Argumente 3/2013 Die Machtfrage

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ARGUMENTE 3/2013 Die Machtfrage Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Dezember 2013

ISSN 14399785 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

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ARGUMENTE 3/2013 Die Machtfrage

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


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INHALT

Intro: Die Machtfrage .............................................................................................. 4 von Jan Schwarz und Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Magazin Die SPD nach der Bundestagswahl ........................................................................ 8 von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender Vier Tage Kabul, Afghanistan ............................................................................... 14 von Tobias Afsali, Daniel Brunkhorst und Bettina Schulze Rezension: Linke Intellektuelle in der Weimarer Republik .................................. 20 von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand Rezension: Wessen Welt ist die Welt? Geschichte der Jusos .............................. 25 von Julian Zado, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender Rezension: Das demokratische Zeitalter – Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert ................................................................................. 29 von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Schwerpunkt Politische Macht, individuelle Macht, strukturelle Macht .................................... 31 von Michael Heinrich, lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin Die ganze Bäckerei! – Wie Macht und Ressourcen verteilt sind, ist immer auch eine Geschlechterfrage ................................................................ 35 von Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

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Inhalt Argumente 3/2013


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Macht und Internationale Politische Ökonomie – Grundlagen für linke Politik .. 40 von Dr. Andreas Bodemer, Politikwissenschaftler, lebt in Brüssel Gestaltung statt Opposition ................................................................................. 47 von Ralf Stegner, Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD Schleswig-Holstein Strategische Kampagnenfähigkeit ...................................................................... 52 von Benjamin Mikfeld, Geschäftsführer des Denkwerk Demokratie e. V. Die drei Ebenen der Machtverteilung .................................................................. 59 von Michael Vester, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hannover

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INTRO: DIE MACHTFRAGE von Jan Schwarz und Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Einleitung zum Schwerpunkt

Am 22. September waren in Deutschland ca. 62 Millionen Menschen aufgerufen einen neuen Bundestag zu wählen und damit als Souverän die Macht an nun 631 Bundestagsabgeordnete zu übergeben. In einer Demokratie geht alle Macht vom Volke aus und in einer Republik geht die Macht durch Wahlen an die Parlamentarier über. Nun, so die Vorstellung, sollen sie alle wichtigen Entscheidungen im Sinne der Bevölkerung fällen. Doch ist dies in der Realität wirklich so? Können die Parlamentarier, wenn sie mehrheitlich oder gar einig sind, alles verändern wenn sie wollen? Die Antwort der Jusos auf diese Fragen lautete immer: Nein – Politik hat nicht die alleinige Macht, um Gesellschaft nach ihrem freien Willen zu gestalten. Sie unterliegt Zwängen und Interessen, denen sie sich nicht entziehen können. Doch welche sind dies? Wie funktionieren die Mechanismen die dies verhindern? Und wer hat die Macht wirklich inne? Diesen Fragen wollen wir uns in diesem Heft widmen. Daran anschließend geht es natürlich da-

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Intro: Die Machtfrage Argumente 3/2013

rum, welche Rolle und Möglichkeiten der SPD in diesem System zugeschrieben werden können. Die Frage nach der Macht ist seit dem Beginn der Sozialdemokratie die wichtigste, um der Realisierung der eigenen Vorstellung Geltung zu verschaffen. Dabei war immer umstritten, wie sie genau verteilt war und über welchen Weg man sie selbst erreichen wolle. An dieser Frage hat sich die Arbeiterbewegung immer wieder gespalten und sich durch Uneinigkeit selber geschwächt. Auch innerhalb der Jusos kam dieser Frage eine besondere Bedeutung zu, die immer wieder heiß diskutiert wurde. Viele kamen zu den Jusos mit dem Gefühl, dass die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ungleich ist und dass diese Ordnung der Dinge falsch und ungerecht ist. Der Anspruch, diese Zustände zu ändern, lief oft ins Leere und verursachte Enttäuschungen. Wenn man sich mit den Gründen dafür auseinandersetzt, kommt man immer wieder zu den gleichen grundsätzlichen Fragen: Welche ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und Machtkonstellationen


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bestimmen das eigene Leben? Wie kann die Gesellschaft verändert werden? Was wollen wir bewegen? Mit wem und für wen machen wir Politik? Für die Jusos war und ist die Bedeutung von ökonomischer Macht der Ansatzpunkt zur gesellschaftlichen Veränderung. Um einen kleinen Eindruck davon darzustellen, welche Konstanten und Veränderungen sich in der innerverbandlichen Debatte ergeben haben, lohnt sich ein Blick in die wegweisenden Beschlüsse vergangener Juso-Generationen. Eine der wichtigsten historischen Wegmarken war dabei die Linkswende von 1969. Dort verorteten sich die Jusos wieder als sozialistischer Verband innerhalb der SPD. Sie stellten sich den selben Fragen, mit denen sich Jusos auch heute noch beschäftigen. In der entsprechenden Resolution heißt es: „Ansatzpunkt für eine Arbeit der Jungsozialisten in der SPD bildet die kritische Analyse der politischen Programmatik der Partei. Dabei muß von der Einsicht ausgegangen werden, daß Demokratie ohne Sozialismus und Sozialismus ohne Demokratie Leerformeln bleiben. Statt eines falsch verstandenen Pragmatismus streben die Jusos Erkenntnis der gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte an und suchen nach optimalen Modellen für die stärkere Humanisierung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Die Sozialdemokratische Partei auf Bundesebene hat sich immer mehr den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und der vorherrschenden Bewußtseinslage der westdeutschen Bevölkerung angepasst. Dabei hat sie ihre sozialistische Konzeption aufgegeben zugunsten eines falschen Pragmatismus und zugunsten einer weitgehenden Sterilität des Parteilebens und der Parteidiskussion.

Sie hat ihren Charakter als Klassen-Partei aufgegeben, um sich auch bürgerlichen Gruppen zu öffnen und von ihnen wählen zu lassen. Die Ideologie der „Volkspartei“ zwingt alle in der SPD vertretenen Gruppen, schon im vorparlamentarischen Raum Kompromisse einzugehen. Deshalb vertritt die SPD zurzeit nicht konsequent die eigentlichen Interessen des lohnabhängigen Bevölkerungsteils. Ziel sozialdemokratischer politischer Arbeit muß nach Ansicht der Jungsozialisten die Demokratisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft sein in Betrieb und Wirtschaft, Familie und Partei, Schule und Hochschule, Verwaltung und Justiz. Dazu gehört die konsequente Wahrnehmung der Interessen der Lohnabhängigen (Aufgabe der Ideologie der Volkspartei), dazu gehört weiter die Überführung der Produktionsmittel in die Nutzung und Verantwortung der Gesamtgesellschaft. Die SPD darf die bestehende formale Demokratie nur als Ausgangspunkt zur Gestaltung der Gesamtgesellschaft nach demokratischen Grundsätzen ansehen. Heute stellt sich als unmittelbare Aufgabe die Verwirklichung der verfassungsmäßig garantierten Demokratie des Grundgesetzes. Aufgabe künftiger Politik und stetig anzustrebende Zielvorstellung bleibt die Solidarisierung breitester Volksschichten durch eine neue, noch zu entwickelnde sozialistische Theorie und Praxis. Nur so kann das derzeitige Gesellschaftssystem überwunden werden, nur dadurch verwirklichen wir den Sozialismus. (…) Nicht nur die Effektivität des gesamtwirtschaftlichen Prozesses leidet unter diesem kapitalistischen System, sondern es

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entstehen ständig Wirtschaftskrisen. Das System selbst ist nicht in der Lage, diese Krisen zu verhindern oder gar zu beheben, sie sind im System angelegt. Diese Krisen, würden sie nicht gehemmt oder verschleiert, müßten die herrschende Gesellschaftsordnung gefährden. Daß sie gehemmt oder verschleiert werden, ist nur der Auffangfunktion des Staates bzw. der Regierung zuzuschreiben. (…) Es gibt nur eine Möglichkeit, präventiv gegen die Krisenanfälligkeit dieses Systems vorzugehen: indem man es abschafft oder genauer gesagt, indem man die private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel im weitesten Sinne durch gesellschaftliche Verfügungsgewalt ersetzt. Die beste Lösung wäre zweifellos die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Wir meinen aber, daß es zur Zeit, durch die Verfilzung der verschiedensten subjektiven Interessenlagen quer durch die Klasse der Lohnabhängigen und sogar quer durch die verschiedensten Schichtungen dieser Klasse, in unserem Staat nicht möglich ist, eine radikale Veränderung zu erreichen. Es gibt aber sehr viele Vorstufen, die zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel führen oder zumindest schrittweise zum gleichen Effekt, und die nicht so viel Vorurteile mobilisieren wie etwa eine Enteignung. Eine solche neue Wirtschaftsverfassung kann schrittweise eingeführt werden, ohne daß dadurch Belastungen der Stabilität oder gar handfeste Wirtschaftskrisen entstehen müssen. Natürlich müßten ähnliche Schritte auch in anderen europäischen Ländern unternommen werden.“ (Bundesvorstand der Jungsozialisten (Hrsg.), Bundeskongressbeschlüsse Jungsozialisten in der SPD 1969 – 1976, Bonn 1978, S. 1 – 4.)

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Intro: Die Machtfrage Argumente 3/2013

Die Beiträge im Einzelnen Michael Heinrich erörtert in seinem Beitrag die Wirkmächtigkeit ökonomischer Interessen. In einer kapitalistischen Wirtschaft dreht sich alles um den Gewinn und zwar um den größtmöglichen Gewinn. Nicht aufgrund einer irrationalen Gier von Managern und Unternehmensbesitzern, sondern aufgrund eines strukturellen Zwangs in der kapitalistischen Ökonomie. Kapitalistische Unternehmen stehen in permanenter Konkurrenz miteinander. Dies führt zu Druck und Zwängen, die sich der Politik nicht entziehen kann. Katharina Oerder macht deutlich, dass wir von einer faktischen Gleichstellung in der Gesellschaft weiterhin weiter entfernt sind. Mächtige Frauen gibt es bisher nur vereinzelt. Aber ein Pferdeschwanz auf dem Konzernfoto macht noch keine egalitäre Gesellschaft. Patriachale und kapitalistische Machtstrukuren lassen echte Gleichstellung noch immer nicht zu. Sie fordert: Frauen in die Schaltstellen der Macht, denn nur dann gibt es die ganze „Bäckerei“. Dr. Andreas Bodemer betrachtet in seinem Beitrag die internationale Perspektive von Macht. In dem Maße, wie die Globalisierung internationale wirtschaftliche Austauschprozesse und politische Wechselbeziehungen beschleunigt und intensiviert hat, hat die internationale politische Ökonomie in Theorie und Empirie der internationalen Beziehungen eine Renaissance erlebt, in der besondere Verhältnisse und Machtkonstellationen herrschen. Darüber hinaus fragt er sich, wie eine Gegenmacht entwickelt werden könnte.


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Ralf Stegner beschreibt Zustand und Herausforderungen für die SPD. Dabei nimmt er insbesondere die Rolle der Parteilinken in den Blick. Er bewertet deren aktuelle Aufstellung und setzt sich kritisch mit ihrer momentanen strategischen Ausrichtung auseinander. Eine SPD-Linke, die klar Position bezieht für eine emanzipatorische, demokratische und solidarische Politik und gleichzeitig selbstbewusst, kompromiss- und verabredungsfähig ist, kann linke Politik innerparteilich und gesellschaftlich mehrheitsfähig machen. Benjamin Mikfeld geht davon aus, dass das bloße Wissen über die Zustände der Welt sich keineswegs zwangsläufig in ein gesellschaftliches Bewusstsein, das machtvoll nach Veränderung strebt, verlängert. Daher analysiert er die aktuellen politischen Diskurse, von denen aus sich Bündnisse und Machtoptionen ergeben können. Er sucht nach den Perspektiven der SPD über verschiedene Diskurse neue Möglichkeiten zu erschließen. Michael Vester gibt einen ausführlichen Überblick des Gesellschaftsaufbaus der deutschen Gesellschaft. Ausgehend von den ökonomischen Möglichkeiten und persönlichen Einstellungen zeichnet er eine Karte unserer Gesellschaft. In dieser wird deutlich, welche gesellschaftlichen Grenzen es gibt und nach welchen Milieus unterschieden werden kann. Er beschreibt die historische Entwicklung dieser Milieus und die daraus resultierenden politischen Einstellungen.

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DIE SPD NACH DER BUNDESTAGSWAHL von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender

Magazin

Das Wahlergebnis der SPD bei der Bundestagswahl ist durch und durch eine Enttäuschung. Zwar konnte das prozentuale Ergebnis leicht auf 25,7 % verbessert werden, was immerhin knapp 1,5 Millionen WählerInnen mehr waren als 2009. Das Wahlziel, gemeinsam mit den Grünen die Bundesregierung zu stellen, wurde aber mehr als deutlich verfehlt. Beim Verfassen dieses Artikels steckt die SPD mitten in der Frage, was nun hinsichtlich Koalitionsfragen geschehen soll. Aber ganz unabhängig vom Ausgang dieser Fragen bedarf es einer grundlegenden Diskussion über die Ursachen dieses Ergebnisses. Denn eines ist klar: Wenn die SPD bei der nächsten Bundestagswahl wieder in die Lage kommen möchte, eine Regierung anzuführen, bedarf es einer Fehleranalyse und der richtigen Schlussfolgerungen, damit wieder Wahlergebnisse über der 30 % Marke möglich werden. Vorweg: Das ist nicht ganz so einfach, denn es gibt aus meiner Sicht nicht einen zentralen Grund für diese Niederlage, sondern ein ganzes Bündel an

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Ursachen, die zum Teil auch nicht so einfach zu beheben sind. Es soll daher hier nur um einen Aufschlag für eine Diskussion gehen, die weiter geführt werden sollte. 1. Mangelnde Wechselstimmung und fehlende Wirtschaftskompetenz Alle Wahlauswertungen zeigen, dass es keine Wechselstimmung im Lande gab. Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung lag trotz einer desolaten Aufstellung der FDP bei über 50 % – der höchste Wert bei einer Bundestagswahl seit 20 Jahren. Die WählerInnen schätzten die wirtschaftliche Lage überwiegend gut ein und sahen in der Kanzlerin die Garantin für Kontinuität in diesen Fragen. In den Kompetenzwerten für Wirtschaft und der Schaffung bzw. Sicherung von Arbeitsplätzen sowie der Finanz- und Krisenpolitik lag die Union meilenweit vor der SPD. Nun handelt es sich hier zweifelsfrei zunächst um Dinge, für die die SPD wenig kann und gegen die man auch gar nichts haben kann. Wer würde bestreiten, dass die

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allgemeine wirtschaftliche Lage angesichts von stetigen Wachstumsraten nicht die schlechteste ist? Klar, es gibt ein Gerechtigkeitsdefizit, dazu aber unten mehr. Und es fällt eben schwer, mitten in einer Lage einer allgemeinen wirtschaftlichen Prosperität eine Wechselstimmung zu erzeugen. Das alles liegt ein Stück weit in der Natur der Sache. Aber eben nur zum Teil. Denn in allen diesen ökonomischen Fragen hatte und hat die SPD keine wirkliche Alternative zu bieten. Woran es mangelt ist ein kohärentes ökonomisches Konzept, das das Versprechen von wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Gerechtigkeit zusammenfügt und sich damit von konservativ-liberalen Vorstellungen abgrenzt. Ein solches alternatives Konzept ist gewiss keine Banalität und erschöpft sich eben nicht darin, neben der Frage der Gerechtigkeit eine Säule des wirtschaftlichen Sachverstands zu stellen. Ebendies ist aber noch immer die Vorstellung in vielen Teilen der Partei: Es gibt zwei mehr oder minder voneinander getrennte Sphären der Ökonomie und der Gerechtigkeit, die sich mehr oder minder konfliktär gegenüber stehen. Gelegentlich kommt dann als dritte Sphäre noch die Ökologie hinzu. Um es mal am Beispiel der Frage der Krisenbewältigung in Europa zu illustrieren: Im Kern hat die SPD ja auch in den vergangenen vier Jahren den Kurs der Bundesregierung durch Zustimmung zentraler Vorhaben im Bundestag unterstützt. Und dieser Kurs basiert auf der Annahme, dass die hohen Staatsdefizite das Kernproblem – und nicht etwa ein Symptom – sind. Sicherlich wollte und will die SPD die Krisenbewältigung etwas sozialer gestalten, indem etwa mehr Geld für die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit ausgegeben wird. Im Kern ist aber die Vorstellung, dass die Einführung von

Schuldenbremsen in allen Ländern das wichtigste Projekt zur Eindämmung der Krise oder weiterer Krisen ist, auch in der SPD durch und durch verankert, was ja etwa auch bei der Zustimmung zum Fiskalpakt deutlich wurde. Letzteres mag auch noch andere Gründe haben, etwa im hohen Verpflichtungsgefühl gegenüber der europäischen Idee, nur: Es fällt dann eben schwer in der Wahlauseinandersetzung zu begründen, dass eine SPD geführte Regierung die Krise besser in den Griff bekommen würde, wenn im Kern eine zumindest ähnliche Strategie verfolgt werden soll. Wie eben schon bemerkt: Ein solches alternatives makroökonomisches Konzept ist keine Banalität und auch nicht von heute auf morgen gemacht. Und es hat auch etwas mit der Gewinnung von gesellschaftlichen Deutungshoheiten zu tun. Nur bedarf es aus meiner Sicht eines solchen Versuchs, wenn die SPD mittelfristig auch bei Wahlauseinandersetzungen die Deutungshoheit über die Frage der Ökonomie gewinnen möchte. 2. Gutes Programm und fehlende Glaubwürdigkeit Die allermeisten Punkte des Wahlprogramms erfreuten sich in den Monaten vor der Wahl (und übrigens auch noch danach) dagegen einer hohen Popularität. Vom Mindestlohn, über die Eindämmung der Mietpreise, ja sogar bis hin zu einer höheren Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen verfügte die SPD nicht nur viele Forderungen, für die Jusos lange gekämpft hatten, sondern lag mit diesen Punkten auch im gesellschaftlichen Mainstream nach einem mehr an sozialer Gerechtigkeit, mithin also der Kernkompetenz der SPD. Und wurde – offenkundig –

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trotzdem nicht gewählt. Zumindest nicht genug. Denn immerhin 25,7 % taten es ja doch. Und die taten es zu einem überwiegenden Teil aus programmatischen Gründen – spiegelbildlich zur Union, für deren WählerInnen Angela Merkel das Hauptmotiv war. Warum aber wählten nicht mehr Menschen die SPD, wenn doch der Umfragedurchschnitt für die einzelnen Forderungen bei mehr als 50 % Zustimmung lag? Die Daten legen nahe, dass viele Menschen der SPD einfach nicht geglaubt haben, dieses Programm wirklich umsetzen zu wollen oder zu können: Zwar lag die SPD mit 43 zu 24 % in der Kompetenzzuschreibung für soziale Gerechtigkeit sorgen zu können deutlich vor der Union. Das reichte aber offensichtlich nicht. Bei den Wahlsiegen 1998 und 2002 waren die Werte der SPD jeweils um rund 10 Prozentpunkte besser (54 bzw. 52 %), die der Union sind auf gleichem Niveau verharrt. Es ist kein wirklich neuer Befund, dass das Hauptmotiv dafür, SPD zu wählen, ein inhaltliches ist. Und dass es dabei primär um die Frage der sozialen Gerechtigkeit geht. Die Frage, ob die Menschen der SPD abnehmen, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, ist und bleibt quasi die Basis für ein gutes Ergebnis. Das zeigen übrigens auch die Landtagswahlen, bei denen die SPD kräftig gewinnen konnte (etwa Hamburg und NRW). Fehlt diese Basis, geht es nach hinten los. Wie sonst ist es zu erklären, dass trotz enormer Anstrengungen der gesamten Partei (Tür zu Tür Wahlkampf etc.) gerade mal rund ein Drittel der 2009 ins Lager der Nichtwähler Verlorenen zurückgewinnen konnte? Und wie sonst ist es zu erklären, dass zum zweiten Mal in Folge mehr Arbeiter die Union wählten als die SPD? Klar, das hat auch etwas mit Merkels Kurs zu tun, anscheinend für wirklich alle

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Bevölkerungsgruppen etwas zu tun. Das allein erklärt aber noch nicht, warum sich der Abstand im Vergleich zur letzten Bundestagswahl von vier auf acht Prozentpunkte verdoppelt hat. Woran aber liegt diese mangelnde Glaubwürdigkeit? Auch das ist nicht banal. Ein Befund aber ist: Das hat auch noch immer etwas mit der Agenda 2010 zu tun. Aber nicht in einem so einfachen Sinne, wie es sich zunächst anhört. Denn es sind zwar zwei Drittel der Meinung, dass die Agenda 2010 insgesamt gut und Voraussetzung für die wirtschaftliche Prosperität war. Aber genauso viele sind überzeugt, dass die SPD mit dieser Politik ihre Prinzipien aufgegeben hat. Die SPD hinterlässt also einen widersprüchlichen Eindruck. Offensichtlich reicht es nicht, sich programmatisch in einzelnen Fragen von dieser Politik zu distanzieren, wenn man nicht erklären kann, wie ein anderes gerechteres Szenario aussehen könnte, das aber zugleich weiterhin wirtschaftliche Prosperität verspricht. Womit wir wieder beim ersten Abschnitt wären. Mindestens genauso wichtig dürfte aber auch der Praxistest sein. Es reicht offensichtlich nicht aus, in einigen Bundesländern deutlich zu machen, dass man wirklich eine andere Politik macht. Grundsätzlich gilt eben: Vertrauen und Glaubwürdigkeit kann man schnell verspielen, aber nur mit langem Atem wieder zurück gewinnen. 3. Kandidat und Programm Peer Steinbrück hat nach der Wahlniederlage Konsequenzen gezogen. Und zwar nicht so wie andere, die nach verlorenen Wahlen erst recht herausgehobene Funktionen wahrnehmen wollen, sondern im

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Sinne sich zurückzuziehen. Das muss und sollte man respektieren. Deswegen kann und soll es hier auch nicht um ein billiges „Nachtreten“ gehen. Aber ein Artikel, der sich mit den Gründen der Wahlniederlage befasst, wird auf ein paar Anmerkungen nicht verzichten können. Und die allermeisten beziehen sich ja nicht einmal auf die Person Peer Steinbrück selbst. Aber natürlich lag ein Teil des Ergebnisses auch in der Kandidatur Steinbrücks begründet. Da sind auf der einen Seite Dinge über die Professionalität zu sagen. Begonnen mit der überhasteten Ausrufung, über Vortragshonorare bis hin zur Frage des Kanzlergehalts: Die Popularitätskurve schoss vom Herbst 2012 bis zum Frühjahr 2013 von knapp 60 auf nur noch gut 30 % nach unten – bei den SPD Sympathisanten wohlgemerkt. Besser wurde es dann wieder in den letzten vier Wochen des Wahlkampfs, in denen die 40 Prozentmarke wieder nach oben durchbrochen wurde. Das alles sind nicht unbedingt und ausschließlich Fehler Steinbrücks, aber: Das alles hätte man mit ein bisschen mehr Professionalität besser machen können. Und man sollte sich auch die Frage stellen, ob der Modus, in dem drei ältere Männer unter sich die Kanzlerschaft ausmachen, noch zeitgemäß ist. Viel grundsätzlicher ist aber die hinter der Kandidatur Steinbrücks stehende strategische Aufstellung – so es denn Strategie war. Man könnte aber zumindest vermuten, dass es in einigen Köpfen den Plan gab, ein eher linkes auf soziale Gerechtigkeit zugeschnittenes Wahlprogramm mit einem eher Mitte-Mann und Wirtschaftsmenschen Peer Steinbrück zu vereinen, um damit in beiden Feldern und mehr Milieus

punkten zu können. Das ist offensichtlich nicht aufgegangen. Das hat etwas mit den bereits angesprochenen grundsätzlichen Problemen zu tun. Diese wurden aber vom Kandidaten eher verstärkt: Erst in den letzten Wochen ist es ihm zumindest in Ansätzen gelungen, eine Verbindung seiner Wirtschaftskompetenz mit dem Wahlprogramm herzustellen. („Ein Mindestlohn ist nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch effizient“ usw.) Bis zu diesem Zeitpunkt aber gab es keine wirklich wahrgenommene Symbiose von Kandidat und Programm. Dazu mögen auch entsprechende Berichterstattungen beigetragen haben, die den Spalt zwischen Programm und Kandidaten größer gemacht haben, als er de facto war. Steinbrück verlor über diesen Prozess aber in doppelter Hinsicht: Seine Wirtschaftskompetenz konnte er nicht ausspielen und in Fragen der sozialen Gerechtigkeit war er trotzdem unglaubwürdig. Das mag bei einer Person, die lange Zeit Verantwortung getragen hat und innerhalb der eigenen Partei eher für eine wirtschaftsfreundliche Position bekannt war, wenig verwundern. Das hätte man aber ahnen können. So lag Steinbrück bis zur heißen Wahlkampfphase bei den Kompetenzwerten für soziale Gerechtigkeit nur ganz knapp vor Merkel. Und auch am Ende konnte er mit einem Vorsprung von gerade mal 18 Prozentpunkten lange nicht an Gerhard Schröder heranreichen, der 47 bzw. 38 Prozentpunkte Vorsprung vor seinen Unions-Gegenkandidaten hatte. Für einen SPD-Kanzlerkandidaten ist das im Kernbereich der SPD deutlich zu wenig. Was heißt das nun für die Zukunft? Neben der Notwenigkeit einer stärkeren Professionalität dürfte es unabdingbar sein, dass Kandidat und Programm stärker zueinander passen bzw. ein strategisch kluger Um-

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gang mit eventuell bestehenden Differenzen gewählt werden muss. Vor allem aber müssen KanzlerkandidatInnen die Kernkompetenzen der eigenen Partei glaubwürdig verkörpern. Denn sie sind ja schließlich die Figuren im Rampenlicht, an denen sich festmacht, ob die Spiegelstriche eines Regierungsprogramms von den WählerInnen ernst genommen werden. 4. Mangelnde Machtperspektive Auch nach der Bundestagswahl 2009 wurde schnell der Ruf laut, das Verhältnis zur Linkspartei zu entkrampfen, hatte man doch in den letzten Wochen des Wahlkampfs die Erfahrung gemacht, dass es der SPD schlicht an einer Perspektive fehlte, tatsächlich den Kanzler stellen zu können und damit einen Großteil des eigenen Programms auch umsetzen zu können. Welch Parallelen zum Jahr 2013! Wurde die Entkrampfung in der ersten Zeit der Opposition noch halbwegs ernst genommen, so etwa bei der Regierungsbildung in Nordrhein Westfalen 2010, setzte spätestens zur Mitte der Legislaturperiode wieder die dem entgegengesetzte Richtung ein. Befeuert durch einige gute Ergebnisse der SPD bei Landtagswahlen – und gleichermaßen schlechten für die Linkspartei – entstand erneut der Glaube daran, mit einem hinreichend auf Fragen der Gerechtigkeit setzenden Wahlprogramm die Linkspartei auf ein schlechtes Ergebnis auch bei der Bundestagswahl reduzieren zu können, so dass Rot-Grün über eine eigene Mehrheit verfügt. Jedoch beachteten solche Meisterstrategen nicht, dass es sich bei diesen Wahlergebnissen allein um westdeutsche Ergebnisse handelte, die Linkspartei im Osten aber eine starke Kraft ist. Gleichwohl schloss die SPD vor der Wahl

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jede Form von Zusammenarbeit aus, was aber gerade zum Ende des Wahlkampfs, als die Linkspartei immer wieder betonte, prinzipiell zur Zusammenarbeit offen zu sein, durch und durch verkrampft wirkte und auch nicht wirklich inhaltlich begründet werden konnte. Freilich, eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei war und ist gemessen an Umfragewerten keine sonderlich beliebte Konstellation und mit einer entsprechenden Aussage hätten Stimmen verloren werden können. Es ist aber ebenso schwierig, einen Politikwechsel zu versprechen, wenn dieselben Umfragen schon Wochen vor der Wahl deutlich werden lassen, dass eine rot-grüne Mehrheit in weiter Ferne ist. Es muss nun in den kommenden Jahren nicht um ein rot-rot-grünes Projekt gehen. Dafür sind dann in der Tat auch die inhaltlichen Differenzen zu groß. Sondern es muss um eine prinzipielle Offenheit gehen, im Wahlkampf für die eigenen Positionen zu streiten, und nach der Wahl zu entscheiden, mit welchen Parteien eine Zusammenarbeit sinnvoll und möglich ist. Freilich muss aber ein solcher Prozess der Öffnung in den kommenden Jahren vorbereitet werden. Dazu sind geordnete Debatten auch außerhalb des tagespolitischen Geschäfts notwendig, durch die deutlich werden kann, wie stark die Differenzen wirklich sind und ob es eine gemeinsame Grundlage geben kann. 5. Immer noch Volkspartei? Volkspartei zu sein ist sicherlich keine Frage, die sich an einzelnen Wahlergebnissen fest macht. Es ist eine Frage, ob man den Anspruch hat, ein politisches Angebot für zumindest mehrere gesellschaftliche

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Milieus und eben nicht nur für ein bestimmtes und klar zugeschnittenes Klientel aufzuweisen. Das Wahlergebnis sollte aber zumindest zu denken geben, denn bei einem tieferen Blick wird deutlich, dass dieser Anspruch zumindest nicht eingelöst werden konnte. Das beginnt damit, dass die SPD bei weiblichen Wählerinnen miserabel abschneidet und die Union fast 20 Prozentpunkte vor ihr landet. Das geht weiter mit dem Umstand, dass Arbeitslose die einzige WählerInnengruppe stellen, bei der die SPD vor der Union landet; auf das Ergebnis bei ArbeiterInnen wurde oben schon eingegangen. Und das endet mit dem Ergebnis bei jungen WählerInnen, was zwar im Vergleich zu 2009 ein Lichtblick ist, aber noch immer nicht zufrieden stellen kann. Bei Schröders Wahlsiegen war die SPD die Partei, mit der viele junge Menschen ihre Zukunftshoffnungen verbanden, rund 40 % entschieden sich damals für die SPD. Dass bei den jüngsten Altersgruppen (18-24 und 25-34 Jahre) nun ein deutliches Plus von sechs bzw. fünf Prozentpunkten verzeichnet werden kann, macht zwar Hoffnung. Gleichzeitig ist es aber erschreckend, dass auch in diesem Alterssegment die Union deutlich vorne liegt. Neben diesen Befunden ist die regionale Heterogenität ein weiteres Alarmsignal. Zwar kann die SPD im Westen und im Norden einigermaßen zufriedenstellende Ergebnisse einfahren, im Osten und Süden der Republik sieht es aber düster aus.

Republik stehen. Viel spricht dafür, bei der künftigen personellen Aufstellung darauf zu achten, dass eine gewisse Pluralität auch in den Spitzenpositionen zumindest nicht schaden kann. Das ist keine Frage von Quoten. Sondern von politischem Willen.

Auch hier gilt: Es gibt sicherlich keine banalen Antworten und einfache Rezepte, um diese Probleme zu beheben. Ein Teil des Problems dürfte aber in der personellen Aufstellung liegen. Die SPD wird wahrgenommen als eine Partei, an deren Spitze ältere weiße Männer aus dem Westen der

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VIER TAGE KABUL, AFGHANISTAN von Tobias Afsali, Daniel Brunkhorst und Bettina Schulze

Vier Tage Kabul, Afghanistan. Vier Tage in einer Stadt, die auf den ersten Blick vor allem von den Kriegen der letzten 30 Jahre gezeichnet zu sein scheint. Dies ist jedoch nur der oberflächliche Eindruck. Auf den zweiten Blick trifft man viele junge Menschen, die an die Zukunft ihres Landes glauben, daran arbeiten und dabei tagtäglich viel Mut unter Beweis stellen. Unsere Eindrücke Die FES-Afghanistan hat im Frühjahr dieses Jahres eine Delegation der Jusos eingeladen, in Kabul junge Afghaninnen und Afghanen des „Young Leaders Forum“ zu treffen. Dieses Programm, das die FES seit 2004 in Afghanistan durchführt, bildet junge, politisch engagierte und potenzielle zukünftige Führungskräfte Afghanistans fort. Ausgewählt werden sie für das einjährige Programm über ein Bewerbungsverfahren. Während der vier Tage haben wir viele politische Fragen mit den Teilnehmenden des Programms diskutiert. Insbesondere in Gender-Fragen und der Bildungspolitik konnten wir gegenseitig wichtige Aspekte austauschen. So sprach sich beispielsweise die Mehrheit der Teil-

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nehmenden für eine Frauenquote in Parlament und Ministerien aus, befürwortete eine vollständige Koedukation in der Schule und die Stärkung der Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen. Im Bildungsbereich war vor allem die Standardisierung der Bildungsabschlüsse und gesellschaftspolitisch die Verhinderung der Korruption ein zentrales Thema. In der Diskussion um das Verhältnis von Islam und Demokratie stießen wir als Jusos an unsere Grenzen. Da wir für einen säkularen, demokratischen und sozialen Staat eintreten, waren wir mit der Befürwortung theokratischer Herrschaftsmodelle, die nach Meinung einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Regeln des Korans folgen würden, in keinerlei Weise einverstanden. Die Auseinandersetzung zwischen Anhängern eines säkularen bis laizistischen Staates und Befürwortern einer Theokratie wird die afghanische Gesellschaft noch viele Jahre und Jahrzehnte beschäftigen und ist sicherlich eine der Schlüsselfragen für die Zukunft des Landes. In den Pausen des Programms organisierte die FES für uns Gespräche mit jun-


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gen engagierten Afghaninnen und Afghanen, einem Regierungsvertreter Afghanistans, NGOs und dem deutschen Botschafter. Insbesondere die Gespräche mit den jungen JournalistInnen, KünstlerInnenen und WissenschaftlerInnen haben uns nachhaltig beeindruckt. Mit wie viel Mut und Zuversicht trotz vieler Widerstände und sogar lebensbedrohlicher Situationen diese jungen Menschen arbeiten, ist absolut bemerkenswert und verdient riesigen Respekt. Aktuelle politische Lage Afghanistans Afghanistan ist im Jahr 2013 immer noch gespalten, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land (insbesondere Kabul und dem Rest des Landes), die weiterhin bestehenden ethnischen Konflikte zwischen und innerhalb der verschiedenen Volksgruppen, die hohe Arbeitslosigkeit, mangelnde (ausländische) Investitionen und die grassierende Korruption stellen die afghanische Gesellschaft vor unfassbare Herausforderungen. Doch neben allen Problemen hat sich seit 2001 vieles zum Positiven verändert, was nicht nur auf Seiten der ausländischen Kräfte im Land, sondern auch unter der afghanischen Bevölkerung so gesehen wird. Der von GegnerInnen des ISAFEinsatzes oft benutzte Ausspruch „Nichts ist gut in Afghanistan“ ist deshalb eine falsche Pauschalisierung, die der komplexen Situation im Land nicht gerecht wird. Vorstoß der Jugend Rund 70 % der Bevölkerung sind jünger als 35, und genau diese Gruppe drängt mit ihren Forderungen nach weniger Korruption, echter politischer Teilhabe und der

Gleichstellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft immer offensiver nach vorne. Die afghanische Jugend profitiert von zahlreichen neu geschaffenen Bildungsangeboten und einer ungewöhnlich hohen Anbindung an soziale Netzwerke innerhalb und außerhalb des Internets. Leider ergibt sich auch hier eine starke Differenz im Zugang zu Bildungsangeboten, da diese in der breiten Fläche des Landes faktisch nicht existieren. Private Bildungseinrichtungen erfreuen sich eines hohen Zulaufs, da der Staat die Kapazitäten für eine flächendeckende Bildung bislang noch nicht geschafft hat. Allerdings sind diese privaten Bildungseinrichtungen oftmals sehr teuer und können trotzdem keine anerkannten, standardisierten Abschlüsse bieten. Diese fehlende Standardisierung führt dazu, dass viele vermeintlich gut ausgebildete Jugendliche keinen Arbeitsplatz finden. Erneuerung der Zivilgesellschaft Trotz der zahlreichen Anschläge der verbleibenden militanten Taliban, die mehrheitlich gegen afghanische Regierungsgebäude und Polizisten und nicht mehr gegen ausländische Truppen gerichtet sind, bildet sich langsam eine sehr jugendlich geprägte Zivilgesellschaft heraus, die sich von Gewalt nicht einschüchtern lässt. Es bestehen unzählige Netzwerke, in denen sich nicht nur aufstrebende PolitikerInnen, sondern auch KünstlerInnen, JournalistInnen und Mitglieder caritativer Verbände versammeln. Die Spaltung der politisch organisierten Jugend in einen säkularen bis laizistischen Flügel und einen theokratischen Flügel, der die wahhabitische Auslegung des Islams im Sinne der Taliban zwar entschieden ablehnt, die isla-

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mischen Gesetze jedoch zur Grundlage des Staates machen möchte, tritt in jeder politischen Diskussion offensichtlich hervor. In letzterer Gruppe wird „Demokratie“ teilweise als Synonym für die Zeit der sowjetischen Besatzung des Landes von 1979-89 gesehen, welche die heutige Jugend nicht aktiv politisch miterlebt hat. Der Mythos, dass diese Zeit aber für das gesamte Leid der letzten 30 Jahre verantwortlich ist, hält sich hartnäckig. Während die Gräueltaten der Sowjets in ländlichen Gebieten ganze Dörfer auslöschten, wurde Kabul jedoch erst nach dem Abzug der UdSSR von den rivalisierenden Mujaheddin-Gruppen zerstört. Die Verweigerung einer differenzierten Betrachtungsweise wird damit begründet, dass eine schonungslose Aufarbeitung der jüngeren afghanischen Geschichte den fragilen sozialen Frieden zwischen den verschiedenen Ethnien stark gefährden würde. Dieses für eine post-conflict-society typische Phänomen wird erst in einigen Jahren überwunden werden können, wenn die Aufarbeitung der jüngeren afghanischen Geschichte nicht mehr das heutige Konfliktpotenzial innehaben wird. Die juristische Aufklärung der von verschiedensten afghanischen Kräften begangenen Kriegsverbrechen ist mittelfristig jedoch bitter nötig, um Akzeptanz für den neuen afghanischen Staat zu schaffen und einen langfristigen Frieden zu garantieren. Unterstützung erhält die Zivilgesellschaft nicht nur von den zahlreichen ausländischen NGOs, sondern auch von vielen meist gut gebildeten AfghanInnen, die das Land während der sowjetischen Besatzung oder spätestens in den Bürgerkriegsjahren ab 1992 verließen und nun langsam zurückkehren. Ihr Ruf ist in Afghanistan jedoch ambivalent, wird ihre Ausreise bzw. Flucht

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doch vielmals von den im Land verbliebenen Menschen als Verrat gesehen. Auch die Lösung dieses Konflikts, der vor allem in der Hauptstadt deutlich sichtbar ist, wird einige Jahre in Anspruch nehmen. Der Kampf um Freiheitsrechte Der Umgang mit der Meinungs- und Pressefreiheit ist in Afghanistan verglichen mit anderen Staaten der Region durchaus fortschrittlich. Zeitungen und TV-Sender werden staatlich nicht in dem Maße drangsaliert wie man es aufgrund der Berichterstattung hierzulande vermuten würde, sondern können relativ frei und unabhängig berichten. Die Medienvielfalt ist vor allem im Printbereich beeindruckend. Politische TV-Talkshows sind weit verbreitet und treffen auf ein interessiertes Publikum. Dennoch greift der Geheimdienst teilweise durch Einschüchterungen in Vorhaben junger AktivistInnen ein, welche die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse anprangern. Ein besonderer Mangel ist auch hier die fehlende Struktur politischer Kampagnen, die wenn überhaupt nur in der Hauptstadt Kabul oder den größten Städten des Landes funktionieren können. Die politische und gesellschaftliche Spaltung Afghanistans wird hier besonders deutlich. Der Jugend fehlt es an Erfahrung und Konzepten, bestehende Forderungen durch Kampagnen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Oft wird seitens der Jugendlichen resigniert darauf verwiesen, dass man ohnehin kein Gehör finden würde, da das Wort der „Älteren“ gelte. Damit ist die Jugend noch weit von einer revoltierenden politischen Massenbewegung der 68er entfernt, wobei durchaus erste Stimmen zu vernehmen sind, die laut nach Verände-


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rung schreien. Hier begleitend tätig zu werden, ohne einen kulturimperialistischen Ansatz zu verfolgen, wird für die internationale Gemeinschaft in den nächsten 10 Jahren eine wichtige Aufgabe darstellen. Die ethnische Fraktionierung Politische Parteien sind oft ethnisch dominiert (auch wenn sie dieses Merkmal nicht offen vor sich hertragen) und genießen unter der Bevölkerung kein hohes Ansehen. Die kürzlich erfolgte Reduzierung der offiziell registrierten politischen Parteien von 105 auf ca. 45 sollte mehr Klarheit in die diffuse Parteienlandschaft Afghanistans bringen. Der Erfolg dieser Maßnahme bleibt fraglich, da die absolute Mehrheit der afghanischen PolitikerInnen nicht in Parteien, sondern eher in losen Netzwerken organisiert ist oder als „unabhängig“ auftritt. Der Erfolg von Ramazan Bashardost, der 2009 den dritten Platz in der Präsidentschaftswahl belegte, obwohl er nur über sehr geringe finanzielle Ressourcen verfügte, und mit seiner Strategie der Fundamentalkritik an der politischen Elite (Korruption, Vetternwirtschaft) vor allem unter JungwählerInnen aller Bevölkerungsgruppen großen Erfolg hatte, bestätigt diesen Trend. Die bestehenden Parteien zeichnen sich außerdem durch eine gewisse Volatilität im Umgang mit politischen Fragestellungen aus und schmieden im Parlament oftmals Zweckallianzen, die keine langfristige politische Agenda verfolgen. Aufgrund der Vielfältigkeit der Probleme in Afghanistan gibt es kein Patentrezept für einen Friedensprozess. Das Jahrzehnt der „Transition“, d. h. des Übergangs

der gesamten Staatsgewalt auf die Regierung in Kabul, das nach dem vollständigen Abzug der ausländischen Kampftruppen ab 2014 stattfinden soll, muss der afghanischen Regierung die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Insbesondere muss garantiert werden, dass die Sicherheitskräfte des Landes eine Bezahlung erhalten, mit der sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Andernfalls könnten weite Teile der Armee und Polizei weiterhin von lokalen Warlords und regierungsfeindlichen Kräften „gemietet“ werden. Um die Transition erfolgreich abzuschließen, müssen die internationalen Geberländer die Regierung vor Ort kritisch begleiten und Fehlentwicklungen – wie z.B. mangelndes Engagement bei der Bekämpfung von Korruption – offen benennen können. Gleichzeitig muss allen klar sein, dass Afghanistan seine eigenen Gesetze und jahrtausendealten Gesellschaftsstrukturen hat, die nicht innerhalb weniger Jahre grundlegend geändert werden können. Diesen Zielkonflikt zufriedenstellend zu lösen mag zugegebenermaßen schwierig sein. Eine ausgeglichene Balance zwischen der Akzeptanz afghanischer Besonderheiten und der klaren Definition machbarer, zu erreichender Ergebnisse im Antikorruptionskampf, der Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen, der wirtschaftspolitischen Entwicklung und vor allem der Geschlechtergleichstellung zu festgelegten Zeitpunkten seitens der internationalen Gemeinschaft ist jedoch absolut notwendig. Mit stabilen Sicherheitsverhältnissen und einer gesteigerten Rechtssicherheit prophezeien Experten gesteigerte ausländische Investitionen, die wiederum Arbeitsplätze und die Entwicklung der Infrastruktur vorantreiben werden.

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Politische Schlussfolgerungen Nach unserem Aufenthalt ist uns deutlich geworden, dass wir Jusos mit unseren Beschlusslagen zu Afghanistan in den letzten Jahren auf dem richtigen Weg waren: Der Abzug der Nato-Truppen bleibt richtig, der zivile Aufbau muss massiv gestärkt werden. Wir haben es uns nie so leicht gemacht einen sofortigen Abzug aller Truppen zu fordern, und das war im Ergebnis richtig. Einige Punkte sind jedoch besonders wichtig und bedürfen schnellstmöglicher Umsetzung. Asylrecht für MitarbeiterInnen des ISAF In Afghanistan wird die Zukunft der afghanischen MitarbeiterInnen der ISAF breit diskutiert. Deutschland hat – anders als die anderen beteiligten Länder – ein Asylrecht für diese MitarbeiterInnen grundsätzlich ausgeschlossen. Schwierig ist das aus unserer Sicht vor allem bei den MitarbeiterInnen, die in Kampfeinsätze involviert waren. Konkret geht es dabei insbesondere um DolmetscherInnen. Diese Gruppe hat tatsächlich zu befürchten, dass es Gewalt gegen sie und ihre Familien gibt. Diesen Menschen (ca. 700 bis 900 Personen) und ihren Familien will die Bundesregierung das Asyl verwehren. Die Jusos und die SPD sollten sich aber genau dafür einsetzen. Fortführung der Afghanistan-Debatte in Deutschland Das Thema Afghanistan muss zudem in der SPD und der Gesellschaft nicht mehr aus militärischer Perspektive, sondern aus einer zivilen Perspektive diskutiert

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werden. Dies bedeutet insbesondere auch eine Verantwortung der Bundestagsfraktion, die zukünftig nicht mehr die VerteidigungspolitkerInnen, sondern die AußenpolitikerInnen ins Zentrum der Debatte stellen muss. Wir Jusos müssen – genauso wie SPD und Fraktion – dabei wohl gegen den zu erwartenden Effekt „Keine Truppen mehr am Hindukusch, kein Interesse mehr am Hindukusch“ kämpfen. Austauschprogramme zwischen Jusos und der „Taskforce Afghanistan“ der SPD-Bundestagsfraktion sind genauso notwendig wie Austauschprogramme nach Afghanistan. In diese dauerhafte Aufgabe passen unsere Überlegungen zu der weiteren Beteiligung an der Arbeit der FES-Afghanistan. Wenn die FES weiter die Chance bietet, TeamerInnen nach Afghanistan zu bringen, sollte diese Chance unbedingt genutzt werden. Zuletzt noch für die Geschichtsbücher: Kabul hat einen gefährlichen Ruf und ist bestimmt unsicherer als der Berliner Hauptbahnhof Sonntagvormittags um 10 Uhr. Das weiß auch die Junge Union, die es – trotz Einladung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung – bisher nicht geschafft hat, sich vor Ort ein Bild zu machen. Es bleibt also – so oder so – an uns hängen … Fazit Afghanistan ist ein unfassbar beeindruckendes Land. Es hat wahrscheinlich so viele Probleme wie Berge, aber es lohnt sich, dass sich die breite deutsche Öffentlichkeit weiterhin für die Menschen dort einsetzt. Die Bereitschaft zur Kooperation seitens der afghanischen Jugend war immens und wir dürfen nicht zulassen, dass


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unsere Gesellschaft diese Generation genauso vergisst wie die ihrer Eltern vor 25 Jahren. Wir haben die Chance, unseren Grundwert der internationalen Solidarität auch hier praktisch umzusetzen – und die afghanische Jugend zählt auf uns!

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REZENSION: LINKE INTELLEKTUELLE IN DER WEIMARER REPUBLIK von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Bertolt Brecht, Hanns Eisler und Kurt Tucholsky gehören zu den großen Namen kritischer, linker Intellektualität in der Weimarer Republik. Sie stehen für ein politisch-kulturelles Erbe, das es auch heute zu erhalten gilt. Dabei soll es weder um eine Verklärung der Weimarer Republik als vermeintlich goldene Zeit des politischen Theaters oder der politischen Literatur gehen, noch um eine Überweisung der maßgeblichen Künstlerinnen und Künstler in das Museum vergangener Illusionen der politischen Linken. Im Mittelpunkt sollte vielmehr die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk stehen, und das kann sich nach wie vor sehen lassen: Allen dreien gelang es – in unterschiedlichen künstlerischen Feldern – gesellschaftliche Machtmechanismen zu analysieren und pointiert darzustellen. Die hier vorzustellenden aktuellen Biografien bieten einen guten Einstieg in Leben und Werk.

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Bertolt Brecht Der 1898 in Augsburg geborene und 1956 in Berlin verstorbene Bertolt Brecht gehört auch heute noch zu den großen Namen des Theaters. Mit dem Berliner Ensemble in Berlin existiert nach wie vor das von Helene Weigel und ihm gegründete Schauspielhaus, und auch an anderen Bühnen sind regelmäßig Inszenierungen nach Brecht zu sehen. Jan Knopf, Literaturwissenschaftler, Autor und (Mit-)Herausgeber mehrerer Werke über sowie der Werkausgaben von Brecht selbst, hat nun eine mit mehr als 500 Seiten sehr umfangreiche Biografie vorgelegt. Im Mittelpunkt der Darstellung steht das Werk Brechts. Biografisches wird erzählt, aber nicht ins anekdotenhafte ausgewalzt, sodass ein interessantes Bild der persönlichen und intellektuellen Entwicklung Brechts skizziert wird. Im Alltagswissen zu Brecht wenig präsent ist die Tatsache, dass

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er bereits mit Mitte 20 zu den meistdiskutierten Theaterautoren in Deutschland gehörte.

ben. Gerade in Bezug auf die Sowjetunion selbst gelingt dem Autor damit eine wesentlich balanciertere Darstellung.

Eher blass bleiben dagegen die Darstellungen der Frauen an der Seite Brechts. Der Autor unterhielt meist Liebesbeziehungen zu mehreren Frauen gleichzeitig, ins Exil begleiteten ihn beispielsweise neben seiner Ehefrau, der Schauspielerin Helene Weigel, auch die Schauspielerin Margarete Steffin und die kommunistische Aktivistin Ruth Berlau. Zum Verhältnis Brechts zu „seinen“ Frauen gibt es in eigenen, auch kontroversen Darstellungen mehr zu lesen. Der vorliegende Band widmet diesem Thema wenig Aufmerksamkeit und hält sich mit Einschätzungen zurück.

Interessant sind auch die Informationen zu den Versuchen Brechts, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Deutschland Fuß zu fassen. Eine Einreise in die Westzonen war aufgrund des Vetos der Amerikaner – Brecht galt als Kommunist und damit als unerwünscht – nicht möglich, sodass Brecht fast gezwungenermaßen in die DDR ging, wo er jedoch fast von Anfang an mit den Kulturbehörden aneinander geriet, seinen zwischenzeitlich erworbenen österreichischen Pass behielt und die Verwertungsrechte seiner Werke in Westdeutschland beließ.

Knopf stellt die Werke vor und ordnet sie in Brechts unterschiedliche Schaffensperioden ein. Diskutabel sind manche Einschätzungen Knopfs zur zeitgeschichtlichen Lage, insbesondere zur SPD in den 1920er Jahren. Dies beginnt mit der Suggestion, die SPD hätte den Ersten Weltkrieg verhindern können, und mündet in Bezug darauf in die Feststellung, im Jahr 1928 habe nur die KPD gegen die Nazis gestanden. Es fehlt hier beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem spätestens ab Mitte der 1920er Jahre beginnenden ultralinken Kurs der KPD sowie die Einordnung in das größere Bild der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in der Weimarer Republik. Knopf tappt damit in die altbekannte Falle, stärkere verbale Radikalität mit größerem politischem Wollen gleichzusetzen. Demgegenüber werden die „Säuberungen“ der Stalin-Ära in der Sowjetunion sowie das Verhalten deutscher Intellektueller und Kommunisten, die nach Moskau emigriert waren, genau beschrie-

In der Auseinandersetzung um Brechts Theater in der DDR wird nicht nur die kulturelle Engstirnigkeit vieler SEDFunktionäre deutlich. Wichtiger noch ist etwas anderes: Wie lässt sich Theater gestalten, das zu kritischem Denken anregt, und gerade nicht versucht, die Zuschauer suggestiv auf bestimmte Ergebnisse hinzuerziehen. Knopf macht ein gutes Argument, wenn er schreibt, dem Aufbau des Sozialismus hätte ein Erziehen zu kritischem Denken im Sinne Brechts sicherlich besser getan als der Versuch der Vermittlung einer sozialistischen Idylle durch die herrschende DDR-Kulturpolitik. Es ist teilweise atemberaubend, wie präzise Brecht Machtmechanismen und verborgende Triebfaktoren für gesellschaftliche Entwicklungen und menschliches Verhalten analysierte. In den meisten Stücken frappiert, wie wenig Fläche Brecht auf seinen Figuren für die absolute Identifikation oder Ablehnung durch das Publikum lässt.

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Knopf gelingt mit seiner Darstellung etwas sehr wichtiges: Er lässt die Werke nicht hinter der Faszination für den Autor selbst verschwinden. Sicherlich muss man nicht alle Einschätzungen Knopfs zu den einzelnen Werken Brechts teilen. Die Biografie vermittelt nicht nur Kenntnisse über Brechts Lebensweg, sondern arbeitet die Bedeutung Brechts für die Entwicklung kritisch-linken Denkens überzeugend heraus, und macht Lust, wieder intensiver in Brechts Texte und Gedichte einzutauchen.

rinnen und Leser ohne Kenntnisse in Musikwissenschaft müssen sich hier einfach auf das Buch einlassen, im Laufe der Lektüre werden die musikwissenschaftlichen Erläuterungen klarer und damit auch immer spannender. Mit dieser Vorgehensweise erreicht Wißmann ein sehr wichtiges Ergebnis: Eisler nicht nur als Intellektuellen zu historisieren, sondern seine Theorie des Komponierens und seine Werke selbst zu analysieren und damit auch aktuelle Zugänge zu seinem Werk zu schaffen.

Hanns Eisler

Interessant ist, dass Eisler sowohl mit Kurt Tucholsky wie auch mit Brecht zusammenarbeitete, mit Brecht allerdings wesentlich intensiver. So entstand mit Brecht gemeinsam der Film „Kuhle Wampe“, der seit einigen Jahren wieder im Handel erhältlich ist und der zu den beeindrukkenden Zeugnissen der Filmkunst der Weimarer Republik gehört. Im Anhang der Biografie sind einige der Texte zu den Vertonungen Eislers enthalten. Insofern rückt das Buch auch die Wahrnehmung zurecht, die Eisler immer nur in Zusammenhang mit Brecht sieht, und macht die ganze Dimension seines Werkes deutlich.

Hanns Eisler zählt schon fast zu den „vergessenen“ Dichtern und Komponisten. Zudem ist gerade eines seiner künstlerisch nachrangigen Werke, die Nationalhymne der DDR, immer noch eines der bekanntesten Stücke Eislers. Daneben finden vor allem seine in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht entstandenen Lieder nach wie vor Aufmerksamkeit. 1898 in Leipzig geboren, verbrachte Eisler seine Jugend in Wien. 1933 aus dem Land getrieben, lebte er ab 1938 im Exil in den USA. Wie Brecht auch, musste er sich 1947 dem Verhör des Parlamentskomitees für unamerikanische Aktivitäten unterziehen. Nach der Übersiedlung in die DDR 1949 versiegte seine Schaffenskraft nach und nach. Er starb 1962 an einem Herzinfarkt und wurde wie Brecht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beerdigt. Friederike Wißmann nähert sich Hanns Eisler von einer für die meisten Leserinnen und Leser ungewohnten Perspektive – der einer Musikwissenschaftlerin. Ähnlich der ausgiebigen Werkexegese in der Brecht-Biografie taucht auch Wißmann in Eislers Kompositionen ein. Lese-

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Kurt Tucholsky Rolf Hosfeld, in den vergangenen Jahren unter anderem mit einer gelungene Biografie von Karl Marx hervorgetreten, hat sich nun den Journalisten und Literaten Kurt Tucholsky vorgenommen. Tucholsky, 1890 in Berlin geboren, gehörte bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1935 zu den bissigsten politischen Kommentatoren in Deutschland. Dabei war er Grenzgänger zwischen Literatur, Reportage, Kommentar und Feuilleton. Hosfeld beschreibt die Entwicklung des politischen Intellektuel-

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len Tucholsky, der sich der politischen Linken zugehörig fühlte und Mitglied der USPD wurde. Der radikalen Linken gegenüber positionierte sich Tucholsky dem Biografen zufolge kritisch. Gleichzeitig war er einer der hellsichtigsten Kommentatoren zur Entwicklung der politischen Lage in Deutschland – vielleicht auch deshalb, weil er ab Mitte der 1920er Jahre die meiste Zeit im Ausland, vor allem in Frankreich und Schweden, verbrachte.

Die Biografie von Hosfeld ist flüssig geschrieben. Wie die beiden anderen Biografien auch, löst sie zum einen Begeisterung für die Schriften und Diskussionen, an denen Tucholsky sich beteiligt hat, und über den Blick auf Gesellschaft und Kultur aus. Zum anderen aber wird deutlich, wie minoritär diese Linien in Deutschland letztlich vor der Machtergreifung waren, und wie nahezu vollständig ihr Abbruch durch die NS-Diktatur war.

Schon 1930 schrieb Tucholsky in Bezug auf die Ambitionen der Nazis: „Sie wollen den Krieg. Mehr: Sie wollen die Auslöschung Frankreichs und die Unterjochung Mitteleuropas.“ Und kurz nach der Machtübertragung an Hitler: „überstehe Hitler den nächsten Winter, dann werden wir mit ihm begraben.“ Noch im Jahr 1933 wird Tucholsky aus Deutschland ausgebürgert – wie Brecht. Doch zu Bertolt Brecht habe Tucholsky ein distanziertes Verhältnis gehabt, die Lyrik Brechts zwar gelobt, zugleich aber den politischen Stil Brechts missbilligt.

Zum Schluss

Tucholsky war ein Lebemann, der immer Wert auf gute Kleidung oder die Anschaffung neuester technischer Errungenschaften legte. Zugleich unterhielt er komplizierte Beziehungen zu mehreren Frauen – teilweise gleichzeitig. Zudem war Tucholsky sehr dem Alkohol zugeneigt, ein Zustand, der sich im Laufe seines Lebens verschlimmerte. Trotzdem raffte sich Tucholsky nach der Machtergreifung aus dem schwedischen Exil heraus noch einmal auf, um sich maßgeblich an der Kampagne zur Verleihung des Nobelpreises an seinen im KZ schwer misshandelten engen Partner Carl von Ossietzky zu beteiligen.

Allen drei vorgestellten Texten ist gemeinsam, dass sie die vorgestellten Personen nicht als Intellektuelle vergangener Tage, als Exponate einer Museumsausstellung vorstellen. Das Bleibende an allen drei Autoren ist daher auch weniger, dass sie in ihrer Zeit zu den spannendsten linken Intellektuellen gehörten – auch wenn natürlich schon dieser Sachverhalt Aufmerksamkeit und Respekt gebietet. Entscheidender ist, dass alle drei BiografInnen die Intellektuellen und ihr Werk ernst nehmen. Ihre linke Haltung wird als beachtenswert und nicht als allenfalls beschmunzelnswertes Relikt vergangener Zeiten ernst genommen. Damit entsteht Raum für die Diskussionen um die Aktualität des Werkes und um heutige Anschlussmöglichkeiten. Die Biografien bieten viele politische Einsichten und präzise Einordnungen der Werke. Obwohl links der SPD positioniert, blieben sie auf Distanz zur KPD – wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Eisler ging hier am stärksten auf Tuchfühlung, indem er sich auch an parteieigenen Agitations- und Propagandaprojekten beteiligte. Alle bewahrten sich aber ihre inne-

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re Unabhängigkeit, was besonders in der Darstellung der schwierigen Situation für Brecht und Eisler in der DDR deutlich wird. Die Einschätzung Jan Knopfs zu Brecht lässt sich daher gut auf das Erbe aller drei Autoren nach dem Ende der NSDiktatur beziehen: „(…) die Schneisen des Vergessens, die in die Geschichte der Weimarer Republik geschlagen wurden – und dies vor allem in den fünfziger Jahren, als in der Bundesrepublik die Nazi-Vergangenheit bewältigt, das heißt mit Gewalt verdrängt wurde, und die DDR meinte, mit dem Faschismus nichts zu tun gehabt zu haben, und statt dessen unfröhlich an die idealen Muster der Klassik und eines unkritischen Volkstums anknüpfte, womit in ganz Deutschland ein realistisches Geschichtsbewusstsein ausgetrieben wurde.“

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Literatur Jan Knopf: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten, Carl Hanser Verlag, München 2012, 559 Seiten, 27,90 €. Friederike Wißmann: Hanns Eisler. Komponist. Weltbürger. Revolutionär, Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München 2012, 301 Seiten, 19,99 €. Rolf Hosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben, Siedler Verlag, München 2012, 320 Seiten, 21,99 €.

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REZENSION: WESSEN WELT IST DIE WELT? GESCHICHTE DER JUSOS von Julian Zado, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Schon zu Beginn dieses Buches ist klar: Die Jusos haben allen Grund dazu, stolz zu sein auf ihren historischen Beitrag zur Entwicklung der SPD. Wenn manche SPD-FunktionärInnen (meistens die, die früher bei den Jusos nichts geworden sind), die Jusos als unbedeutende Arbeitsgemeinschaft verspotten, können die Jusos entgegen halten: Die SPD wurde von den Jusos gegründet. Denn August Bebel war bei Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei erst 29 Jahre. Die Jusos als Organisation wurden dagegen „erst“ 1904 gegründet. Sie sind damit heute eine Jugendorganisation, die eine unglaublich reichhaltige und vielfältige Geschichte hinter sich hat. Das kollektive Gedächtnis der Jusos hat aus dieser vor allem Schlagworte abgespeichert: „Linkswende“, „Stamokap“, „Der Schröder war früher mal für den Sozialismus“, „Wie bitte? DER Schröder??“ –die Geschichten, die man gehört hat, stehen aber oft ziem-

lich zusammenhangslos nebeneinander. Deshalb ist es fast erstaunlich, dass es bisher keine Monografie gab, die die Geschichte der Jusos zusammenhängend darstellt. Es ist ein großer Verdienst der Autoren Thilo Scholle und Jan Schwarz, so viel sei hier vorweg genommen, diese Lücke mit dem vorliegenden Buch geschlossen zu haben. Es ist gar nicht so einfach, eine Jugendorganisation der SPD zu gründen Im Buch wird zunächst die Situation junger Menschen um die Jahrhundertwende beschrieben. Viele Kinder mussten bereits ab neun Jahren voll arbeiten. Spätestens ab 16 gehörte man zu den Er wachsenen. Eine Jugendphase im heutigen Sinne gab es also gar nicht und dementsprechend fehlte auch zunächst eine Zielgruppe für eine Jugendorganisation. Deshalb entstanden auch die Jusos aus den ersten Lehrlingsvereinen, die 1904 gegründet

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wurden, das Jahr, das die Jusos als ihr Gründungsdatum ansehen. Diese beschäftigten sich mit ihrer politischen Weiterbildung und der Verbesserung ihrer Ausbildungsbedingungen. Denn die waren zur damaligen Zeit schlecht. Lehrlinge wurden als „billige Arbeitskräfte eingesetzt und kosteten praktisch nichts“ (S. 27). Als sich dann 1904 der Lehrling Paul Nähring erhängte, weil er die Demütigungen und Misshandlungen seines Meisters, denen er wie viele andere ausgesetzt war, nicht mehr aushielt, gründeten sich erste Lehrlingsgruppen – allerdings nicht ohne massiven Repressionen ausgesetzt zu sein. Wenn sie sich überhaupt treffen durften, dann war jede „politische“ Aktivität verboten und wurde bestraft. Politische Rechte mussten erst über viele Jahre erkämpft werden. In diesem Kampf haben viele junge Menschen große Opfer gebracht. Leider waren auch die SPD und die Gewerkschaften dabei keine große Hilfe, denn sie fokussierten sich zunächst auf die „erwachsenen“ ArbeitnehmerInnen und nahmen die Repressionen gegen Lehrlinge zunächst in Kauf (S. 28). Es ist wichtig, dass die Autoren hier die Gründung der Jusos in ihren geschichtlichen Kontext einordnen. So bemerkt man erst, unter welch angenehmen Umständen die Jusos heute Politik machen können. Die Gründung der Jusos als bundesweiter Verband geschah über einen Zusammenschluss lokaler Gruppen sowie über erste überregionale Treffen. Diese keineswegs geradlinige Entwicklung beschreiben die Autoren detailreich. Erst zu Zeiten des Ersten Weltkrieges gab es bundesweite Aktivitäten. Dabei war der SPD eine eigenständige Jugendorganisation innerhalb der Partei von Anfang an ein Dorn

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im Auge. Die organisatorische Annäherung an die SPD erfolgte nicht ohne Widerstand. Während der linke Parteiflügel von Anfang an mit den Jungen sympathisierte, wollten andere eine eigenständige Organisation neben der Partei verhindern (S. 31ff.). So war die weitere organisatorische Entwicklung auch von zahlreichen Kompromissen geprägt und die Mutterpartei versuchte, alle Entscheidungskompetenzen bei sich zu behalten. In den folgenden Kapiteln gelingt es den Autoren, die Entwicklungen bei den Jusos in den Kontext der Entwicklung der SPD und der Weimarer Republik insgesamt zu stellen. Dabei gab es für die Jusos günstige und ungünstige Faktoren. Die politische Freiheit nahm insgesamt im Land zu, die Repressionen gingen zurück, sodass es deutlich leichter war, politisch tätig zu werden. Andererseits war die SPD von heftigen Flügelkämpfen geprägt. In der Partei setzten sich bis Anfang der 1920er Jahre die SkeptikerInnen einer eigenständigen Jugendpolitik durch. Erlaubt war danach nur politische Bildungsarbeit, nicht aber der eigenständige politische Kampf. Dennoch gelang den Jusos, dass 1920 ihre Verfasstheit als Jugendorganisation der SPD auch in der Satzung verankert wurde. Insgesamt ging es also mit den Jusos seit ihrer Gründung bis dahin kontinuierlich „bergauf“. Dies änderte sich erst mit dem Beginn des nationalsozialistischen Terrors 1933, dem auch viele Jusos zum Opfer fielen. Das dieser dunklen Epoche gewidmete Kapitel gehört zu den aufwühlendsten des Buches. Beeindruckend anschaulich wird dann die Entwicklung der Jusos in der Bundesrepublik erklärt. Hier wird vor allem eine

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Frage beantwortet, die bisher kaum jemand so ganz genau beantworten konnte: Was haben die Jusos eigentlich vor ihrer Linkswende 1969 gemacht? In vielen Runden bei den Jusos heißt es dann oft, die Jusos wären nur eine Plakatklebetruppe gewesen. Richtig daran ist, dass das heutige Selbstverständnis als eigenständiger und kritischer Jugendverband damals nicht vorhanden war. Unpolitisch waren die Jusos auch damals nicht. So gab es ganz praktische Kampagnen, in denen Jugendliche vor den Werbern der Fremdenlegion gewarnt wurden. Beschrieben werden aber auch die internen Machtkämpfe, die zur Linkswende führten. Hier wird besonders deutlich, dass es einen jahrelangen Prozess und keinen ruckartigen Putsch gab, der zu diesem Ereignis führte. In diesen Kapiteln des Buches, die die 1960er und 70er Jahre beschreiben, zeigt sich ganz deutlich ein Umstand, den dieses Buch vielen anderen Geschichtsbüchern voraushat. Die Autoren waren bzw. sind selbst lange Zeit bei den Jusos und in einer ihrer Strömungen aktiv, wozu sie sich auch offen im Vorwort „bekennen“. Was man als Zeichen mangelnder Objektivität deuten könnte, wird hier zu einem echten Vorteil: Es gelingt den Autoren anschaulich die innerverbandlichen Auseinandersetzungen wiederzugeben. Wer waren die WortführerInnen? Wer hat mit wem zusammen gearbeitet? Wie verliefen die Auseinandersetzungen? Vor allem: Inwieweit hatten äußere Symbole (zum Beispiel Abstimmungen) etwas mit tiefer liegenden Konflikten zu tun? BeobachterInnen von außen scheitern an dieser Darstellung oft, weil sie sich wenig in die AkteurInnen hineindenken können. Die äußeren Fakten alleine ergeben aber meist kein kohärentes Gesamtbild. Ein gutes Beispiel dafür ist die Deutung einer

Personalwahl. Hier wäre es zu kurz gesprungen, wenn man annähme, dass langfristige strategische Erwägungen keine Rolle spielten. Diesen „Fehler“ macht dieses Buch nicht. Hier wird genau erörtert, welche Personen warum strategisch zusammen gearbeitet haben. Gleichzeitig werden aber auch die unterschiedlichen inhaltlichen Positionen, die hinter diesen Konflikten standen, dargestellt. Bestes Beispiel ist die Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen den drei Hauptströmungen der Jusos (S. 144ff.): Reformsozialisten („Refos“), Stamokaps (aka Juso-Linke aka Hannoveraner Kreis) sowie AntirevisionistInnen. Hier werden die Strömungskämpfe bei den Jusos, die jeweiligen Positionen und das Verhältnis zur SPD beschrieben. Zudem werden die theoretischen Positionen in den Kontext des staatstheoretischen Diskurses der gesellschaftlichen Linken in Deutschland insgesamt eingeordnet. Deshalb ist das Buch zugleich eine kleine Einführung in eine kritische Staatstheorie. Hier wird auch der erhebliche Rechercheaufwand, der für dieses Buch notwendig war, deutlich. Strömungskämpfe mehr als 40 Jahre nach ihrem Ende zu beschreiben ist ja nicht so einfach. Zumal damals ja viel weniger schriftlich festgehalten wurde. Und offizielle Dokumente helfen ja nur bedingt weiter. Es bringt zum Beispiel wenig, isoliert die Beschlüsse der Bundeskongresse dieser Zeit zu betrachten. Diese stellten oft eine Zusammenstellung von Kompromissen und zufälligen Abstimmungsergebnissen dar, in denen Textfragmente aller Strömungen enthalten waren. Die Autoren mussten sich hier die Mühe machen, auch die ursprünglichen Skizzen und Entwürfe nebeneinander zu legen.

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In den weiteren Kapiteln schließt sich die Darstellung der Geschichte bis zur Gegenwart an. Dabei lassen die Autoren keine Zeitspanne ganz aus, setzen aber Schwerpunkte, sodass die Darstellung prägnant und leicht lesbar bleibt. Das Buch ist eine beeindruckende Chronik der Jusos, die detail- und kenntnisreich geschrieben ist. Kontinuitäten werden ebenso wie Brüche aufgezeigt. Dabei merkt man den Autoren an, dass sie stolz sind auf diesen Verband. Wenn man liest, was dieser Verband schon durchgemacht und geleistet hat, sind sie es zu Recht. Gleichzeitig wird aber auch Kritik geübt, etwa dann, wenn sich einmal Strömungskämpfe nicht mehr inhaltlich begründeten, sondern nur noch taktisch betrieben wurden. Wenn man heute bei den Jusos aktiv ist, dann muss man nicht jede Entwicklung der Generationen vorher kennen. Wenn man sich aber dafür interessiert, dann ist dieses Buch auf jeden Fall ein großer Gewinn. Denn dieses Buch ist Ansporn und Mahnung zugleich. Ansporn, weil man merkt, dass die Jusos eben nicht nur irgendein Verband sind, sondern einer mit einer bemerkenswerten Geschichte. Mahnung, weil deutlich wird, dass vorherige Juso-Generationen viel größere Sorgen hatten als wir heute. Man kann Strömungskämpfe um unterschiedliche Konzepte des demokratischen Sozialismus belächeln. Man kann aber auch anerkennen, dass hier auf einem hohen inhaltlichen Niveau sehr grundlegende Fragen diskutiert wurden. Etwas, was heutzutage vielleicht manchmal zu kurz gerät.

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Mahnung aber auch deshalb, weil man erfährt, wie viele junge Menschen vor langer Zeit unter großen persönlichen Opfern für eine Demokratie gekämpft haben, die uns heutzutage das politische Engagement sehr leicht macht. Wie viel Mut bedurfte es, einen Jugendverein zu gründen, obwohl man dafür ins Gefängnis kommen oder die Familie bestraft werden konnte. Wenn man dieses und ähnliches liest, dann relativiert sich doch so manche Auseinandersetzung, die wir heutzutage führen, sehr stark. Das heißt nicht, dass diese unwichtig wären. Aber es führt doch dazu, dass man so manche aktuelle Entwicklung etwas gelassener sieht. Nicht nur deshalb sei allen Jusos empfohlen, dieses Buch zu lesen und darüber in den Gliederungen zu diskutieren. Literatur Thilo Scholle / Jan Schwarz: Wessen Welt ist die Welt? Geschichte der Jusos, 240 Seiten, Format: 14 x 22 cm, 20,00 €, ISBN 978-3-86602-761-9

Rezension: Wessen Welt ist die Welt? Geschichte der Jusos Argumente 3/2013


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REZENSION: DAS DEMOKRATISCHE ZEITALTER Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Die aktuelle Theorielosigkeit der Politik ist ein in Leserbriefen und Blogbeiträgen gern beklagtes Phänomen. Politisches Handeln werde nicht mehr in einen größeren Kontext gestellt, politische Ideenfamilien seien kaum noch zu erkennen – ergo: die etablierten Parteien auch kaum noch voneinander zu unterscheiden. Und dies obwohl die globalen Probleme wie die Regulierung der Finanzmärkte oder der drohende ökologische Kollaps geradezu nach großen Lösungen schrien. Wie eine kalte Dusche muss vor diesem Hintergrund das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen wirken, bei dem Angela Merkel und die CDU unter vollständigem Verzicht auf eine politische Erzählung klare Wahlsieger wurden. Wie konnte es also zur gerade auf der politischen Linken beklagten Theorielosigkeit der Politik kommen? Der Band „Das demokratische Zeitalter“ von JanWerner Müller bietet hier interessante Einsichten. Der in den USA lehrende Politikwissenschaftler zeichnet eine dichte

und sprachlich ausgesprochen gelungene Geschichte politischen Denkens in Europa ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er Jahre. Müller gelingt es, jeweils in wenigen Sätzen die politischen Denker und Debatten auch vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund prägnant einzuordnen. Ökonomische Rahmenbedingungen und Veränderungen werden allerdings nur sehr kursorisch beachtet. Breiten Raum nehmen dabei die beiden Großideologien des 20. Jahrhunderts, Kommunismus und Faschismus, ein. Müller interessiert der Vergleich beider Ideologien nur am Rande. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Verbindung von politischer Theorie und tatsächlichem politischen Handeln in den jeweiligen Ländern selbst – wobei Müller in Bezug auf den Stalinismus gerade dessen vollständige Theorielosigkeit betont. Gerade vor dem Hintergrund der Beschreibungen von Kommunismus und Faschismus wird auch der englische Originaltitel des Bandes plausibel: „Contesting democracy“ klingt

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in Bezug auf die Realitäten denn auch pessimistischer – und möglicherweise realistischer – als der optimistische deutsche Titel. In Bezug auf den deutschen Sprachraum spielt vor allem der nationalsozialistische Staat eine Rolle. Auf Seiten der politischen Linken konzentriert Müller sich vor allem auf den Theoriestrang des Austromarxismus, den er kundig und umfassend diskutiert. Debatten innerhalb der deutschen Sozialdemokratie werden kaum angesprochen, weitere Theoriestränge „demokratischen“ Denkens finden sich im deutschen Sprachraum bis Mitte des 20. Jahrhunderts kaum. Thesen vom „goldenen Zeitalter“ der Demokratie oder gar eines sozialdemokratischen Zeitalters für die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg steht Müller ablehnend gegenüber. Im Wesentlichen sei die europäische Nachkriegsordnung das Werk christdemokratischer Kräfte gewesen. Gerade in Bezug auf die Christdemokratie fördert der Autor weitere interessante Einsichten zutage: Die Christdemokratie habe den Katholizismus mit der Moderne versöhnt. Vor allem aber habe sie eine hinreichend anständige Form des öffentlichen Lebens versprochen, die es dem Bürger ermöglicht habe, sich von der Politik abzuwenden, wenn sie dies wünschten. Gerade diese Analyse der Funktion christdemokratischer Politik ließe sich auch vor dem Hintergrund des Erfolgs der Bundesregierung Merkel weiterdenken. Anders als manche politischen Kommentatoren meinen, hätte sich Angela Merkel in dieser Lesart damit gerade nicht von den

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Grundideen der Christdemokratie verabschiedet, von einer „Sozialdemokratisierung“ ihrer Politik ganz zu schweigen. Im Gegenteil: Möglicherweise hat Merkel genau dieses Grundgefühl der Christdemokratie wiederbeleben können: Die anständige Verwaltung und Wahrung des Status Quo ohne zu großen Veränderungsdruck. Was das Comeback politischer Großsysteme betrifft, ist Müller skeptisch, grenzt sich allerdings von Thesen über ein „Ende der Geschichte“ ab. Zwar sei die Zeit der großen Ideologien vorbei. Druck, die eigenen Vorschläge „in den Mantel weltgeschichtlich wirksamer Ideologien“ zu kleiden, bestehe nicht mehr. Müller bleibt aber skeptisch, ob das „demokratische Zeitalter“ nun dauerhaft gesiegt habe, da viele seiner intellektuellen Grundlagen erodiert oder fast völlig vergessen seien. Einem Ausblick auf die weitere Entwicklung entzieht sich Müller mit der Feststellung, Demokratie sei institutionalisierte Ungewissheit. Und so schließt sich vielleicht der Kreis zu den Thesen zum Wahlerfolg der CDU: Nur wer deutlich machen kann, dass das ungewisse in der Zukunft besser sein wird als dass, was man für den Moment besitzt, wird auch in der Lage sein, mit seinen eigenen Versuchen, politischem Handeln wieder einen ideellen Rahmen zu geben, erfolgreich sein können.

Literatur Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 509 Seiten, 39,95 €

Rezension: Das demokratische Zeitalter Argumente 3/2013


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POLITISCHE MACHT, INDIVIDUELLE MACHT, STRUKTURELLE MACHT Von Michael Heinrich, lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin. Er ist Mitglied in der Redaktion von „PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“ und Autor u. a. von „Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung“ (Stuttgart: Schmetterling Verlag)

Schwerpunkt

Laut Grundgesetz gilt in Deutschland: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt“ (Art. 20.2). Hat also das Volk die (politische) Macht? Die wichtigste Funktion der Wahl besteht darin, dass das Volk eine Regierung loswerden kann, mit der es nicht mehr zufrieden ist. Anders als in autoritären Systemen wie etwa der DDR muss man nicht gleich eine Revolution anzetteln und das ganze staatliche System umstürzen, nur um eine Regierung auszuwechseln. Die Abwahl einer Regierung haben wir gerade erlebt: die schwarz-gelbe Regierung hat im neuen Parlament keine Mehrheit mehr. Zwar hat Schwarz-Gelb immer noch mehr Wähler und Wählerinnen auf sich vereinigt als Rot-Rot-Grün; da die FDP aber an der 5-%-Hürde gescheitert

ist, hat sich dies nicht in mehr Abgeordnetenmandaten niedergeschlagen. Manchmal helfen auch die Besonderheiten des Wahlrechts bei der Abwahl (oder der Bestätigung) einer Regierung mit. In vielen Ländern mit Mehrheitswahlrecht oder einem Zuschlag für die stärkste Partei reichen oft 40 % der Stimmen, um weit über 50 % der Mandate zu erhalten. Mit der Abwahl der Regierung hat sich die politische Macht des Volkes dann aber auch schon erschöpft. Bereits bei der Koalitionsbildung haben die WählerInnen schon nicht mehr mitzureden. Ob es in Deutschland zu einer großen Koalition, zu einer schwarz-grünen oder gar zu einer rot-rot-grünen Koalition kommt, entscheiden allein die Parteien. Nach der Stimmabgabe sind die WählerInnen zu bloßen Zuschauern degradiert. Koalitionen, gehaltene oder – weit häufiger – gebrochene

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Wahlversprechen, fähige oder unfähige Minister, alles das muss das Wahlvolk über sich ergehen lassen. Wirkliche politische Macht hat es dabei nicht. Haben nun die gewählten Repräsentanten des Volkes die (politische) Macht? Die Mehrheit der Abgeordneten beschließt Gesetze und wählt Kanzler oder Kanzlerin. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum kann der Kanzler jederzeit gestürzt und durch eine andere Person ersetzt werden. Insofern liegt bei Parlament und Regierung die politische Macht. Der Einfluss der einzelnen Abgeordneten ist aber sehr beschränkt, faktisch entscheidet in jeder Partei die Fraktions- und Parteiführung über das Abstimmungsverhalten. Insbesondere für die jeweiligen Regierungsparteien sind bei diesen Entscheidungen aber nicht allein ihre Parteiprogramme oder die vor der Wahl gegebenen Versprechungen relevant, sondern auch allerhand „Umstände“: der Einfluss der verschiedenen Interessengruppen, die Reaktion der Medien und das Verhalten besonderer pressure groups, die für die eigene Partei eine besondere Bedeutung (entweder als wichtige Unterstützer oder als gefährliche Gegner) haben. Die jeweiligen Gruppen verfügen über ein riesiges Arsenal von legalen Methoden der Beeinflussung (über Medien gestreute Expertenmeinungen, Parteispenden, materielle und immaterielle Wahlkampfunterstützung für einzelne PolitikerInnen, lukrative Jobs nach dem Ausscheiden aus der Politik etc.), so dass es illegaler Methoden wie etwa anonymer Geldzahlungen meistens gar nicht bedarf, um Einfluss zu nehmen. Ist die Einflussnahme einzelner Gruppen und die Willfährigkeit der Politiker allzu dreist (wie etwa bei der von der FDP

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durchgesetzten Verringerung der Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen – nachdem die FDP eine Millionenspende von den Besitzern der Hotelkette Mövenpick erhalten hatte), wird der Vorgang in den Medien gerne skandalisiert, am Einfluss der Lobbygruppen ändert dies aber in aller Regel nichts. In der Tat ist der Einfluss von denjenigen, die über Geld und ökonomische Macht verfügen, enorm, während Gruppen, die lediglich die besseren Argumente auf ihrer Seite haben, häufig auf verlorenem Posten stehen. Sind die PolitikerInnen also nur Marionetten an den Fäden von Konzernen und pressure groups, die über eine entsprechende individuelle Macht verfügen? In einem Teil des linken Spektrums wird dies genau so gesehen. Und in vielen Situationen ist diese Sichtweise auch nicht falsch. Als Konsequenz wird dann gefordert, dass endlich andere (aufrechte, nicht korrumpierte) PolitikerInnen an die Macht sollen, die sich dieser Beeinflussung entziehen. In der Regel folgt dann aber nach einigen Jahren die Enttäuschung. Gerhard Schröder, in den 1970er Jahren als Vertreter einer marxistischen Strömung zum Juso-Vorsitzenden gewählt, wurde gut 20 Jahre später Bundeskanzler. Hier verdiente er sich dann die Bezeichnung „Genosse der Bosse“. Dass PolitikerInnen den Einflüsterungen einflussreicher Gruppen unterliegen, ist nicht falsch, es ist aber nur ein Teil der Wahrheit – und zwar der harmlosere Teil. Der weniger harmlose kommt in einer Aussage von Helmut Schmidt zum Vorschein. In den 1970er Jahren erklärte er den Kritikern seiner allzu unternehmensfreundlichen Politik: „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen

Politische Macht, individuelle Macht, strukturelle Macht Argumente 3/2013


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und die Arbeitsplätze von übermorgen.“ Korrekterweise hätte er ein „vielleicht“ und ein „eventuell“ in den Satz einfügen müssen: „Die Gewinne von heute sind vielleicht die Investitionen von morgen und eventuell die Arbeitsplätze von übermorgen.“ Immerhin gab es seit den frühen 1980er Jahren enorme Steigerungen der Gewinne – und gleichzeitig eine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Trotzdem trifft der Satz von Helmut Schmidt einen entscheidenden Punkt. In einer kapitalistischen Wirtschaft dreht sich alles um den Gewinn und zwar um den größtmöglichen Gewinn. Nicht aufgrund einer irrationalen Gier von Managern und Unternehmensbesitzern, sondern aufgrund eines strukturellen Zwangs in der kapitalistischen Ökonomie. Kapitalistische Unternehmen stehen in permanenter Konkurrenz miteinander. Dies gilt nicht nur für kleine und mittlere, sondern auch für Großunternehmen. Auch wenn manche Unternehmen in ihrer Branche auf dem nationalen Markt kaum noch einen Konkurrenten zu fürchten haben, auf dem Weltmarkt sind sie nicht allein. Um in der Konkurrenz bestehen zu können, um auf veränderte technische Bedingungen und neue Marktverhältnisse reagieren zu können, müssen Unternehmen investieren können und das können sie nur, wenn sie möglichst hohe Gewinne einfahren. Nicht nur weil diese Gewinne investiert werden können, sie bilden auch die Basis, um Investitionskredite von Banken oder am Kapitalmarkt zu erhalten. Für das längerfristige Überleben eines Unternehmens ist ein möglichst hoher Gewinn unabdingbar. Ob die Investitionen dann tatsächlich zu neuen Arbeitsplätzen führen, ist zwar fraglich, denn es wird auch in Rationalisierungsprozesse investiert. Ohne Investitionen wird es aber keine Ar-

beitsplätze und keine zusätzlichen Steuereinnahmen geben. Damit steht aber jede Regierung, egal von welchen Parteien sie gestellt wird, unter dem Druck, dafür zu sorgen, dass in der kapitalistischen Wirtschaft möglichst hohe Profite gemacht werden können. Bei sinkenden Profiten kommt es nicht nur zu geringeren Investitionen, steigender Arbeitslosigkeit und höheren Sozialausgaben, auch die Steuereinnahmen des Staates gehen zurück, es fallen weniger Lohnsteuern, weniger Gewinnsteuern und weniger Umsatzsteuern an. Somit unterliegt jede Regierung der strukturellen Macht, die von der kapitalistischen Ökonomie ausgeht. Allerdings gibt es große Spielräume beim Umgang mit dieser Macht. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ihr nachgegeben wird, indem man dem Ruf nach „mehr Markt“ folgt und soziale Sicherungen einreißt, wie bei den „Arbeitsmarktreformen“ der rot-grünen Bundesregierung 20022005, oder ob man Regulierungen aufrecht erhält und versucht, Investitionen durch direkte Anreize und durch Verbesserung der Infrastruktur zu fördern. Beide Male handelt es sich um eine prokapitalistische Politik, aber mit sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Auswirkungen. Gibt es keine Möglichkeit, sich dieser strukturellen Macht zu entziehen? So lange wie das kapitalistische Wirtschaftssystem existiert, wird es durch die Kraft der von ihm produzierten „Sachzwänge“ diese strukturelle Macht ausüben. Will man diese strukturelle Macht wirklich loswerden, muss man das kapitalistische System abschaffen. D. h. aber nicht, dass es bis dahin nichts zu tun gäbe. Man kann versuchen, die Machtbasis des Systems zu verändern.

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Dabei spielen vor allem zwei Fronten in der Auseinandersetzung mit dem Kapital eine Rolle. Die eine Front betrifft die vom Kapital Ausgebeuteten, die um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Ihre Kampfposition wird geschwächt, wenn ihnen Kündigungsschutz und soziale Absicherungen genommen werden und wenn über die Ausdehnung von Leiharbeit die Konkurrenz unter den Beschäftigten geschürt wird. Wird die soziale Absicherung verbessert, wird Leiharbeit eingeschränkt, dann stellt das nicht den Kapitalismus in Frage, verbessert aber die Möglichkeiten der Beschäftigten, sich gegen die täglichen Zumutungen der kapitalistischen Produktion zu wehren. Die andere Front ist die politische. Nimmt man die immer weitere Ausdehnung der Profitlogik hin und befördert sie noch durch Privatisierung öffentlicher Unternehmen oder durch eine „Public-Private Partnership“ bei der Erstellung öffentlicher Leistungen (die dann eben auch der Profitlogik unterliegen müssen), dann gibt man dem Kapitalismus und der von ihm ausgehenden strukturellen Macht immer größere Spielräume. Versucht man dagegen der Profitlogik Grenzen zu setzen, ihre Ausdehnung wenn möglich umzukehren und dem Gemeinwesen die Kontrolle über einen Teil seiner ökonomischen Grundlagen zurückzugeben, dann schränkt man die strukturelle Macht des kapitalistischen Systems ein. Insofern ist es eine nicht unwichtige Entwicklung, dass viele Gemeinden wieder Stadtwerke zur Elektrizitätsversorgung gründen, oder dass es in Hamburg und Berlin Initiativen zur Rekommunalisierung der Energienetze gibt. In Hamburg gab es bereits einen in dieser

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Hinsicht erfolgreichen Volksentscheid, in Berlin steht er bevor. Die SPD-geführten Regierungen beider Städte sprachen sich allerdings gegen eine solche Rekommunalisierung aus. Um der strukturellen Macht des Kapitals entgegenzuwirken, kann eine solche Rekommunalisierung aber nur der erste Schritt sein. Unterstehen Stadtwerke, öffentlicher Nahverkehr und kommunale Wohnungsbauunternehmen einfach nur den lokalen Verwaltungen und PolitikerInnen, dann ist die Gefahr groß, dass nach einer Weile die nächste Privatisierungswelle kommt und dass sich die Verwaltung dieses öffentlichen Eigentums nicht an den Interessen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit ausrichtet. Erst wenn die öffentlichen Betriebe wirksam durch gewählte Verwaltungsräte kontrolliert werden, erst wenn über die Politik der kommunalen Unternehmen aufgrund einer öffentlichen Debatte entschieden wird, besteht die Chance, dass diese Bereiche tatsächlich der Profitlogik entzogen werden. Wenn sich die Verwaltung öffentlichen Eigentums in Richtung einer Selbstverwaltung durch die betroffenen BürgerInnen entwickeln würde, dann hätte sich auch deren politische Machtlosigkeit ein stückweit verringert, was für weitere Kämpfe nur von Vorteil wäre.

Politische Macht, individuelle Macht, strukturelle Macht Argumente 3/2013


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DIE GANZE BÄCKEREI! Wie Macht und Ressourcen verteilt sind ist immer auch eine Geschlechterfrage von Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Frauen sind jetzt an der Macht, heißt es oft. Sie stürmen die Chefetagen, rütteln an den Zäunen, sägen an den Chefsesseln, sind Chefredakteurinnen, Polit-Moderatorinnen, Pilotinnen. Frauen haben es also endlich geschafft, Jahrtausende alte Diskriminierungen über Bord zu werfen. Sie können (theoretisch) alles erreichen.

Ja, es gibt mächtige Frauen – aber Frauen sind nicht mächtig, nur einige von ihnen. Vereinzelt streunen sie durch eine Männerwelt, machen die Arbeitswelt heterogener, die Fotoszenen bunter. Ein Pferdeschwanz auf dem Konzernfoto macht aber noch keine egalitäre Gesellschaft. Verteilung von Macht

Trotzdem sind wir von einer faktischen Gleichstellung, in der das Geschlecht keine Rolle spielt, weiterhin weit entfernt. Dass eine der mächtigsten PolitikerInnen der Welt, Angela Merkel, eine Frau ist, hat vor allem deshalb einen Nachrichtenwert, weil sie damit als eine der wenigsten Personen auf den Gruppenfotos der G20- Gipfel keinen dunklen Hosenanzug trägt, sondern ein Kostüm in gedecktem rot oder apricot. Dass mit Marissa Meyer bei Yahoo eine Frau an der Spitze eines der größten amerikanischen InternetUnternehmen sitzt, ist ja auch nur deshalb so interessant, da neben ihr keine Frau einem so großen Konzern vorsteht.

Macht ist der Zugang zu Ressourcen und die Verfügungsgewalt über sie. Macht, das ist Geld, Verantwortung, Posten, Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit, Deutungshoheit, Hegemonialität. Und diese Machtressourcen sind in unserer Gesellschaft noch immer völlig eindeutig verteilt: Sie liegen in Männerhand. Männer haben sowohl ein höheres Einkommen von im Schnitt über 20 % mehr als Frauen, als auch insgesamt ein höheres Vermögen. Durchschnittlich besaßen Männer in Deutschland 2007 gut 108.000 Euro – 38.000 Euro mehr als Frauen. Seit 2002 hat sich die Vermögensschere zwischen den Geschlechtern noch einmal geöffnet. Wissenschaftler (drei Männer) erklären die großen Unterschiede so: Erstens

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halten Männer häufiger bestimmte Vermögenskomponenten wie Geld, Versicherungen und insbesondere Betriebsvermögen. Gerade Produktionsmittel zu besitzen ist weiterhin eine absolute Männerdomäne. Auf eine Frau mit Betriebsvermögen kommen gut drei Männer. Außerdem ist auch die durchschnittliche Höhe aller Vermögenskomponenten bei Männern höher als bei Frauen.1 Der Anteil der weiblichen Führungskräfte in der Wirtschaft ist in den vergangenen zehn Jahren zwar von 22 % auf 30 % gestiegen (was immer noch bedeutet: 70 % aller Führungskräfte sind Männer). In der Top-Etage sind Frauen aber weiterhin eine Seltenheit. Lediglich 3 % der Vorstände der 200 größten Unternehmen sind weiblich. Auch an den höchsten Positionen der Universitäten sind Frauen heillos unterrepräsentiert.2 Der Frauenanteil bei Professuren liegt nur bei rund 20 %.3 Damit sind es zu gut 80 % Männer, die unseren Nachwuchs ausbilden, der zukünftigen Bildungselite von Deutschland Physik, Management, Literatur, Musik, Politik, Sprachwissenschaft und Geografie erklären – und natürlich ihre Vorstellung einer gerechten und egalitären Gesellschaft gleich mitliefern. Wichtig ist dabei auch, wer in Deutschland die Deutungshoheit über Geschehnisse besitzt. Wer bestimmt, was wir über bestimmte Dinge wissen, wie wir über diese denken und reden. Nur ein gutes Drittel aller JournalistInnen sind Frauen. Dabei sind diese zwar formell deutlich besser ausgebildet (mehr Hochschulabschlüsse oder Promotionen), dennoch gilt auch hier: Je höher die Hierarchiestufe in Medienunternehmen, desto weniger sind Frauen beteiligt.4

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Auch Sach- oder Geschichtsbücher werden deutlich häufiger von Männern als von Frauen geschrieben. Wikipedia zum Beispiel, die wichtigste Online-Enzyklopädie und Informationsquellen in allen Lebenslagen, wird zu mehr als 90 % von Männern verfasst. Diese Artikel definieren, was wichtig genug ist aufgenommen zu werden und was nicht, definieren die Sichtweise auf Geschehnisse.5 Hier wird Herrschaftswissen definiert – und zwar von Männern. „Wissen ist Macht“ – ein geflügeltes Wort des englischen Philosophen Francis Bacon zur Zeit der Aufklärung. Heute sehen wir jedoch: Wissen ist zwar ein wichtiger Schlüssel zur Macht, bedeutet aber noch lange nicht Macht selbst. Mädchen machen mittlerweile häufiger Abitur als Jungen, sie erreichen die besseren Abschlüsse an der Universität, sind häufig offener, besser organisiert. Die höheren Positionen, mehr Geld oder Einfluss erreichen sie jedoch trotzdem nicht. Die gute oder auch bessere Bildung von (jungen) Frauen muss auch vom Arbeitsmarkt abgerufen werden – sonst nützt uns dieses große Wissen gar nichts. Hier sieht man also abermals, dass die Verteilungskämpfe um Macht und Einfluss nicht nur eine Bildungskomponente haben – sondern auch eine geschlechtliche. „Zeit ist Geld“, heißt es ebenso und ist in unserer durchkapitalisierten Gesellschaft wahrer denn je. Und auch hier offenbart sich die geschlechtliche Ungerechtigkeit deutlich. Pro Woche arbeiten Frauen im Durchschnitt 30 Stunden unbezahlt (meist bedeutet dies, sie leisten sogenannte „Familienarbeit“), während sie nur für knapp 12 Stunden einen Lohn bekommen.


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Männer hingegen arbeiten gerade mal 19,5 Stunden unbezahlt und werden für 22,5 Stunden wöchentlich bezahlt. Diese Zahlen belegen noch einmal deutlich, wie groß der Unterschied in der Arbeitsaufteilung zwischen Männern und Frauen ist. Macht hat System Nach dem Kampf um die Erhöhung der Stunden der Erwerbsarbeit von Frauen geht es nun häufig (zusätzlich) um den Kampf der Reduktion von Stunden in der Hausarbeit. Studien belegen immer wieder: Selbst wenn beide Partner Vollzeit arbeiten, bleibt die meiste Familienarbeit sicher in Frauenhand. Während einzelne, angenehme und/oder prestigeträchtige Arbeiten (das Baumhaus für die Kinder bauen, der Sonntagsbraten oder das Festessen für Freunde) auch mal von Männern übernommen werden, bleibt das tagtägliche Kleinklein, aus der 90 % der Hausarbeit besteht, wie Spülen, Staubsaugen oder die Pausenbrote für die Kleinen, an den Frauen hängen. Diese Ungleichheit ist weder zufällig noch einfach nur ungerecht – sie hat System. Ein System, dass sich unter anderem darüber aufrechterhalten hat, dass Frauen unentgeltliche Familienarbeit leisten, während Männer Erwerbsarbeit nachgehen. Die Unterdrückung der Frau ist eine notwendige Bedingung für das Funktionieren des kapitalistischen Systems. Frauen verrichten die sogenannte „Reproduktionsarbeit“, die notwendig ist, um die tagtägliche Reproduktion der Arbeitskraft herbeizuführen, damit am nächsten Tag wieder frisch in der Fabrik gestanden werden kann: Nahrungsbeschaffung und -

verarbeitung, Herstellung der Hygiene in Haus und Kleidung, Produktion und Reparatur von Kleidung und Textilien sowie natürlich die „Reproduktionsarbeit“ im wahrsten Sinne des Wortes: Pflege- und Sorgearbeit an Kindern und (Schwieger-) Eltern. Produktive Erwerbsarbeit kann es ohne Reproduktionsarbeit nicht geben. Dennoch wird das eine entlohnt und gesellschaftlich anerkannt während Reproduktionsarbeit eine unentgeltliche Tätigkeit bleibt. So lange Frauen gesellschaftlich auf unentgeltliche Familienarbeit festgelegt und beschränkt werden, können sie damit nicht an unserem kapitalistischen System, in dem Geld die Währung für alles ist, teilhaben. Reproduktionsarbeit lässt sich im Notfall durch Erwerbsarbeit erkaufen (essen gehen, Putzhilfe, Reinigung). So existieren Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, die in der Aufteilung von Reproduktionsarbeit und Erwerbsarbeit im kapitalistischen System angelegt sind und so lange erhalten bleiben, wie das eine Geschlecht allein für die Reproduktionsarbeit und das andere allein für die Erwerbsarbeit zuständig ist. Ausübung von Macht Diese unterschiedliche Machtverteilung wird durch das kapitalistische System also immer weiter ausgeübt und reproduziert. Dennoch wäre es verkürzt zu meinen: Wenn es Gleichstellung eh erst nach der Systemüberwindung geben kann, müssen wir jetzt nicht daran arbeiten. Wie es eine wirkliche feministische Gesellschaft nur in einem anderen System geben kann, kann es den demokratischen Sozialismus auch nur im Feminismus geben.

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Macht wird zum Beispiel durch Sprache ausgeübt. Die dominierende männliche Form führt zu einer weiteren Perpetuierung der patriarchalen Gesellschaft. Das Verstecken des Weiblichen hinter „sind immer mit gemeint“-Floskeln demonstriert die Bedeutung, die Frauen an vielen Stellen der Gesellschaft immer noch haben. Dies anzuprangern sei kleinlich oder dumm, da man offensichtlich nicht verstanden hat, ja „mitgemeint“ worden zu sein. Studien zeigen jedoch eindrucksvoll, dass dies mit Nichten der Fall ist. Sagt man Menschen, sie sollen an einen Arzt, einen Piloten, einen Jogger denken, werden damit männliche Personen assoziiert. Dies ist ebenso der Fall, wenn ein Begriff wie Pfleger oder Kindergärtner genannt wird, also Tätigkeiten, die deutlich häufiger von Frauen als von Männern ausgeübt werden. Dass die Akzeptanz „mitgemeint“ zu sein keinesfalls umgekehrt für Männer ebenso gilt, zeigte der Fall der Universität Leipzig. Die dortige Entscheidung, in ihren Richtlinien nur noch das generische Femininum „Professorin“ zu verwenden, stieß in der Öffentlichkeit nicht nur auf Unverständnis oder Häme und Spott, sondern auf offene Aggressivität. Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich auch der Klassiker der Machtausübung von Männern gegen Frauen: Gewalt. Schläge, die Frauen und junge Mädchen in Frauenhäuser flüchten lässt. Sexuelle Übergriffe oder Belästigungen, die viel zu viele Frauen häufig erleben müssen. In einigen Fällen eben auch Tötungsdelikte – die in den Zeitungen dann gerne mit „Familiendrama“ betitelt werden, wohinter aber fast immer Gewalt von Männern gegen Frauen steht.

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Lösungen der Machtfrage Geld, Verantwortung, Positionen werden in Deutschland, insbesondere aufgrund der Erfolge der Arbeiterbewegung, nicht (mehr) nur vererbt, sondern diese werden durch Erwerbsarbeit erworben. Über Erwerbsarbeit (und nicht über Familien- oder Reproduktionsarbeit) ist unsere Gesellschaft aufgebaut. Die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt ist deshalb zentral. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt für eine geschlechtergerechte Gesellschaft. Diese kann jedoch erst vollständig gelingen, wenn sich einerseits die Gesellschaft auf die veränderten Ansprüche von Frauen einstellt. Neben ausreichenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten und mehr Zeitautonomie ist es zentral, dass Frauen ihre gesellschaftliche Rolle als Menschen, Arbeitnehmerinnen behalten, auch wenn sie Kinder bekommen – und nicht nur als Mütter wahrgenommen werden. Andererseits müssen sich auch Männer auf diese veränderte Situation und veränderte Ansprüche von Frauen einstellen. Frauen verdienen nicht nur das Brot (eigenständige Erwerbsarbeit), sondern auch die Rosen (nicht die ganze Familienund Hausarbeit alleine machen zu müssen). Dies ist es, was eine sozialistische geschlechtergerechte Gesellschaft von einer kapitalistischen, neoliberalen unterscheidet. Männer müssen dafür ein Stück ihrer Macht abgeben und akzeptieren, dass Frauen nach dieser greifen. Zu häufig werden Frauen nur dann nach vorne gelassen, wenn es für Männer zu unattraktiv oder schwierig wäre, ein Amt auszufüllen, oder


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einen Posten zu besetzten. Dieses Phänomen wird auch als „Gläserne Klippe“ bezeichnet. Ein Unternehmen wurde heruntergewirtschaftet, eine Partei hat eine Wahl krachend verloren, Erfolge scheinen nicht in Sicht. In solchen Situationen kommen dann häufiger doch mal Frauen zum Zuge. Ein prominentes Beispiel ist Hannelore Kraft, die SPD-Parteivorsitzende von NRW werden durfte, nachdem kurz vorher die Herzkammer der Sozialdemokratie an die CDU verloren gegangen war. Ein anderes Phänomen ist, dass gerne Frauen als Nachfolgerinnen ausgewählt werden, wenn die Altvorderen das Gefühl haben, sie gut im Griff haben zu können. Wir wollen nicht von euer Gnaden eingesetzt, sondern selbst die Strippenzieherinnen werden.

Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden – eine gerechte Gesellschaft muss immer auch eine feministische sein.

Frauen müssen sich dabei hinter die Ohren schreiben: Das Streben nach Macht ist nicht anrüchig oder unedel – das Streben nach Macht ist notwendig. Selbst wenn stimmt, was häufig gesagt wird („Frauen führen anders“ oder „arbeiten lieber im Team anstatt als Einzelkämpferin“) gilt doch: Nur wer in den Schaltstellen der Macht sitzt, kann eine Gesellschaft wirklich nachhaltig verändern. Dafür müssen Frauen ganz nach oben – dort wo Geld, Zeit, Einfluss und Deutungshoheit verteilt werden. Sprich: Wenn wir lieber butterscotchCupcake statt Herrentorte essen, brauchen wir die ganze verdammte Bäckerei! Schluss Es kann keine gerechte Gesellschaft geben, in der Machtressourcen zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt sind.

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MACHT UND INTERNATIONALE POLITISCHE ÖKONOMIE – GRUNDLAGEN FÜR LINKE POLITIK von Dr. Andreas Bodemer, Politikwissenschaftler, lebt in Brüssel

Die USA sind ohne Zweifel eine Weltmacht. Deutschland unter Angela Merkel ist der wohl mächtigste Staat Europas. Multinationale Unternehmen wie Siemens, Shell oder Telefonica haben unbestritten die Mittel, das Handeln von zentralen politischen Akteuren auf nationaler und internationaler Ebene entscheidend in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der IWF hat Mittel und Möglichkeiten, Einzelstaaten seine Rezepte zu verordnen. Doch wie verhält es sich mit anderen internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen? Die NATO beispielsweise ist eine militärische Macht mit entsprechenden Ressourcen, sie kann jedoch ihr vermeintliches Mandat in Afghanistan – nämlich Frieden zu schaffen (was immer das heißen mag) – offensichtlich nicht erfüllen. Was ist mit der UNO, die sich vor der Weltöffentlich-

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keit oft mit ihrer eigenen Machtlosigkeit konfrontiert sieht? Warum sind die Verantwortlichen für die Weltfinanzkrise wieder bzw. immer noch an den Schalthebeln der Macht? Gibt es die viel beschworene „Macht des Konsumenten“, untragbare und unwürdige Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken Asiens zu verbessern? Was sind Greenpeace, Amnesty International oder internationale Gewerkschaftsverbände in der Lage zu leisten? Was ist Macht? Diese Eingangsfragen als ein erster, unbedarfter Blick auf „Macht“ in der internationalen Politik legen offen, dass dem Konzept unzählige Ursachen, Facetten und Definitionen sowie Unterschiede enormer Tragweite zugrunde liegen (müssen). Eindimensionale Erklärungsmuster, wie sie

Macht und internationale politische Ökonomie – Grundlagen für linke Politik Argumente 3/2013


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lange vorherrschten, greifen offensichtlich nicht mehr – so sie es denn je taten. Doch was bedeutet dies genau? In diesem Artikel wird nach theoretischen Ansätzen gesucht, um internationale Politik unter multidimensionalen Gesichtspunkten in ihren Zusammenhängen „greifbar“ zu machen. Notwendigerweise kann dieses Unternehmen hier nur skizzenhaft unternommen werden und das Folgende mag einer „tour de force“ gleichen. Es wird dabei nicht davon ausgegangen, dass Theorie bis ins Detail erklären kann, „was die Welt im Innersten zusammen hält“. Es geht vielmehr darum, Instrumente zu entwickeln, die erlauben, sowohl Strukturen wie auch zentrale Akteure in der internationalen Politik bzw. der internationalen politischen Ökonomie (IPÖ) zu identifizieren. Im Idealfall können damit Ansatzpunkte für eine linke Politik gefunden werden, die auf die Durchsetzung sozialer und politischer Menschenrechte, einschließlich globaler sozialer Gerechtigkeit, gerichtet ist. „Macht“ ist das Herz alles Politischen. Bertrand Russell definierte sie als das „Hervorbringen beabsichtigter Wirkungen“1. In Anlehnung an seine Schrift „Formen der Macht“, die ursprünglich bereits 1938 unter dem Originaltitel „Power. A New Social Analysis“ erschien, kann Macht in ihren einzelnen Dimensionen begriffen werden als: Gewalt, wirtschaftliche Macht, Macht über Meinung, Macht in und durch Organisationen sowie Regierungsmacht. Diese Formen stellen eine Auswahl dar, die in dem vorliegenden Kontext weiterführend erscheinen. Russells sehr allgemeine Definition wird mithilfe Max Webers’ Gedanken entscheidend ergänzt. Dieser schreibt von Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Be-

ziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“2. Damit werden sowohl die Gegnerschaft als auch die der Macht zugrundeliegenden Ressourcen als Elemente eingeführt. Machtfragen in der Internationalen Politik Zunächst sollte sich allerdings auf die Suche nach den entscheidenden Problemfeldern und Herausforderungen internationaler Politik gemacht werden. Tragischerweise genügt dieser Tage ein Blick vor die Haustür. Allseits sieht man geschockt auf die kleine Mittelmeerinsel Lampedusa als dem Ort, an dem Not und Elend in anderen Teilen der Welt wie im Brennglas sichtbar werden. Zwar steht auf einem anderen Blatt, wie die Nachrichten von den Schiffsunglücken vor den Toren Südeuropas, bei denen hunderte Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten ums Leben kamen und weiterhin kommen, rezipiert werden bzw. welche Lehren daraus gezogen werden. Vor dem Maß der Perspektivlosigkeit der Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben die damit verbundenen Gefahren auf sich nehmen, kann jedoch niemand die Augen verschließen. Die Verzweiflung der „Wirtschaftsflüchtlinge“ – die in äußerst problematischer Weise in einen Gegensatz zu „politischen“ Flüchtlingen gebracht werden –, die aus materieller Not ihre Länder verlassen, macht eines deutlich: Mehr denn je ist die zentrale Frage, auf die nationale wie inter1

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Russell, Bertrand (2009): Formen der Macht, S.34. zitiert nach Atac et al. (2011): Politik und Peripherie, S.15.

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nationale Politik eine Antwort finden muss, die der Ressourcenverteilung.

dels ausgehandelt und dabei von drei Komponenten bestimmt: Erstens, ein Set von Regeln und Prinzipien, zweitens intergouvernementale Aushandlungsprozesse und drittens Streitschlichtungsmechanismen. Zwar reflektiert die WTO nach wie vor Machtverhältnisse, z. B. in den Streitschlichtungsverfahren, in denen kleine Staaten ohne diplomatische Vertretungen von den Bürokratien großer Staaten „überrannt“ werden. Dabei sind jedoch die Mitglieder auf dem Papier nach dem Prinzip „Ein-Staat-eine-Stimme“ und dem Nichtdiskriminierungsprinzip gleichberechtigt, so dass die Dominanz einzelner Staaten „gezähmt“ wird. Deutlich wird das daran, dass in der aktuellen Welthandelsrunde, der DohaRunde, seit 2001 keine entscheidende Einigung in zentralen Fragen erreicht werden konnte. Ob der neue Generaldirektor, der Brasilianer Carvalho de Azevêdo, als erster Vertreter aus einem Entwicklungs- bzw. Schwellenland anders als sein Vorgänger Pascal Lamy den entscheidenden Durchbruch anstoßen kann, bleibt abzuwarten. Unabhängig davon ist eine Folge der Blockade die Verlagerung von Entscheidungsfindungen in informelle Zirkel bzw. die G20 und vor allem in regionale bzw. bilaterale Freihandelsabkommen. Ob diese Umgehung von inklusiveren multilateralen Verhandlungsstrukturen zu begrüßen ist, ist äußerst fraglich.

In dem Maße, wie die Globalisierung internationale wirtschaftliche Austauschprozesse und politische Wechselbeziehungen beschleunigt und intensiviert hat, hat die internationale politische Ökonomie in Theorie und Empirie der internationalen Beziehungen eine Renaissance erlebt. Nach Thomas Oatley ist der zentrale Untersuchungsgegenstand der IPÖ „der politische Kampf zwischen Gewinnern und Verlierern globalen ökonomischen Austauschs“3. John Ravenhill begreift den zentralen Fokus der IPÖ als die Frage nach der „Beziehung zwischen privater und öffentlicher Macht bei der Verteilung knapper Ressourcen“4. Die traditionellen Untersuchungsgegenstände der IPÖ – Welthandelssystem, Weltfinanzsystem, Multinationale Unternehmen (MNU) und Entwicklung – können im vorliegenden Kontext analytisch als „battle grounds“ dienen. Also als die Orte, an denen die Kämpfe der Gewinner und Verlierer der Globalisierung „Politik machen“. Im Folgenden kann nur grundrissartig auf die Bereiche eingegangen werden, die jedoch wichtig zu benennen sind: 1. Das Welthandelssystem sowie das Weltfinanzsystem sind im Unterschied zu MNUs und dem Politikfeld Entwicklung politische Systeme. Daraus folgen grundsätzlich andere Akteurskonstellationen. Im Zentrum des Welthandelssystems steht die Welthandelsorganisation bzw. ihr Vorgänger, das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT). Im Rahmen der WTO bzw. des GATT-Regimes werden und wurden die Grundlagen des Freihan-

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Oatley, Thomas (2012): International Political Economy, S.2. Ravenhill, John (2011): Global Political Economy, S.21.

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2. Das Weltfinanzsystem ist für jegliche wirtschaftliche Entwicklung von zentraler Bedeutung. Wie in den letzten Jahren mehr als deutlich geworden ist, können globale Finanzkrisen verheerende Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit haben. Die Eurozone liefert derzeit ein eindrückliches Beispiel fehlender Balance von Finanzsystemen. 3. Multinationale Unternehmen sind Firmen, die Produktionsstätten in mindestens zwei Staaten unterhalten und in jedem der Tochterunternehmen mindestens 10 % des Betriebsvermögens kontrollieren. Ihre Bedeutung für die Weltwirtschaft wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass MNUs ca. ein Drittel der globalen Exporte abwickeln und ca. 77 Millionen Menschen beschäftigen. Die wirtschaftliche Aktivität der 100 größten dieser Firmen macht 4 % des globalen BIP aus. Eine Zahl, die umso beeindruckender ist, als weltweit ca. 82.000 MNUs tätig sind. 92 jener 100 MNUs haben ihren Hauptsitz in den USA, Westeuropa oder Japan und 73 % der Mutterfirmen aller 82.000 MNUs sind in Industrieländern angesiedelt.5 Eng verbunden damit ist die Frage von Foreign Direct Investment (FDI), also grenzüberschreitende Investitionen eines Unternehmens in Produktionsstätten in einem anderen Land. Das Bemühen einzelner Länder in vorauseilendem Gehorsam „attraktive Standortbedingungen“, sprich im wesentlichen niedrigere Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu bieten und dafür in einen Wettbewerb mit anderen Ländern und Regionen zu treten (race-to-the-bot-

tom), bietet zu einem großen Teil die Grundlage für die Machtposition der MNUs. Davon, dass die erwirtschafteten Gewinne im Land bleiben und den Beschäftigten bzw. Massen der Bevölkerung statt den Eliten zugutekommen, kann nicht ausgegangen werden. 4. Sieht man heutzutage auf die Welt, hat es keine Entwicklungsagenda gegeben, die nachhaltige Entwicklungspolitik entworfen, angeleitet und umgesetzt hätte: Ansätze der Importsubstituierenden Industrialisierung sind größtenteils gescheitert, der Entwicklungsstaat mit einigen (wichtigen) Ausnahmen ebenso, vom Washington-Konsens ganz zu schweigen. Die Ergebnisse der Millenium Development Goals sind ebenfalls ernüchternd, und es ist mehr als fraglich, dass in dem Katalog der Sustainable Development Goals entscheidende Punkte wie die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit aufgenommen werden. Immerhin wird wohl der Social Protection Floor, der einen Mindestschutz an sozialer Sicherung vorsieht, eines der neuen Ziele sein. Dieser Katalog könnte noch um weitere Felder ergänzt werden, etwa um die Umweltpolitik oder internationale Arbeits- und Sozialpolitik bzw. Standards. Diese sollten jedoch nicht am Rande erörtert werden, sondern verdienten gesonderte Betrachtung, die hier nicht geleistet werden kann.

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Oatley, S.160ff.

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Kritische Internationale Politische Ökonomie Es folgt keine weitere akademische Diskussion der einzelnen Strömungen der internationalen politischen Ökonomie oder ihrer internen Debatten. Wichtig ist jedoch die insbesondere von Neo-Gramscianern vertretene Kritik an „Mainstream“Autoren aufgrund ihres „unkritischen“ und positivistisch primär erklärenden Herangehens. Diese Schule hat sich zur Aufgabe gemacht, „die Ursachen und tragenden Strukturen von transnationalen Kooperations-, Macht- und Gewaltverhältnissen zu ergründen“6. Dabei „wird Hegemonie nicht als Dominanz eines ökonomisch und militärisch mächtigen Nationalstaats verstanden, sondern als ein konsensual abgestützter Modus transnationaler Vergesellschaftung, einschließlich der Klassenbeziehungen, ideologischen Verhältnisse sowie Herrschafts- und Konsensstrukturen“7. Mit Gramscis Worten: „Hegemonie ist Konsens gepanzert mit Zwang“. Bieling und Deppe identifizieren verschiedene Charakteristika des (neo-)gramscianischen Forschungsprogramms. Heutzutage sollte ein Verständnis von Hegemonie als die ökonomisch und militärisch begründete Dominanz eines einzelnen Nationalstaates dem Modell einer „transnationalen Hegemonie“ Platz machen. Dabei wird davon ausgegangen, dass „die Strukturen internationaler Hegemonie in gesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnissen einschließlich ihrer sozialen, kulturellen und ideologischen Reproduktion gründen. Damit ist Hegemonie nicht lediglich eine zwischenstaatliche Ordnung, sondern eine Ordnung der IPÖ, deren Produktionsverhältnisse in Staaten und Gesellschaften hineinwirken und so soziale Klassen „,rans-

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national‘ verbinden.“8 Darüber hinaus sind universalisierte Normen und internationale Institutionen, die Staatenhandeln anleiten, Teil dieser Ordnung.9 Die „subalternen Klassen und peripheren Staaten (sind) ideologisch und materiell in den hegemonialen Block eingebunden (…); zumindest insofern, als sie – teils überzeugt, teils gezwungen – ihre Strukturen der nationalen Akkumulation und Regulation in die Organisation des globalen Kapitalismus einpassen. Zugleich werden auf der anderen Seite all die Kräfte neutralisiert oder marginalisiert, die antagonistische Interessen und Projekte verfolgen.“10 Bezieht man diese Ausführungen mit Rekurs auf die eingangs vorgestellten Arten von Macht, werden Ansatzpunkte für kritisches Denken im Hinblick auf die skizzierten Elemente der klassischen IPÖ deutlich. Dabei muss es immer darum gehen „Widersprüche der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf(zu)spüren, um nach Wegen zu suchen, wie die tradierten Strukturen aufgebrochen und überwunden werden können“11. Es erscheint wichtig, sich an dieser Stelle auf Weber und Russell zu besinnen. Sie lassen angesichts der strukturalistischen Ausrichtung der IPÖ die individuelle Seite von Macht nicht vergessen, also Präferenzen und Entscheidungen von den aus Akteuren bestehenden Eliten – etwa den BankerInnen, GeneraldirektorInnen, RegierungschefInnen und ParteiführerInnen. 6

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Bieling, Hans-Jürgen/Frank Deppe (o.J.): NeoGramscianismus in der internationalen politischen Ökonomie – eine Problemskizze, o.O., S.2. Bieling/Deppe, S.2. Bieling/Deppe, S.3f. Bieling/Deppe, S.3f. Bieling/Deppe, S.4. Bieling/Deppe, S.4.

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Ansatzpunkte für Gegenmacht Es wurde hier ein Vorschlag unterbreitet, internationale Politik zu interpretieren, indem etwa die Komplexität des Systems „globale Ökonomie“ auf einzelne Politikfelder reduziert wird. Ferner wurden Ideen präsentiert, wie Macht konzeptualisiert und aus welcher Perspektive Politik interpretiert werden kann. Leitfragen können sein, wo, wie und warum Hegemonien in der internationalen Politik entstanden sind, welche Akteure entscheidend eingreifen und welche Strukturen Handeln im „globalen Kapitalismus“ ermöglichen bzw. behindern. Wie kann „Gegenmacht“ entwickelt werden und wie können „Gegner“ in ihrem Handeln entscheidend beeinflusst werden? Statt einer Schlussbetrachtung sollen abschließend einige Ideen präsentiert werden. Die Proteste von Seattle, die Boykotte großer Konzerne und weitere Kampagnen der Zivilgesellschaft sind ausgiebig diskutiert und als Lösungen präsentiert worden. Dies erneut zu tun, wäre hier nicht zielführend. Die folgenden Gedanken sind weder ausschließlich eigene, noch sollen sie einen umfassenden Handlungskatalog darstellen. Schließlich ist es der Zweck des Artikels, Vorschläge zu liefern und nicht die Lösung der Probleme der Welt zu präsentieren. Die These, dass man sich primär auf interne Entscheidungsmechanismen und Machtoptionen in den einzelnen Staaten konzentrieren sollte, wenn auch nicht beschränken sollte, mag überraschen. Solange die Entscheidungsmechanismen in der internationalen Politik jedoch hauptsächlich intergouvernemental verfasst sind, ist eine Regierungsbeteiligung die vielversprechendste Option. Das gilt für die EU, für die WTO, den IWF und viele weitere In-

stitutionen und Organisationen. Für die Regulierung des Marktes, für das individuelle und kollektive Arbeitsrecht, z.B. für die Assoziierungsfreiheit und das Streikrecht, für Umwelt- und Sozialstandards, sind weltweit nach wie vor fast ausschließlich die jeweiligen Regierungen verantwortlich.12 Sie müssen verantwortlich gemacht werden für ihr Tun. Daren Acemoglu und James A. Robertson stellen die These auf, dass die politische, ökonomische und soziale Entwicklung im Wesentlichen davon beeinflusst wird, ob es in einem Land sozio-politisch und ökonomisch inklusive Institutionen gibt.13 Dies muss der entscheidende Ansatzpunkt in der Entwicklungspolitik sein. Internationale Rahmenabkommen können helfen, Arbeiterrechte in MNUs bzw. ihren Tochterfirmen zu verankern. Die ILO bietet Gewerkschaften und zu einem begrenzten Maße sogar Nichtregierungsorganisationen die Option, institutionalisiert auf internationale Arbeits- und Sozialpolitik und zu einem gewissen Grade auch auf Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik Einfluss zu nehmen. Vor allem gibt es die einzigartige Möglichkeit, gegen Unternehmen zu klagen, die gegen Gewerkschaftsrechte verstoßen. Mithilfe des Druckpotenzials, das sich aus Freihandelsabkommen ergeben kann, können unter Umständen ebenfalls Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erreicht werden. Bedingung ist allerdings, dass die Gewährleistung der Rechte zur Voraussetzung für Freihandel gemacht wird. Vertrauensvorschüsse für Regierungen wie die Kolum12

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Selbst in der EU als supranationaler Organisation liegen die letztlich entscheidenden Kompetenzen beim Rat. Acemoglu, Daron/James A. Robinson (2013): The Origins of Power, Prosperity and Poverty.

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biens darf es nicht geben. Solange es in erster Linie um den Zugang zu neuen Märkten für MNUs aus den Industriestaaten und weniger um die Vereinbarung von Austauschbeziehungen auf gleicher Ebene oder eine ehrlich gemeinte Verankerung von sozialen und ökologischen Mindeststandards geht, läuft Freihandelspolitik in die falsche Richtung. Wollen SozialdemokratInnen etwas bewegen, dann müssen sie Regierungsmacht übernehmen und die Beseitigung sozialer Ungleichheit zum Paradigma jeglicher internationaler Politik machen.

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GESTALTUNG STATT OPPOSITION von Ralf Stegner, Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD Schleswig-Holstein und koordiniert die SPD-Linken im Parteivorstand

Die SPD rückt nach links – so war der mediale Tenor nach dem Beschluss des Regierungsprogramms, mit dem sich die SPD inhaltlich für die zurückliegende Bundestagswahl aufgestellt hat. Das Regierungsprogramm als programmatische Zusammenfassung unserer inhaltlichen Erneuerung war in der Tat das fortschrittlichste Programm seit Jahrzehnten und ist unter maßgeblichem Einfluss der SPD-Linken entstanden. Seit der historischen Wahlniederlage 2009 hat die Parteilinke wieder an Einfluss gewonnen. Wie können wir uns in Zukunft strategisch aufstellen, um an diesen Erfolg anzuknüpfen und unseren Einfluss in der SPD weiter auszubauen? Neue Handlungsspielräume Der neoliberale Virus war tief in Teile der SPD eingedrungen. Dass darauf beruhende Politikmodell ist krachend gescheitert. Auch wenn inhaltlich manches an der rot-grünen Reformpolitik richtig war, und sicher nicht alles falsch, so hat doch der mangelnde Widerstand gegenüber dem hegemonialen Zeitgeist die Sozialdemo-

kratie ins inhaltliche und strategische Abseits geführt. Eine Erkenntnis, die sich mittlerweile selbst bei denjenigen durchgesetzt hat, die einst zu den glühenden Anhängern von Sozialkürzungen und Privatisierungsorgien gehörten. Die Abkehr vom neoliberalen Dogma ist jedoch eher eine Folge der veränderten (welt-)wirtschaftlichen Situation als ein Erfolg der durch Austritte und Basta-Politik geschwächten SPD-Linken. Gleichwohl hat es die Parteilinke verstanden, die veränderte strategische Lage zu nutzen, um innerhalb der SPD gemeinsam mit anderen einen Erneuerungsprozess zu erkämpfen. Die inhaltliche und organisatorische Erneuerung seit dem Dresdener Parteitag 2009 hat der SPD-Linken neue Handlungsspielräume eröffnet. Insbesondere die Re-Demokratisierung der Partei, in der Parteitage weitgehend zu Abnickveranstaltungen verkommen waren und die Delegierten mit Rücktrittsdrohungen politisch erpresst wurden, hat es ermöglicht, aus den Landesverbänden und Arbeitsgemeinschaften heraus wieder stärkeren politischen Einfluss auf die Programmatik der Partei zu nehmen. Auch die Öffnung der

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SPD hat zu dieser inhaltlichen Erneuerung beigetragen. Insbesondere ist hier die Wiederannäherung an die Gewerkschaften von großer Bedeutung, die wesentlich zu einer Revision unserer arbeitsmarktpolitischen Positionen beigetragen hat. Die Ausgangslage für die Parteilinke hat sich also seit 2009 wesentlich verändert. Wie kann eine strategische Ausrichtung der SPD-Linken aussehen, die die neu entstandenen Handlungsspielräume zu nutzen vermag? Strategische Schlüsselrolle Für die Möglichkeit einer fortschrittlichen Politik in Deutschland ist die SPDLinke nach wie vor von zentraler Bedeutung. Je stärker die Linken in der SPD, desto größer die Spielräume für progressive Projekte insgesamt. Denn eine starke Parteilinke wirkt in zwei Richtungen: Sie nimmt erkennbaren Einfluss auf die Programmatik und die praktische Politik der SPD und sorgt so dafür, dass sich die SPD klar als linke Volkspartei verortet und Politik für die Mehrheit der Menschen macht, statt einer vermeintlich bürgerlichen Mitte hinterherzulaufen. Mit einer glaubwürdigen linken Programmatik kann das WählerInnen-Potential der Sozialdemokratie am ehesten ausgeschöpft werden, und so stärkt eine einflussreiche Parteilinke auch die SPD insgesamt. Gleichzeitig erfüllt die SPD-Linke aber auch eine Scharnierfunktion nach außen: Die Zukunftsfähigkeit der SPD entscheidet sich am strategischen Umgang mit denjenigen parlamentarischen und außerparlamentarischen PartnerInnen, mit denen gemeinsam wir die innerparteilich erkämpfte linke Programmatik auch umsetzen können. Hier kommt der SPD-Lin-

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ken als anschlussfähiger Teil der SPD sowohl zu anderen linken Parteien als auch zu progressiven Teilen der Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Was die Jusos mit ihrem Konzept der Doppelstrategie vormachen, eignet sich auch als strategisches Modell für die Parteilinke insgesamt. Von dieser grundsätzlichen Erwägung ausgehend stellt sich jedoch die Frage, wie die Schlüsselrolle der Linken in der SPD vor dem Hintergrund einer veränderten strategischen Konstellation, die neue Handlungsspielräume eröffnet, mit Leben gefüllt werden kann. Eine Strategie für mehr Einfluss Während und unmittelbar nach der Phase der Agenda 2010 und den damit verbundenen massiven Stimmverlusten und Protesten ursprünglicher SPDStammklientel verstand sich die SPD-Linke angesichts mangelnder Gestaltungsspielräume vor allem als innerparteiliche Opposition. Dabei ging es insbesondere darum, durch das Festhalten an ursprünglicher SPD-Programmatik bei den einstigen BündnispartnerInnen in Gewerkschaften und Sozialverbänden zumindest als SPDLinke glaubwürdig zu bleiben. Die öffentliche Kritik an der Agenda-Politik und damit verbundene Abstimmungsniederlagen auf Parteitagen wurden zu einem Selbstverständnis, das für die Parteilinke auch in der Phase ihrer strategischen und personellen Schwächung zwar partiell identitätsstiftend wirkte, insgesamt aber wenig erfolgreich war. Diese strategische Konstellation hat sich aber, wie oben beschrieben, gewandelt. Die Linken in der SPD sind nicht mehr in der Defensive, im Gegenteil verfügen sie


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über Handlungsspielräume, die durch ein neues Selbstbewusstsein noch besser genutzt werden könnten. Ein relevanter Machtfaktor in einer SPD, die sich noch immer im Prozess der Erneuerung befindet, kann die Parteilinke nur sein, wenn sie ihre oppositionelle Haltung aus der Agenda-Zeit transformiert in ein Selbstverständnis als Gestaltungslinke. Denn wenn die Möglichkeiten zur Einflussnahme auf konkrete SPD-Politik nicht genutzt werden, behält man zwar als isolierte Parteilinke eine gewisse Glaubwürdigkeit, von Nutzen für die SPD insgesamt ist das aber nicht. Herausforderungen einer Gestaltungslinken Um wirklich Einfluss auf politische Positionen und deren praktische Umsetzung zu nehmen, muss die SPD-Linke in der Lage und willens sein, Kompromisse mit anderen Akteuren in der SPD zu schließen und für diese Kompromisse dann auch selbstbewusst einzustehen. Das Herstellen von Verabredungsfähigkeit ist eine große Herausforderung für eine politische Strömung, die ihre eigene Identität vor allen Dingen durch gemeinsame inhaltliche Überzeugungen definiert. Eine besondere Zuspitzung dieser Problemlage tritt dann ein, wenn Personen in politischer Verantwortung, die der Parteilinken zugerechnet werden, solche Kompromisse schließen und diese auch nach außen vertreten. Bei einer parteilinken Kultur des kompromisslosen Beharrens auf inhaltlichen Überzeugungen kann das schnell dazu führen, dass die Unterstützung im eigenen Lager schwindet, oder Personen sogar als ‚VerräterInnen‘ gebrandmarkt werden. Aber genau dieser kompromisslose Umgang mit

SPD-Linken in politischer Verantwortung führt zu einer ausgeprägten Scheu vor der Übernahme ebendieser. Das ist auch machtpolitisch naiv und macht Parteilinke zu ‚nützlichen Idioten‘; es ist wenig selbstbewusst und passt kulturell besser zu anderen Parteien, die Antipersonenpolitik als Teil ihrer Kernidentität betrachten. Wenn öffentlich von einem Linksruck der SPD die Rede ist, dann gilt das vor allen Dingen für den inhaltlichen Einfluss der SPD-Linken – von einer Stärkung des personellen Einflusses kann bisher keine Rede sein. Die politische Repräsentanz der Parteilinken in der engeren Partei- und Fraktionsführung ist verschwindend gering. Das wiederum befördert eine Situation, in der die inhaltliche Positionierung der SPD zwar weitgehend mit der Agenda der Parteilinken übereinstimmt, aber in der Umsetzung in weiten Teilen auf politisch Verantwortliche vertraut werden muss, die sich anderswo in der SPD verorten. Das Ergebnis ist bekannt. Die Schlussfolgerung aus dieser Problemlage kann nur heißen: Wir brauchen mehr SPD-Linke in politischer Verantwortung! Die Parteilinke muss endlich ein aufgeschlossenes Verhältnis zu Personalpolitik entwickeln. Und zwar nicht nur abstrakt, wenn es um die Unterstützung von Quoten oder ähnlichem geht, sondern in der konkreten Unterstützung von Personen, die sich bereit erklären, politische Verantwortung zu übernehmen. Der mediale Tenor des letzten Bundestagswahlkampfes, der Spitzenkandidat passe nicht zum Programm, zeigt die absolute Notwendigkeit dieser Debatte in der SPD-Linken. Denn ein linkes Programm glaubwürdig vertreten können eben am be-

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sten PolitikerInnen, die innerparteilich auch für dieses Programm gekämpft haben. Andernfalls ist die SPD, wie in der aktuellen Situation, mit einem Auseinanderdriften von Programmatik und Personal konfrontiert, die im Endeffekt in mangelnder Glaubwürdigkeit bei den Wählerinnen und Wählern resultiert. Statt sich zurückzulehnen in der Gewissheit, trotz abschließender Niederlagen bis zum Ende das politisch Richtige vertreten zu haben, muss die SPD-Linke also die Machtfrage stellen. Und zwar nicht nur, wenn es um inhaltliche Positionierung geht, sondern auch in ihrer praktischen Umsetzung. Es reicht nicht, in der innerparteilichen Auseinandersetzung um Programmatik z.B. gegen das Absinken des Rentenniveaus zu kämpfen und dann mit dem Verweis auf die erkämpfte Positionierung abzuwarten, was davon in der Realpolitik übrig bleibt. Sich in die Umsetzung einzumischen und an Kompromissen mit möglichen BündnispartnerInnen mitzuwirken, erfordert ein Politikverständnis, in dem Prioritätensetzung und Verabredungsfähigkeit nicht als etwas Schmutziges gilt, sondern als selbstverständlicher Teil des Kampfes für eine fortschrittliche Politik akzeptiert wird. Nur wenn die SPD linke Politik nicht nur aufschreibt, sondern auch umsetzt, wird sie wieder glaubwürdig. Und Glaubwürdigkeit muss uns doch gerade bei den Menschen besonders wichtig sein, für die wir Politik machen. Allerdings erweckt manche Diskussion innerhalb der Parteilinken durchaus den Eindruck, dass es Genossinnen und Genossen gibt, die schon damit zufrieden sind, wenn sie ihre eigenen Positionen zu Papier gebracht haben. Eine besondere Steigerung findet dieser Ansatz noch, wenn Freude darüber

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herrscht, dass die eignen Anträge auf Parteitagen niedergestimmt werden – als Gütesiegel ideologischer Klarheit. Eine linke Machtoption für die SPD Für die Umsetzung der erkämpften linken Programmatik kommt der SPD-Linken als Anknüpfungspunkt zu parlamentarischen und außerparlamentarischen Partnern eine entscheidende Rolle zu. Sie ist der einzige Teil der SPD, der beantworten kann, in welcher politischen Konstellation unsere Projekte realisierbar sind. Es ist die Erfahrung aus elf Regierungsjahren der SPD, dass es eine enorme Diskrepanz zwischen dem gibt, was in Wahlkämpfen vertreten wurde und dem, was dann in der Regierung an realer Politik umgesetzt wurde. Vor allem während der Zeit der Großen Koalition wurde dies gerne damit begründet, dass mit dem Koalitionspartner eben nichts Anderes umsetzbar sei. Nach dem enttäuschenden Ergebnis der letzten Bundestagswahl stellt sich das Problem der ungenutzten linken parlamentarischen Mehrheit erneut. Angesichts der selbstauferlegten Unmöglichkeit einer rot-rot-grünen Koalition in dieser Legislaturperiode ist es eine der vordringlichsten Aufgaben der SPD-Linken, zum einen innerparteilich für die Akzeptanz auch dieser Option zu werben und zum anderen durch den rechtzeitigen Beginn eines Dialogs zwischen SPD, der Partei Die Linke und Bündnis90/Die Grünen neue politische Perspektiven zu eröffnen. Denn eine rotrot-grüne Regierung und die sie tragenden Fraktionen würden öffentlich unter einem enormen Druck stehen. Deshalb müsste eine solche Koalition nicht nur funktionieren, sondern sich auch der Unterstützung


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breiter gesellschaftlicher Bündnispartner sicher sein. Der Kampf gegen den Ausschluss von Rot-Rot-Grün darf allerdings nicht zu einer Verherrlichung dieser Bündnisoption führen. Die bevorzugte Option muss immer bleiben, dass die Sozialdemokratie sich so progressiv positioniert, dass es links von ihr keine Partei in den Parlamenten braucht. Dafür, dass das mit einem glaubwürdigen Gerechtigkeitsprofil möglich ist, gibt es zahlreiche Beispiele. Progressive Veränderung kann es nur mit entsprechenden Machtkonstellationen geben. Eine SPD-Linke, die klar Position bezieht für eine emanzipatorische, demokratische und solidarische Politik und gleichzeitig selbstbewusst, kompromissund verabredungsfähig ist, kann linke Politik innerparteilich und gesellschaftlich mehrheitsfähig machen.

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STRATEGISCHE KAMPAGNENFÄHIGKEIT Warum die Sozialdemokratie sich mehr mit „Diskursmacht“ auseinandersetzen sollte von Benjamin Mikfeld, Geschäftsführer des Denkwerk Demokratie e. V.

Hat die globale Finanzkrise zu einem Umdenken und einer größeren gesellschaftlichen Basis für linke Reformpolitik geführt?1 Wer gegenwärtig in die großen Buchhandlungen unserer Städte geht, kann zwar feststellen, dass die Tische populärer politischer Literatur gut gefüllt sind mit kritischen Titeln über den Finanzkapitalismus, die Klimakrise, die Skandalisierung der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung und die Krise unserer Demokratie. Zugleich zeigen Umfragen durchaus ein hohes Bewusstsein beispielsweise für die klaffende Gerechtigkeitslücke oder den verbesserungswürdigen Zustand der Demokratie im Land. Doch das bloße Wissen über die Zustände der Welt verlängert sich keineswegs zwangsläufig in ein gesellschaftliches Bewusstsein, das machtvoll nach Veränderung strebt. Auch die Bundestagswahl 2013 war kaum ein Indiz dafür, dass sich derzeit eine gesellschaftliche Mehrheit ein sozialen und ökologischen „Kurswechsel“ wünscht. Rechnet man Union, FDP und die „Alternative für Deutschland“ (AfD) zu-

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sammen, haben 51 % konservativ bzw. neoliberal gewählt. Woran liegt es, dass Krisenwissen einerseits und politisches Handeln anderseits heute so weit auseinanderklaffen? 1. Sichtbare und unsichtbare Macht Politische Macht artikuliert sich „sichtbar“ in den politischen Funktionen der Exekutive und Legislative, die (zumindest in Demokratien) auf Zeit vergeben werden. Regierungschefs, Minister oder Parteien „kommen an die Macht“, wie der Volksmund sagt. Zu wichtigen Machtakteuren würden viele wohl zu Recht ebenso Großkonzerne, wichtige Verbände oder die Medien zählen, auch wenn bei diesen die Insignien der Macht eher verschwommen sind. All diese Akteure der Macht agieren jedoch nicht im politischen Vakuum. Es gibt zu jeder Zeit politische Forderungen und Ideen, die mehrheitlich als „richtig“ 1

Der Beitrag basiert auf Texten des Autors (als Mitautor), die im Februar 2014 erscheinen werden: Denkwerk Demokratie (Hg.): Sprache. Macht. Denken. Politische Diskurse verstehen und führen (Campus-Verlag). Siehe auch Turowski/Mikfeld, Gesellschaftlicher Wandel und politische Diskurse.


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und „angemessen“ beurteilt werden, und solche, für die dies nicht gilt. Solche Regelsysteme, die hinter den sichtbaren Machtstrukturen und -mechanismen liegen, können als Diskurse bezeichnet werden. Sie regeln, was in bestimmten Gruppen oder der breiten Öffentlichkeit als „sagbar“ gilt und was nicht. Es gibt also auch „unsichtbare“ Kräfte der Macht, die Einfluss auf unser politisches Denken und Handeln nehmen.2 Politisches Denken vermittelt sich über Sprache, die wiederum unser politisches Bewusstsein prägt. Doch Diskurse sind mehr als Sprache. Sie werden fortwährend durch Institutionen, Regelsysteme und Wissensproduzenten, aber auch durch Praktiken stabilisiert und reproduziert. Diskurse sind nicht nur Sachargumente, sondern beinhalten auch Symbole, Traditionen und Emotionen. Wer politisch gestalten und Dinge verändern will, sollte sich daher nicht nur um parlamentarische Mehrheiten bemühen, sondern auch darum, auf der Ebene der Sprache, der Deutungen und der Diskurse Einfluss zu gewinnen. 2. Hegemoniale Diskurse und gesellschaftliche Transformation Politische Diskurse bzw. ihre Repräsentanten ringen miteinander um politische Bedeutung, geistig-kulturelle Führung, Einfluss und Macht. In der Denktradition Antonio Gramscis kann man dies auch als Bemühen um Hegemonie bezeichnen. Im Gegensatz zu Zwang basiert Hegemonie auf einer Form von politischer Übereinkunft. Sie beschreibt also zunächst „eine bestimmte Form der politischen Macht, die durch Konsens und Zustimmung und auf der Ebene von Moral, Kultur und

Ethik funktioniert.“3 Soziale Akteure sind im Ringen um Hegemonie darum bemüht, ihre eigenen Interessen und Anliegen im Namen einer Nation, einer Ideologie oder einer Werteidee als gemeinsame Anliegen bzw. als Gemeinwohl darzustellen. Das Ringen um Hegemonie vollzieht sich nicht nur auf einer rationalen Ebene von Interessen und Argumenten, sondern es zielt ab auf den Alltagsverstand, der für Gramsci ein „wirres Ineinander von philosophischen Auffassungen“4 ist, in dem sich alles auffinden lasse, was man finden wolle. Anders formuliert: Im Alltagsverstand der meisten Menschen finden sich konservative und progressive, egoistische und gemeinwohlorientierte Elemente. Eine hegemoniale Strategie5 besteht darin, die Elemente zu adressieren, die zum eigenen Diskurs „passen“. Dabei ist Hegemonie nie „total“ oder global. Die sachliche Reichweite (z. B. Dominanz von Wirtschaftslehren), die räumliche Reichweite (z. B. nationale Wohlfahrtsstaatsmodelle) und die zeitliche Reichweite (z. B. die Phase „neoliberaler Dominanz“) sind begrenzt. Gesellschaftliche Entwicklung scheint sich durch längerfristig stabile Phasen auszuzeichnen, in denen sich eine einmal eingeschlagene Richtung kaum ändert. Dies wird auch als „Pfadabhängigkeit“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine sozialwissenschaftliche Metapher, die verdeutlicht, das zu einem bestimmten früheren Zeitpunkt zwar verschiedene Wege (z. B. der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates) denkbar waren, aber dann nur der einmal eingeschlagene Weg auf Dauer weiter ver2 3 4 5

Vgl. Han, Was ist Macht? Opratko, Hegemonie, S. 37. Gramsci, Gefängnishefte, S.1040. Vgl. Nonhoff, Politischer Diskurs und Hegemonie.

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folgt wird. In der Vergangenheit getroffene Entscheidungen und die Etablierung von Routinen wirken somit in die Gegenwart (und Zukunft) fort und schränken Handlungsalternativen ein.6 Ist ein Pfad erst einmal eingeschlagen, entwickelt dieser innere „Stabilisierungsmechanismen“ bzw. „LockIns“, bei denen es sich um materielle Interessen, institutionelle Verfestigungen sowie Gewohnheiten und Denkweisen handelt (z. B. wenn ein Land den Weg eingeschlagen hat, sich in hohem Maße von Atomenergie abhängig zu machen). Eine Vielzahl von ökonomischen (z. B. getätigte Investitionen in bestimmte Technologien, Weltmarktabhängigkeit), politischen (z. B. organisierten Interessen), sozialen (z. B. Abgrenzung von Milieus) und (sozial)psychologischen Faktoren (z. B. Verlustaversion) führen dazu, dass eine Gesellschaft (oder bestimmte Teilsysteme bzw. Politikbereiche) auf „bekannten Pfaden“ verbleibt. Den Versuch einer strategischen Antwort auf solche Pfadabhängigkeiten liefern Transformationskonzepte und -theorien. Gesellschaftstransformation bedeutet, den Gegensatz von Struktur und Handeln zu überwinden. Strukturen prägen unser Handeln (und Denken). Aber durch Handeln (und Denken) können Strukturen verändert werden. Jedes politische Transformationskonzept nimmt seinen Ausgangspunkt in der vorgefundenen hegemonialen Konstellation der „Konflikte, gesellschaftspolitischen Diskurse und Auseinandersetzungen, Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse“.7 Für das Gelingen einer Transformation (hier in Richtung „Nachhaltigkeit“) sei, so der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen, eine ausreichende Verbreitung ent-

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Strategische Kampagnenfähigkeit Argumente 3/2013

sprechender Einstellungen und Präferenzen die Voraussetzung, sie müsse im „Einklang stehen mit den Vorstellungen eines guten und gelungenen Lebens.“8 Wichtig ist dabei die „herausragende Bedeutung von breit geteilten Narrativen für die Handlungsorientierung von Akteuren. Narrative reduzieren Komplexität, schaffen Orientierung für aktuelle und zukunftsorientierte Handlungsstrategien, sind Grundlage der Kooperation zwischen Akteuren und fördern Erwartungssicherheit.“9 Gerade in Krisensituationen können diese vormals starren Diskurse in Bewegung geraten und sich verschieben. So war nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima auch in konservativen Kreisen ein strammes Bekenntnis zur Atomenergie kaum noch „sagbar“. Vor der globalen Finanzkrise 2007 wiederum waren bestimmte Forderungen zur Begrenzung der Macht der Finanzmärkte nur in bestimmten politischen Kreisen „sagbar“. Doch es dauerte bis einige Monate nach Ausbruch der Krise, bis diese Forderungen (wenn auch nur halbherzig) vom bürgerlichen Mainstream übernommen wurden. Mit der Finanzkrise bot sich die Chance, den gescheiterten Wirtschaftsliberalismus nicht nur verbal zu attackieren, sondern einen strategischen Prozess einzuleiten, das wirtschaftsliberale Dispositiv aus Institutionen, Praktiken, Gesetzen, Anreizen und Denkweisen schrittweise aus unserem Alltagsdenken zurückzudrängen. 6 7 8

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Vgl. Hübner, Regimewechsel. Reißig, Gesellschaftstransformation, S. 61. WBGU, Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, S. 71. Ebd., S. 91.


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Doch kann dieses eben nur mittelfristig zurückgedrängt werden und sollte nicht unterschätzt werden. Wir haben vier bis fünf Jahrzehnte der Dominanz wirtschaftsliberalen Denkens zumindest der Eliten unseres Landes hinter uns. In den letzten Jahrzehnten sind Strukturen geschaffen worden, die dieses Denken befördern. Wer private Altersvorsorge betreiben muss, guckt ängstlich auf die Aktienkurse. Wer im Bologna-Modus studiert, lernt schon früh die Ökonomisierung des Selbst. Wer Schuldenbremsen einführt, muss sich nicht wundern, dass im Alltagsdenken kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen einer privaten Haushaltskasse und dem Staatshaushalt. Dieses Denken ist hoch wirksam. Da ist es nur ein schwacher Trost, dass der normativ entleerte Egoisten-Liberalismus der FDP abgewählt wurde. 3. Weiter so Deutschland? Vor der Bundestagswahl hatte die Stimmungslage im Land zwei Seiten, denen wiederum zwei unterschiedliche Problemsichten zugrunde lagen. Rechts der Mitte wurde der Blick auf das wirtschaftlich (vergleichsweise) starke Deutschland gerichtet, bedroht nur von Schuldenländern der Eurozone. Hier ging es um Stabilität und Sicherheit. Die Parole lautete: Keine Experimente, Weiter so Deutschland! Links der Mitte gab es den Blick hinter die Kulissen: Niedriglöhne, prekäre Arbeit, Pflegenotstand, marode Infrastruktur und gefährdete Energiewende. Hier ging es um soziale Gerechtigkeit und einen besser ausgestatteten Staat. Viele Bürgerinnen und Bürger waren hin- und hergerissen. Sämtliche Umfragen zeigten: Ja, es gibt eine Gerechtigkeitslücke

im Land, aber eben auch Ängste, den eigenen Lebensstandard angesichts von EuroKrise, steigenden Energiepreisen und drohenden Steuererhöhungen nicht halten zu können. Das politische Denken der meisten Bürger ist eben nicht das des Philosophen oder Fachpolitikers, es ist widersprüchlich. Viele wollten CDU-Stabilität und rot-grüne Gerechtigkeit, am Ende hat das erstere den Ausschlag gegeben. Das regierende konservative Lager setzte auf eine Diskursstrategie, deren Kern das zentrale Versprechen eines „Stabilität durch Weiter so“ war. Implizit konnten vor allem CDU und CSU darauf aufbauen, dass sie im Bewusstsein vieler BürgerInnen als die „natürlichen Regierungsparteien“ gelten und ihnen zudem traditionell die ökonomische Kompetenz zugeschrieben wird. Der Verweis auf die relativ gute wirtschaftliche Lage und den „deutschen Weg“ der Krisenbewältigung war daher immer auch eine Warnung, dass ein politischer Regierungswechsel nur zum Schlechten führen würde. Die konservative Diskursstrategie bestand aus drei Elementen: Das wichtigste Element war die Personifizierung des Stabilitätsversprechens durch die amtierende Bundeskanzlerin Merkel, der bis weit hinein in die Wählerschaft des progressiven Lagers Glaubwürdigkeit und Kompetenz zugesprochen wurde. Ihre vom politischen Gegner kritisierte Richtungslosigkeit (Selbstzuschreibung: „Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial“) wurde von den BürgerInnen nicht als beliebig, sondern eher positiv als ideologiefern und pragmatisch interpretiert. Mit ihrer als freundlich und unaufgeregt

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empfundenen Art war sie zugleich ein Gegenentwurf zum Politikertypus des AlphaTiers. Das zweite Element war die Bündelung der wirtschaftlichen Erfolgsbotschaften in einer Wir-Erzählung: Die Deutschen haben gemeinsam durch Reformen und eigene Anstrengungen die Grundlagen für ihre gute ökonomische Lage geschaffen. Ein „Wir“ ist umso wirksamer als emotionale Botschaft, wenn es auch „Die Anderen“ gibt. Dieses „Die“ waren die europäischen Schuldenländer, vor denen man das Geld der Deutschen schützen musste. Der von den Konservativen propagierte Stabilitätspatriotismus setzte auf Wohlgefühl und Stolz nach innen und Abgrenzung nach außen. Deutschland übernahm hier die Rolle des Lehr- und Zuchtmeisters in der Europäischen Union. Element Nummer drei bestand darin, das Gerechtigkeitsversprechen des konkurrierenden Lagers durch eine Doppelstrategie ins Leere laufen zu lassen. Zum einen wurden einige politische Forderungen mit hoher Zustimmung in der Bevölkerung aufgegriffen (z. B. Lohnuntergrenzen, Mietpreisbremse), zum Teil auch umgesetzt (wie die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes Anfang 2013) und somit zumindest teilweise neutralisiert. Zum anderen bildeten die steuerpolitischen Forderungen der Opposition (neben den Euro-Schuldenländern) ein weiteres „Außen“ der Diskursstrategie. Steuererhöhungen wurden als Gefährdung des ökonomischen Erfolgs darstellt, den es zu verteidigen und fortzuschreiben gelte.

4. Blockierte linke Diskurswelten Links der Mitte gab es kein gemeinsames Thema, kein Projekt, das Köpfe und Herzen der gesellschaftlichen Mitte erreichte. Während die letzten zwei großen Krisen – der 1930er und der 1970er Jahre – jeweils auch eine wirtschaftspolitische Wende zu Folge hatten, ist dies in dieser großen Krise ausgeblieben. Links der Mitte ist es bislang nicht gelungen, eine ambitionierte Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus aus der Welt der Gewerkschaftskongresse, Sonderforschungsbereiche, Suhrkamp-Bände und Sonntagsreden in das Alltagsbewusstsein zu übersetzen. In der Bewertung der Krisenentwicklungen der letzten Jahre sowie der ökonomischen Zukunft ist man hier in vier „Diskurswelten“, im Sinne von Weltsichten, Alltagserfahrungen und politischen Zielen, aufgespalten:10 •

Eine sozialdemokratisch-industriegewerkschaftliche Diskurswelt hat in besonderer Weise die Interessen der deutschen Exportbranchen im Blick, unterscheidet sich damit wirtschaftspolitisch kaum von der Merkel-CDU.

Eine linkskeynesianische bzw. sozialethische Diskurswelt konzentriert sich auf die Verteilungs- und Gerechtigkeitsfrage. Doch in erster Linie verteilungspolitisch begründete Steuererhöhungen verschrecken offenbar auch Arbeitnehmer, die sich ihren „Wohlstand im Kleinen“ geschaffen haben.

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Siehe dazu ausführlicher: Albrecht/Mikfeld, Blockierte Diskurswelten.


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Das Öko-Bürgertum will mehr wirtschaftliche Nachhaltigkeit, ist sich aber selbst unschlüssig, ob es in Verteilungsfragen überhaupt zum linken Lager gehört. Die schnelle Abkehr einiger Spitzenpolitiker des Realoflügels der Grünen unmittelbar nach der Bundestagswahl von den eigenen steuerpolitischen Forderungen ist ein Indiz dafür. Schließlich gibt es vor allem in intellektuellen Kreisen Ökokreative und Postwachstums-Apologeten, deren wachstums- und kapitalismuskritische Ideen jedoch an die breite Arbeitnehmerschaft derzeit kaum anschlussfähig sind.

Diese Diskurswelten trennt politisch und kulturell manches. Es gab zwar einen gewissen Vorrat an gemeinsamen Einzelforderungen wie einem flächendeckenden Mindestlohn. Doch in diskursstrategischer Hinsicht hatten die Konservativen gegenüber der politischen Linken die Nase vorn: •

Mit Ausnahme der rechtspopulistischen AfD war das konservativ-liberale Lager vereint hinter Merkel und hatte klare Botschaften.

Sie hatten – zumindest in der kurzfristigen Betrachtung – die Deutungshoheit über die vermeintlich gute ökonomische Lage, die ihnen als Erfolg angerechnet wurde.

Sie kommunizierten nicht technische Instrumente (oder Steuer„belastungs“tabellen), sondern formulierten mit dem Versprechen von Stabilität und Sicherheit ein emotionales Thema, das am Alltagsverstand vieler Bürger anknüpfte.

Sie hatten ein „Wir“ nach innen und ein „Die Anderen“ nach außen.

Sie konnten sich den nationalen Mythos des wirtschaftlich starken Deutschland, des Exportweltmeisters und nun auch des europäischen Musterknaben zu Nutze machen. Dieses Erfolgsnarrativ ist im Massenbewusstsein auch eine Stabilitätsgeschichte, die auf innovativer Industrie sowie dem vermeintlichen Erfolg von Bundesbank „harter“ D-Mark und fiskalischer Solidität aufbaut.

Sie haben der zaghaften Kritik am „Finanzkapitalismus“ mit symbolischen Zugeständnissen die Kraft genommen und sie somit entschärft.

5. Kampagnenfähigkeit heute In der Sozialdemokratie gibt es einen Mythos, der lautet: „Kampagne können wir!“ Gemeint ist damit, dass sie im Ernstfall über den „Mundfunk“ und ihre gesellschaftliche Verankerung Mehrheiten organisieren kann. Die Konservativen hatten davor gelegentlich Respekt, doch so wird es in Zukunft nicht mehr sein. Es gibt kaum noch gläubige Kerntruppen, die man auf Kommando in Bewegung setzen kann. Allenfalls die bürgerliche Oberschicht verfügt noch über einen „Klasseninstinkt“ und weiß, was zu tun ist, wenn es politisch ernst wird. Die so genannte Mitte ist politisch höchst vielfältig und die Unterschicht antwortet auf das Unterschichtsdesinteresse der Politik völlig zu Recht mit Desinteresse an der Politik. Nur wer in der Lage ist, auch zwischen den Wahlen politische Identifikations- und

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Deutungsangebote zu entwickeln, kann diese im Wahlkampf als Ressource einsetzen. Kampagnenfähigkeit heißt nicht in erster Linie eine tolle Bildsprache oder Social-Media-Ideen zu entwickeln, sondern eigene Deutungsangebote zu formulieren und im ernsthaften Dialog Einfluss auf die Alltagsgespräche der BürgerInnen zwischen den Wahlen zu nehmen.

Literatur Albrecht, Thorben/Mikfeld, Benjamin (2013), Blockierte Diskurswelten und mögliche Diskursallianzen für eine „bessere Gesellschaft“, in: Kellermann, Christian/Meyer, Hennig (Hrsg.): Die gute Gesellschaft. Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert, Berlin Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, div. Bände, Hamburg 1999. Han, Byung-Chul, Was ist Macht?, Stuttgart 2005. Hübner, Kurt, „Regimewechsel – Nach dem Finanzkapitalismus“, in: WSI-Mitteilungen, 12/2011, S. 640 – 649. Mikfeld, Benjamin, Alte und neue Wege aus der großen Krise. Eine Landkarte aktueller politischer Diskurse über die Zukunft von Wirtschaft, Wachstum und Gesellschaft, Werkbericht Nr.1 des Denkwerk Demokratie, Berlin 2012. Nonhoff, Martin, Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt „Soziale Marktwirtschaft“, Bielefeld 2006. Opratko, Benjamin, Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci. Münster 2012. Polanyi, Karl, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/Main 1976. Reißig, Rolf, Gesellschaftstransformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels, Wiesbaden 2009. Turowski, Jan/Mikfeld, Benjamin, Gesellschaftlicher Wandel und politische Diskurse. Überlegungen für eine strategieorientierte Diskursanalyse, Werkbericht Nr. 3 des Denkwerk Demokratie, Berlin 2013. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen – WBGU, Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011.

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DIE DREI EBENEN DER MACHTVERTEILUNG Die ökonomische Gliederung, die Milieugliederung und die gesellschaftspolitische Lagergliederung der Bevölkerung der BRD im Wandel von Michael Vester, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hannover

Bei sozialer Gerechtigkeit geht es um die Machtverteilung in einem Gemeinwesen. Die Auffassungen davon, welche Machverteilung gerecht ist, unterscheiden sich voneinander nicht nur nach den verschiedenen Stellungen, die die Menschen in dieser Machtverteilung einnehmen. Sie unterscheiden sich auch nach der Art, wie sie die Erfahrung der Ungleichheit historisch, praktisch und kulturell verarbeiten. Die Entwicklung der Gliederung unserer heutigen Gesellschaft in große Teilgruppen, die sich nach Macht, Fähigkeiten und Handlungsdispositionen unterscheiden, soll nachfolgend auf empirischer Basis in einem kurzen Überblick zusammengefasst dargestellt werden. Begrifflich stütze ich mich dabei auf eine undogmatische Lesart der Konzepte der sozialen Gliederung und Entwicklung, die in der klassischen Soziologie entwickelt worden sind. Die Konzepte der sozialen Gliederung stimmen bei ihren Hauptver-

tretern relativ weitgehend überein. Dies gilt nicht nur für Weber, Durkheim und – was vielleicht überraschen mag – Marx; es gilt auch für die Fortsetzung der klassischen soziologischen Tradition insbesondere bei Geiger und Bourdieu. Einigkeit besteht wesentlich darin, wie die Gesellschaft eingeteilt ist. Differenzen bestehen darin, wie sie sich künftig entwickeln könnte. (Vester 2013) Übereinstimmung besteht vor allem mit Webers grundlegender Einsicht, dass bei der Machtverteilung in modernen Gesellschaften drei verschiedene Handlungsebenen auseinandergehalten werden müssen, die jeweils relativ autonom sind. Das heißt, sie hängen voneinander ab und beeinflussen sich gegenseitig, folgend dabei aber zugleich jeweils eigenen Spielregeln, institutionellen Voraussetzungen und Handlungsoptionen ihrer Akteure. Die drei Handlungsebenen sind, in Webers Terminologie, die ökonomische Ordnung, die gesellschaftliche Ordnung und die politische Ordnung. Ihre Akteure benennt er in sei-

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nem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ mit der Kapitelüberschrift: „Klassen, Stände und Parteien“ (Weber (1972 [1921], S. 531-540). In diesem Kapitel stellt Weber den Zusammenhang von Beeinflussungen nicht als starre Gliederung eines Modells, sondern als bewegtes Kräftefeld dar (siehe Kasten). Die Menschen in ihren Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen verhalten sich nicht wie Teile einer Maschine, sondern als aktive Akteure, wenn auch nicht losgelöst von äußeren Bedingungen. Im Kapitalismus sind diese äußeren Bedingungen allerdings nicht statisch. Sie bilden vielmehr einen historisch außerordentlich dynamischen Zusammenhang, der sich wesentlich von früheren, vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen unterscheidet. Für Weber, wie für die gesamte klassische Soziologie, ist die moderne Gesellschaft eine (wenn auch differenzierte) kapitalistische Klassengesellschaft, in der aber die Stellung der Klassen in der Regel nicht allein auf dem Wirken „nackter“ ökonomischer Marktgesetze, sondern zusätzlich auf Praktiken ständischer Statussicherung und Privilegiensicherung beruht. Nicht der Markt allein, sondern die aktive soziale und politische Praxis der Angehörigen der verschiedenen Klassen bringt die spezifische Gestalt der Klassengliederung hervor: die Dreiteilung der Gesellschaft in positiv privilegierte Klassen, Mittelklassen und negativ privilegierte Klassen (Weber, ebd., S. 178-179).

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Die drei Ebenen ungleicher Machtverteilung nach Weber Klassen, Stände und Parteien werden von Weber als Phänomene der „Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft“ verstanden (1972 [1921], S. 531-540). Damit sind drei Handlungsebenen des gesellschaftlichen Machtgefüges zu unterscheiden, die verschiedenen Logiken folgen und die daher nicht direkt auseinander abgeleitet werden können (Weber 1972 [1921], S. 531, 539): • „Klassen“ haben ihre Heimat in der „Wirtschaftsordnung“ (die nach der „Art der Verteilung und Verwendung ökonomischer Güter und Leistungen“ organisiert ist). • „Stände“ haben ihre Heimat in der „sozialen Ordnung“ (die nach der Art der Verteilung der sozialen ‚Ehre‘ zwischen typischen Gruppen organisiert ist). Von diesen Ordnungen aus beeinflussen sie einander gegenseitig sowie die Rechtsordnung, durch die sie wiederum beeinflusst werden. • „Politische Parteien“ sind primär in der „Sphäre der Macht“ zu Hause und in ihrem Handeln auf „soziale ‚Macht‘“, d. h. „Einfluss auf ein Gemeinschaftshandeln“ ausgerichtet. Das „,parteimäßige‘ Gemeinschaftshandeln“ ist „stets auf ein planvoll erstrebtes Ziel gerichtet“ und enthält daher „stets eine Vergesellschaftung“, im Gegensatz zum Gemeinschafts-

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handeln der Klassen und Stände, auf das dies „nicht notwendig“ zutrifft. (Ebd., S. 539) Weber definiert „Klassen“ (ebd., S. 177) idealtypisch als Gruppen, die sich in „einer gleichen Klassenlage“ befinden und daher gleiche oder ähnliche „typische Interessenlagen“ haben. „Klassenlage“ wird dabei, ähnlich wie im Konzept der „Lebenslage“ bei Engels (1970 [1845]), breit definiert und auf die Gesamtheit der Lebensverhältnisse bezogen. Die ökonomische Machtstellung hängt damit nicht allein von der ökonomischen Marktstellung (bzw. Stellung zu den Produktionsmitteln) ab, sondern auch von der Machtstellung im gesellschaftlichen und im politischen Feld. Diese Praktiken sind, so Weber, ihrer Herkunft nach ständisch. Die aktive Intervention der Milieuangehörigen im gesellschaftlichen Kräftefeld erfolgt über Mechanismen der Statussicherung, die in besonders reiner Form in den historischen ständischen Gesellschaften, aber grundsätzlich auch in modernen Klassengesellschaften eine wichtige Rolle spielen. Die historischen „Stände“ definiert Weber durch „ständische Lagen“ (ebd., S. 179f ), d. h. durch die „positive oder negative“ Verteilung der Ehre und der „Privilegierung in der sozialen Schätzung“. Der soziale Zusammenhalt wird durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsständen und ihrer Erziehung und zu den gleichen Heiratskreisen (connubium) und Verkehrskreisen (convivium) gesichert. Die soziale Stellung gegenüber anderen Gruppen wird durch zwei Mechanismen, „Konvention“ und „Recht“, also auf der gesellschaftlichen und

auf der politischen Handlungsebene, gesichert (ebd., S. 16-25, 187-194, 531-540, 676f ): •

Im Alltagsleben der Gesellschaft bilden die Konventionen der „Lebensführung“, des „Sichverhaltens“, des Geschmacks und der „Stilisierung“ des Lebens die sozio-kulturellen Ab- und Ausgrenzungsmechanismen, die soziale Zugehörigkeit, Distanz und Exklusivität regeln.

In der Politik werden über das Recht die Privilegierungen bestimmter biographischer Chancen praktisch erkämpft und rechtlich institutionalisiert.

Beide Mechanismen dienen der „Schließung“ gegenüber Neuzugängen und der „Monopolisierung“ spezifischer materieller und nichtmaterieller Güter und Chancen und gestalten auch das Bildungssystem, indem sie die soziale Selektion nach Erziehungsidealen, Typen der Lebensführung, Schultypen, berufsberechtigenden Prüfungen usw. organisieren. Diese Mechanismen „,ständischer‘ Bildungen“ wirken nach Webers Beobachtungen auch in modernen, demokratischen Gesellschaften „mit außerordentlicher Regelmäßigkeit“ (ebd., S. 535, 539). Als Beispiel nennt er die Vereinigten Staaten, wo die Erwerbsklassen eine „‚ständische‘ Gliederung“ auf der Basis konventioneller Lebensführung, ständischer Schließungen der Verkehrs- und Heiratskreise und der „Monopolisierung“ materieller und nichtmaterieller Güter und Chancen einschließlich der höheren Bildung entwickeln. Aufgrund dieser Einsichten formuliert Weber seine Gliederung der drei Macht-

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ebenen für nachständische, kapitalistische Klassenverhältnisse um (ebd., S. 178-179): •

Mit dem Terminus „Erwerbsklassen“ bezeichnet er Klassen, soweit sie als Akteure der ökonomischen Ordnung auftreten. – Kocka (1979) spricht der Verständlichkeit halber auch von ökonomischen Klassen.

Mit dem Terminus „soziale Klassen“ bezeichnet er Klassen als Akteure der gesellschaftlichen Ordnung, die sich über ihre alltägliche Lebensführung, ihrer Alltagsmentalität und ihr soziales Distinktionsverhalten ihren sozialen Status sichtbar machen und sichern. Die „soziale Klasse“ steht insofern nach Weber auch dem „Stand“ „am nächsten“ (Weber, ebd. S. 180) und kommt Durkheims Begriff des sozialen Milieus nahe.

Mit dem Terminus „politische Parteien“ bezeichnet Weber weiterhin die organisierten Interessenallianzen, die über die politische Ordnung die ökonomischen und sozialen Unterschiede der Klassen beeinflussen.

Der ständischen Überformung oder Modifikation der kapitalistischen Klassenstrukturen, die für Weber (ebd., S. 531540) so charakteristisch ist, legen auch zwei Protagonisten der neuen Milieuforschungen, Bourdieu (1982 [1979]) und Hradil (1987), eine große Bedeutung für die Gegenwart bei. Gegen die Annahmen der klassischen Soziologie – die auf eine differenzierte und ständisch regulierte Klassengesellschaft hinauslaufen – mag eingewendet werden,

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dass ihre empirischen Grundlagen vor hundert Jahren (bei Weber) oder vor achtzig Jahren (bei Geiger) oder vor vierzig Jahren (bei Bourdieu) noch gestimmt hätten, aber heute nicht mehr aktuell sei. – In der Tat haben sich, wie nachfolgend auf der Grundlage von empirischen Massendaten gezeigt werden soll, die Klassenverhältnisse erheblich verändert. Sie haben sich jedoch nicht aufgelöst, sondern auf höherer Stufe – differenzierter und pluralisierter – reproduziert. Und dies hat in der Tat das Problem verstärkt, dass die sogenannten Volksparteien Schwierigkeiten haben, die Angehörigen dieser modernisierten Milieus noch erfolgreich zu mobilisieren und zu repräsentieren. Weber verstand die beschriebenen Mechanismen der Klassenprivilegierung nicht als Naturgesetze. Besonders in seinen politischen Schriften engagiert er sich für die Stärkung von Gegenkräften und Gegenpolitiken auf allen drei Machtebenen. Als Vertreter des sozialen bürgerlichen Liberalismus bis zum Ersten Weltkrieg trat er insbesondere ein für die Ersetzung autokratischer Regierungssysteme durch die repräsentative Demokratie, für den Abbau ständischer Privilegierungen durch gleiche soziale und politische Wettbewerbschancen und für die Korrektur marktwirtschaftlicher Schieflagen durch staatliche Sozialpolitik und aktive Gewerkschaften. Der Unterschied von Weber zu Marx bestand lag nicht in der Frage, ob es Klassen gibt, sondern darin, wie das Klassengefüge der bürgerlichen Gesellschaft sich weiterentwickeln würde oder könnte. Weber setzte auf sozial-liberale Reformen, die innerhalb einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung Chancengleichheit herstellen

Die drei Ebenen der Machtverteilung Argumente 3/2013


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sollten. Marx ging dagegen davon aus, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft neue Klassenwidersprüche enthalte, die im Kapitalismus nicht zu lösen seien und aus denen sich die objektive Möglichkeit einer nachkapitalistischen, demokratischeren Gesellschaft entwickeln könne, einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Marx/Engels 1959 [1848]; 482). Im Gegensatz zu den Staatssozialisten bestand er aber darauf, dass diese Entwicklung über die Entwicklung von sozialen Gegenbewegungen und Gegeninstitutionen schon im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft beginnen sollte.

den Gesellschaften. Es muss die Vorteile der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nutzen und daher die Produktivkräfte der Arbeit und Technik und die Herstellung von Gebrauchswerten immer weiter entwikkeln. Durch diesen Widerspruch bringt es, anders als die vorangehenden Gesellschaftsordnungen, von sich aus auch Potentiale des Wandels hervor. Von allen klassischen Autoren hat Émile Durkheim am deutlichsten herausgearbeitet, dass es dabei um einen Widerspruch zwischen emanzipatorischen und herrschaftsorientierten Kräften geht. •

Historisch langfristig wachsen die Potentiale der Emanzipation, der mündigen Selbstbestimmung, weil mit der beruflichen Spezialisierung nicht nur die Arbeitsproduktivität und die ökonomische Interdependenz zunehmen, sondern auch höhere Niveaus von Bildung, Kompetenz und Kooperation entstehen. In der Regel bringen die Menschen in den Berufsmilieus nicht nur, wie erwähnt, gemeinsame moralische Regeln, ein Berufsethos und einen gemeinsamen „moralischen Habitus“ hervor, sondern durch fachliche Spezialisierung gleichzeitig auch Individualität und auf dieser Grundlage auch Interessengruppen, die um politische Repräsentation kämpfen. (Durkheim, ebd., S. 44, 55f, 259f, 474f ).

Diese emanzipatorischen Möglichkeiten werden, so Durkheim, jedoch eingeschränkt oder vereitelt, wenn an die Stelle der von den Berufsmilieus selbst hervorgebrachten Arbeitsteilung, die auf „Konsensus“ und „Solidarität“ beruht, eine durch Herrschaftshierarchien „erzwungene Arbeitsteilung“ tritt, in

Nicht nur Marx setzte auf emanzipatorische Potentiale der Entwicklung, die zu einer Überwindung der ungleichen Machtverteilung in der Klassengesellschaft beitragen könnten. Ähnliche Auffassungen vertraten auch andere Vertreter der klassischen Soziologie, soweit sie den demokratischen Arbeiterbewegungen ihrer Zeit nahestanden. Dies gilt besonders für den deutschen Soziologen Theodor Geiger und für den Begründer der französischen Soziologie, Emile Durkheim (Geiger 1949, Durkheim 1988 [1893/1902]). 1. Die ökonomische Handlungsebene Der Widerspruch zwischen wachsender Kompetenz und zunehmender Prekarität Durkheim hebt, wie auch die anderen klassischen Theorien und besonders Marx, hervor, dass Kapitalismus nicht nur „Ausbeutung“ bedeutet. In kapitalistischen Gesellschaften dient das ökonomische System nicht allein der Herrschaftsausübung und der Gewinnerhöhung, wie in vorangehen-

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der „die Funktionen derart verteilt sind, dass sie dem Individuum nicht genügend Raum zum Handeln bieten.“ Wenn das „abgestimmte Verhältnis zwischen den Fähigkeiten der Individuen und der Art der ihnen zugewiesenen Tätigkeit gestört“ werde, seien „schmerzhafte Reibungen“ und „Klassenkämpfe“ die Folge. (ebd., S. 443-446, 459) Durkheim beschreibt hier also nichts anderes als den Widerspruch zwischen der hohen Dynamik der ökonomischen und menschlichen Produktivkräfte und der bremsenden Statik der institutionellen Produktionsverhältnisse, die auch für Marx im Mittelpunkt der Überlegungen stand. Auch Durkheims Zukunftsperspektive einer aktiven gesellschaftlichen Emanzipation ist der eines undogmatisch verstandenen Marx nahe. Als politische Lösung der Probleme schlug Durkheim, der sich stark in der von seinem Studienfreund Jean Jaurès geführten französischen Arbeiterbewegung engagierte, eine in den Berufsgruppen beginnende demokratische Selbstund Mitbestimmung, also eine partizipatorische Wirtschaftsdemokratie von unten, vor (ebd., S. 42-51, 70). Die soziale Lösung der Probleme sah Durkheim in der Wiederherstellung der Milieus als integrative Kraft, die der sozialen Desintegration oder Anomie, die mit den industriekapitalistischen Konkurrenz- und Herrschaftsverhältnissen verbunden ist, entgegenwirken kann, auch wenn der Aufbau des sozialmoralischen Zusammenhalts eine langwierige Arbeit ist, die durch desintegrative Entwicklungen bedroht ist (ebd., S. 44 f., 56, 227, 436 f., 474, 479 f.).

kräften und der Produktionsverhältnisse soll hier exemplarisch an einer ihrer vielen Dimensionen verdeutlicht werden, an der Zunahme des Widerspruchs zwischen der Steigerung der Qualifikationen der Erwerbstätigen und der Prekarisierung ihrer Einkommen. Der enorme Exportboom der Bundesrepublik, in dem sich das erarbeitete Bruttosozialprodukt seit 1990 vervielfacht hat, beruhte nicht zuletzt auf einer gleichfalls enormen Steigerung der Qualifikation der Arbeitskräfte, aber diese war nicht mit verbesserten Einkommen, sondern seit dem Jahre 2000 mit einer enormen Zunahme gering bezahlter, befristeter und unsicherer Erwerbstätigkeiten verbunden. Hierzu haben wir, in einem Kurzprojekt der Hans-Böckler-Stiftung, mit den Daten des Mikrozensus von 1991 bis 2009 eine Längsschnittanalyse durchgeführt. Die große Stichprobe des Mikrozensus erlaubt uns mit ihren mehr als 180.000 Fällen sehr präzise und vielfältig differenzierte Aussagen, die Anfang 2014 in einem ausführlichen Bericht nachlesbar sein werden (Vester/Weber-Mengs 2014). Unser Diagramm (Abb. 1) veranschaulicht diese Entwicklung an zwei Dimensionen. Der obere Teil der Abbildung zeigt die Verschiebungen zwischen den vier grundlegenden Qualifikationsstufen, d. h. zwischen •

den Berufen, die in der Regel ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium voraussetzen, den sogenannten akademischen Professionen,

den Berufen, die in der Regel eine gehobene Fachschulausbildung voraussetzen, den sogenannten Semiprofessionen,

Die heutige Entwicklungsstufe des Widerspruchs zwischen den Produktiv-

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Schere zwischen Qualifikationssteigerung und Einkommenssenkung nach d. Mikrozensus (BRD 1991-2009) Qualifikationsrang: Von der Birnenform zur Olivenform Birne 1991

Olive 2009

Professionen u.a.

10,1

18,9

Semiprofessionen u.a.

20,7

26,0

Fachlehrberufe u.a.

45,4

29,8

Un- und Angelernte

23,8

25,1

Einkommensklassen in Prozent des Durchschnittseinkommens: Von der Orangenform zur Erdnussform 1991

1995

2000

2008

2009

Gesicherter Wohlstand (ab 132%)

9,7

6,8

13,4

11,7

13,4

Bescheidener Wohlst. (ab 100%)

21,2

17,4

24,0

25,3

Instabieler Wohlstand (ab 75%)

39,4

44,6

40,5

22,2

21,8

Prekarität (ab 50%)

25,6

20,1

15,2

30,4

28,2

Armut (unter 50%)

3,9

11,1

Leichte Verbesserung

4,9

10,4

Verschiebung nur nach unten

27,3

9,3

Leichte Erholung

© Weber-Menges/ Vester 2013

Abbildung 1

den Berufen, die in der Regel eine abgeschlossene Fachlehre voraussetzen, den Fachlehrberufen und

den Berufen, die von ungelernten oder angelernten Erwerbspersonen ausgeübt werden können.

Die Abbildung zeigt eine erhebliche Verschiebung der Gewichte. 1991 hatte die Stufung der Qualifikationen noch die Gestalt einer Birne, mit einer sehr breiten unteren Mitte, in der vor allem die Lehrberufe der Exportbranchen dominierten. Diese Struktur gibt es nicht mehr. Diese untere Mitte hat sich durch eine Scherenbewegung nach oben und nach unten bis zum Jahre 2009 von etwa 45 auf etwa 30 % der Erwerbstätigen, also um ein Drittel, vermindert. Ursachen sind vermutlich sowohl Produktivitätssteigerungen

durch Arbeitsverdichtung und Höherqualifikation als auch Auslagerungen von Facharbeits-Arbeitsplätzen vor allem nach Ostmitteleuropa. Stattdessen ist im selben Zeitraum die Erwerbstätigkeit in den Professionen und Semiprofessionen von etwa 31 auf etwa 45 % gestiegen. Auch hier spielen Qualifikationssteigerungen eine Rolle, aber sie sind – besonders auf der Stufe der Semiprofessionen – ebenfalls durch Auslagerungen in andere Länder gemindert. Die an- und ungelernten Erwerbstätigen haben nur geringfügig, um 1,3 % zugenommen, sind mit 25,1 % aber immer noch auffällig groß. Auch hier wirken Auslagerungen in andere Länder mit. Bemerkenswert ist, dass die Stufung insgesamt noch ziemlich ausgeglichen

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wirkt. Es ist nicht eine Pilzform, d. h. ein Übergewicht der vollakademischen Berufe, entstanden, wie dies dem dramatischen Szenario einer sogenannten ‚Wissensgesellschaft‘ entspräche. Es überwiegen weder die untersten noch die obersten, sondern die beiden mittleren Qualifikationsstufen. Es gibt eine enorme Aufwärtsbewegung zur intelligenten Hochqualifikation, aber dadurch ist die Mitte nicht verschwunden, sondern nur etwas nach oben gerückt, wie bei einer Olive. (Zu dieser Entwicklung zeigen auch deutliche horizontale Verschiebungen zu den Dienstleistungen und zu den herkömmlicherweise vor allem von Frauen ausgeübten Berufen. Sie sind in Abb. 6 im Anhang sowie in dem späteren Forschungsbericht näher dargestellt.) Angesichts der zunehmenden Arbeitsqualifikation hätte erwartet werden können, dass auch die Einkommen, die Spielräume selbstständiger Entscheidungen und die sozialen Sicherungen zugenommen hätten. Dies war aber nicht der Fall. Dies erweist sich besonders augenfällig an der Zunahme prekärer Einkommenslagen, wie sie im unteren Teil der Abbildung sichtbar werden. Hier zeigen sich die Verschiebungen zwischen den – in der großen Studie von Olaf Groh-Samberg (2009) definierten – fünf grundlegenden Stufen der individuellen Einkommen:

den Einkommenslagen des instabilen Wohlstands (unter 100 % bis 75 % des Durchschnittseinkommens),

den Einkommenslagen des bescheidenen Wohlstands (unter 132 % bis 100 % des Durchschnittseinkommens) und

den Einkommenslagen des gesicherten Wohlstands (132 % des Durchschnittseinkommens und mehr.

Zwischen diesen fünf Einkommenslagen hat sich eine wesentlich andere Dynamik abgespielt als zwischen den Stufen der beruflichen Qualifikation. Und dieser Prozess ist nicht kontinuierlich geschehen, sondern hat hauptsächlich in den Jahren der rot-grünen Koalition stattgefunden, in denen die ‚Agenda 2010‘ eingeführt worden ist.

den Einkommenslagen der Armut (unter 50 % des Durchschnittseinkommens),

An den Schichtungsdiagrammen zeigt sich zudem eine deutlich andere Entwicklung als sie die These von der ‚schrumpfenden Mitte‘ behauptet. Diese These stützt sich auf Daten, die die ‚Mitte‘ um das Durchschnittseinkommen herum definieren, nämlich zwischen 75 und 132 % des Durchschnittseinkommens. Unsere Unterteilung nach dem Modell von Groh-Samberg zeigt demgegenüber, dass der obere Teil dieser Mitte (von 100 % bis unter 132 %) überhaupt nicht abgenommen hat. Er hat vielmehr von etwa 21 auf etwa 27 % zugenommen, und zwar seit dem Jahre 2000 und durch eine Umverteilung zu Lasten der obersten Gruppe, die im gesicherten Wohlstand lebt.

den Einkommenslagen der Prekarität (unter 75 % bis 50 % des Durchschnittseinkommens),

Geschrumpft ist also nicht die gesamte Einkommensmitte, sondern die untere Einkommensmitte (unter 100 % bis 75 %

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des Durchschnittseinkommens). Diese Gruppe war 1991 mit etwa 39 % noch die größte Gruppe; sie ist nach dem Jahre 2000 auf 22 % geschrumpft, also fast halbiert worden. Gleichzeitig haben sich die Gruppen darunter, die Einkommensgruppen der Prekarität und der Armut, von zusammen etwa 20 % auf zusammen etwa 40 % der Erwerbstätigen verdoppelt. – Die Prekarisierung hat also als Umverteilung unterhalb des Durchschnittseinkommens, als Umverteilung zwischen den kleinen Leuten, stattgefunden. Diese Daten können, als exemplarische Auswahl, nur einen ersten Eindruck vermitteln, Sie beziehen sich nur auf die individuellen Einkommenslagen der Armut und Prekarität von Menschen, die erwerbstätig sind. Wenn wir die Erwerbslosen einbeziehen, sind die Zahlen noch höher. Was in den Schichtungsbildern ebenfalls noch nicht deutlich wird, ist die ungleiche Verteilung der Prekarität und der Armut. Sie treffen nicht alle Erwerbstätigen gleichermaßen, sondern in überdurchschnittlichem Maße vor allem die gering qualifizierten Arbeitnehmer, die Arbeitnehmer der Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, die weiblichen Arbeitnehmer, die Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund und auch neue Gruppen von prekären akademischen und kleingewerblichen Selbstständigen. (Diese Differenzierungen sind in Abb. 7 im Anhang sowie in dem späteren Forschungsbericht näher dargestellt.)

2. Die gesellschaftliche Handlungsebene Vertikale Statik und horizontale Dynamik der Klassenmilieus Unsere qualitativen und durch repräsentative Befragungen abgesicherten Untersuchungen, die wir seit den achtziger Jahren ständig weiterentwickelt haben, folgen insgesamt dem Drei-Ebenen-Ansatz von Weber und Bourdieu. Sie sind insbesondere in dem Buch Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, das im Suhrkamp-Verlag erschienen ist, zusammengefasst und vollständiger nachzulesen (Vester, von Oertzen, Geiling u. a. 2001). Relevant sind hier vor allem zwei Hauptergebnisse: •

das Weiterbestehen der grundlegenden vertikalen und horizontalen Teilung der Gesellschaft in eine Pluralität von Klassenmilieus und

die weitere Zunahme dieser Pluralisierung durch die horizontale Herausdifferenzierung jüngerer, modernerer, besser qualifizierter und emanzipatorisch orientierter Milieufraktionen.

Diese Gliederung der Milieus ist explorativ, d. h. auf strikt empirischer Grundlage ermittelt worden. Sie beruht auf der Herausarbeitung der unterschiedlichen Muster des Habitus bzw. der Mentalität, von denen die Menschen sich bei ihrem Handeln leiten lassen. Diese Typologie von Mentalitäten, die unten im Einzelnen entfaltet wird, ist ursprünglich besonders von der innovativen Milieuforschung des ‚Sinus‘Instituts angeregt worden (vgl. insbes. Becker u. a. 1992. Flaig u. a. 1993, Ueltzhöffer 1999). Weiterentwickelt und räum-

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lich geordnet wurde sie von uns insbesondere nach der Theorie des Habitus und des sozialen Raums von Bourdieu (1982 [1979]), die wesentlich an Weber anknüpft. Die beigefügte differenzierende ‚Landkarte‘ der sozialen Milieus (Abb. 2) gibt einen zum Zwecke der Verständlichkeit stark vereinfachten Überblick über die Gliederung und Untergliederung der Milieus, die durch Clusteranalysen sehr detailliert empirisch ermittelt worden ist (Wiebke 2002). Die darin sichtbare Gesamtgliederung in fünf große genealogische Linien oder Traditionslinien (und zwei ‚Ableger‘ von ihnen am linken Rand) mag als neu erscheinen. Tatsächlich bestätigt sie aber auch die Richtigkeit von schon länger üblichen sozialen Unterscheidungen, die unter anderen Bezeichnungen getroffen worden sind: Die Zweiteilung der oberen Traditionslinien entspricht ihrer Bezeichnung durch die geläufigen Gegensatzpaare ‚Geist und Macht‘, ‚Bildung und Besitz‘ oder – in heutiger Form – ‚Akademiker und Führungskräfte‘. Die Dreiteilung der übrigen Traditionslinien bestätigt die Richtigkeit älterer Einteilungen der Volksklassen, die nicht unbekannt, aber in ihrer Bedeutung selten erkannt worden sind. Schon Marx und Engels unterschieden im Kommunistischen Manifest von 1848, gestützt auf die damals üblichen Typologien, drei Fraktionen der lohnarbeitenden Klasse, die sich trotz ähnlicher äußerer Soziallage nach ihrem geschichtlichen Erfahrungshintergrund durch grundsätzlich verschiedene sozio-kulturelle Identitäten voneinander abgrenzten: die „kleinbürgerlichen“ Arbeiter, das „Lumpenproletariat“ und die modernen, interes-

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senbewussten Fraktionen der Lohnarbeiter (1959 [1848]: 465, 471-473). In ihrer großen Studie über das Gesellschaftsbild der Arbeiter unterschieden Popitz, Bahrdt u. a. (1957) unter anderem Namen die gleichen drei Typen. Das zweite Hauptergebnis der Untersuchung führt über diesen Erkenntnisstand hinaus. Im Gefüge der Milieus gibt es eine erhebliche Bewegung. Aber diese hat nur in sehr geringem Umfang zwischen den fünf großen Gruppen stattgefunden. Die Grundmuster und auch die Abgrenzungen der großen Traditionslinien voneinander haben sich offenbar historisch in erheblichem Maße verfestigt. Bewegungen und Veränderungen haben vielmehr innerhalb der jeweiligen Großgruppen stattgefunden. Es handelt sich um Veränderungen der Lebensführung, des Habitus und der Lebenslagen durch den Generationenwechsel. Die jüngeren Generationen verändern sich, bleiben dabei aber doch erkennbar im Rahmen der Grundwerte ihrer Herkunftsmilieus. Wir sprechen daher von Traditionslinien oder genealogischen Linien der Milieus. Die fünf Traditionslinien sind, wie abgebildet, in 14 mittlere Untergruppen und Ableger untergliedert, die ihrerseits noch weiter, in insgesamt 20 Submilieus, unterteilt sind. Diese feinere Unterteilung hat es ermöglicht, mittels der in der Repräsentativbefragung ebenfalls erhobenen statistischen Merkmale die moderneren, jüngeren Milieus zu identifizieren (Wiebke, a. a. O.). (Sie sind in Abb. 2 und in den Milieubeschreibungen mit A, B, C und D bezeichnet.) Diese waren bis 2003 zusam-

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Abbildung 2

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men bereits auf etwa 28 % der Gesamtbevölkerung angewachsen. Ihr Habitus teilt zwar mit dem elterlichen Habitus noch die Grundzüge, zielt aber viel entschiedener auf Kompetenz- und Partizipationserweiterung. In begrenzter Form zeigen sich solche Modernisierungen aber auch in den konservativen Traditionslinien, insbesondere im ‚Modernen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu‘ (3,6 %). Dieser Wandel des Habitus der jüngeren Milieus ist seit den 1970er Jahren auch aus der Sicht anderer Theorien beschrieben worden. Allerdings bleiben diese Theorien, die mit den Stichworten „postmaterieller Wertewandel“ und „Individualisierung“ hohe Popularität erlangt haben, an der Oberfläche. Sie sind zudem nicht gegen Missverständnisse gefeit, die durch ideologische Gegensatzpaare entstehen. Etwa gegen die Annahme, dass mit der Zuwendung zu „postmateriellen Zielen“ (z. B. Respekt zwischen den Geschlechtern, zwischen den ethnischen Gruppen, gegenüber der Natur und demokratischer Partizipation) die „materiellen“ Klassengegensätze überholt seien. Oder gegen die Unterstellung, dass mit der „Individualisierung“ (z. B. Selbst- und Mitbestimmung) der soziale Zusammenhalt (Solidarität, Verantwortung usw.) egoistisch zerstört würde. In Wirklichkeit bewegt sich der Habituswandel in der Regel nicht in solchen extremen Alternativen, sondern lebenpraktischen Kompromissen. Die nachfolgenden Beschreibungen der Milieus und ihrer Handlungsstrategien veranschaulichen dies. Und sie sprechen dafür, dass es sich um Wandlungen der moralischen Umgangsformen der Menschen, der gesellschaftlichen Verkehrsformen handelt, die

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mit den klassischen analytischen Kategorien „autoritär“ (oder fremdbestimmt) und „demokratisch“ (oder selbstbestimmt) (vgl. Adorno u. a. 1950) grundsätzlicher und vieldimensionaler begriffen werden können. Denn es geht um Mündigkeit, Emanzipation. Diese Dimension ist unten in der fünften Abbildung, in der die Strategien der Lebensführung für jede der Traditionslinien begrifflich zusammengefasst sind, noch einmal verdeutlicht. Es handelt sich um eine „horizontale“ Dimension, die sich mit der Dimension vertikaler Macht- und Klassenunterschiede gewissermaßen unterscheidet. Emanzipatorische Strebungen sind also nicht ein Privileg etwa der ‚aufgeklärten Bildungseliten‘, sondern ein Potential in allen Klassenmilieus. Erste und zweite Traditionslinie: Die oberen bürgerlichen Milieus Diejenigen, die einen distinktiven Habitus aufweisen, nehmen auch die führenden Berufsstellungen ein. Es sind die Milieus des Eigentums, der institutionellen Herrschaft und der höheren Bildung mit etwa 18 % der Bevölkerung. Alle oberen Klassenfraktionen kultivieren einen distinktiven Geschmack und Lebensstil und eine „führende“ Rolle in der Gesellschaft. Trotz innerer Differenzierungen sind sich diese Fraktionen in ihren Politiken sozialer „Schließung“ (Weber 1972 [1921]: 23, 201f ) einig; nur selten akzeptieren sie Neuaufsteiger in ihren Kreisen. Diese Politiken funktionieren in Deutschland nicht sosehr über Eliteschulen oder -hochschulen wie in England, den USA und Frankreich, sondern über subtile Mechanismen der Selektion nach dem Habitus (Hart-

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mann 2002), die auch als informelle Zugangsbarrieren im Bildungssystem wirken. Geschmack und Schließungen bilden eine unsichtbare Trennlinie der Distinktion gegenüber den Volksmilieus. In sich selbst differenzieren sich die oberen bürgerlichen Milieus in eine Traditionslinie der institutionellen Macht und eine Traditionslinie der Bildung sowie ein aus beiden Traditionslinien gespeister Ableger, ein ‚Avantgardemilieu‘, dessen Platz bis in die frühen 1990er Jahre von dem Linksalternativen Milieu (A) eingenommen wurde. (1) Rechts oben im sozialen Raums sehen wir die Milieus der institutionellen Herrschaft, d. h. der leitenden Stellungen in den privaten und öffentlichen Managements und in den renommiertesten freien Berufen in der Medizin, Justiz usw. Diese hohen Positionen werden seit Generationen in den Familien weitergegeben. Es überrascht nicht, dass die Angehörigen dieser Milieus Autorität, Disziplin und Einordnung betonen und einen repräsentativen Stil pflegen, der imponiert ohne zu protzen. (2) Links davon sehen wir die akademische Intelligenz, d. h. die Berufsgruppen der höheren Dienstleistungen, vor allem in Expertenberufen der Bildung, der Kultur, der Kommunikation, der Gesundheit, des Sozialwesens und der Technologie. Die Angehörigen der Milieus unterscheiden sich von der ,Machtorientierung‘ der anderen oberen Milieus und vom ,Materialismus‘ der Volksmilieus.

Dritte und vierte Traditionslinie: Die ‚respektablen‘ Volksund Arbeitnehmermilieus Sie bilden mit etwa 70 % die große Mitte der Gesellschaft. Sie umfasst heute überwiegend Arbeitnehmer und nur noch wenige kleine Selbstständige, da nach 1950 infolge der Besitzkonzentration viele von ihnen in Arbeitnehmerberufe übergewechselt sind. Für Angehörigen beider Traditionslinien ist gute Facharbeit als Arbeiter oder Angestellte und ein sicherer und respektierter sozialer Status die Grundlage von Achtung und Selbstachtung. Bei den Milieus der Mitte sehen wir die gleiche horizontale Fraktionierung in Traditionslinien wie in den oberen Milieus und einen ‚Ableger‘ – das eher jüngere Hedonistische Milieu (C), das aus Kindern der beiden Traditionslinien besteht, die sich gegen die Leistungs- und Pflichtmoral der Elterngeneration jugendspezifisch abgrenzen. (3) Die Angehörigen der modernen Traditionslinie der Facharbeit und der praktischen Intelligenz (ca. 35 %) suchen Unabhängigkeit von Autoritäten und wollen diese auf gute Fachausbildung und Facharbeit sowie gegenseitige Solidarität gründen. Sie entsprechen den Gesellschaftsbildern des „progressiven Ordnungsgefüges“ und der „Reform der Gesellschaftsordnung“ bei Popitz, Bahrdt u. a. (1957: 193-201, 216221), also eines ‚linken Reformismus‘. Die Angehörigen dieser Milieus sind (meist männliche) Facharbeiter und (oft weibliche) Fachangestellten in sich modernisierenden mittleren Berufen und moderne kleinere Selbstständige. Ihr zentraler

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Wert ist ein realistischer Grad von Autonomie. Relative Unabhängigkeit von äußeren Autoritäten und Zwängen soll über Strategien der Fachqualifikation und Selbstständigkeit erreicht werden, d. h. gute Arbeitsleistung, anhaltende Bildungsanstrengungen und die Solidarität in Familie, Nachbarschaft und Kollegenkreis. Ihre Lebensführung ist weitgehend durch eine Variante der Weberschen „protestantischen Ethik“ strukturiert, die nicht nur auf ein asketisches Arbeitsethos setzt, sondern für hohe Leistung auch soziale Teilhabe – das Recht, die Früchte der eigenen Mühen zu genießen – verlangt. Sie folgen einer Art von demokratischem Universalismus: jeder Mensch soll nach seinen praktischen Werken beurteilt werden, unabhängig von Geschlecht, Altersgruppe, Ethnie oder Klassenherkunft. Solidarität bedeutet nicht Kollektivismus um jeden Preis, sondern folgt der alten Volkstradition der gegenseitigen Nachbarschaftshilfe und der Nothilfe von ansonsten unabhängigen Zusammenlebensgemeinschaften (vgl. Weber 1972 [1921]: 216). Insgesamt hat sich diese Traditionslinie mit dem Generationenwechsel modernisiert. Die älteste Generation, das Traditionelle Arbeitermilieu, das Lebenssituationen des Mangels mit Strategien der Bescheidenheit zu bewältigen suchte, ist auf etwa 5 % geschrumpft. Die mittlere Generation, die Leistungsorientierten Arbeitnehmer, die für höhere Leistung auch mehr Teilhabe verlangen, umfasst gleich bleibend etwa 18 %. Die jüngste Generation, die Modernen Arbeitnehmer (B), die mehr auf Autonomie, Bildung und Partizipation setzen, ist um 1980 neu entstanden und bis 2003 auf etwa 12 % angewachsen.

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(4) Die Angehörigen der ständisch-kleinbürgerlichen Traditionslinie suchen Sicherheit in der Einordnung in Autoritätshierarchien, sie entsprechen dem Gesellschaftsbild des „statischen Ordnungsgefüges“ bei Popitz, Bahrdt u. a. (1957: 186-193), also eines arbeitnehmerischen Konservatismus. Die Angehörigen der kleinbürgerlichen Volks- und Arbeitnehmermilieus sind überwiegend kleine Beschäftigte und Selbstständige in traditionellen Berufen. Mit ihren bescheidenen materiellen und kulturellen Ressourcen gehören sie oft zu den Verlierern der ökonomischen Modernisierung. Sie suchen Sicherheit in den Hierarchien der Familie, der Arbeit und der Politik. Dem entspricht ein konventioneller und autoritärer Habitus. Dieser lokkert sich allerdings etwas auf bei der jüngeren Generation, dem auf 3,6 % angewachsenen Modernen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu (ca. 4 %). Seine Angehörigen erwarten von Unternehmern und Politikern als Gegenleistung für ihre Loyalität auch einen gewissen sozialen Ausgleich und gewisse Mitwirkungsrechte und befürworten eine wenigstens begrenzte Gleichstellung von Frauen und Zuwanderern. Fünfte Traditionslinie: Die unterprivilegierten Volksmilieus Die Unterprivilegierten Volksmilieus oder ‚Unterklassen‘ haben nur geringe Ausbildungen und Qualifikationen. Sie bevorzugen Strategien, die einer Lage der Unsicherheit und Machtlosigkeit angepasst sind. Den Ausschluss von Macht und Respektabilität verarbeiten sie nicht (wie manche annehmen könnten) mit Militanz. Sie sind sich der Risiken, destabilisiert und

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Abbildung 3

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stigmatisiert zu werden, sehr bewusst und kultivieren daher eher Strategien der flexiblen Gelegenheitsnutzung, des Mithaltens mit den Standards der ‚respektablen‘ Milieus über ihnen, der Anlehnung an Stärkere und der Investition in hilfreiche persönliche Beziehungen anstatt in Bildung. Die Traditionslinie entspricht den Gesellschaftsbildern der „Dichotomie als kollektives Schicksal“ und der „Dichotomie als kollektives Schicksal und individueller Konflikt“ bei Popitz, Bahrdt u. a. (ebd.: 201-215). Die Traditionslinie unterteilt sich in drei Untergruppen – die konservativen Statusorientierten (ca. 3 %), die auf den Schutz von Hierarchien setzen, die arbeitnehmerischen Resignierten (ca. 6 %), die insbesondere in Gewerkschaften ihre Schutzmacht sehen, und die Unangepassten (ca. 2 %), die mehr auf Selbstverwirklichung und Teilhabe an den modernen Lebensstilen setzen. 3. Die politische Handlungsebene Gesellschaftspolitische Lager Das Feld der politischen Kämpfe stellt eine andere Handlungsebene dar als das Feld des sozialen Alltagslebens, in dem es um die „kleinen Dinge“ geht. Die sozialen Teilungen der Alltagsmilieus knüpfen an die Organisation des Lebens und Arbeitens in der Lebenswelt, im Feld der Alltagspraxis, an. Im Feld der Politik gelten eigene Regeln des Machtkampfes, der institutionellen Organisation und des intellektuellen Diskurses, die Laien häufig nicht vertraut sind. Wer sich im politischen Feld behaupten will, braucht dazu Spezialisten der Machtpolitik, der juristischen und ideologischen Legitimation und des

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intellektuellen Diskurses, die wiederum in oberen sozialen Klassen häufiger zu finden sind. Daher bilden sich im politischen Kampf in der Regel Koalitionen oder, wie es in Anlehnung an die Kriegssprache heißt, „Lager“ heraus, in denen sehr oft Teilgruppen der Volksmilieus mit Teilfraktionen der oberen Milieus zusammengehen. (Eine Ausnahme bildet die Gewerkschaftsbewegung, die ihre Führungsgruppen in der Regel noch immer aus der Arbeiterintelligenz rekrutiert.) Aufgrund dieser Koalitionen, die vertikale Milieustufen überschreiten, ist es nicht zwingend, dass die benachteiligten Klassenmilieus, die die geringeren sozialen und politischen Ressourcen und Teilhabechancen haben, geschlossen für „systemkritische“ oder „linke“ politische Kräfte optieren und dass die bevorzugten Klassenmilieus geschlossen „systemerhaltend“ oder „rechts“ wählen. Keine der sozialen Teilungen in ein Oben und Unten übersetzt sich direkt in die Präferenz für bestimmte Parteien oder Parteienlager. In den oberen bürgerlichen Milieus wählen große Minderheiten Parteien des linken Lagers, also SPD, Grüne oder Linkspartei. In den Arbeiternehmermilieus wählen große Minderheiten CDU oder CSU. Dies ist keineswegs ein Zeichen der Auflösung von Lagerbindungen, sondern ein Zeichen historisch nachwirkender politischer Allianzen. In Deutschland haben sich diese Kampfallianzen weitgehend historisch verfestigt. Sie gehen, wie Mario Rainer Lepsius (1993 [1966]) aufgezeigt hat, hauptsächlich auf historische Großkonflikte zurück, die sehr weit zurückliegen. Lepsius nennt die Städterevolution, die Reformationskämpfe, die bürgerliche

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Revolution von 1848, die Kämpfe der Bismarckzeit und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Wir können heute die Konflikte um die 1968er Bewegungen hinzufügen. In aller Regel haben sich die so entstandenen politischen Allianzen, Klientelverhältnisse und Fronten mit der Zeit in eigenen Institutionen, Rechten im korporativen Aushandlungssystem, Ideologien, weltanschaulichen Familientraditionen und vielem mehr verfestigt und historisch auf Dauer gestellt. Gleichwohl konnten solche Allianzen und Koalitionen auch on ihre Teilgruppen auseinanderfallen oder sich umbilden. Lepsius verdeutlicht dies am Beispiel des Überwechselns der enttäuschten bürgerlich-konservativen Wähler zu den Nationalsozialisten. (Heute sind ähnliche Erscheinungen eines ‚re-alignments‘ in den Auffächerungen der SPD und teilweise der CDU/CSU in mehrere Einzelparteien zu beobachten.) Die klassische Wahlforschung ging noch vom Fortbestehen dieser historischen Lagerbindungen in den Milieus aus (insbes. Lazarsfeld u. a.1969 [1944]), Rokkan 1965, Lepsius ebd., Lipset/Rokkan 1967). Sie konnte belegen, dass die soziale Landkarte und die politische Landkarte nicht oder nicht völlig deckungsgleich waren, weil sich in der Politik verschiedene historisch veränderliche ‚cleavages‘, d. h. wirtschaftliche, soziale, konfessionelle, regionale und andere Trennlinien überschneiden. (Dieses Argument richtete sich, dem Zeitgeist des Kalten Kriegs entsprechend, noch gegen den Vulgärmarxismus, der annahm, dass sich ökonomische Teilungen direkt in den politischen Teilungen widerspiegeln müssten. Arbeiter müssten demnach auch klassenbewusste Arbeiterparteien wählen. Taten sie dies nicht, dann hätten sie ein

‚falsches‘, durch Ideologien oder falsche Führer manipuliertes Bewusstsein.)Von den 1980er Jahren an schlossen sich Lipset u. a. jedoch der These an, dass sich die alten, aus historischen Kämpfen hervorgegangenen Lagergliederungen nun doch in einen individualisierten Wählermarkt aufgelöst hätten (vgl. auch Güllner u. a. 2005). – Diese Individualisierungsthese der Wahlsoziologie, die vielen so plausibel erscheint, ist bemerkenswerterweise bisher durch empirische Forschungen nicht belegt worden. Vielmehr haben sehr verschiedenartige Untersuchungen mit großen repräsentativen Datensätzen bestätigt, dass die sozialen Klassen wie die parteipolitischen Lager sich nicht aufgelöst, wohl aber weiter aufgefächert bzw. in sich fraktioniert haben. Die erste Widerlegung der Individualisierungsthese stützt sich auf groß angelegte und fein differenzierende Analysen von berufsstatistischen und wahlstatistischen Massendaten. Walter Müller (1998) legte Längsschnittuntersuchungen für Deutschland, Daniel Oesch (2006) einen internationalen Vergleich vor. Beide bestätigen, dass die Individualisierungsthese nur dann zutrifft, wenn sehr grobe vertikale Einteilungen der Sozialstruktur gebildet werden. Werden dagegen die feineren horizontalen Differenzierungen der Sozialstruktur untersucht, dann zeigt sich bei den anhaltend wachsenden moderneren Berufsgruppen (besonders der technischen Experten und der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen) durchaus eine Zunahme des ‚linken Lagers‘ insgesamt und das Anwachsen ‚grüner‘ bzw. ‚rot-grüner‘ Orientierungen innerhalb dieses Lagers. Müller hat dies an den oberen Berufsmilieus belegt. Oesch bestätigt diese horizontale

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Entwicklung auch international und für die Berufsgruppen der Arbeitnehmer insgesamt. Eine zweite Widerlegung stellen die repräsentativen Erhebungen zur Mentalitäts- und Milieustruktur dar (Vester u. a. 2001). In diesen wurden die in der Bevölkerung verbreiteten Vorstellungen, wie die soziale Ordnung als ganze gegliedert sein soll, erhoben. Gefunden wurden über Cluster- und Faktorenanalysen sechs grundlegende „Lager“, die sich nach ihren Wunschvorstellungen von der sozialen Gesamtordnung unterscheiden. Unser Schaubild (Abb.4) zeigt in stilisierender Vereinfachung, wie die Anhänger dieser Lager sich aus verschiedenen Milieus rekrutieren. Bemerkenswert ist, dass sich trotz der Offenheit der Befragung sechs Vorstellungen von einer gerechten sozialen Ordnung kristallisiert haben, die eine hohe Kontinuität der großen historischen und auch der neuen Cleavages und Lagerbildungen bestätigen. Diese sozialen Ordnungsbilder der Bevölkerung sind in praktischen Handlungsgewohnheiten festgeschriebene Konzepte. Obwohl nicht intellektuell ausgearbeitet, knüpfen sie doch erkennbar an die liberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen, konservativen und protektionistischen, aber auch die neuen postmaterialistischen Cleavages an. Die sechs Lager haben Schwerpunkte in bestimmten Klassenmilieus, sind aber nicht deckungsgleich mit ihnen. Vielmehr verteilen sie sich jeweils vertikal bzw. diagonal über verschiedene benachbarte Milieus. Dies bestätigt, dass es sich um Koalitionen verschiedener Milieufraktionen über die Milieugrenzen hinweg handelt.

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Die Aufgabe insbesondere der Volksparteien ist es entsprechend, die Wählerklientele sehr verschiedenen Ursprungs zu binden. Wegen der Verschiedenheit der Lager obliegt diese Aufgabe vor allem den verschiedenen innerparteilichen Flügeln. Die Volksparteien sind also notwendigerweise Flügelparteien. (1./2.) Die konservativen Lager: und Zwischen altem modernisiertem Konservatismus Im rechten Teil des sozialen Raums, bei den konservativen Milieus, liegt eine noch relativ intakte Formation von zwei konservativen Lagern, die Hochburgen der CDU/CSU und des rechten Flügels der SPD sind. Nach dem konservativen Modell sozialer Gerechtigkeit können alle sozialen Gruppen Solidarität beanspruchen, aber nicht in gleichem Maße, sondern hierarchisch abgestuft nach Besitz, Bildung, Geschlecht und Ethnie. Das Modell folgt dem Patron-Klient-Prinzip, mit dem Grundsatz „Treue gegen Fürsorge“: Loyalität muss durch paternalistische Fürsorge vergolten werden. Das Lager der Gemäßigt Konservativen (ca. 18 %), mit Schwerpunkt bei den kleinbürgerlichen Arbeitnehmern, legt das Modell eher arbeitnehmerisch aus. Seine Angehörigen befürworten eine bessere materielle Verteilungsgerechtigkeit und zunehmend auch moderne, postmaterielle Toleranz-Werte. Dies übt Druck aus auf das Lager der Traditionell-Konservativen (ca. 14 %), das in der Rolle des ‚Patrons‘ ist und strengeren Autoritätsvorstellungen zuneigt. Entsprechend wächst, zumindest in der CDU/

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Die gesellschaftspolitischen Lager Der Bundesrepublik Deutschland

Radikaldemokratisches Lager (ca. 11%)

Traditionell-Konservatives Lager (ca. 14%)

Sozialintegratives Lager (ca. 13%)

Gemäßigt-Konservatives Lager (ca. 18%)

Skeptisch- Distanziertes Lager (ca. 18%)

Enttäuscht-Autoritäres Lager (ca. 27%)

agis.uni-hannover.de

Abbildung 4

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CSU, der Stellenwert der Arbeitnehmerflügel und der modernisiert-konservativen Flügel. Dadurch ist der Altkonservatismus seit den 1990er Jahren zunehmend in die Defensive geraten.

fassen. Sie sind ebenfalls vermehrt in innere Differenzierungen und Bewegungen geraten. Sie sind die historischen Hochburgen der Gewerkschaften, der SPD und des sozialen Flügels der CDU/CSU.

Nach heftigen Flügelkonflikten nahm insbesondere die CDU zunehmend die autoritären, ausländerfeindlichen oder neoliberalen Akzentsetzungen zurück und kultivierte stärker das Image einer modernisierten, urbanen Union, die einerseits die soziale Gerechtigkeit stärker betont und andererseits mehr Nähe zu den ‚Grünen‘ sucht, die nicht einfach als ‚links‘, sondern als ‚linksbürgerlich‘ verstanden werden. Die moderneren Fraktionen der Konservativen suchen eine neue Kompromisslinie bei begrenzten Zugeständnissen in den Fragen der Sozial-, Ausländer-, Familien-, Ökologie- und Bürgerrechtspolitik. Insgesamt gelang es den Unionsparteien nach diesen Imagekorrekturen weit besser als der SPD, Stimmenverluste geringer zu halten oder zu vermeiden.

Das Lager der Sozialintegrativen (ca. 13 %) steht für eine umfassende Solidarität und gleiche Rechte für alle sozialen Gruppen, d. h. sowohl für die ‚materielle‘ Verteilungsgerechtigkeit für Arbeitnehmer und Unterprivilegierte als auch für die ‚postmateriellen‘ Rechte der Zivilgesellschaft, der Frauen, der Ausländer, der Natur usw. Das Lager stützt sich vor allem auf die moderne Reformintelligenz, die nicht nur oben, sondern auch in den mittleren Milieus der Sozialberufe, der Gewerkschaften und der Kirchen verankert ist.

(3./4.) Die Lager der modernen Arbeitnehmermitte: Verprellte Stammwähler der Volksparteien Um wirklich Mehrheiten zu finden, müssen die Parteien die großen arbeitnehmerischen Lager zu gewinnen suchen. Dabei können sie sich nicht nur an den konservativen Arbeitnehmern orientieren. Diese machen zwar 18 % aus, aber mindestens ein Drittel von ihnen ist, wie wir gesehen haben, auf dem Wege einer Modernisierung. Damit nähern sie sich an die beiden modernen Arbeitnehmerlager an, die im linken Teil des sozialen Raums verankert sind und zusammen etwa 31 % um-

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Damit ist es räumlich einem anderen Lager nahe, den Skeptisch Distanzierten (ca. 18 %), die vor allem aus den Volksmilieus der Facharbeit kommen und ein Modell der Solidarität auf Gegenseitigkeit vertreten. Wer zu Produktivität und Sozialstaat beiträgt (und wer unverschuldet in Not ist), soll auch daran teilhaben. Die Angehörigen beider Lager sind in ihren Vorstellungen von Solidarität von der neoliberalen Politikwende der Schröderschen SPD tief enttäuscht worden. Daher erlitt die SPD seit 2003 auch in den westdeutschen Ländern bis zu zweistellige Stimmenverluste, die es bis dahin nie gegeben hatte. In Umfragen sank sie anhaltend unter 30 %. Viele arbeitnehmerische Stammwähler wechselten zu den Nichtwählern oder zu der von gewerkschaftlichen Gegnern der „Agenda 2010“ gegründeten „WASG“, die sich später mit der PDS zur Partei „Die Linke“ zusammenschloss.

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In der SPD beherrschen die mit deren neoliberaler Wende dominant gewordenen konservativen Technokraten zwar das politische Parkett und den Umgang mit den Medien. Aber da sie meist durch den Aufstieg in die Spitzen der Staatsbürokratie und weniger durch Fühlung mit den Mitgliedern oder Wählern prominent geworden waren, repräsentierten sie einen Politikstil nach der Logik bürokratischer Verwaltungen, die ihr Personal und die Bürger vor allem als Kostenverursacher und nicht auch als Produktivkräfte sehen. Die Demobilisierung der SPD-Anhängerschaft konnten sie daher nicht stoppen. Erst nach und nach sind Kräfte einer zentristischen Parteiführung wieder erstarkt, die etwas mehr versuchen, die verschiedenen Flügel und Klientele der Partei integrativ zu binden.

(5./6.) Die Lager der postmateriellen Elite und der materiellen Exklusion: Suche nach neuen Eliten oder neuen Führern? Das dritte Paar von komplementären Lagern entspricht dem ideologischen Gegensatz von ‚Elite‘ und ‚Masse‘ oder ‚ideell‘ und ‚materiell‘. Das Lager der Radikaldemokraten (ca. 11 %), links oben im sozialen Raum, vereint in sich verschiedene linksbürgerliche Kräfte. Sie alle vertreten emphatisch die postmateriellen und demokratischen Ideale, aber viele von ihnen sind unsensibel für materielle Benachteiligungen. Entsprechend ist das Lager die Hochburg der Partei der „Grünen“ und eines gewissen progressiven Neoliberalismus. Als einziges der sechs Lager hat dieses, wie unser Raumbild

(Abb. 4) zeigt, kaum Anhänger unterhalb der oberen und aufsteigenden Milieus. Dies hängt offensichtlich mit seiner elitistischen Ideologie zusammen. Viele bekennen sich zu einer ausgesprochen asketischen Lebensführung, die ihnen das Gefühl einer moralischen Überlegenheit gegenüber dem ‚Machtdenken‘ der anderen führenden Milieus und dem ‚Materialismus‘ der Masse verleiht. Den Gegenpol zu diesem Lager bildet das Lager der Enttäuscht Autoritären, mit beklemmenden 27 %. Es vereint Verlierer der ökonomischen Modernisierung, die vor allem aus den kleinbürgerlichen und unterprivilegierten Milieus stammen, insbesondere ältere und teilweise auch jüngere Menschen mit wenig Bildungskapital und unsicheren Zukunftsperspektiven. Sie verarbeiten ihre Ausgrenzung – anders als die demokratische Mitte – nach autoritärem Muster, mit Ressentiments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Fürsorgepflichten vernachlässigen. Sie wollen gegen die Risiken des Strukturwandels durch eine protektionistische Wirtschaftspolitik und eine restriktive Zuwanderungspolitik geschützt werden. Als Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, verstehen sie – im Gegensatz zu den meisten anderen Milieus – die politischen Parteien nicht so sehr als Gesinnungsgemeinschaften, an die sie innerlich gebunden sind. Sie verstehen sie eher als Schutzmächte, die sie bei Enttäuschung eher wechseln können. Ihrem Habitus nach stehen sie den Rechtspopulisten nahe. Aus Realismus haben sie aber traditionell meist die großen Volksparteien gewählt, weil diese faktisch mehr für sie tun können. Bei Enttäuschungen können sie,

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wegen der fehlenden inneren Bindung, aber auch vergleichsweise rasch von der SPD zur CDU/CSU (oder umgekehrt), zu den Nichtwählern oder den Rechtspopulisten wechseln. Regionalwahlen zeigen, dass – wie in anderen Ländern Europas – rechtspopulistische Parteien hier fast 20 % Proteststimmen gewinnen können. Auch Vertreter der „demokratischen Parteien“ sind der Versuchung ausgesetzt, diesen rechtspopulistischen Wählerpotentialen entgegenzukommen. Immer wieder gibt es im altkonservativen Spektrum der Union und auch der Sozialdemokratie Anzeichen einer Sehnsucht nach dem starken Mann, der mit dem schwerfälligen Durcheinander der Interessengruppen aufräumen soll. Alternativen in der Krise: Zwischen autoritärer und partizipatorischer Demokratie Die gesellschaftspolitischen Lager in der Bevölkerung und die Machtgruppen der Parteiflügel bilden zusammen eine Gesamtkonstellation, die verschiedene Entwicklungsrichtungen möglich macht. Mit der Wahlniederlage der SPD von 2005 ist das autoritär durchgesetzte technokratische Konzept der Mobilisierung der „neuen Mitte“, das der Politik Schrö-ders zugrunde gelegen hatte, gescheitert. Es hatte die Ernsthaftigkeit unterschätzt, mit der mehr als vier Fünftel der Bevölkerung ein Programm der sozialen Schieflagen ablehnen und die Fortsetzung eines solidarischen Sozialmodells – in seinen konservativen, zentristischen und linken Varianten – unterstützen. Gleichwohl hat das technokratische Machtzentrum seine Vorherrschaft erneut gefestigt.

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Die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung, wie sie sich in der Größe der sechs gesellschaftspolitischen Lager zeigen (Abb. 5), bieten auch die Chance einer sozial integrativen Modernisierung des Sozialstaats. Rechnerisch wäre ein neuer historischer Kompromiss, der den Sozialstaat sozial balanciert modernisiert, möglich, entweder als linker Wohlfahrtsstaat mit erhöhter Bürgerpartizipation, gestützt auf eine rot-rot-grüne Koalition, oder – was einstweilen realistischer ist – als zentristischer Wohlfahrtsstaat mit einem hohen Gewicht von Verbands- und Staatstechnokraten. Die verschiedenen Ordnungskonzepte enthalten einen potentiellen gemeinsamen Nenner. Wie die Abbildung zeigt, überwiegen die arbeitnehmerischen Solidaritäts-modelle mit 49 %. In ihnen gehören Solidarität und Eigenleistung zusammen, sie bilden kein Entweder-Oder (wie in den wirtschaftsliberalen oder protektionistischen Sozialmodellen). Allerdings teilen sich die Solidaritätsmodelle horizontal in eine konservative und eine modernere Untergruppe. Eine darauf aufbauende horizontale Allianz der Arbeitnehmerflügel beider Volksparteien könnte auch die Minderheiten-gruppen, die derzeit mehr durch die kleinen Parteien und die Nichtwähler repräsentiert werden, wieder mehr interessieren. Die Modernisierungsverlierer von 27 % könnten durch eine Politik sozialer Mindestgarantien ins Boot geholt und dem Rechtspopulismus abspenstig gemacht werden. Die „postmaterialistischen“ Radikaldemokraten (11 %) könnten interessiert werden durch eine partizipatorische Gestaltung des Wohlfahrtsstaates und eine dynamisierende, sozial ausgewogene Politik des öffentlichen und privaten Dienstleis-

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Abbildung 5

tungssektors, in dem die Klientele der Grünen und des „grünen Teils“ der Volksparteien schließlich ihr Brot verdienen. Dieses Szenario ist jedoch derzeit unwahrscheinlich. Die Lagergrößen bilden sich in der Bundesregierung viel weniger ab als in den Parlamenten. Die linken bzw.

arbeitnehmerischen Flügel sind in der Regierung unterrepräsentiert. Durchgesetzt hat sich eine Allianz der wirtschaftsliberalen Technokraten mit den rechten Parteiflügeln, die die Politik der Agenda 2010 ausdrücklich fortsetzen will. Zwar hat diese ihre entschiedene anti-keynesianische „Sparpolitik“ unter dem Druck der Wirt-

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schaftskrise aufgeben müssen. Aber die Nachfragestärkung des ersten Konjunkturpakets, vom Januar 2009, konzentriert sich auf Kaufkraftstärkungen und Bauinvestitionen. Schul-, Krankenhaus-, Straßenbauten und höhere Konsumausgaben sind zwar sozial nützlich. Aber sie nutzen nicht die Chance, die Schieflage des deutschen Produktionsmodells zu korrigieren, das den Ausbau der Beschäftigung in den Humandienstleistungen bremst. Hier, im personalintensiven Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- und Kultursektor, könnten dauerhaft Arbeitsplätze geschaffen werden, und ebenso könnte der Trend zu prekären und unsicheren Soziallagen umgekehrt werden. Solange die nicht geschieht, wird der Zulauf zu den kleinen Parteien, einschließlich der Rechtspopulisten, sowie zu den Nichtwählern weitere anhalten. Es kann sich allerdings als Illusion erweisen, auf eine kommende Linkskoalition zu setzen. Wie in den Niederlanden, könnte das Machtkartell der beiden Volksparteien mit seiner überwältigenden Mehrheit es sich durchaus leisten, nach rechts und links immer wieder Stimmen zu verlieren, aber doch über einige Wahlperioden weiterzuregieren und dann aus ihrer Politik der staatlichen Wirtschaftsstabilisierung eine zunehmende autoritäre Staats-Wirtschafts-Allianz zu entwickeln.

Demokratie mit einem Wiederaufleben der institutionellen Gegenmächte und der sozialen Bewegungen zu rechnen. Sie werden mit den Starrheiten der etablierten Institutionen in Konflikt geraten und auf Alternativen drängen: die Erneuerung eines solidarischen Sozialsystems und einer partizipatorischen Demokratie. Dies war auch das Thema der sozialen Kämpfe in der großen Wirtschaftskrise nach 1929. Und es ist auch das Thema der neuen politischen Dynamiken in den USA, die ebenso international ausstrahlen wie in den 1960er Jahren die unter Präsident Kennedy entstandenen neuen sozialen Bewegungen.

Es kann allerdings auch eine Illusion sein, nur auf die geschlossene Welt der institutionell organisierten Politikprozesse, die von den technokratischen Machtzentren so gut kontrolliert werden, zu achten. Wenn die wirtschaftlichen Kettenreaktionen immer mehr Finanzinstitute, aber zunehmend auch Unternehmen der Realwirtschaft in den Ruin reißen, ist in einer

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Abb. 6

Verschiebungen der Berufsstruktur der BRD 1991- 2009 Anteile der Berufsgruppen an der Gesamtheit der Erwerbstätigen 1% = ca. 0,4 Millionen Erwerbstätige

Wachstum zwischen 0,6% und 3,0% Abnahme zwischen 1,1% und 2,8%

Qualifikationsrang nach am Arbeitsplatz in der Regel erforderlichem Ausbildungsabschluss

Arbeitnehmer Interpersonelle Arbeitslogik (Humandienstleistungen)

Sektor insgesamt: 25,7% -> 27,8% (+2,1%)

Wachstum zwischen 3,1% und 8,8% Abnahme zwischen 5,2% und 15,6% Arbeitnehmer Technische Arbeitslogik Sektor ohne Landwirtschaft: 40,2% -> 32,0% (- 8,2%) Sektor mit Landwirtschaft: 41,4% -> 33,4% (- 8,0%)

Arbeitnehmer Organisatorische Arbeitslogik (Verwaltungsdienstleistungen)

Selbstständige Arbeitslogik

Sektor insgesamt: 23,4% -> 26,4% (+ 3,0%)

Sektor insgesamt: 9,5% -> 12,2% (+2,7%) Freie Berufe 0,9% -> 2,5 %

Professionen

Soziokulturelle Experten

Technische Experten

Oberes Management

(Berufe mit Hoch-

Höhere Bildungs-, Medizin-, Kultur- und Publizistikberufe

Ingenieur-, Informatik- und Architekturberufe

Höhere Verwaltungs-, Finanz- und Vermarktungsberufe

3,6% -> 5,3% (+ 1,7%)

2,4% -> 4,7% (+ 2,3%)

2,1% -> 5,2% (+ 3,1%)

Soziokulturelle Semiprofessionen

Technische Semiprofessionen

Unteres Management

Erziehungs-, Sozialarbeitsund Therapiefachberufe

Computer-, Elektro- und Überwachungstechniker

5,7% -> 6,9% (+ 1,2%) Qualifizierte Dienstleistende

6,0% -> 5,3% (-0,7%) Qualifizierte Facharbeiter und Fachhandwerker

Verkaufs-, Ordnungs-, Gastronomie-, Betreuungs-, Pflegeund Schönheitsberufe

Facharbeiter-, ElektroMechaniker- und Handwerksberufe

schulabschluss/’akademische Berufe') 10,1% -> 18,9% (+8,8%)

Semiprofessionen (höhere Fachausbildung/ 'halbakademische Berufe') und Kleingew. m. Besch.

20,7% -> 26,0% (+ 5,3%) Lehrberufe (Berufe mit Fachlehre – ‘skilled employees’) u. Kleingew. o. Besch.

45,4% -> 29,8% (-15,6%)

7,2% -> 4,4% (- 2,8%)

An- und Ungelernte gering qualifizierte Arbeitskräfte – ‚routine employees’

23,8% -> 25,1% (+1,3%)

Gering qualifizierte Dienstleistende Verkaufsund Dienstpersonal

9,2% -> 11,2% (+ 2,0%)

20,6% -> 12,2% (-8,4%) Qualifizierte technische Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft 0,8% -> 0,5% (-0,3%)

Gering qualifizierte Arbeiter - Produktion u. Transport 11,2% -> 9,8% (- 1,4%) - Land- u. Forstwirtschaft 0,4% -> 0,9% (+0,5%)

Verwaltungs-, Buchhaltungs-. und Rechtsberufe

5,6% -> 10,5% (+ 4,9%) Qualifizierte Büro- und Verwaltungsfachkräfte Büro-, Finanzund Sekretariatsfachkräfte

12,7% -> 7,5% (- 5,2%)

Gering qualifizierte Büround Verwaltungskräfte

Selbstständige

Große u. mittlere Unternehmer 1,1% -> 1,2%

Kleingewerbe mit (bis 10) Beschäftigten Handel, Handwerk, Gastronomie und Landwirtschaft

3,4% -> 3,3% (- 0,1%) Kleingewerbe ohne Beschäftigte Handel, Handwerk, Gastronomie und Landwirtschaft

4,1% -> 5,2% (+ 1,1%)

./.

Kassierer-, Büro-, Boten- u. Lagerberufe

3,0% -> 3,2% (+0,2%)

Aus: Vester/Weber-Menges (2012). Datengrundlage: Mikrozensus Scientific Use File (amtliche Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt in Deutschland) mit einem Auswahlsatz von einem Prozent der Haushalte und der Bevölkerung, n = 192.101 (1991) und 181.309 (2009). Auswertung nach dem von Sonja Weber-Menges überarbeiteten Erwerbsklassenschema von Oesch (2006)

Abbildung 6

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Notizen Argumente 3/2013



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