel setzen“ dürften. Nur so könne man „ein wichtiger Spieler am Weltmarkt“ mit Unternehmen sein, „die als schlagkräftige Akteure auch weltweit agieren könn[t]e[n].“ Wieder geht es um den Platz an der Sonne, wenn er auch nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch die in der Rede an erster Stelle erwähnten Lohnzusatzkosten und Lohnstückkosten erkämpft werden soll. Sozialdemokratie und Imperialismus Interessant ist in beiden Fällen das Verhalten der Sozialdemokratie. Auch vor 17

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Vgl. https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Deutschlands_Platz_an_der_Sonne&oldid=2058341 Vgl. http://www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Reden/2013/01/2013-01-24merkel-davos.html

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1914 stand die SPD den imperialistischen Abenteuern skeptisch gegenüber und beklagte die hohen Kosten der Kolonien. Der internationalistische Anspruch der Partei spielte eine größere Rolle als heute, die Ausrichtung der Sozialdemokratie war klassenkämpferischer. Noch am 25. Juli 1914 warnte der SPD-Parteivorstand im Vorwärts, dass „die herrschenden Klassen, die euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, euch als Kanonenfutter mißbrauchen [wollen]“, und ließ „die internationale Völkerverbrüderung“ hochleben. Etwas mehr als eine Woche später begründete der Parteivorsitzende Hugo Haase jedoch die Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten im Reichstag damit, „das eigene Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich zu lassen.“ Der Wunsch, nicht als vaterlandslose Gesellen dazustehen, dominierte, die prinzipielle Ablehnung des Imperialismus wurde im konkreten Fall den vermeintlich nationalen Interessen untergeordnet. Eine Spaltung der Sozialdemokratie in MSPD und USPD war die Folge. Knapp 100 Jahre später lässt sich ein ähnliches Muster im Umgang der SPD mit der herrschenden Wettbewerbsideologie beobachten. Zwar werden Unternehmen dafür kritisiert, Staaten gegeneinander auszuspielen („Heuschrecken“), und die negativen Auswirkungen des Standortwettbewerbs in Form von Lohn- und Steuersenkungswettläufen durchaus als solche erkannt. Im konkreten Krisenfall aber verfolgte die deutsche Sozialdemokratie wieder eine nationalistische Steuersenkungs- und Lohnzurückhaltungspolitik. Das neoimperialistische Denkmuster, das der deutschen Agenda 2010 zu Grunde lag und zu einer neuerlichen Spaltung der So-

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zialdemokratie in Deutschland geführt hat, wird in Gerhard Schröders Plädoyer für eine Agenda 2020 deutlich: „Deutschland kann seinen Vorsprung gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien und China nur verteidigen, wenn wir hart an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.“19 Die Gründe für sozialdemokratische Zustimmung zu imperialistischen Politikkonzepten waren damals wie heute ähnlich. Angesichts von äußerer Bedrohung – dem zaristischen Russland, dem vermeintlich wettbewerbsfähigeren China – gilt es das bisher Erreichte zu schützen und dafür Kompromisse zu machen. Bleibt die Frage, ob diese Kalkulation aufgehen kann. Was den militärischen Imperialismus betrifft, ist sie eindeutig beantwortet und der imperialistische Krieg geächtet. Der ökonomische Imperialismus ist hingegen lebendiger denn je. Imperialismus als ökonomisches Null-Summen-Spiel Eric Hobsbawm ist der Auffassung, dass der überzeugendste allgemeine Beweggrund für die koloniale Expansion die Suche nach neuen Märkten war. Dabei war schon vor 1914 umstritten, ob sich Imperialismus in Form von Kolonien überhaupt rechnet. Hobsbawm ist beispielsweise der Meinung, es gebe „keine stichhaltigen Anhaltspunkte, dass koloniale Eroberung als solche einen besonderen Einfluss auf die Beschäftigungsquote oder die Realeinkommen der meisten Arbeiter in den Mut19

Vgl. http://www.welt.de/wirtschaft/article114310644/Muessen-hart-an-der-Wettbewerbsfaehigkeit-arbeiten.html

Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit Argumente 1/2014


terländern gehabt hätten (…) Weit bedeutsamer war die gängige Praxis, den Wählern Ruhm statt Reformen, die weit kostspieliger gewesen wären, anzubieten.“ (Hobsbawm 2008, S. 94) Karl Kautsky, Chefideologie der SPD um 1900 belegte mit statistischen Aufschlüsselungen über die Ausweitung der Eisenbahnkilometer, dass die Ausdehnung des Weltmarkts und der Produktion nicht in den Kolonien, sondern im Zentrum stattgefunden hat. Die Kosten für die Überseekriege würden hingegen die Erträge bei weitem übertreffen (vgl. Kautsky 1909, S. 76 f.). Ähnlich argumentierte Eduard Bernstein die britischen Kolonien betreffend: „Nun kann man es gewiß als sehr zweifelhaft bezeichnen, ob das englische Volk in seiner Masse von der Herrschaft Englands über Indien wirtschaftlichen Vorteil hat. Nach meiner Ansicht ist das Gegenteil der Fall.“ (Bernstein 1907) Die wirtschaftliche Rechtfertigung des Imperialismus beruhte auf der heute noch unter vielen Ökonomen gängigen Fehlannahme, die Triebfeder ökonomischer Entwicklung beruhe auf der globalen Expansion des Handels. Der deutsche Imperialismus war getrieben von der Vorstellung, im Wettbewerb um die Aufteilung einer knappen Erde im Hintertreffen zu liegen und dadurch langfristig ökonomisch zu unterliegen.20 In der Spätphase des Imperialismus erschien 1912 J.A. Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“, die die kapitalistische Dynamik in erster Linie in Innovationen und Produktivitätsfortschritten erkennt. Diese endogene Entwicklungstheorie erklärt ökonomischen Fortschritt primär mit kapitalistischen Dynamiken der „schöpferischen Zerstörung“ und unterscheidet sich von merkantilistischen oder imperialistischen

Entwicklungstheorien, die die Rolle des Außenhandels in den Vordergrund stellen. Der Aufholprozess des deutschen Reichs und der USA gegenüber der Kolonialmacht England zur vorletzten Jahrhundertwende ist ein Indiz dafür, dass globale Präsenz wohl eher die Folge als die Ursache wirtschaftlicher Dynamik ist. Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung: Ist die wirtschaftliche Entwicklung endogen, also von inneren Ursachen getrieben, dann kann der Kuchen für alle wachsen. Ist Entwicklung hingegen im Rahmen eines handelsbasierten Nullsummenspiels zu verstehen, dann kann A nur gewinnen, was B verliert. Die Entwicklung des einen ist hier immer die Regression des anderen. Die imperialistische Logik des Standortwettbewerbs Die Rechtfertigung für das Primat der Wettbewerbsfähigkeit in der deutschen Wirtschaftspolitik folgt der expansiven Logik des Imperialismus. Wenn Deutschlands Löhne stärker steigen und deshalb die Wettbewerbsfähigkeit sinkt, bekommt es ein kleineres Stück des Kuchens und es gibt weniger zu verteilen. Die Weltwirtschaft wird als Nullsummenspiel gesehen, in dem Europa nur überleben kann, wenn die europäischen ArbeitnehmerInnen im globalisierten Wirtschaftskrieg gegen China und Brasilien auf Lohnerhöhungen verzichten. Obwohl das jährliche globale BIP-Wachstum augenscheinlich zeigt, dass der chen für alle wachsen kann und es vor allem darum gehen muss, dieses Wachstum ökologisch nachhaltig zu ge20

http://www.bpb.de/geschichte/deutschegeschichte/kaiserreich/139653/aussenpolitik-undimperialismus

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stalten, ist die Diskussion in Deutschland und Europa geprägt von Verlust- und Untergangsängsten. Zur wichtigsten rhetorischen Figur des zeitgenössischen Neoimperialismus wurde der Standardortwettbewerb – ein Kampf um Direktinvestitionen und Marktanteile am Welthandelsvolumen. Rainer Land und Ulrich Busch betonen, dass beim Standortwettbewerb Motive der Umverteilung im Vordergrund stehen: „Hier versuchen die Marktteilnehmer durch Wettbewerbsvorteile (Lohnniveau, Steuerniveau, Regelungsdichte, Umwelt- und Sozialstandards usw.) anderen Marktanteile wegzunehmen, also Effekte durch Umverteilung statt durch Produktivitätssteigerungen zu erreichen.“ (Busch/ Land 2010, S. 19) Der Verweis darauf, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dass Kooperation Europa und die Weltwirtschaft voranbringen würde, ohne Deutschland zu schaden, kommt führenden SPDPolitikerInnen nicht über die Lippen. Von einer Öffentlichkeit, die angeblich nicht weiter zu blicken bereit ist als um die nächste Ecke, würde ein solcher Vorstoß als wirtschaftsschädlich und unpatriotisch aufgefasst werden. Sigmar Gabriels Besuch bei Frankreichs Wahlsieger Francois Hollande wurde etwa von Cicero-Redakteur Wolfram Weimer in der ARD so kommentiert: „Wieso fällt der in dem Moment, wo die Kanzlerin einigermaßen tapfer für deutsche Interessen kämpft, ihr in den Rücken bei dem ärgsten Widersacher?“ Wenn die SPD internationale Kooperation auch nur andenkt, wird sie mit dem Stigma der vaterlandslosen Gesellen gebrandmarkt, ohne dem kraftvoll argumentativ entgegenzutreten.

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Ohne deutschen Sinneswandel zerbricht die Eurozone Die Wirtschaftskrise 2008, die vor allem in Europa auch eine drastische Krise des Neoimperialismus darstellte, wurde kaum als solche interpretiert. Um die abstrakte Materie zu popularisieren, fehlte in der linken Mitte das politische Verständnis. Stattdessen setzten sich Interpretationen durch, die konkrete Feindbilder anbieten konnten. Bildlich und plastisch ist das Bild des faulen Griechen mit Sonnenbrille in der Hängematte, der auf unsere Kosten ein gemütliches Leben führt. Klischees ergossen sich über die südeuropäischen Länder. Niemand interessierte sich dafür, dass Spaniens Exporte vor der Krise stärker wuchsen als die deutschen, niemand beachtete, dass der Anteil der Löhne am italienischen Volkseinkommen vor der Krise rückläufig war. „Die Party im Süden ist zu Ende“, so der Vorurteile schürende Befund des Mainstream-Ökonomen Hans-Werner Sinn an die Adresse der Krisenstaaten. Noch krasser als Südeuropa wurde aber ein anderes Land in Deutschland Opfer einer sagenhaften Propagandakampagne. Seit Jahren ist die deutsche Berichterstattung über Frankreich geprägt von nationaler Überheblichkeit und Geringschätzung. 2011 warnte Der Spiegel: „Nun gerät auch die europäische Wirtschaftsgroßmacht Frankreich ins Wanken. Jahrzehntelang hat das Land geprasst und seinen Konsum auf Pump finanziert.“21 Und weiter: „Neidisch blicken die Franzosen neuerdings auf das >modèle allemande<, das deutsche Modell. Die Zeitungen sind voll von Ta21

Der Spiegel 42/2011, http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-81136842.html

15 Jahre Bologna: ftw oder megafail? Argumente 1/2014


bellen und Grafiken, in denen Deutschland immer vorn liegt.“ 2014 titelt Die Zeit schließlich wenig originell mit „Der kranke Mann Europas“, fordert „Frankreich braucht Reformen“ und bedauert, dass „eine Reformagenda à la Schröder“ immer noch als nicht auf Frankreich übertragbar angesehen wird. Auf die deutsche Sozialdemokratie ist aber in wirtschaftlich-nationalen Fragen Verlass und der diesbezügliche Burgfriede bislang nicht in Gefahr: Im Kern unterscheidet sich die Position der SPD nur wenig von der der Kanzlerin. Euro-Bonds, wie Hollande sie sich vorstellt, haben in der SPD-Spitze wenig Fürsprecher. Zudem hält die SPD Reformen in Frankreich genau wie die Kanzlerin für unumgänglich. „Die Franzosen sind in einem Zustand, wie wir es 2001 waren“, sagt Steinmeier.22 Wenn Deutschland noch vor zehn Jahren als kranker Mann Europas galt, wie hat sich Frankreich innerhalb kurzer Zeit in diese unterlegene Position manövriert? Vor der Euroeinführung war es die deutsche Bundesbank, die durch ihre Geldpolitik den makroökonomischen Herzschlag in Europa vorgab. Die Währungsunion war weniger ökonomisch motiviert, als eher ein politischer Wunsch der französischen Regierung, diese Währungsvorherrschaft Deutschlands über Frankreich zu beenden. Aus heutiger Sicht ein Schuss ins Knie, denn das Konstrukt „gemeinsame Währung – nationale Wirtschaftspolitik“ hatte fatale Folgen. Es war Deutschland, das Ende der 90er-Jahre einen Lohnwettbewerb startete, wodurch die heimische Nachfrage nach Exporten der Partnerländer sank und die deutschen Ausfuhren günstiger wurden. Hätten Frankreich und die anderen damals gleich ge-

handelt wie Deutschland, wäre Deutschlands Vorsprung niemals zur Geltung gekommen. In Anbetracht dieser Tatsache ist es besonders perfide, der Grand Nation die Verantwortung für Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit umzuhängen. Überhaupt ermöglichte erst die Euroeinführung den Erfolg der deutschen Strategie – zu Zeiten der DM-Mark hätten Aufwertungen die deutsche Kaufkraft im Ausland gestärkt und preisliche Vorsprünge wieder zunichte gemacht. Damit es genau zu keiner dramatischen Auseinanderentwicklung der Preisniveaus kommt, ist eine synchrone Entwicklung von Lohnstückkosten und Preisen das eigentliche Geheimnis einer Währungsunion. Im Gegensatz zu den weniger wichtigen Staatsschulden gibt es aber für eine gemeinsame Inflationsentwicklung keine europäische Steuerung. Wie überall, wo es keine Regeln gibt, herrscht das Faustrecht. Die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik wird von jenen vorgegeben, die ökonomisch am wenigsten Rücksicht nehmen. In der Bundesrepublik wurde der Standortwettbewerb so lange beschworen, bis sie ihn selbst lostrat. Deutschland hat mit seiner aggressiven Handelsstrategie in Europa eine Hegemonialstellung erreicht wie seit 1945 nicht mehr. Während deutsche Regierungen unter Helmut Schmidt oder Helmut Kohl ihre wirtschaftliche Vorherrschaft im Geiste des Nachkriegskonsens noch politisch abgemildert haben, fehlt der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile jegliche Sensibilität für herrisches Gehabe. Diese Rohheit ist ein direktes Resultat von zwei Jahrzehnten unter dem permanenten Eindruck 22

Der Spiegel, 18/2013 http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-93419360.html

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der martialischen Rhetorik des Standortwettbewerbs. Aus ihm speist sich der neu erwachenden Wirtschaftsnationalismus in Deutschland. Das zeitgenössische Gesicht des Nationalismus heißt Standortwettbewerb. Durch das Fehlen einer europäischen Autorität, in der europäische Interessen vermeintlichen nationalen Interessen übergeordnet sind, hat die Kombination aus Standortwettbewerb und Währungsgefängnis den großmannssüchtigen Deutschen wieder seine Schatten über den Kontinent werfen lassen. Es läge vor allem an einer wieder zur Besinnung kommenden deutschen Sozialdemokratie, die zunehmenden Herrschaftsdiskurse in ihrem Heimatland empört zurückzuweisen. Dazu müsste sie aber jene ökonomischen Auffassungen hinter sich lassen, die Deutschland als natürlichen Gewinner eines fairen Wettbewerbs erscheinen lassen. Der Schritt von einer einzelwirtschaftlichen hin zu einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtungsweise wird zur entscheidenden Herausforderung für einen Wandel von Deutschland als Führungsmacht hin zu Deutschland als Partner. Wie 1914 bewegen wir uns auf eine politische Eruption in Europa zu und wie 1914 ist das deutsche Streben nach Dominanz eine wesentliche Ursache der Polarisierung. Noch erkennen die Regierungschefs von Frankreich, Italien und Spanien nicht, dass sie sich für ihr wirtschaftliches Überleben entweder des Euros oder der marktradikalen deutschen Vorherrschaft auf europäischer Ebene entledigen müssen (was wiederum auf einen Austritt Deutschland aus dem Währungsverband hinauslaufen würde). Wenn diese Erkenntnis jedoch reift, werden die politischen Folgen fatal sein. Wohl wird es keinen Krieg

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in Europa geben, aber die Währungsunion wird zerbersten und die europäische Integration wird um eine Generation zurückgeworfen werden. Es gibt natürlich einen anderen Weg – auf diesen haben aber die südeuropäischen Länder keinen Einfluss. Es könnte sein, dass sich in Deutschland die Erkenntnis durchsetzt, dass man mit den anderen europäischen Ländern in einem Boot sitzt und der kurzfristige Vorteil Deutschlands ein langfristiger Nachteil Europas ist, während ein kurzfristiger Vorteil Europas auch zu einem langfristigen Vorteil Deutschlands werden könnte. Die jüngste Anerkennung der dramatischen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse als eventuelles Problem durch das Bundeswirtschaftsministerium ist in dieser Hinsicht ein erster kleiner Lichtblick23. Der Konsens der Eliten, das deutsche Heil im internationalen Wettbewerb zu suchen, scheint jedoch 2014 nicht viel schwächer zu sein als 1914. l

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http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/aussenhandel-bundesregierung-sieht-exportplus-als-problem/9570660.html

15 Jahre Bologna: ftw oder megafail? Argumente 1/2014


Quellen: Bernstein (1907): http://marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1907/11/kolonial.htm Clark, C. (2012): The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914. London: Allen Lane. Fischer, F. (1961): Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. D端sseldorf: Droste Hobsbawm, E. (2008): Das imperiale Zeitalter. Frankfurt am Main: Campus Kautsky, K. (1909): Der Weg zur Macht: Politische Betrachtungen 端ber das Hineinwachsen in die Revolution, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/index.htm M端nkler, H. (2014): Geschichte wiederholt sich nicht. The European, http://.de.theeuropean.eu/herfried-muenkler/7926-historische-analogie-als-politische-orientierung Winkler, H. A. (2008): ZDF-Serie Die Deutschen, Teil 19: Wilhelm und die Welt

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Notizen

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Notizen Argumente 1/2014


ARGUMENTE 1/2014 Europawahl 2014 Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin April 2014

ISSN 14399785 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

ARGUMENTE 1/2014 Europawahl 2014


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