Argumente 1/2011 Demokratie und Partizipation

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Argumente 1/2011 Partizipation & Demokratie Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Mai 2011

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

Argumente 1/2011 Partizipation & Demokratie


ARGUMENTE 1/2011 Partizipation & Demokratie

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan Böning Redaktion Simone Burger, Ralf Höschele, Martin Margraf, Robert Spönemann Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Tel: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck Druckhaus Dresden GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


INHALT

Intro: Mehr Demokratie wagen ................................................................................4 Von Simone Burger und Ralf Höschele, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende Magazin RassistInnen bleiben RassistInnen – und gehören entsprechend behandelt ..........7 Von Jana Heinze, Jusos Berlin Politischem Handeln eine Richtung geben – neuere Bücher zu Perspektiven linker Politik.........................................................11 Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand Keine Panik! – Aktuelle Bücher zur Integrationsdebatte.......................................17 Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

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Inhalt Argumente 1/2011


Schwerpunkt „Postdemokratie“ und die zunehmende Entpolitisierung ....................................22 Von Chantal Mouffe, Professorin für Politische Theorie am Centre for the Study of Democracy an der Westminster Universität Soziale Demokratie und Sozialdemokratie ............................................................26 Von Thomas Meyer, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund Fortschritt und Demokratie ....................................................................................31 Von Matthias Machnig, Wirtschaftsminister in Thüringen SPD erneuern ..........................................................................................................37 Beschluss des Juso-Bundesvorstands Schubladen bestimmen unseren Alltag..................................................................41 Von Martin Margraf, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender Das gute Unternehmen – der regionale Genossenschaftsverbund ......................49 Von Ole Erdmann, stellvertretender Vorsitzender der SPD Bonn Geschlechtergerechte Demokratie. Utopischer Fluchtpunkt mit Realisierungschance? ................................................57 Von Birgit Sauer, Professorin am Institut für Politikwissenschaft Universität Wien Kritik am Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft....................................62 Von Peter Metz, Mitglied des Thüringer Landtags

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INTRO: MEHR DEMOKRATIE WAGEN. Von Simone Burger und Ralf Höschele, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Auch im Jahr 2010 wurde wieder viel über „Integration“ diskutiert. Was sich genau hinter diesem Begriff verbirgt, kann aber niemand sagen. Eine wirkliche Begriffsklärung wird jedenfalls in den öffentlichen Diskussionen nur selten vorgenommen, und wenn, dann driften viele Vorstellungen ins Absurde, wie die Diskussion über eine „deutsche Leitkultur“ als Orientierungspunkt für die Integration sehr eindrücklich gezeigt hat. Auf der anderen Seite befindet sich das parlamentarisch-repräsentative System in einer schwierigen Lage. Mit wenigen Ausnahmen sinkt auf allen Ebenen die Beteiligung an Wahlen und (politische) Großorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften verlieren kontinuierlich an Mitgliedern. Während die gut gebildeten und ressourcenstarken bürgerlichen Milieus sich stärker direkt in politische Entscheidungen einbringen, haben sich große Teile der Bevölkerung aus dem politischen Prozess verabschiedet. Droht nun eine verstärkte Entsolidarisierung, wenn das Bildungsbürgertum seine Interessen immer häufiger egoistisch per Volksentscheid durchsetzen und die Volksparteien ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion immer weniger erfüllen können? Gelingt zukünftig noch der Ausgleich zwischen lautstark vorgetragenen Partikularinteressen und dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse?

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Intro: Mehr Demokratie wagen. Argumente 1/2011

Auch in der SPD ist aktuell die Debatte um mehr direktdemokratische Mitwirkungsmöglichkeiten angekommen. Zum einen hat eine Zukunftswerkstatt des Parteivorstands Vorschläge zum Ausbau der sogenannten „Volksgesetzgebung“ – also vor allem Bürgerentscheide – vorgelegt, mit denen u.a. Bürgerentscheide auf Bundesebene ermöglicht und auf den Ebenen darunter erleichtert werden sollen. Zum anderen soll nun nach der (bisher eher schleppend verlaufenden) inhaltlichen Erneuerung der SPD auch die Organisationsstruktur reformiert werden. Die ersten, maßgeblich auf Sigmar Gabriel zurückgehenden Vorschläge der Parteiführung sind allerdings innerparteilich auf heftige Kritik und Ablehnung gestoßen. An dieser Stelle erwarten uns auf jeden Fall bis zum Bundesparteitag im Dezember noch spannende Auseinandersetzungen. Doch beobachten wir derzeit in der Bundesrepublik tatsächlich eine Demokratiebewegung, die mehr direkte Mitsprachemöglichkeiten erstreitet? Oder haben wir es eigentlich nicht eher mit einer zunehmenden Entpolitisierung zu tun, bei der zwar die demokratischen Strukturen formal noch existieren, Entscheidungsprozesse tatsächlich aber woanders und undemokratisch laufen? Diesen Fragen geht die Politikwissenschaftlerin im ersten Beitrag des Schwerpunkts unter dem Begriff der „Postdemokratie“ Chantal Mouffe nach.


Die Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie ist ohne die Sozialdemokratie nicht denkbar. Die Forderung nach mehr Demokratie und nach einem demokratischen Sozialismus ist schon seit langem zentraler Bestandteil sozialdemokratischer Programmatik. Mit dem Hamburger Programm von 2007 trat im Programm an die Stelle des demokratischen Sozialismus die Forderung nach „sozialer Demokratie“ – auch wenn das Ziel „demokratischer Sozialismus“ nicht vollständig aufgegeben wird. Thomas Meyer hat im Vorfeld des Hamburger Parteitags maßgeblich das in das Grundsatzprogramm eingeflossene das Konzept einer sozialen Demokratie vorbereitet. In seinem Artikel stellt der seine Idee der sozialen Demokratie vor. Als Jusos haben wir zwar oft radikaler formulierte Vorstellungen, doch trotzdem stellen Thomas Meyers Darstellungen einer sozialen Demokratie einen wichtigen Beitrag zum sozialdemokratischen Demokratieverständnis dar. Eine andere Herangehensweise hat Matthias Machnig. Er versucht – auch mit Hilfe eines Fortschrittsbegriffs – die aktuelle Situation der SPD einzuordnen und fordert mehr Mut zu Kontroversen und Richtungsentscheidungen und eine Öffnung der SPD. Der Beitrag bzw. Beschluss des JusoBundesvorstands skizziert einige Anforderungen, die wir als Jugendverband der SPD an die organisatorische Erneuerung der Partei stellen. Auch wir fordern mehr innerparteiliche Demokratie. Wir fordern u.a. breite und offene inhaltliche Diskussionen, aber auch klare, den Mitgliedern vorbehaltene Entscheidungsstrukturen. Für die Modernisierung der Parteistrukturen können wir Jusos durchaus als Vorbild dienen, denn wir praktizieren schon seit Jahren erfolgreich Projekt- und Kampagnenarbeit und bieten auch Nichtmitgliedern viele Mitmachmög-

lichkeiten. Auch die Ortsvereinsbefragung des Parteivorstands zeigte: Wir sind flächendeckend der aktivste und kampagnenfähigste Teil der Partei. Die Demokratie in der Bundesrepublik ist derzeit nicht nur von demokratischen Parteien und mehr Partizipation einfordernden Bürgerinnen und Bürgern in Bürgerinitiativen geprägt. Zum Bild gehören leider auch Nazis, die mit ihrer menschenverachtenden Ideologie vielerorts politische Erfolge verbuchen können. Martin Margraf zeigt in seinem Beitrag auf, dass der Fokus alleine auf die Wahlergebnisse von NPD, DVU und Co. ein verkürzter Blick ist. Letztlich geht es um die Partizipation aller Teile der Gesellschaft, die Integration von Mindermeinungen, das Erlernen und frühzeitige Ermöglichen von Teilhabe und Mitbestimmung und die Gewährleistung unantastbarer Menschenrechte, wie die Handlungs- und Persönlichkeitsfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Menschenwürde und Glaubensfreiheit. Ziel muss die Demokratisierung aller Lebensbereiche sein. Zur Demokratisierung aller Lebensbereiche gehört auch die Demokratisierung der Wirtschaft. Mit den Genossenschaften und regionalen Genossenschaftsverbünden stellt Ole Erdmann einen Weg zu mehr Demokratie in der Wirtschaft dar. Auf jeden Fall muss es bei der Demokratisierung der Wirtschaft gehen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Unternehmen mehr Einfluss zu geben. Bei der Weiterentwicklung des demokratischen Systems geht es uns Jusos immer auch um mehr Geschlechterdemokratie. Frauen sind in den politischen Gremien und Parlamenten – trotz einiger sichtbarer Erfolge – noch immer stark unterrepräsentiert.

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Mit den Anforderungen an eine geschlechtergerechte Demokratie beschäftigt sich Birgit Sauer in ihrem Beitrag. Zum Abschluss dieses Argumentehefts findet Ihr schließlich noch eine Rede von Peter Metz zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Er würdigt darin Luxemburg und Liebknecht als marxistische TheoretikerInnen der Sozialdemokratie. Die Diskussion über einen zeitgemäßen Marxismus werden wir im Laufe des Jahres noch in einer bereits in Vorbereitung befindenden Ausgabe der Argumente vertiefen.

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Intro: Mehr Demokratie wagen. Argumente 1/2011


RASSISTINNEN BLEIBEN RASSISTINNEN – UND GEHÖREN ENTSPRECHEND BEHANDELT Von Jana Heinze, Jusos Berlin Eine Erwiderung auf den Beitrag „Feminismus in der Einwanderungsgesellschaft – Ein Aufschlag zur Debatte“ von Matthias Ecke, Daniela Kaya und Elena Piper. (Argumente 4/2010)

Magazin

In scheinbar regelmäßigen Abständen kommen Diskussionsbeiträge zum Vorschein, die Menschen anhand von Ethnie, Namensklang oder anderer Merkmale zu kategorisieren versuchen. Ein prominentes Beispiel hierfür war im letzten Jahr die Diskussion um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Wegen diesem und anderen RassistInnen gehen wir auch in diesem Jahr wieder mit vielen BündespartnerInnen gemeinsam am 1. und 8. Mai gegen die braune Bewegung auf die Straße und verteidigen Demokratie und Menschenrechte – nicht nur, um uns Rassismus in den Weg zu stellen, sondern auch um wider das Vergessen der Unrechtstaten der NationalsozialistInnen zu erinnern.

Im Kampf gegen Rassismus und wie man diesem am Besten entgegen wirken kann, diskutieren wir im Verband unterschiedliche Strategien. Insbesondere im Zuge der Diskussionen um Zuschreibung von Intelligenz zu einer bestimmten Ethnie (Sarrazin) oder die grundsätzliche Andersbehandlung von Migrantinnen und Migranten muslimischen Glaubens durch Diskussionen um Kopftuchverbot (CSU), Bau von Minaretten (Schweiz) und ähnlichen Beispielen, bedarf es neuer Strategien. Wenn rassistische Äußerungen großen Zuspruch aus der Bevölkerung erhalten und stetig mehr Menschen behaupten „endlich sagt mal jemand, wie es ist!“ ist es auch die Aufgabe von Antirassistinnen und Antirassisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, über Möglichkeiten der Aufklärung und Prävention nachzudenken, zu diskutieren und neue handlungsleitende Strategien zu entwickeln.

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Der Charme der Verbindung von Ethnie, Klasse und Geschlecht In den 1980er und 1990er Jahren gab es hierfür einen wissenschaftstheoretischen Vorstoß – die Konzeption der Dreifachunterdrückung (Triple Oppression). Demnach stellen die Unterdrückung von ArbeiterInnen im Kapitalismus, die Unterdrückung von Frauen durch das Patriachat sowie Rassismus institutionalisierte Herrschaftsstrukturen dar; sind also formal gleich. Dieser Ansatz erweitert den Unterdrückungsmechanismus der ArbeiterInnenschaft von Karl Marx und der Zweifachunterdrückung aus der feministischen Bewegung um die Dimension des Rassismus als Herrschaftsstruktur. Aber kann die strukturelle Unterdrückung von ArbeiterInnen und Frauen auch für AusländerInnen und MigrantInnen attestiert werden?1 Dieser Ansatz erscheint sehr charmant, es gibt zahlreiche Beispiele, an denen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Unterdrückungsformen festgemacht werden können. Ein naheliegendes Beispiel: In einer politischen Organisation wie den Jusos sind sowohl ArbeiterInnen als auch Frauen und Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund unterrepräsentiert. Der Großteil der Aktiven ist männlich, deutschstämmig und gut gebildet (letztere Tendenz nimmt sogar stetig zu). Frauenförderung wird in diesem Verband u. a. über eine Quotenregelung betrieben, hinzu kommen Strategien der gezielten Ansprache von Frauen und Veränderung der Tagungs- und Diskussionskultur. Ähnliches wird mittlerweile auch für die Förderung von MigrantInnen und Menschen mit Migrationshintergrund 1 Der Fokus wird im Folgenden auf die Gegenüberstellung der Unterdrückung von Frauen und MigrantInnen gelegt .

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heiß diskutiert. Denn auch sie sind, gemessen an der Gesamtbevölkerung, deutlich unterrepräsentiert. Über neue Formen der Diskussion und ebenfalls einer MigrantInnen-Quote könnte die zum Teil erfolgreiche Förderung von Frauen auch auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgeweitet werden. Ein anderes Beispiel: Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass sowohl Frauen als auch Menschen mit ausländisch klingendem Namen bei Bewerbungsverfahren systematisch (wenn auch nicht grundsätzlich bewusst) diskriminiert werden. Konsequenz aus dieser Erkenntnis war die Diskussion und teilweise Etablierung von anonymisierten Bewerbungsverfahren, in denen weder Name noch Geschlecht erkennbar sind. Hierüber soll Diskriminierung abgebaut werden; sie wird dann „erst“ in einem möglichen Vorstellungsgespräch wieder relevant. In der Diskussion um die Triple Oppression galt als das zentrale Vorzeigebeispiel die „schwarze Arbeiterfrau“. Diese war in der Tat dreifach unterdrückt: als Arbeiterin, als Frau und als Schwarze. Ähnlich ist nicht gleich – Denkfehler der Konzeption Es wurde der Vorstoß gemacht, Feminismus und Antirassismus in unserem Verband über den Ansatz der Dreifachunterdrückung gemeinsam diskutabel zu machen. Doch ist dieser Ansatz, die formale Gleichsetzung der Unterdrückungsarten und somit die logische Antwort mit ähnlichen Instrumenten zur Bekämpfung der Unterdrückung wirklich sinnvoll, sollten sie zusammen diskutiert werden? Es zeigte sich, dass eine Verschmelzung der Dimensionen recht charmant zu sein scheint, doch bei genauerer Betrachtung offenbaren sich einige Denkfehler in der Konzeption.

RassistInnen bleiben RassistInnen – und gehören entsprechend behandelt Argumente 1/2011


Differenzierung notwendig Zum einen bedeutet die Zuschreibung der Kategorien ArbeiterIn, Frau und AusländerIn/Mensch mit Migrationshintergrund nicht automatisch die faktische Zugehörigkeit zur Unterdrückungskategorie. Man kann durchaus weiblich sein und dennoch das Patriachat stützen, indem man beispielsweise gegen gezielte Frauenförderung eintritt und eine strukturelle Unterdrückung von Frauen verneint – Familienministerin Schröder zeigt dies deutlich an. Zudem können auch Menschen mit Migrationshintergrund durchaus rassistisch sein – wenn diese Einzelpersonen in Machtpositionen stehen, so besitzt deren Rassismus durchaus Relevanz, was von der Theorie der Dreifachunterdrückung verneint wird. Betrachtet man soziale Statistiken, so erkennt man, dass eine dreifache Unterdrückung durchaus häufig vorzufinden ist; viele Migrantinnen sind im ArbeiterInnensektor beschäftigt und entsprechen somit im übertragenen Sinne dem Bild der schwarzen Arbeiterfrau. Doch was sagt dies über ihr eigenes Verständnis von ihrer Position, vor allem über ihr politisches und soziales Weltbild und die Instrumente, mit denen politisch gehandelt werden muss, aus? Zunächst sehr wenig. Sicherlich ist dies kein starkes Argument gegen die Konstruktion institutioneller Herrschaftsstrukturen – doch es zeigt den Bedarf an einer differenzierteren Behandlung der Thematik deutlich an. Unterschiedliche Ziele Das größte Missverständnis in der Diskussion um die Dreifachunterdrückung ist jedoch die Zielsetzung der Unterdrückung: Während Kapitalismus und Patriachat ihre Unterdrückten brauchen, um selbst bestehen

zu können; die Unterdrückten für die eigene Reproduktion benötigen, ist das letztliche – und im 20. Jahrhundert erschreckend nahegekommene – Ziel von Rassismus Vernichtung. Im Kapitalismus werden ArbeiterInnen verdinglicht; im Patriachat werden Frauen verdinglicht – doch ausgerottet und vernichtet werden Menschen nur durch Rassismus. Dieser zentrale Unterschied ist elementar in der Frage um eine gemeinsame Diskussion der unterschiedlichen Unterdrückungsarten. Dabei spielen auch die Möglichkeiten des jeweiligen Individuums hinein – wie beschrieben können Zugehörigkeiten zu Unterdrückungskategorie nicht selbstverständlich als faktische Zugehörigkeit gewertet werden. Doch selbst wenn die faktische Zugehörigkeit vorhanden ist; also wenn einE ArbeiterIn sich unterdrückt und ausgenutzt fühlt, wenn eine Frau sich unterdrückt fühlt und wenn einE MigrantIn Rassismus ausgesetzt ist – was sind ihre Möglichkeiten? Der gewichtige Unterschied ist, dass erstere beiden nicht um ihr Leben bangen müssen; dass ihre Unterdrückung vor allem strukturell spürbar ist und erst in einem zweiten Schritt auch über handelnde Personen geltend und sichtbar gemacht wird. Das Szenario im Rassismus ist umgekehrt – Menschen mit Migrationshintergrund erfahren von anderen Menschen die Ablehnung und Bekundung des „Besser-alsdu“-Seins der Mehrheitsgruppe bis hin zum Absprechen der Existenzberechtigung – und in einem zweiten Schritt werden MigrantInnen ähnlich wie Frauen strukturell unterdrückt. Doch die Angst um das eigene Leben steht beim Rassismus im Vordergrund. Es wäre daher fatal die verschiedenen Unterdrückungen als institutionalisierte Herrschaftsstrukturen formal gleichzusetzen; zugleich braucht die Thematik Rassismus eine eigenständige Diskussion.

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Politische Ansätze Die oben aufgeführten Beispiele zeigen, dass in den verschiedenen Unterdrückungsformen teilweise ähnliche politische Ansätze verwirklicht oder zumindest diskutiert werden. Insbesondere der Unterdrückung von ArbeiterInnen muss strukturell beispielsweise durch Umverteilung des Vermögens entgegengewirkt werden. Richtig ist auch, dass allein strukturelle Ansätze wie Quotenregelungen gegen die Unterdrückung von Frauen nicht ausreichen. Doch im Falle von Rassismus, insbesondere auf Grund dessen letztlicher Zielsetzung, muss Aufklärungsarbeit der zentrale politische Ansatz sein. Diskussionen um die Unsinnigkeit Sarrazins Thesen mögen ermüdend und frustrierend sein, doch nur in der Auseinandersetzung und argumentativen Widerlegung der Thesen liegt die Hoffnung der Überzeugung. Strukturelle Mechanismen können auch

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hier hilfreich sein; die Diskussion um Quotenregelungen sollte auch im Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund durchaus fortgeführt werden. Der abschließende Appell aber lautet: Auch wenn es sinnvoll ist, Unterdrückungsfragen in wissenschaftlichen Debatten zu behandeln, so sollten die Lebensrealitäten und Konsequenzen der jeweiligen Unterdrückungsform für die Menschen nicht aus dem Blick verloren werden. Eine höhere Differenzierung in der Diskussion ist angebracht. Strukturelle Ansätze können sinnvoll sein, doch Aufklärungsarbeit ist insbesondere im Bereich des Rassismus zentrale Aufgabe von AntifaschistInnen und AntirassistInnen. Und deshalb ist es wichtig, dass wir auch auf die Straße gehen und zeigen, dass wir von Rassismus absolut nichts halten – denn RassistInnen bleiben RassistInnen und gehören entsprechend behandelt.

RassistInnen bleiben RassistInnen – und gehören entsprechend behandelt Argumente 1/2011

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POLITISCHEM HANDELN EINE RICHTUNG GEBEN – NEUERE BÜCHER ZU PERSPEKTIVEN LINKER POLITIK Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Magazin

Die Klage über die allgemeine Richtungslosigkeit der Sozialdemokratie ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Es ist offensichtlich, dass führende Vertreter der Partei kaum noch eine Vorstellung davon haben, wie unsere Gesellschaft funktioniert, und wie vor diesem Hintergrund dann politische Inhalte und Strategien entwickelt werden können. Ergebnis ist dann meist ein sehr kurzfristiges und situatives politisches Handeln, dass „lange Linien“ kaum erkennen lässt, und nur wenige Menschen überzeugt. „Politik neu orientieren“ Einer der wenigen führenden Sozialdemokraten, die in den letzten Jahren immer wieder angemahnt haben, die Diskussion um politische Inhalte mit politischer Strategieentwicklung zu verknüpfen, ist Mat-

thias Machnig. Beispielhaft hierfür ist die im Bundesumweltministerium unter seiner Regie entwickelte „ökologische Industriepolitik“. Im Vorwärts-Verlag ist nun ein sehr lesenswerter Sammelband mit Texten aus den letzten zehn Jahren erschienen. Überschneidungen zwischen den Texten sind daher nicht ganz ausgeschlossen, trotzdem bietet der Band eine ausgesprochen spannende und interessante Lektüre. In seiner Einleitung stellt der Politikwissenschaftler Joachim Raschke den ehemaligen SPD-Bundesgeschäftsführer und heutigen Thüringer Wirtschafts- und Arbeitsminister Machnig als „Kämpfer für Strategie“ vor, und in der Tat ist die Frage, was denn eigentlich politische Strategie als solche ausmacht, und wie sie dann bezogen auf die Sozialdemokratie aussehen müsste, mit die zentrale Frage seiner Veröffentlichungen der letzten Jahre.

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Im ersten Beitrag nimmt Machnig eine Abgrenzung vor: Politik müsse mehr sein als nur die Anpassung an das „ökonomische oder nur administrative“: „Sozialdemokratische Politik muss im Feld linker Werte ihre Position bestimmen und sich damit zum schwächer gebundenen, aber beweglichen und für rationale Argumentationen zugänglichen Teil der „Mitte“ öffnen. Dafür muss sich die Sozialdemokratie keinesfalls falschen Freunden und falschen Ideologien verkaufen. Sie muss vielmehr der Politik das Politische zurückgeben. Das ist der entscheidende Unterschied zum Holzweg des Dritten Wegs“. In sehr erfreulicher Klarheit macht Machnig hier etwas deutlich, was in den letzten Jahren auch an den Wahlurnen empirisch fassbar wurde: Entgegen mancher journalistischer Wahrnehmung hantierten viele der Verantwortlichen in der Partei mit dem Begriff der „Mitte“ gerade nicht nüchtern-rational mit Blick auf gesellschaftliche Mehrheiten, sondern im Gegenteil höchst ideologisch und damit politisch angreifbar. Machnig stellt vor diesem Hintergrund fest, dass über Strategie viel gesprochen werde, was „Strategie“ aber genau sein solle, wüssten nur wenige. Entscheidend ist für Machnig hier der Begriff der „Strategiekompetenz“, also vor allem die Fähigkeit, um ein strategisches Zentrum herum die Planung von Politik organisieren zu können. Gerade diese Beiträge im Band sind für die Betrachtung von politischer Organisation und Planung außerordentlich erhellend. Ein konkretes Beispiel für diese Vorstellung von Strategie liefert Machnig mit einer Analyse der Bundestagswahl 2010, in dem er von der „halbierten SPD“ und einem „Wahlkampf der Illusionen“ spricht: Die Partei habe gleich mehreren Illusion aufgesessen, die letztlich zur schweren Wahlniederlage

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geführt hätten: der Kanzlerillusion, der Mitte-Illusion, der Bilanz- oder DankbarkeitsIllusion, sowie der Angst-Illusion. Zu allen diesem Punkten fallen sicherlich auch Beispiel aus anderen Jahren ein, besonders die von Machnig angesprochene „Angst-Illusion“ – also die Vorstellung, aus Angst vor dem erwarteten Handeln der anderen Parteien würden Menschen SPD wählen – führt unmittelbar dazu, selbst kaum noch attraktive eigene politische Konzepte zu entwickeln. In 2010 habe die Partei mit Müntefering und Steinmeier zudem nur ein formales, aber kein reales Zentrum gehabt. Die Entscheidenden Fragen eines jeden Wahlkampfes seien demgegenüber nicht beantwortet worden: Wofür – also für welche Werte, Themen, Machtperspektiven wird ein Wahlkampf geführt? Und: Wogegen wird ein Wahlkampf geführt. Insgesamt ließe sich festhalten, der Wahlkampf habe „kein Momentum, keine Dramaturgie, keine Richtung“ gehabt. Neben der Bilanz der letzten Jahre aus strategischer Sicht widmet sich Machnig auch inhaltlichen Perspektiven. In einem gemeinsam mit Karsten Rudolph veröffentlichten Aufsatz heißt es quasi als Quintessenz zu den letzten Jahren: „Die SPD hat sich ökonomisch liberalisiert, den Sozialstaat ökonomisiert und die Verteilungsfrage neutralisiert“. Machnig setzt hier auf gesellschaftliche Reformprojekte wie die schon angesprochene „ökologische Industriepolitik“. Entgegen vieler Debatten der letzten Jahre wird hier gerade dem Staat wieder eine wichtige Rolle als Auslöser technologischer und wirtschaftlicher Innovationen zugebilligt. Anhand des Projektes lässt sich damit auch ein gesamtgesellschaftlicher Gestaltungsanspruch auch für wirtschaftliche Entwicklungen festmachen.

Politischem Handeln eine Richtung geben – neuere Bücher zu Perspektiven linker Politik Argumente 1/2011


Enthalten sind auch ältere Beiträge zur Parteireform, so zum Beispiel aus seiner Zeit als SPD-Bundesgeschäftsführer ein Artikel zur „Netzwerkpartei“. Beim Blick zurück fällt auf, dass viele Entwicklungsmöglichkeiten schon aus damaliger Perspektive sehr optimistisch eingeschätzt wirkten, und im Nachgang nichts passiert ist. Trotzdem bieten auch Machnigs Überlegungen zu einer Öffnung und Revitalisierung der Partei interessant Ansatzpunkte für weitere Diskussionen. In jedem Fall wird klar, dass es bei der Diskussion um politische Strategie gerade nicht um ein von Inhalten entkoppeltes tagespolitisches Taktieren geht. Machnig arbeitet deutlich heraus, dass strategisches politisches Handeln gerade nicht im Widerspruch zu inhaltlich fundiertem Handeln stehen muss, sondern dass im Gegenteil das eine ohne das andere für politischen Erfolg nicht ausreichend ist. Viele der handelnden Akteure der SPD haben dies in den letzten Jahren nicht verstanden, vielleicht kann das vorliegende Buch hier ja einen Beitrag zu neuen Erkenntnissen leisten. „Industriepolitik für das 21. Jahrhundert“ In derselben Reihe des Vorwärts-Verlags ist auch ein schmales Büchlein des IGBCEVorsitzenden Michael Vassiliadis erschienen, in dem er anhand von 9 Thesen „Industriepolitik für das 21. Jahrhundert“ erläutert. Vassiliadis sieht dabei Gewerkschaften als eine Politik und Gesellschaft aktiv gestaltende Kraft, die mehr sein soll als eine nur schlimmere Entwicklungen verhindernde Gegenmacht. Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen möchte er eine

„Kultur des Fortschritts“ aus gemeinsamer Diskussion entwickeln. Für Vassiliadis bilden Ökonomie, Ökologie und sozialer Fortschritt das „magische Dreieck unserer Zeit“. Ökonomisches Wachstum soll dabei vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden. Mit dieser Prämisse versucht der Autor einen Spagat zwischen ökologischen Anforderungen und seinem Anliegen, Akzeptanz für industrielle Entwicklungen zu befördern zu schaffen. Gesellschafts- oder Kapitalismuskritisch ist die Analyse nicht. Damit steht Vassiliadis in der sozialpartnerschaftlichen Tradition der IGBCE. Die Verantwortung der Unternehmen wird angesprochen, aber stärker im Sinne gemeinsamer partnerschaftlicher Verantwortung für die Entwicklung des Industriestandortes Deutschland. Für Jusos lohnt die Auseinandersetzung mit dem Buch daher aus mehreren Gründen: Zum einen steht Vassiliadis Ansatz für eine in den Gewerkschaften weit verbreitete Sichtweise auf die Rolle von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Zum anderen ist gerade das Thema Industriepolitik nicht nur am Beispiel der Errichtung neuer Kohlekraftwerke – die Vassiliadis richtigerweise in den Blick nimmt – für die weitere Entwicklung von Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum in diesem Land sehr wichtig. Der vorliegende Text kann daher denjenigen zur Einführung dienen, die nur noch einen radikal-ökologischen Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen werfen, und die Perspektive der wirtschaftlichen Entwicklung komplett aus dem Blick verlieren. Aus linker Sicht zu ergänzen wäre die Perspektive von Vassiliadis vor allem um den Blick auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Herrschaftstechniken. Vassiliadis geht erkennbar von den durch seine Ge-

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werkschaft organisierten Branchen beim Blick auf die Dinge aus: Hier gestalten starke Sozialpartner mit hohem Organisationsgrad und gesellschaftlicher Ordnungsmacht politische Prozesse und Entwicklungen. Dies stößt zum einen in vielen Branchen mittlerweile an Grenzen, und betrifft zum anderen nur die Bereiche, in denen auch die Unternehmen unmittelbare eigene Interessen haben. Tatsächlich wird „ökologische Industriepolitik“ wie sie in den letzten Jahren vermehrt auch in der SPD gefordert wird, nur durch eine kritisch-produktive Auseinandersetzung und unter Berücksichtigung der von Vassiliadis skizzierten Argumente funktionieren. „Post-Neoliberalismus“ Die bei Vassiliadis offen gebliebene Lücke zur aktuellen Beschaffenheit der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse könnte ein Blick in die aktuelle Publikation von Ulrich Brand schließen. Schon seit vielen Jahren befasst sich der in Wien lehrende Politikwissenschaftler mit dem Thema Hegemonie, und in diesem Zusammenhang zunehmend mit der Frage nach der Existenz eines „Post-Neoliberalismus“. Ausgangspunkt sind dabei stets Überlegungen zur Frage der Hegemonie, die im Anschluss an die staats- und gesellschaftstheoretischen Arbeiten Antonio Gramscis bearbeitet werden. Die im vorliegenden Band versammelten Texte sind überwiegend bereits an anderer Stelle erschienen, und bieten einen guten Überblick über das Schaffen Brands in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren. Für Brand befindet sich die Gesellschaftsform des Neoliberalismus in der Krise. Das „neoliberal-imperiale Gesellschafts-

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projekt“ sei immer weniger in der Lage, die eigenen Probleme und Widersprüche zu bearbeiten. Allerdings befänden sich auch emanzipatorische Anliegen in der Krise, so dass das Projekt erst einmal weiter gehe. Hegemonie verwendet Brand vor allem als eine politische und analytische Perspektive. Zentral ist für ihn die Definition „gegen-hegemonialer Perspektiven“ – also die Beschreibung eines langsamen und vielschichtigen Prozesses, wie die Herrschaft neoliberaler Politikkonzepte durch fortschrittliche Konzepte abgelöst werden kann. Problematisch ist dabei für Brand die Staatszentriertheit vieler Linker: „Es geht um eine Veränderung politischer Inhalte, institutioneller Strukturen und damit verbundener gesellschaftlicher Interessenartikulationen und Kräfteverhältnisse.“ Wichtig sei zudem, die „Parzellierung“ der gesellschaftlichen Probleme in unterschiedliche Politikbereiche aufzuhaben. Gegen-Hegemonie in diesem Sinne wird dann verstanden als die Auflösung bestehender Machtund Herrschaftsstrukturen und Schaffung alternativer Formen der Vergesellschaftung. Auch für die Politikentwicklung bei den Jusos sind die Ansätze von Brand für die Bestimmung des eigenen Ausgangspunktes wichtig: Nur wer gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre Funktionsweisen einordnen und nachvollziehen kann, kann auch daran gehen, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. Reibung bietet dabei auch das von Brand im Buch immer wieder aufgegriffene Thema der Ökologie. Hier ist Brand naturgemäß wesentlich radikaler als der Gewerkschafter Michael Vassiliadis. Mit der Bedeutung von Industriepolitik setzt sich Brand denn auch nicht auseinander, Gegenhegemonie zum Neoliberalismus scheint damit für Brand auch nicht durch eine Reform und Ökolo-

Politischem Handeln eine Richtung geben – neuere Bücher zu Perspektiven linker Politik Argumente 1/2011


gisierung der Industriepolitik, sondern ausschließlich durch einen weitgehenden Ausund Umstieg aus der Industriegesellschaft möglich. Neben den spannenden Thesen zur Funktionsweise gesellschaftlicher Hegemonie bieten sich aus Sicht des Rezensenten gerade an dieser Frage auch spannende Anknüpfungspunkte für eine kritische Diskussion mit Ulrich Brand. „VielfachKrise im finanzmarktdominierten Kapitalismus“ Der Band „Vielfachkrise“ vereint insgesamt 13 Beiträge aus dem Umfeld des Wissenschaftlichen Beirats von attac. Ausgangspunkt war die Fragen, mit welchen Krisen wir es gesellschaftlich denn zentral zu tun haben. Die Themen sind Klima und Umwelt, Arbeit, Raumordnung und das Leben in den Städten. Auch hier spielt die ökologische Frage eine große Rolle. Die „imperiale Lebensweise“ einer Dominanz kapitalistischer Verwertungsinteressen u.a. über Natur und Arbeit wird als die herrschende Verbindung von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen herausgearbeitet. Geschrieben sind die Beiträge auf hohem Niveau. Allerdings fehlt dem Buch insgesamt ein roter Faden. Die fehlende Einordnung der verschiedenen „Krisen“ in ein Gesamtbild lässt somit die Frage weitgehend offen, ob es sich bei der „VielfachKrise“ um mehrere neben einander und von einander unabhängig zu betrachtende Krisenphänomene gibt, oder ob die einzelnen krisenhaften Erscheinungen in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen sind. Interessant sind im Buch wiederum vor allem die Beiträge zur Hegemoniefrage. Gesprochen wird hier von einer „Legitimationskrise“ des Neoliberalismus, die eben noch

keine Hegemoniekrise sei. Damit lassen sich einige der Beiträge vor dem Hintergrund des soeben vorgestellten Bandes von Ulrich Brand auch theoretisch recht gut einordnen. Für zukünftige Diskussionen müsste es daher darum gehen, die Zusammenhänge und Unterschiede der verschiedenen Krisenmomente stärker herauszuarbeiten, um daraus dann politische Schlussfolgerungen und Handlungsansätze gewinnen zu können. „Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert“ Nachdem die Linksparteivorsitzende Gesine Lötzsch Anfang des Jahres 2011 über „Wege zum Kommunismus“ nachdachte, melden sich nun einige der Vordenker aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dem Band „Wege zum Sozialismus“ zu Wort. Vor allem Michael Brie hat sich in den letzten Jahren als interessanter Autor in den innerparteilichen Theoriedebatten der Linkspartei hervorgetan. Die im Band versammelten 16 Beiträge wenden sich vor allem ökonomischen Themen zu. Besonders zwei Bereiche werden dabei umfassend bearbeitet – die Bedeutung der Finanzmärkte an sich, und die Möglichkeiten einer öffentlichen Kontrolle und Steuerung des Sektors, beispielsweise über die Vergesellschaftung des Finanzsektors sowie das Thema „Wirtschaftsdemokratie“. Im Bereich der Wirtschaftsdemokratie werden anders als in den meisten linkssozialdemokratischen Veröffentlichungen noch grundlegendere Fragen gestellt – funktioniert wirtschaftliche Steuerung auch jenseits des Marktes, wie lässt sich Wert eigentlich messen, und wie lassen sich intelligente Kombinationen aus einzelunternehmerischer Rationalität und gesamtwirtschaftlicher Steuerung entwickeln?

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So werden im Band vor allem wirtschaftspolitische Aspekte eines „Weges zum Sozialismus“ erörtert – eine Perspektive auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und politische Strategien wird dabei ebenso wenig entwickelt wie ein Blick auf die internationale Politik oder andere für die Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse wichtigen Aspekte. Auch wenn die konkreten Wege zum Sozialismus daher eher im Ungefähren bleiben – anregende Lektüre bietet auch dieser Band. Beim Blick auf die Bände fällt auf, wie spannend es wäre, einmal tatsächlich die Frage nach den Zielen linker Politik mit einer Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verbinden, um daraus strategische Politikentwicklung zu betreiben. Interessante Ansätze zu einzelnen dieser Aspekte finden sich in allen der durchgesehenen Bände, für die nächsten politischen Schritte der Sozialdemokratie entscheidend wird sicherlich sein, endlich wieder ein strategisches Zentrum in der Partei zu etablieren, das sich nicht von Bauchgefühlen und tagespolitischen Ideen leiten lässt, sondern eine längerfristige Perspektive für das politische Agieren entwickelt. Gerade im Bereich der Wirtschafts- und Industriepolitik würden sich hier auch Politikfelder bieten, die für die politische Bearbeitung momentan weit offen sind.

Vorgestellte Literatur Ulrich Brand Post-Neoliberalismus? Aktuelle Konflikte – Gegen-hegemoniale Strategien VSA-Verlag, Hamburg 2011 220 Seiten, 14,80 € Michael Brie/Richard Detje/Klaus Steinitz (Hrsg.) Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert Alternativen – Entwicklungspfade – Utopien VSA-Verlag, Hamburg 2011 214 Seiten, 16,80 € Alex Demirovic/Julia Drück/Florian Becker/ Pauline Bader (Hrsg.) VielfachKrise Im finanzmarktdominierten Kapitalismus VSA-Verlag, Hamburg 2011 228 Seiten, 16,80 € Mathias Machnig Politik neu orientieren Vorwärts Buch, Berlin 2010 270 Seiten, 20,00 € Michael Vassiliadis Für den Fortschritt Industriepolitik für das 21. Jahrhundert Vorwärts Buch, Berlin 2010 117 Seiten, 10,00 €

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Politischem Handeln eine Richtung geben – neuere Bücher zu Perspektiven linker Politik Argumente 1/2011


KEINE PANIK! – AKTUELLE BÜCHER ZUR INTEGRATIONSDEBATTE Von Thilo Scholle, Mitglied im Juso-Bundesvorstand

Magazin

Es spricht nicht für die Qualität des politischen Diskurses in der Bundesrepublik, wenn das bestverkaufte Sachbuch der letzten Jahre ein sehr plump geschriebenes Traktat war, das vor allem auf Vorurteilen und Ressentiments gegen Muslimen aufbaute und diese auch nach Kräften bediente. Ein Grund für den Erfolg des Buches war offensichtlich die in weiten Kreisen verbreitete Vorstellung, dass bislang zu Lebenslagen von Muslimen in Deutschland kaum seriöse Forschung bestanden habe. Dass diese Vorstellung grotesk ist – es gibt keine gesellschaftliche Gruppe, die in den letzten Jahren ähnlich intensiv „beforscht“ worden ist wie die Muslime – drang in vielen öffentlichen Diskussionen kaum durch. Dabei ist das gerade angesprochene Sachbuch nicht das erste seiner Art: Bereits seit einigen Jahren erfreuen sich vor allem in der geneigten Talkshow-Öffentlichkeit sogenannte „Islamkritiker/innen“ großer Aufmerksamkeit. Zentrale Argumentation ist

dabei, dass „der“ Islam nicht zu einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik passen würde, da für „die“ Muslime die Scharia als oberstes Gesetz absoluten Gehorsam auch gegen die Verfassungsordnung der Bundesrepublik verlangen würde. „Der“ Islam müsse sich daher reformieren, bevor über Gleichberechtigung in der Glaubensausübung für Menschen muslimischen Glaubens geredet werden könne. Es ist bemerkenswert, dass dabei oft aus Umfragen aus der abstrakten Fragestellung, welcher Ordnung – göttliche oder weltliche – für den Menschen mehr Bedeutung erwachsen würde, dann geschlossen wird, dass all diejenigen, die die religiösen Gebote letztlich für moralisch höherwertig halten, sich nicht an die Verfassung des jeweiligen Landes halten würden. Erstaunlich ist bei dieser Argumentation darüber hinaus auch, dass sie weder einen empirischen Beweis für ihre Richtigkeit anbietet, noch dass dieser in öffentlichen Debatten überhaupt ernsthaft eingefordert wird. Dabei weisen alle ernsthaften empirischen Untersuchungen nach, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Religions-

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zugehörigkeit und gesetzeswidrigem Verhalten gibt. Und so konnte das Buch des Thilo Sarrazin auch so viel Erfolg haben: Nicht weil nach theoretisch sauberer Arbeit Erkenntnisse über die Lebenslagen von Muslimen gewonnen wurden, sondern weil im Gegenteil weit verbreitete Vorurteile endlich auch „wissenschaftliche“ Bestätigung fanden. Immerhin wurde die öffentliche Debatte zu Beginn des Jahres 2011 von einigen Büchern bereichert, die sich mit dieser Art der „Islamkritik“ fundiert auseinander setzen, und die die Lebensrealität des Einwanderungslandes Deutschland wesentlich besser in den Blick nehmen. „Die Panikmacher“ Einen wichtigen Beitrag zur Debatte leistet der Leiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Patrick Bahners mit seinem Buch „Die Panikmacher“. Sorgfältig und umfassend seziert Bahners die Methoden und Vorgehensweisen der sogenannten „Islamkritik“. Vorgestellt und analysiert werden die Vorgehensweisen bekannterer und unbekannterer ProtagonistInnen der Debatte: Neben der durch viele Texte und Fernsehauftritte bekannten Autorin Necla Kelek werden so beispielsweise auch der hessische CDU-Landtagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer und der Berliner Mitarbeiter die Friedrich-Ebert-Stiftung, Johannes Kandel mit ihren zentralen Aussagen vorgestellt und eingeordnet. Während Irmer hier mit ungehemmter Kulturkampfrhetorik gegen die „Überfremdung“ durch den Islam vorgeht, macht Bahners Kandel zum Vorwurf, im Kern mit zweierlei Maß zu messen: Während den christlichen Kirchen jedes Maß an Rationalität und aufgeklärter Gesinnung unterstellt

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werden, würden übliche Verhaltensweisen in jeder Glaubensgemeinschaft ausschließlich dann problematisiert, wenn sie bei muslimischen Verbänden aufträten. Kandel habe zudem keine Berührungsängste mit den radikalen Varianten der „Islamkritik“, in dem er in Sammelbänden mit Beiträgen selbst veröffentliche, die explizit gegen Menschen muslimischen Glaubens Stimmung machen, und bilde somit eine Klammer zwischen seriöser Auseinandersetzung und politischer Stimmungsmache. Sehr interessant ist auch Bahners Feststellung, dass in vielen Beiträgen gerade der moderate Muslim als besonders problematisch dargestellt wird: Weil ja Ausgangspunkt der Behauptung der „Islamkritiker“ die Feststellung ist, „der Islam“ sei nicht reformierbar, werden all diejenigen, die mit Selbstbewusstsein die Vereinbarkeit von muslimisch-religiöser Identität mit einem Leben in der Bundesrepublik vorleben, besonders angegriffen. „Fromm und gewaltlos“, diese Variante der Identität kann es für diese Autorinnen und Autoren nicht geben – die Ausgangsthese von der Inkompatibilität des Islam mit dem Leben in der Bundesrepublik wäre ja auch sonst widerlegt…. Zentraler Baustein dieses Ausschlusses ist die Unterstellung, da im Islam ja erlaubt sein, sich in der Fremde zu verstellen, seien alle persönlichen Erklärungen der Gewaltlosigkeit und der Verweis auf eine ausschließlich individuell verstandene Religiosität nicht glaubwürdig. Bahners geht in seiner Darstellung vor allem vom Gedanken der Gleichberechtigung der Religion aus, und das als jemand, der offensichtlich großes Verständnis für religiöse Bedürfnisse hat. In der Tat wird dieser Aspekt von vielen ProtagonistInnen der „Islamkritik“ gerne vernachlässigt: Viele Teilnehmer der Debatte reflektieren nicht,

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dass viele der Forderungen, zu was sich „der Islam“ öffentlich bekennen solle, von den christlichen Kirchen als Institutionen auch nie öffentlich bekannt wurde, sondern schlicht durch tatsächliches Handeln erwiesen wurde. Besonders verheerend erweist sich für Bahners das bedenkenlose Provozieren – er nennt es die „verharmloste Verachtung“ in der Debatte, die viele Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland stark verletzt habe. Damit trifft Bahners auch aus säkular-atheistischer Sicht den entscheidenden Punkt: Es geht bei der Debatte um die „Islamkritik“ gar nicht darum, ob eine bestimmte Religion kritisiert und auch persönlich abgelehnt werden darf – das ist unstreitig. Es geht darum deutlich zu machen, dass diese Art der Debatte die betroffenen selbst mit ihren persönlichen Ansichten und Einschätzungen gar nicht zu Wort kommen lässt, sondern sämtliche Vorwürfe von Außen als Unterstellungen auf diese Gruppe projiziert werden. „Das Manifest der Vielen“ Wie vielfältig die Gesellschaft in der Bundesrepublik mittlerweile geworden ist, zeigen die von der seit vielen Jahren im Themenfeld Integration präsenten Herausgeberin Hilal Sezgin im Sammelband „Das Manifest der Vielen“ zusammengetragenen 29 Beiträge von Autorinnen und Autoren mit überwiegend muslimischem Hintergrund. Die Texte decken sehr unterschiedliche Fragen ab: Von Berichten zur Entwicklung der eigenen Identität über Berichte zu Diskriminierungserfahrungen bis hin zu Berichten über den eigenen Glauben reicht das Spektrum. Dabei finden sich eine ganze Reihe wirklich interessanter Beiträge, die auch auf wenigen Seiten sehr pointiert die Ambi-

valenz vieler Menschen mit muslimischem Hintergrund deutlich machen, sich zwar persönlich dieser Gesellschaft zugehörig zu fühlen und hier die eigene Biographie gestalten zu wollen, aber auf der anderen Seite von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft immer wieder auf eine Religionszugehörigkeit reduziert zu werden, die für die eigene Identität und Entwicklung entweder kaum eine Rolle, oder wenn, dann eine viel positivere Rolle spielt als vom Gegenüber angenommen. Über das grundsätzliche Plädoyer nach einem Anerkenntnis dieser Vielfalt an Lebensrealitäten und Herkünften und der Forderung nach einem Abbau von Diskriminierungen hinaus stellen die Beiträge im Band kaum konkrete politische Vorhaben zur Diskussion. Die Beiträge verbleiben damit größtenteils im Bereich der Reflexion persönlicher Eindrücke und Erfahrungen. Autorinnen oder Autoren ohne Migrationshintergrund sind nicht mit eigenen Beiträgen im Buch vertreten. Diese Tatsache wurde bereits anlässlich der öffentlichen Vorstellung des Buches im Frühjahr 2011 im Gorki-Theater in Berlin bemängelt. Ein darauf abgeleiteter Vorwurf ging vor allem die Richtung, dass sich mit diesem Projekt eher eine post-migrantische Kulturelite selbst feiern würde, und sich – entgegen der eigentlichen Intention – gerade nicht als selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft, sondern als spezifische Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund konstituieren würde. Damit würde durch die Zusammenstellung der Autorinnen und Autoren gerade dass selbst weiter verhärtet, was die Initiatorinnen und Initiatoren des Projektes eigentlich aufbrechen wollen – die Einteilung in Mehrheitsgesellschaft und Menschen mit (muslimischem) Migrationshintergrund.

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Innerhalb der Gruppe ist die Auswahl der Autorinnen und Autoren sehr plural: Von sehr religiös verorteten Persönlichkeiten wie dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime Aiman Mazyek, der ursprünglichen Klägerin gegen das Kopftuchverbot bei Lehrerinnen in Baden-Württemberg, Fereshta Ludin und der muslimischen Bloggerin Kübra Gümüsay reicht die Palette der Schreibenden bis hin zur Berliner Soziologin Naika Faroutan und dem Schriftsteller Ilja Trojanow. Die oben geschilderte Kritik hat einiges für sich: Es wäre in der Tat interessant gewesen, auch Menschen ohne Migrationshintergrund die Chance zu geben, ihre Vorstellung einer Gesellschaft der Vielfalt deutlich zu machen. Trotzdem bietet der Band eine Vielzahl interessanter Texte, die die Lektüre auf jeden Fall lohnen. Es zeigt sich, wie viele interessante Menschen mit Migrationshintergrund mittlerweile auch die kulturpolitische Szene bevölkern. Klar ist jedenfalls: Die Lebensrealität eines Deutschlands der Vielen existiert längst – ob es die Sarrazins dieser Welt wollen oder nicht! „Ich wär gern eine/r von uns“ Von der Vielfalt der Lebensrealitäten handelt auch der von Klaus Wowereit und Franziska Richter herausgegebene Band „Ich wär gern eine/ r von uns“. Klaus Wowereit hat in den letzten Wochen immer wieder versucht, in der Öffentlichkeit den Fokus beim Thema Integration weg nur von einem Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund zu bekommen. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende will den Blick damit erweitern, und über gesellschaftlichen Ausschluss und gesellschaftliche Teilhabe insgesamt diskutieren – unabhängig

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vom Bestehen eines Migrationshintergrunds. Kern der Idee ist damit, die Integrationsdebatte von ihrer starken Ethnisierung und Kulturalisierung zu lösen, und den Fokus der Diskussion auf die soziale Frage zu legen. Der Sammelband vereinigt insgesamt 14 Geschichte „übers ein- und aufsteigen“. Dabei haben Journalisten die Menschen besucht und kurze Portraits über Lebensweg, Träume und Vorstellungen geschrieben. Dabei werden getreu der Intention des Bandes neben Menschen mit Migrationshintergrund beispielsweise auch Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, in den Blick genommen. Unterstrichen wird in allen Beiträgen der Aspekt der Selbstbestimmtheit in den Biographien der Personen: Die Ambition, trotz schlechter Lebensumstände oder trotz Arbeitslosigkeit nicht nur Spielball von von anderen getroffenen Entscheidungen zu sein, sondern zu versuchen, weiterhin ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Es bleibt abzuwarten, ob es in der öffentlichen Diskussion gelingt, die Debatte um Integration zu einer Diskussion um gesellschaftlichen Ausschluss und gesellschaftliche Teilhabe zu erweitern. Einen wichtigen Beitrag hin zu einer fortschrittlichen Integrationsdebatte leistet Klaus Wowereit mit diesen Aussagen in jedem Fall. „Integration, Zuwanderung und Soziale Demokratie“ Verdienstvoll ist der als Band 5 in der „Lesebücher der Sozialen Demokratie“ erschienene Band „Integration, Zuwanderung und Soziale Demokratie“. Intention der Lesebuchreihe insgesamt ist es, einfach verständliches Schulungsmaterial für politische Theorie- und Analyse-

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arbeit zu liefern, das gewissermaßen die Brücke zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischem Alltagshandeln auch von Parteigliederungen vor Ort schlagen kann. In diesem Sinne wird umfangreich über verschiedene Bedeutungen des Begriffs Integration reflektiert, wird die Realität in Deutschland in den Blick genommen, und werden die Positionierungen der anderen Parteien im politischen Raum vorgestellt. Dabei setzen die Kapitel des Bandes durchaus auch an „heißen“ Themen der aktuellen Debatten an: Was heißt „Assimilation“, was ist eigentlich „Kultur“, was ist „kulturelle Identität“? Letztlich führen die Autoren den Leser auf das politische Ziel hin, im Bereich der Integrationspolitik vor allem für Anerkennung und Teilhabe zu streiten – Anerkennung in Bezug auf die Gleichberechtigung von Menschen mit Migrationshintergrund, und Teilhabe vor allem in Sinne von politischer Partizipation. So bietet das Buch insgesamt einen schönen Einstieg in die Grundpositionen sozialdemokratischer Politik, der vielleicht auch mit manchen möglicherweise bei dem einen oder anderen Genossen vorhandenen Vorurteilen zu „der“ Kultur „der“ Migranten abzuholen und zu differenzierten Positionen hinzuführen. Insgesamt ist es erfreulich zu beobachten, dass endlich auch wieder Bücher auf dem Markt sind, die das Thema Integration eben nicht aus der Perspektive der „Panikmacher“ betrachten, sondern im Gegenteil zum einen Beiträge zum nüchternen Umgang mit der – nicht nur – religiösen Pluralität in dieser Gesellschaft leisten.

Zum anderen aber, und das ist noch wichtiger, machen Bücher wie das „Manifest der Vielen“ besonders deutlich, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund mittlerweile die kulturelle, journalistische und wissenschaftliche Szenerie in diesem Land bereichern, und die nicht mit großen Gesten von der Mehrheitsgesellschaft „willkommen geheißen“ werden wollen, sondern die selbstbewusst ihren Platz in dieser Gesellschaft einfordern. Dass Vielfalt in diesem Sinne Stärke ist, dass wird jedenfalls sehr deutlich! Nun gilt es, diese spannende Realität der Einwanderungsgesellschaft auch politisch mit Leben zu erfüllen.

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Vorgestellte Literatur Patrick Bahners Die Panikmacher Die deutsche Angst vor dem Islam Verlag C.H. Beck, München 2011 320 Seiten, 19,95 € Christian Henkes u.a. Integration, Zuwanderung und Sozialdemokratie Lesebuch der Sozialen Demokratie Band 5 Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2011 160 Seiten, 5,00 € Hilal Sezgin (Hrsg.) Das Manifest der Vielen Deutschland erfindet sich neu Blumenbar Verlag, Berlin 2011 230 Seiten, 12,90 € Klaus Wowereit/ Franziska Richter (Hrsg.) Ich wär gern eine/r von uns Geschichten übers ein- und aufsteigen Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Bonn 2011 163 Seiten, 14;80 €

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„POSTDEMOKRATIE“ UND DIE ZUNEHMENDE ENTPOLITISIERUNG Von Chantal Mouffe, Professorin für Politische Theorie am Centre for the Study of Democracy an der Westminster Universität Übersetzung aus dem Englischen von Georg Danckwerts, Krefeld.1

Schwerpunkt

Eine der zentralen Thesen in den aktuellen Diskussionen über „Postdemokratie“ besagt, dass moderne Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien zunehmend von privilegierten Eliten kontrolliert werden. Die Umsetzung neoliberaler Politik habe zu einer „Kolonisierung“ des Staates durch die Interessen von Unternehmen und Verbänden geführt, so dass wichtige politische Entscheidungen heute außerhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt werden. Der Legitimitätsverlust demokratischer Institutionen zeige sich in einer zunehmenden Entpolitisierung.

ben ist, die Parteien des linken Spektrums für den Prozess der Entfremdung von demokratischer Politik gespielt haben. „Postpolitische“ Perspektive der liberaldemokratischen Gesellschaften

Ich widerspreche dieser Theorie nicht, glaube aber, dass, wenn wir die Gründe für dieses Phänomen im Hinblick darauf untersuchen, wie diese Entwicklung wieder umgekehrt werden könnte, auch die Rolle hervorzuhe-

In meinem Buch „Über das Politische“2 habe ich die Gründe für die „postpolitische“ Perspektive, die in liberal-demokratischen Gesellschaften mittlerweile überwiegt, untersucht. Meine These ist, dass die „post-politische“ Perspektive damit zusammenhängt, dass die sozialdemokratischen Parteien in Europa in den vergangenen Jahrzehnten die Strategie verfolgt haben, sich zur politischen Mitte hin zu bewegen. Erstmals wurde diese Strategie von Anthony Giddens, einem britischen Soziologen, unter dem Etikett „Der dritte Weg“ für New Labour in England ausgearbeitet. Diesem Ansatz zufolge haben die westlichen

1 Nachdruck des Artikels aus „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ 1-2/2011) mit freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung und der Autorin.

2 Vgl. Chantal Mouffe, On the Political, London 2005 (deutsche Übersetzung: Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007).

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„Postdemokratie“ und die zunehmende Entpolitisierung Argumente 1/2011


Gesellschaften eine zweite Stufe der Modernität erreicht, diejenige der „reflexiven Modernisierung“, in welcher das für die erste Stufe, die „einfache Modernisierung“, charakteristische, auf Gegensätzen (das heißt gesellschaftlichen Antagonismen) beruhende Politikmodell obsolet geworden sei. Giddens erklärt, dass es nunmehr erforderlich sei, „jenseits von ‚Links‘ und ‚Rechts‘“3 zu denken, und eine neue Politik der „radikalen Mitte“ anzustreben, die diese überkommene Teilung überwindet. Eine solche Ansicht ist später von anderen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien übernommen worden, die begannen, sich als „linke Mitte“ zu präsentieren und sich dabei deutlich von früheren antikapitalistischen Elementen zu distanzieren. Tatsächlich aber haben die Parteien der linken Mitte – mit dem Anspruch, das sozialdemokratische Projekt zu modernisieren, um es an die globalisierte Welt anzupassen – gegenüber dem Neoliberalismus „kapituliert“. Davon überzeugt, dass es keine echte Alternative für politisches Handeln mehr gibt, haben sie das geschaffene System akzeptiert. Sie haben alle Versuche aufgegeben, die bestehenden Machtverhältnisse infrage zu stellen, und beschränken sich nun darauf, Möglichkeiten aufzuzeigen, die neoliberale Globalisierung „menschlicher“ zu gestalten. Darum aber ist die Politik der verschiedenen Parteien so schwer voneinander zu unterscheiden. Dieser „Konsens in der politischen Mitte“ hat negative Folgen für die demokratische Politikgestaltung. Tatsächlich ist die derzeitige Politikverdrossenheit, die zum drastischen Rückgang der Wahlbeteiligung 3 Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts, Frankfurt/M. 1997 (Originalausgabe: Anthony Giddens, Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Cambridge 1994).

geführt hat, durch das Fehlen einer echten Wahl zwischen klar unterscheidbaren Alternativen zu erklären. Die Annäherung zwischen den Parteien rechts und links der Mitte hat außerdem in mehreren Staaten das Aufkommen rechtsgerichteter populistischer Parteien gefördert. Ihr Erfolg beruht nicht zuletzt darauf, dass sie als die einzigen erscheinen, die eine wirkliche Alternative zur bestehenden Ordnung anbieten. In der Diskussion über „Postdemokratie“ scheint mir die Rolle dieser „postpolitischen“ Situation nicht ausreichend berücksichtigt zu werden. Natürlich ist es wichtig, die Veränderungen des kapitalistischen Systems zu begreifen, welche die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Erfolg der neoliberalen Globalisierung geschaffen haben. Diese erklären jedoch nicht das Verschwinden von lebhaften demokratischen Debatten über die vielfältigen Möglichkeiten der Organisation sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen sowie öffentlicher Einrichtungen. Eben hier müssen sich die Volksparteien ihrer Verantwortung für diesen Prozess bewusst sein: Indem sie es versäumten, zu erkennen, dass Politik ihrem Wesen nach parteiisch sein muss, und dass demokratische Politik agonistische Debatten zwischen widerstreitenden Projekten und die Wahlmöglichkeit zwischen realen Alternativen braucht, hat die Politik des „dritten Weges“ zu der „Entpolitisierung“ beigetragen, die im Zentrum unseres „postdemokratischen“ Zustands steht. Wenn Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass sie bei den grundsätzlichen Entscheidungen über ihre gemeinsamen Angelegenheiten nicht mehr mitreden können, und dass sich nur noch Experten mit politischen Fragen beschäftigen, weil sie als komplexe technische Probleme angesehen werden, werden demokratische Insti-

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tutionen ihrer Substanz entblößt und ihrer Legitimität beraubt. Wahlen werden darauf reduziert, der Absegnung von Maßnahmen unterschiedlicher Akteure zu dienen, deren Interessen nicht öffentlich verantwortet werden müssen. Damit verliert der demokratische Prozess seine Daseinsberechtigung. Freiheit und Gleichheit Selbstverständlich nehmen unsere Gesellschaften immer noch für sich in Anspruch, demokratisch zu sein. Aber was bedeutet „Demokratie“ in unserer „postpolitischen“ Zeit noch? Als ich in „Das demokratische Paradox“4 das Wesen der liberalen Demokratie untersuchte, habe ich das Spannungsverhältnis zwischen ihren beiden ethischpolitischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit in den Vordergrund gestellt. Liberale Demokratie ist als Synthese aus zwei verschiedenen Traditionen zu verstehen: der liberalen Tradition der Herrschaft des Gesetzes und individueller Rechte sowie der demokratischen Tradition der Volkssouveränität. Der kanadische Politikwissenschaftler Crawford Brough Macpherson hat gezeigt, wie durch diese Synthese, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zustande kam, Liberalismus demokratisiert und Demokratie liberalisiert wurde. Es gab jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen der Freiheit und denen der Gleichheit – eine Spannung, die bis jetzt für Dynamik in der Konfrontation zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten sorgt. Die Geschichte demokratischer Politik kann dargestellt werden als das Ringen um die Vorherrschaft eines dieser Prinzipien über 4 Vgl. Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London-New York 2000 (deutsche Übersetzung: Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, Wien 2008).

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das andere. Zu manchen Zeiten überwog der liberale Aspekt, zu manchen der demokratische Aspekt, aber die Streitfrage blieb offen. Unter der derzeitigen Hegemonie des Neoliberalismus allerdings ist die liberale Komponente so dominant geworden, dass die demokratische fast verschwunden ist. Demokratie wird heute lediglich als Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Menschenrechte verstanden, während die Idee der Volkssouveränität als überholt gilt und aufgegeben worden zu sein scheint. Wer sich gegen die Regeln der Eliten auflehnt und darauf besteht, dem Volk ein Mitspracherecht einzuräumen und seinen Bedürfnissen Raum zu geben, wird als „Populist“ abgewiesen. Ich halte diese Verdrängung der demokratischen Tradition für eines der Hauptmerkmale unserer „postdemokratischen“ Situation. Ohne dass die Politik des „Konsenses in der gesellschaftlichen Mitte“ aufgegeben wird, die eine der Ursachen für die zunehmende Bedeutungslosigkeit der demokratischen Institutionen ist, besteht keine Hoffnung, dem „postdemokratischen“ Trend zu entkommen. Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen Links und Rechts muss politisch gekämpft werden. Demokratie neu beleben Bei allem Respekt gegenüber den Theoretikern des „Dritten Wegs“ könnte eine solche Verschleierung, statt einen Fortschritt zu bewirken, einen Schritt hin zu einer vermeintlich „reiferen“ Demokratie, zu ihrem Untergang beitragen. Der demokratische Prozess muss dringend neu belebt werden, und dies kann nur dadurch geschehen, dass die Parteien des linken Spektrums eine antihegemoniale Offensive gegen die Versuche starten, die zentralen Institutionen des

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Wohlfahrtsstaates zu zerstören und das gesamte soziale Leben zu privatisieren und den Regeln des Marktes zu unterwerfen. Wenn die politische Linke es nicht schafft, die Hoffnungen und die Leidenschaft der Menschen für eine gerechtere und egalitärere Gesellschaft zu mobilisieren, so besteht die ernste Gefahr, dass rechtsgerichtete populistische Parteien versuchen werden, dieses Feld zu besetzen. Was uns dann erwartet, wird allerdings schlimmer sein als „Postdemokratie“.

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SOZIALE DEMOKRATIE UND SOZIALDEMOKRATIE Von Thomas Meyer, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund

Schwerpunkt

Soziale Demokratie. Ein weitreichendes Projekt Das Verständnis von Sozialer Demokratie ist in Teilen der SPD durch eine auf Begriffe fixierte Debatte blockiert, in der die Auffassung vertreten wird, sie sei nur eine Art Schwundform des Demokratischen Sozialismus, der ein Jahrhundert lang das programmatische Selbstverständnis der Sozialdemokratie geprägt hatte. Das ist ein grobes Missverständnis, denn die Vollendung der sozialen Demokratie mit ihrem Kern der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte ist in Wahrheit ein sehr weitgehendes Projekt der Gesellschaftsreform, das auf die vollständige soziale und ökonomische Gleichberechtigung und Chancengleichheit zielt, aber nicht als abstrakte Hoffnung, sonder als zu jeder Zeit umsetzungsfähiges Handlungsprogramm. Die beste Formulierung dafür hat der US-amerikanische, langjährige Vordenker der Sozialistischen Internationale, Michael Harrington, gefunden: Vertreter der Sozialen Demokratie verstehen sich als

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die „äußerste linke Fraktion des Möglichen“ in der realen Politik. Sie wollen eine Politik der Einheit von normativer Richtigkeit, politischer Mehrheitsfähigkeit und realer Funktionsfähigkeit ihrer politischen Antworten auf die gesellschaftlichen Deformationen einer vom Marktkapitalismus geprägten Gesellschaft. Die Antwort heißt: Gleichheit der Freiheitschancen und der Mitwirkungsmöglichkeiten für alle nicht nur in formeller, sondern in materieller Hinsicht. Das generative Prinzip der Sozialen Demokratie besteht in der systematisch gestellten Frage nach dem Verhältnis der Formalgeltung der um Freiheit, Gleichheit und soziale Teilhabe gruppierten universellen Grundrechte zu den sozialen Bedingungen ihrer Realwirkung für alle Menschen. Daraus folgt: Der demokratische Rechtsstaat ist verpflichtet, die gesellschaftliche Gesamtverfassung so einzurichten und seine laufenden politischen Entscheidungen in allen Handlungsbereichen so auszurichten, dass das unter den jeweils gegebenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen

Soziale Demokratie und Sozialdemokratie Argumente 1/2011


größte Maß an Realwirkung der Grundrechte, das für alle Bürger möglich ist, gewährleistet wird. Hermann Heller hatte schon in den 1920er Jahren die fortgeltende Kernidee der Sozialen Demokratie formuliert. Sie ist eine gesellschaftliche Gesamtverfassung, in der die Prinzipien des materialen Rechtsstaates, also materielle Gerechtigkeit, umfassend, vor allem auch im Bereich der Arbeits- und Güterordnung, Geltung erlangen. Dabei geht es nicht allein um normative Belange, sondern um die Klärung der Voraussetzungen, unter denen in marktkapitalistischen Demokratien überhaupt auf die Dauer eine gesellschaftliche und demokratische Integration gelingen kann, mit der die Menschen einverstanden sind, weil sie ihre wesentlichen Interessen in ihr aufgehoben sehen. An diesen auf die Lebensfähigkeit moderner Gesellschaften bezogenen Sinn des Konzepts hat der amerikanische Historiker Tony Judt jüngst mit seinem dramatisierenden Programmbegriff „social democracy of fear“ erinnert. Unter den Bedingungen einer marktkapitalistischen Wirtschaftsverfassung benötigen die meisten Staatsbürger garantierte soziale und wirtschaftliche Rechte als Staatsbürger, damit ihre bürgerlichen und politischen Rechte für sie überhaupt einen sozialen Gebrauchswert und eine reale Lebenswirklichkeit erlangen können. Die marktkapitalistische Wirtschaftsverfassung hat neben ihrer konkurrenzlosen Leistung als Produzent von Innovation, Produktivität und Wohlstand die hartnäckige Nebenwirkung einer systematischen Risikostruktur, die viel Menschen unter wiederkehrenden Bedingungen von den materiellen Mitteln trennt, die sie benötigen, um ihre sozialen, wirtschaftlichen bürgerlichen und politischen Rechte positiv nutzen zu können.

Gegen diese muss eine soziale Demokratie errichtet werden, die die Wirkkräfte von Markt und Eigentum in ein Geflecht von Marktregulierung, sozialstaatlicher Sicherheit und vom Markt gänzlich unabhängiger öffentlicher Güter, wie Bildung, Gesundheitsversorgung einbettet, um ihre produktive Wirkung zu erhalten, ihre gesellschaftlich kontraproduktiven Effekte aber zu überwinden. Dies alles muss unter Bedingungen ökologischer Nachhaltigkeit geschehen. Soziale Demokratie als partizipative Demokratie Im Hinblick auf den von Robert A. Dahl konstatierten Widerspruch zwischen der auf politischer Gleichheit beruhenden Legitimation der Demokratie und der systematischen Erzeugung politischer Ungleichheit durch ungleiche soziale Ressourcenverteilung im marktkapitalistischen System, stellt sich in demokratietheoretischer Sicht die Frage, ob die Existenz eines bloßen demokratischen Institutionen-Systems ohne eine annähernde Gleichverteilung der politischen Ressourcen der Bürger überhaupt als eine konsolidierte Demokratie verstanden werden kann oder als eine defekten Demokratie anzusehen ist. Libertäre Demokratien, in denen die sozialen Voraussetzungen demokratischer Gleichheit nicht oder nicht in ausreichendem Maße verwirklicht sind, erfüllen zwar eine Reihe wesentlicher demokratischer Voraussetzungen, die sie von autokratischen politischen Systemen und die institutionellen Voraussetzungen fortschreitender Demokratisierung enthalten. Zugleich schließen sie aber faktisch große Gruppen von Bürgern von der Chance gleicher Einwirkungsmöglichkeiten auf den politischen Entscheidungsprozess aus, auf der der demokratische Legitimationsanspruch

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beruht und erweisen sich in diesem Sinne als defekte Demokratien. Je mehr dem Anspruch nach soziale Demokratie ihre selbst gesetzten Ziele verfehlen, um so stärker nähern sie sich diesen Defizitbefunden an. Erstens: Sie verletzen beide konstituierende Elemente der rechtsstaatlichen Demokratie: den Rechtsstaat und die Demokratie. Die Nichteinlösung sozialer Grundrechte verletzt auch dann die Normen des Rechtsstaats, wenn private Hilfeleistung in großzügigem Maße stattfinden. Zweitens: Eine ausgeprägte Ungleichheit der sozialen und persönlichen Ressourcen für die politische Handlungsfähigkeit verletzt das demokratische Grundprinzip der politischen Chancengleichheit. Eine nicht ausreichend sozial ausgestaltete Demokratie ist daher eine defekte Demokratie. Die mangelhafte Gewährleistung der sozialen Voraussetzungen gleicher politischer Teilhabe schafft ein grundlegendes demokratisches Defizit, das nicht nur die politische Teilhabe schwächt, sondern in den Augen der Betroffenen zum grundlegenden Legitimationsdefizit wird. Die soziale bedingte Ausschließung größerer Bevölkerungsteile der unteren sozio-ökonomischen Gesellschaftsklassen hat vor allem drei problematische Folgen: Erstens: Eine systematische Verzerrung im politischen Prozess der Artikulation und Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen. Zweitens: Eine hohe Wahrscheinlichkeit der systematischen Reproduktion der ungleichen politischen Teilhabe in den Politikresultaten, vor allem in den Bereichen Sozialstaat, Einkommen und Bildungschancen. Drittens: Die Verletzung der politischen Legitimationsbedingung staatsbürgerlicher Gleichheit und ein entsprechender öffentlicher Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust der betroffenen Demokratie.

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Im Maße, wie diese Bedingungen eintreten, wird der Demokratieanspruch des Landes verfehlt. Die Voraussetzungen für eine umfassende und chancengleiche politische Partizipation sind dann nicht erfüllt. Die Demokratie unseres Landes wird aber nicht allein durch regelmäßige Wahlen realisiert, sie beruht auf einer umfassenden und dauerhaften politischen Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Soziale Demokratie macht partizipative Demokratie möglich und beruht zugleich auf ihr. Im Gegensatz zu der in der „realistischen“ Demokratietheorie verbreiteten Vorstellung, der zufolge sich Demokratie in der periodischen Wahl zwischen konkurrierenden politischen Eliten erschöpft und der ökonomischen Theorie der Demokratie mit ihrer Gleichsetzung von demokratischer Teilhabe und Markt, versteht sich die Bundesrepublik als eine partizipative Demokratie, die sich durch die aktive und dauerhafte Teilnahme einer sehr großen Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern am politischen Leben aus allen Ebnen auszeichnet. Die partizipative Demokratie ist im Kern eine offene Parteiendemokratie mit einer aktiven Zivilgesellschaft. Sie verbindet ihrem Anspruch nach politische Effektivität und umfassender Partizipation überzeugend miteinander. In der Mehrparteiendemokratie konkurriert einer unterschiedliche Zahl von Parteien miteinander um Einfluss, Macht und die Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Parteien sind einerseits große politische Bürger-Organisationen mit einem bestimmten Maß an Zentralisierung und landesweiter Präsenz. Sie sind, wenn sie gut organisiert sind, in der Lage die politische Willensbildung an der Basis, in den Gemeinden, Städten und Dörfern mit einem ihr gerecht werdenden Entscheidungshandeln auf allen Ebenen der

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politischen Organisation des Landes bis hinauf zur nationalen Ebene miteinander zu verbinden. Das politische Leben in den Parteien, die Vorbereitung von Programmen, Entscheidungen und die Kontrolle ihrer Umsetzung soll dabei dauerhaft, vor allem auch in der gesamten Zeit zwischen den Wahlen von den aktiven Parteimitgliedern getragen und begleitet werden. Die Gewährleistung der materiellen Mittel zur Ausübung der Grundrechte ist ein Recht des Bürgers und eine Pflicht des Staates. Sie darf nicht dem Markt überlassen werden. Darin besteht der Kern des sozialdemokratischen Begriffs der “sozialen Bürgerschaft“. In der Großzügigkeit seiner Ausgestaltung und ihren institutionellen Organisationsformen unterscheiden sich die verschiedenen Modelle sozialer Demokratie, nicht aber in diesem grundlegenden Anspruch selbst. Sie basieren vor allem auf einem umfassenden System der öffentlichen Güter, von der Gesamtheit des Bildungssystems, über die Gesundheitsversorgung, und die Kultur, bis zur öffentlichen Infrastruktur und der sozialen und menschlichen Sicherheit. In ihnen verkörpern sich primär die Einlösung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte und die materielle Sockelgleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Grundzüge der unterschiedlichen Modelle Sozialer Demokratie stimmen über alle Differenzen hinweg darin überein. Unter der Bedingung der wirtschaftlichen Globalisierung müssen durch eine Politik des global governance die Voraussetzung zur Zurückerlangung demokratischer Entscheidungssouveränität auf globaler Ebene und zur Einbetutung der Märkte in politische, ökologische und soziale Verantwortungsstrukturen geschaffen werden.

Eine neue Strategie Die aktuellen Eckpunkte des Programms der Sozialen Demokratie lauten daher: 1. eine wirksam regulierte und mitbestimmte soziale Marktwirtschaft unter politischem Primat, 2. ein grundrechtsbasierter Sozialstaat auf Inklusion sicherndem Niveau, 3. ein effektiv Chancen ausgleichendes Bildungssystem, 4. eine wirksame interne Kombination von Wohlstandswachstum, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung sowie 5. eine Politik der transnationalen Demokratisierung auf der Basis der EU. Welche Wege und Instrumente im Einzelnen dafür am besten geeignet und am wirksamsten politisch organisierbar sind, bleibt dabei eine für Erfahrung offene pragmatische Frage. Bei der Suche nach Antworten auf die meisten dieser Fragen ist die Orientierung an den skandinavischen Erfolgsmodellen für die gegenwärtige programmatische Neubesinnung auch der deutschen Sozialdemokratie der beste Kompass. Strategisch muss die Sozialdemokratie wieder glaubhaft machen, dass sie das politische Bündnis zwischen den Interessen der solidarischen Mitte und des sozialen Unten der Gesellschaft nicht nur will, sondern ist. Aus den Erfolgen der Brandt-SPD lässt sich aber lernen: ein solches Bündnis lebt nicht von guten Programmen allein, es muss auf vier Säulen ruhen: ein handlungsorientierter Politikentwurf, der die Interessen von Mitte und Unten zukunftsfähig bündelt und dabei die ganze Gesellschaft mitnimmt, eine Partei, die daran glaubt, eine Kommunikation, die es überzeugend macht und ein Führung, die das nicht nur mitteilt, sondern verkörpert.

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Wo liegen, daran gemessen, heute die Defizite? Auf dem Papier hat die SPD die Rolle der Diskursführerschaft im Vergleich zu ihrem Konkurrenten keineswegs verloren. Die genannten Programme sind nicht allzu weit vom Wünschenswerten entfernt. Sie verbinden die drei politischen Zielmarken auf die es ankommt, Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit durchaus konkret, während die politischen Konkurrenten auf fragwürdige Weise jeweils einer von ihr den Vorrang geben. Wichtige Korrekturen der sozialen Schieflage der Agenda-Politik sind vorgenommen worden: in der Steuer-, der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik. Was in den Augen vieler fehlt, ist offenbar die Überzeugungskraft der Botschaft, ihre Glaubwürdigkeit im Handeln und eine machtpolitische Perspektive für ihre Umsetzung. Sie kann nach Lage der Dinge nur in einer in sich glaubhaften Doppelstrategie bestehen. Teil I: soviel Zugewinn in der Mitte und

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Unten wie identitätspolitisch möglich. Und vor allem: Keinen Millimeter Schonraum für die Konkurrenten links und in der Mitte fahrlässig preisgeben. Teil II: auf dieser Basis Öffnung auch für politische Bündnisse Mitte-Links, sobald die anderen Mitspieler können und wollen. Identitätspolitische und machtpolitische Erneuerung sind dabei zwei Seiten der derselben Medaille. Ihre Chancen sind für die SPD allemal größer als ihre Risiken. Vor allem dann, wenn beide nicht bloß als ein Manöver von oben, sondern als Projekt einer danach dürstenden Partei angelegt werden. Dabei muss die SPD die alte Balance neu einüben, die ihren historischen Erfolg einst ermöglichte. Es ist die zwischen Prinzipientreue, Realismus im Handeln und Mehrheitsfähigkeit ihrer Politik. Es gibt für sie kein Prinzipielles Hindernis auf diesem Weg.

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FORTSCHRITT UND DEMOKRATIE Von Matthias Machnig, Wirtschaftsminister in Thüringen

Schwerpunkt

„Politik ist kein Vergnügen, hat wenig damit zu tun, wie man Vorräte sammelt, sich wärmt, sich bildet oder zu Frauen kommt.1“ In diesem. etwas lakonischen, aber umso prägnanteren Satz des Soziologen Niklas Luhmann kommt, auch wenn es auf den ersten Blick zunächst anders erscheinen mag, eine Anerkennung gegenüber den politischen Akteuren zum Ausdruck. Für immer weniger Menschen übt Politik einen Reiz aus, umso mehr müsse man es, in Luhmanns Logik, einem Menschen zugute halten, wenn er in die Bresche springt. Politik muss gemacht werden, dass wir darauf verzichten können, würden wohl auch die allergrößten Skeptiker nicht behaupten. Zumindest, wenn sie innerhalb eines demokratischen Rahmen betrieben wird. Ja, unsere Demokratie befindet sich in Agonie. Nur wenige sind prinzipiell gegen Demokratie, aber viele sind ausgesprochen unzufrieden mit der Demokratie, wie sie sich gerade darstellt. Die bundesrepublikanische Demokratie ist weit von einer machtvollen 1 Niklas Luhmann: Politische Soziologie. Suhrkamp Verlag. Berlin 2010

Beteiligungsoffensive wie sie in regelmäßigen Abständen von allen politischen Parteien ausgerufen oder eingefordert wird, entfernt. Immer mehr Deutsche beginnen daran zu zweifeln, dass sie in der besten aller politischen Welten leben, und die Wirtschaftskrise hat diese Skepsis verstärkt. Die Akzeptanz von Demokratie hängt von ihrer Leistungsfähigkeit ab, wirtschaftlichen Wohlstand herzustellen und aufrechtzuerhalten, sozialen Ausgleich zu sichern und für eine lebenswerte Umwelt zu sorgen. Aber diese Front der „Output-Legitimation“2, wie Claus Leggewie es nennt, ist offen. Skepsis und Vertrauensverlust nehmen zu, weil die soziale Spaltung zunimmt. Dass die Mittelschicht schrumpft und dass das Sparpaket der Bundesregierung diesen Trend verschärft, hat das DIW im letzten Jahr nachgewiesen. Zu leicht wäre es allerdings, sich als Sozialdemokrat darauf zurückzuziehen und die Schuld, die man selbst auf sich geladen hat, auf andere abzuschieben. Da müssen wir uns schon am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen – vor allem, um den politischen Gegnern das Pulver zu nässen. Begriffe wie „Hartz IV“ funktionieren nach 2 Claus Leggewie: Demokratie in der Krise. In: Klaus Engel, Michael Vassiliadis (Hrsg.): Werte, Wissen, Wachstum. Hoffmann und Campe. Hamburg 2010

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wie vor, man kann das immer wieder beobachten, wie das Klingelzeichen beim Pawlow‘schen Experiment. Womit wir beim Problem wären. Die Vorurteilsmaschinerie gegenüber der Politik wird nur allzu gerne angeworfen. Das gehört schon immer zum Geschäft, erstaunlich ist aber, dass die Politikerbeschimpfung an Schärfe immer weiter zunimmt. Es existiert offenbar ein abgründiges Misstrauen in die Integrität der Volksvertreter. Es gibt in Deutschland eine hohe Bereitschaft, von einzelnem Fehlverhalten und Fehlleistungen, die es immer und in allen Parteien gegeben hat, auf eine Verdorbenheit der ganzen politischen Klasse zu schließen. Zeigt das ein partiell gestörtes Verhältnis zur Demokratie? Wenn pauschale Vorurteile sich so leicht aktivieren lassen, stimmt etwas nicht. Natürlich haben die als frei und autonom geltenden Wahlbürgerinnen und -bürger genügend Grund, sich zu ärgern. Jedoch gilt es ebenfalls zu betonen: Man muss sich auch mal an die eigene Nase fassen. Eine Demokratie ohne Demokraten kann es nicht geben. Demokraten, das sind – zumindest nach Aristoteles – diejenigen, die sich ihrer individuellen Bedürfnisse bewusst werden und diese nach außen vertreten und einfordern, ohne dass dabei jedoch das Einzelinteresse das Allgemeininteresse überschreitet und beschädigt. Mit dieser kurzen Einleitung soll dreierlei zum Ausdruck gebracht werden. Erstens: Im Hinblick auf Proteste auf den Straßen ständig von „Wutbürgern“, der „DagegenRepublik“ und vom „Ende der Demokratie“ zu sprechen, ist genauso vermessen wie uninspirierend. Erst wenn es zum Rückzug ins Private kommt, ist Gefahr im Verzug. Wir brauchen die öffentliche Meinung, sie zeigt die Vitalität unseres Gesellschaftssystems. Die öffentliche Meinung hat eine

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weiterreichende Funktion als nur der kritische Resonanzboden für politisch-administratives Handeln zu sein, sie ist mehr als ein bloßes Moment politisch-administrativer Informationsverarbeitung. Sie muss deshalb Gehör finden. Der gesellschaftliche Seismograph muss in jedem verantwortungsvollen Politiker vorhanden sein, er darf aber nicht zu Opportunismus führen. „Ich glaube, dass nur der erfolgreich ist, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt, wie der erfolglos sein wird, dessen Vorgehen nicht mit den Zeitverhältnissen übereinstimmt.“ Dieser Satz stammt von Machiavelli – Zeichen genug für den schmalen Grat zwischen angemessener Berücksichtigung des Bürgerwillens und politischer Verantwortungslosigkeit. Zweitens: Auch die öffentliche Meinung muss sich an die Spieregeln halten. Wenn in langwierigen Planungsprozessen die Möglichkeiten zur persönlichen Einbringung nicht genutzt werden und dann aus ideologischen Gründen Empörung entsteht, diese Empörung medial kultiviert wird und ganz offensichtlich Partikularinteressen dominieren, dann muss man von Seiten den Politik sehr wohl zu bedenken geben, ob da nicht jemand sein staatsbürgerliches Recht verpennt hat und ex post die Realitäten an seine Wunschträume anpassen will. Ob Instrumente wie Planfeststellungsverfahren sich evtl. überdauert haben oder den Praxistest nicht bestehen und ggf. geändert und beschleunigt werden müssen, steht freilich auf einem anderen Blatt Papier und muss natürlich im Zuge eines demokratischen Modernisierungsprozesses ebenfalls diskutiert werden. In Zeiten von Stuttgart 21, E10, CCS und Diskussionen über Windparks und den Ausbau von Stromnetzen müssen das eine wie das andere besondere Beachtung finden.


Drittens: Nicht zuletzt für die SPD gilt es, ihren Modernisierungswillen nicht auf das Lecken der eigenen Wunden zu beschränken, sondern vor allem eine stärkere Sensibilität für den fragilen Zustand unserer Gesellschaft zu entwickeln, in der das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig wirkt, in der es aber im Innern ordentlich brodelt. Wir können heute sehr wohl wieder von einer res publica amissa3, einer vernachlässigten Demokratie sprechen – und auch die SPD trägt Verantwortung dafür. Die bestehenden Verhältnisse sind zutiefst ungerecht, weil sie Gewinner und Verlierer produzieren und Chancen, Risiken, Positionen, Privilegien und Güter sowie Status und Anerkennung und damit letztlich Lebenschancen ungleich und ungerecht verteilen. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man über die fehlende Bindekraft der eigenen Partei räsoniert. Die SPD: Menetekel des Endes der Volksparteien? Jospin, Blair, Schröder. 1998 sah es so aus, als stünde die europäische Sozialdemokratie, Deutschland eingeschlossen, vor einem goldenen Zeitalter. Elf Jahre später hat die SPD 10.192.426 Stimmen verloren und sechs Parteivorsitzende verschlissen. Es sieht so aus, als könne die SPD in den Augen der Menschen keine überzeugende Antwort auf den radikalen Wandel der Arbeitswelt, auf Individualisierung und Globalisierung geben. Darüber können und sollten weder die demoskopischen Scheinblüten im Sommer 2010 noch die Wahlsiege in NordrheinWestfalen und Hamburg und der 0,1%ige Stimmenzuwachs in Sachsen-Anhalt hinwegtäuschen. Spätestens die Wahlen in 3 Begriff geprägt von Cicero

Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zeigen auch eine Skepsis gegenüber der SPD. Zwar regieren dort die Sozialdemokraten (mit), teilweise erhebliche prozentuale Stimmenverluste sind dennoch zu beklagen. Vor allem die Stärke der Grünen macht der SPD zu schaffen, eine Volkspartei verliert ihre Integrationsfähigkeit. Aber nicht nur rückläufige Wahlergebnisse oder die Fünfparteienlandschaft, mit der natürlich neue Regeln, neue Konstellationen und neue Bedingungen für das politische System in Deutschland etabliert wurden, stellen das Konzept der Volkspartei auf den Prüfstand. Die Herausforderungen sind vor allem auch organisatorischer Natur. Es stellt sich die Frage, ob Parteien, die sozialstrukturell und kulturell nicht mehr die Wirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland abbilden, noch als Volkspartei zu bezeichnen sind. Denn die Entkopplung von Parteien und Gesellschaft ist mit einem tiefgreifenden weiteren Problem verbunden. Die Kompetenzen, die heute in der Gesellschaft vorhanden sind, in unterschiedlichen Subsystemen und Milieus, werden wegen dieser Verengung nicht mehr in den Parteien abgebildet. Parteien allerdings, die das Erfahrungswissen, die Kompetenzen einer Gesellschaft nicht entweder in ihrer Mitgliedschaft abbilden oder sie in Netzwerken organisieren, müssen sich die Frage gefallen lassen, inwieweit sie sich programmatisch, intellektuell und kulturell noch auf der Höhe der Zeit befinden. Beide „großen“ Parteien sind in den sich ausdifferenzierten Klein- und Großmilieus nicht mehr hinreichend vertreten. Damit gehen Seismographen und Trends in der Gesellschaft für die eigene Politikentwicklung und das eigene Politikangebot verloren. Insoweit hat die mangelnde Verankerung einer Partei in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus

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eine fatale Konsequenz hinsichtlich ihrer jeweiligen Integrations- und Orientierungsfähigkeit. Als lernende Organisationen müssen Parteien Netzwerke als eine Form strategischer Kooperation knüpfen, um rasch auf die wechselnden und immer komplexeren Anforderungen, die uns die moderne Wissensgesellschaft stellt, reagieren zu können. Mehr Politik wagen! Die organisatorische Modernisierung der Partei kann natürlich nur dann erfolgreich sein, wenn die SPD inhaltlich attraktiv ist, wenn die Menschen wissen, wofür sie steht, also ein eindeutiges, eigenständiges Profil erkennbar ist. Was wir brauchen, sind klare Alternativen und Richtungsentscheidungen. Neue Mehrheiten müssen in der Lage sein, Räume des politischen Diskurses über politische Alternativen zu entwickeln und neue Antworten, auch unter Rückgriff auf Themen und den Erfahrungsfundus der eigenen Geschichte und Praxis, zu geben. Die zentralen Problemfelder, die die ganze Gesellschaft betreffen, müssen als Streitund Richtungsfragen thematisiert werden. Parteien müssen wieder Richtungsfragen stellen, sich durch Antworten auf Richtungsfragen definieren. Das schließt Kontroversen und Polarisierung mit ein. Nur so kommen die Wählerinnen und Wähler zu ihrem Recht, Entscheidungen zwischen klaren Alternativen treffen zu können – und zu müssen. Politik muss einen realen Einfluss auf die Wünsche und Fantasien der Menschen nehmen. Um Leidenschaften für demokratische Entwürfe mobilisieren zu können, muss demokratische Politik einen parteilichen Charakter haben.

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Die SPD als progressive, linke Partei wird dann wieder stark sein, wenn es ihr gelingt, Richtungsfragen zu thematisieren. Sie muss wieder ein Labor sein für das Verständnis der Gesellschaft und ein Ort des politischen Raums. Dabei muss sie konkret sein und sich nicht verlieren in geschichtsphilosophischen Betrachtungen und Debatten. Sie braucht ein Reformprojekt, das gestaltet und Zukunftsoptionen sichert. Sie braucht auch einen utopischen Überschuss. Der Satz „Wer Visionen hat, gehört ins Krankenhaus“ ist kein linker Satz, er ist zutiefst konservativ. Die Linke darf, wie Ernst Bloch es einmal formuliert hat, das „noch nicht“ nicht aufgeben. Eine Linke, die dies tut, hat sich aufgegeben. Gebraucht wird ein Kompass, dritte Wege führen nur am Ziel vorbei, auf das Wirken unsichtbarer Hände können wir nicht hoffen, das haben die letzten Jahre einmal mehr vor Augen geführt. Die durch Reformen versprochene Synthese aus Modernisierungsanstrengungen und Gerechtigkeitsversprechen ist in der Gesellschaft nicht angekommen. Vielmehr hat eine gesellschaftspolitische Polarisierung stattgefunden. Konkret manifestierte sich die versprochene Synthese, die allerdings zu einer Reihe von gesellschaftlichen Brüchen führte. Was beim dritten Weg ursprünglich „Sicherheit durch Wandel“ geheißen hatte, wurde letztlich kein Umbau der sozialen Sicherungssysteme, damit wohlfahrtstaatliche Systeme auch in Zukunft finanzierbar bleiben. Vielmehr wurde zu oft mehr Flexibilität mit zu wenig Sicherheit erkauft. Heute muss es um „Wandel durch Sicherheit“ gehen. Die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen zu unterstützen und ihnen eine Richtung zu geben, hängt davon ab, dass ihnen nicht falsche Sicherheit vorgegaukelt wird, während die Verantwortung


beim Einzelnen abgeladen wird. Nicht der ermöglichende Sozialstaat, auch nicht der fürsorgende Sozialstaat, sondern der vorsorgende und gewährleistende Sozialstaat ist die Aufgabe. Progressive Governance braucht Progressive Government. Handlungsfelder gibt es zur Genüge. Es geht um Weichenstellungen von erheblicher Bedeutung für die ökonomische und soziale Entwicklung im Lande. Wir müssen z.B. fragen: Wollen wir weiterhin Finanzmarktkapitalismus oder wollen wir soziale Demokratie? Wollen wir einen deutschen Sonderweg oder wollen wir eine stärkere internationale Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik? Wollen wir Recht und Ordnung auf dem Arbeitsplatz oder wollen wir die weitere Erosion des Sozialstaats? Wollen wir Inklusion oder Exklusion? Wollen wir eine faire Verteilung von Löhnen und Gütern oder wollen wir Umverteilung? Wollen wir die Erhaltung der Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte oder wollen wir Austeritätspolitik? Wollen wir die mitbestimmte oder wollen wir die verwaltete Gesellschaft? Kurzum: Wollen wir Zukunft oder wollen wir Vergangenheit? Deshalb brauchen wir einen Neuen Fortschritt. Die SPD als Fortschrittspartei braucht Fortschrittlichkeit Willy Brandt hat es auf den Punkt gebracht: „Eine Sozialdemokratie, die nicht die Aussicht auf eine lohnende und gesicherte Zukunft vermittelte, wäre ein Widerspruch in sich.“ Dies war und ist Mahnung und Richtschnur zugleich. Gerade heute, wo sich der deutsche Nachkriegskonsens in Auflösung befindet. Der Nachkriegskonsens basierte auf dem Versprechen, dass ökonomischer und technologischer Fortschritt für sozialen und

gesellschaftlichen Fortschritt sorgt. Mehr Produktivität, Qualifikation und Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, so die feste Überzeugung, führen zu mehr wirtschaftlichem Wachstum, zu mehr Wohlstand, zu besseren Einkommen und zu mehr Sicherheit für alle. Rentabilitätsinteressen der Unternehmerinnen und Unternehmer können, so die Hoffnung, mit den Verteilungs- und Mitbestimmungsansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Einklang gebracht werden. Der Nachkriegskonsens gilt nicht mehr. Gerade für die SPD ist das eine besondere Herausforderung. Sie ist und versteht sich als Partei des Fortschritts. Wenn das Leitbild und die Hoffnungen des Fortschrittsversprechens brüchig werden, muss die Partei des Fortschritts den Fortschritt neu denken, neu gestalten, neu ausrichten. Und sie muss die Grenzen der Ökonomisierung unserer Gesellschaft definieren. Fortschritt ist alternativlos. Fortschrittsskeptizismus aus Prinzip ist Zukunftsverweigerung, führt zu Verteilungskämpfen und ist deshalb zutiefst ungerecht. Ökonomischer und technologischer Fortschritt und die Entwicklung von Einkommen, Sicherheit, Qualität von Leben und Arbeit müssen wieder zusammengeführt werden. Das setzt gestaltende Politik voraus, bei der Regulierung der Finanzmärkte, bei der Herstellung von Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, einer ökologischen Industrie- und Innovationspolitik, einer fairen Steuer-, Abgaben und Lohnpolitik. Gestaltende Politik verlangt aber breite Akzeptanz und sie braucht Hilfe. Die Individualisierung von Lebensläufen, die Vielfalt neuer Lebensstile und die damit verbundene Lösung alter Parteibindungen stellen ganz neue Anforderungen an die

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Dialogkompetenz. Parteien können Unterstützung nur durch Diskursorientierung erreichen. Nur so ist die Bindewirkung von Politik zu verbessern. Das heißt dann aber eben auch, dass die öffentliche Meinung eine Rolle spielen muss im politischen Meinungsbildungsprozess. Nur so können wir die Realität abbilden. Ohne öffentliche Meinung laufen wir Gefahr, die Widersprüche unserer Gesellschaft zu missachten, die Risse, also gerade die Orte, an denen nicht nur Nöte und somit politischer Handlungsbedarf sichtbar werden, sondern auch Neues, Kreatives, Ideen entstehen, werden überkittet. Das birgt Gefahren, nicht nur für die SPD, die ihre Bindungskraft verliert, sondern auch für die Demokratie. Wenn wir verhindern wollen, dass die politische Auseinandersetzung in Bereiche abdriftet, die außerhalb des demokratischen Systems stehen, wenn wir derlei „Schwarzmarktphan-

tasien“, wie Oskar Negt es nennt, „in den öffentlich ausgetragenen Prozess einer demokratischen Gesellschaftsordnung“4 zurückholen wollen, müssen wir uns öffnen. Für die Stabilität eines demokratisch geprägten Gesellschaftssystems sind öffentliche Räume erforderlich, in denen sich genau dieses System entfalten kann. Politik ist keine Angelegenheit einer von Beruf und Arbeitsplatz abgetrennten, gesonderten Sphäre, in der Berufspolitiker ihr Wesen und Unwesen treiben. Und Parteien sind kein Selbstzweck. Sie haben die Aufgabe, den politischen Willensbildungsprozess in der Bundesrepublik mitzugestalten. Das bedeutet aber auch: Parteien müssen offen sein für Personen, Institutionen, Debatten, Meinungen, die nicht von vorneherein im Mainstream der sozialdemokratischen Diskussionen stehen. Transparenz, Offenheit sowie eine klare Angebotsorientierung sind dazu notwendig.

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4 Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl Verlag. Göttingen 2010

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SPD ERNEUERN Schwerpunkt

Beschluss des Juso-Bundesvorstands Die SPD hat bei der Bundestagswahl 2009 das schlechteste Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik erzielt. Wir Jusos haben nach der Wahl eine intensive Diskussion über die inhaltliche, strategische, personelle und organisatorische Erneuerung der Partei gefordert. Dieser Prozess hat spätestens mit dem Parteitag in Dresden begonnen. Seitdem haben wir auch bei den Jusos darüber diskutiert, was unsere Anforderungen an diesen Erneuerungsprozess sind. Mit diesem Papier wollen wir uns in den Diskussionsprozess einbringen und unsere Anforderungen an die organisatorische Erneuerung der Partei formulieren. Zwar haben sich die Umfragewerte mittlerweile wieder langsam leicht verbessert und es gibt wieder Erfolge bei Landtagswahlen, diese sind zum großen Teil noch weit von unserem eigenen Anspruch entfernt. Und es ist mehr die Folge der verheerenden Politik von Schwarz-Gelb, als in eigener Stärke begründet. Die SPD hat weiterhin ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die SPD muss zurück zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit finden und diese Politik auch langfristig umsetzen, ansonsten werden alle anderen strategischen und organisatorischen Bemühun-

gen wirkungslos verpuffen. Die Mitglieder müssen mitgenommen werden und demokratisch in der Partei beschlossene Konzepte in Regierungspolitik umgesetzt werden. Auf die Inhalte kommt es an Die SPD ist eine Mitgliederpartei und muss dies auch bleiben. In den vergangenen Jahren sind viele Entscheidungen der Partei an den Mitgliedern vorbei durchgesetzt worden oder bestehende Entscheidungen der Partei wurden im Regierungshandeln einfach ignoriert. Die Fraktionen müssen die Beschlüsse der Partei auf allen Ebenen als Grundlage ihrer Arbeit verstehen. Die Partei muss frühzeitig eingebunden werden, um Zeit zur Meinungsbildung zu haben. Entscheidend ist es dabei auch, Konzepte zu entwickeln, die den Parteimitgliedern mehr Angebote zur Diskussion und Mitentscheidung bieten. Die SPD muss wieder der Ort werden, an dem die wichtigen politischen Fragen unserer Zeit besprochen, entschieden und umgesetzt werden. 1. Wir brauchen Verfahren, die sachliche Diskussionen fördern (transparente Redelisten, Visualisierung, fachliche Moderation, Protokolle). Wir müssen neue Veranstaltungsformate auf allen Ebenen nutzen. Wo nötig, muss die Partei ihre FunktionsträgerInnen dafür schulen. Gendertrainings gehören hier auch dazu.

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Wir müssen sorgsam mit der Zeit der Mitglieder umgehen, Sitzungen müssen effektiv und strukturiert sein. 2. Wir wollen, dass Diskussion für Nichtmitglieder geöffnet und dafür geeignete Plattformen geschaffen werden. Dies ist am besten über projektorientierte Angebote in Arbeitskreisen zu ermöglichen, in denen natürlich auch Parteimitglieder mitarbeiten können. Wir brauchen deshalb ein flächendeckendes Angebot an inhaltlichen Arbeitskreisen, die projektorientiert und themenbezogen arbeiten. Es muss möglich sein, diese auf Antrag beim Unterbezirk- oder Bezirksvorstand einzurichten. Die Arbeitskreise müssen das Recht haben, auf der jeweiligen Ebene Anträge zu stellen. Damit machen wir die Partei attraktiver für Menschen, denen bestimmte Themen am Herzen liegen und die ihre kostbare Zeit nur begrenzt einsetzen können. 3. Die Entscheidungsfindung über die Parteigliederungen kann nicht durch andere Methoden wie Konferenzen, Ortsvereins- oder Unterbezirksbefragungen ersetzt werden. Diese sind geeignet, um Informationen auszutauschen und zu diskutieren. Wenn sie aber als Mitgliederbeteiligung verkauft werden, sind sie bloße Partizipationsillusionen. 4. Unsere Diskussionen müssen für alle nachvollziehbar sein, dies gilt insbesondere für die Parteitage. Mit der heutigen Rolle der Antragskommission können oft nicht einmal die Delegierten und erst recht keine BeobachterInnen nachvollziehen, was entschieden wird. Deshalb fordern wir die generelle Abschaffung der Antragskommissionen auf der Ebene der Unterbezirke und die Option für die Bezirke und Landesverbände, sie ebenfalls zumindest versuchsweise

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abzuschaffen. Auch die Arbeitsgemeinschaften müssen die Möglichkeit haben, auf die Antragskommission zu verzichten. Zudem muss auf Ebene der Bezirke und des Bundes die Antragsdebatte so gestaltet werden, dass die Delegierten über den entsprechenden Antrag und nicht über das Votum der Antragskommission abstimmen. 5. Zurzeit gibt es für FunktionärInnen und Parteimitglieder zu viele ungeordnete Informationen, so dass die wirklich wichtigen Dinge teilweise untergehen. Deshalb muss jedes Mitglied die Kontrolle darüber haben, auf welchen Verteilern es steht und welche Informationen es bekommen will. Alle wichtigen Informationen müssen von allen Gliederungen online und barrierefrei zur Verfügung gestellt werden. 6. Wir brauchen einen Ausbau von Onlinebeteiligungsformen. Sie stellen eine gute Möglichkeit dar, Diskussionen in und außerhalb der Partei zu führen. Dabei ist vor allem wichtig, dass solche Partizipationsformen keine Partizipationsillusion sein dürfen, sondern die dort gewonnen Anregungen ernst genommen werden. Uns ist aber auch klar, dass sie eine gute Ergänzung zu den bisherigen Formen sein, aber nicht alle anderen ersetzen können. Mehr Demokratie Es muss einen deutlichen Unterschied zwischen Diskussionen und Entscheidungsprozessen geben. Die Mitgliedschaft in der SPD ist nicht nur ein Bekenntnis zu den Grundwerten, sondern beinhaltet auch das Recht, mit den gleichen Möglichkeiten an den Entscheidungen mitzuwirken. Bei der Erneuerung muss deutlich werden, welcher


Raum für Diskussionen vorgesehen ist, und wo die Entscheidungen getroffen werden. Die Entscheidungsgremien sind in der Regel die Parteitage, der Parteirat, der Vorstand und der Ortsverein. Dies entspricht nicht nur unserer Tradition, sondern gewährleistet auch die Einhaltung unseres Demokratieverständnisses. Dies gilt insbesondere für die Besetzung von Funktionen und für Kandidaturen. Es muss aber den Gliederungen überlassen werden, wie sie ihre Entscheidungen organisieren wollen 7. Wir wollen, dass mehr Mitglieder an den Entscheidungsprozessen in der Partei beteiligt werden. Es ist das Privileg der Mitglieder zu entscheiden, deshalb sprechen wir uns gegen die Beteiligung von Außenstehenden bei Wahlen und Abstimmungen aus. Sie sind uns in den Diskussionen willkommen, aber die Entscheidung ist das Recht der Mitglieder. 8. Die viel diskutierte Direktwahl von öffentlichen und Parteiämtern betrachten wir auch angesichts vergangener Erfahrungen differenziert. Sie kann dort von Vorteil sein, wo ein mit der Abstimmung einhergehender Diskussionsprozess gestaltet werden kann, wo insbesondere alle Mitglieder die Möglichkeit haben, die KandidatInnen direkt zu befragen. Dies dürfte in der Regel auf der kommunalen Ebene der Fall sein. Sie kann dazu führen, die Partei über einen solchen Prozess zu revitalisieren. Direktwahlen werden aber da problematisch, wo in starkem Maße die mediale Berichterstattung die Entscheidung beeinflusst und die WählerInnen nicht die Möglichkeit haben, sich ein persönliches Bild zu machen. Sie sind auch dann problematisch, wenn sie als Plebiszit für eine oder mehrere sachliche Entscheidungen missbraucht werden. Die Partei- und Wahl-

programme müssen verbindlich sein, wir brauchen keine Königin oder keinen König, die oder der über den Entscheidungen der Parteitage schwebt. 9. Die Partei ist in ihren Gliederungen sehr unterschiedlich aufgestellt, so dass es nicht eine feste Struktur gibt, die für alle optimal ist. Die jeweiligen Ortsvereine und Unterbezirke müssen für sich selbst entscheiden, ob sie ihre Parteitage mit Delegierten oder als Vollversammlung durchführen wollen. Auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene wollen wir am Delegiertenprinzip festhalten, um ungerechte Mobilisierungswettläufe zu verhindern. 10. Der Mitgliederentscheid muss so gestaltet werden, dass er wirklich Initiativen aus der Mitgliedschaft heraus ermöglicht. Die Hürden für einen Mitgliederentscheid sind zu hoch. Sie müssen gesenkt werden und die Publikation des Anliegens muss gefördert werden. Für das Mitgliederbegehren muss das Quorum gesenkt und eine ergänzende Onlineunterzeichnung ermöglicht werden. 11. Demokratische Teilhabe braucht politische Bildung. Wir müssen die Aktiven mit attraktiven Bildungsangeboten schulen. Neumitglieder müssen die Möglichkeit haben, inhaltliche und methodische Seminarangebote wahrzunehmen. Alle neu gewählten FunktionsträgerInnen/OrtsvereinsvorsitzendE/ UnterbezirksvorsitzendE/… müssen eine Methodenschulung und inhaltliche Seminarangebote angeboten bekommen. Allen Mitgliedern muss der Zugang ermöglicht werden, Kosten dürfen dies nicht verhindern. 12. Die Zusammenarbeit mit BündnispartnerInnen auf allen Ebenen muss verbessert werden. Ziel ist es die Arbeit an

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konkreten gemeinsamen Projekten. Der Austausch von Meinungen kann nur der erste Schritt zu einer guten Kooperation sein. 13. Wir halten weiterhin an der Quotierung für Listen und Vorstände fest. Falls diese nicht eingehalten werden, müssen geeignete Sanktionsmechanismen entwickelt werden. Problematisch sind oft zudem die Besetzung von informellen Gremien oder Podien bei Veranstaltungen. Will die SPD die Partei sein, die für Gleichstellung steht, muss sie auch hier mehr auf Gleichstellung achten, Veranstaltungen müssen entsprechen überprüft werden. Jusos als Motor der Partei Als Jusos haben wir in den letzten Jahren bewiesen, dass ein solcher Prozess erfolgreich sein kann. Nicht nur die Ortsvereinsbefragung vom Parteivorstand im vergangenen Jahr hat gezeigt, dass wir der aktivste und kampagnenfähigste Teil der Partei sind. Um diese Arbeit zukünftig fortsetzen zu können, brauchen wir auch weiterhin die bestehende finanzielle und personelle Ausstattung. Wir haben nichts davon, wenn die Bedeutung unserer Arbeit immer wieder gelobt wird, wir aber dann von Einsparungen getroffen werden. 14. Wir Jusos haben mit der Juso-Mitgliedschaft mit Teilrechten (offiziell JusoGastmitglieder) schon lange Erfahrung sammeln können, mit einem erfolgrei-

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chen niedrigschwelligen Angebot zur Mitarbeit. Die zeitliche Einschränkung, wie sie der Parteitag beschlossen hat, widerspricht dem Ziel der Öffnung und ist kontraproduktiv. Junge Menschen treten nicht dann in eine Partei ein, wenn eine Frist abläuft, sondern wenn sie von der Partei überzeugt sind. Wir fordern deshalb die Aufhebung der Beschränkung. Zudem müssen die Juso-Gastmitglieder endlich systematisch in den Datenbanken der Partei erfasst werden. So können wir sie leichter für eine dauerhafte Mitarbeit bei den Jusos und in der Sozialdemokratie gewinnen. 15. Unsere Arbeit ist durch große strukturelle Unterschiede und immer mehr auch durch die flexiblen Lebensläufe unserer Mitglieder geprägt. Deshalb sind wir besonders auf hauptamtliche Unterstützung angewiesen. Wir Jusos brauchen mehr Hauptamt als weniger. Gerade auf der Ebene der Landesverbände und Bezirke ist in den vergangenen Jahren die Hauptamtlichkeit stark eingeschränkt worden. Die Stärke unseres Verbandes liegt aber gerade darin, flächendeckend vertreten zu sein. Das geht nur mit hauptamtlichen Strukturen auf der Ebene der Landesverbände und Bezirke. Wir fordern deshalb einen von der Bundespartei moderierten Prozess, der das Ziel hat, die notwendigen Arbeitskapazitäten für einen Jugendverband mit rund 70.000 Mitgliedern zur Verfügung zu stellen.

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SCHUBLADEN BESTIMMEN UNSEREN ALLTAG

Von Martin Margraf, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Schwerpunkt

Wie die Extremismustheorie der Demokratie im Wege steht – Ein Plädoyer für Antidiskriminierung und Partizipation Seit der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und der bevorstehenden Wahl in Mecklenburg-Vorpommern ist der Kampf für und um Demokratie wieder aktuell in der politischen Debatte. Der Fokus liegt auf den Wahlergebnissen der NPD. Doch dieser Blick ist verkürzt! Während sich die öffentliche Diskussion stets auf die Auseinandersetzung zwischen „demokratischen Akteur_innen“ und sogenannten Rechtsextremen, Rechtspopulist_ innen oder gar sogenannten Linksextremist_ innen konzentriert, ist der Wesensgehalt der Debatte wesentlich vielschichtiger. Es reicht nicht aus, sich mit NPD, DVU, Kameradschaften, etc. auseinanderzusetzen, einen Partei übergreifenden Aufruf vor einer Wahl zu formulieren. Auf „die Demokratie“ nämlich berufen sich nahezu alle gesellschaftlichen Akteure, selbst solche, die per Verfassung vorgegebenen Verfahren lediglich als Mittel ihrer politischen Zwecke verstehen. „Die Demokratie“ gibt es aber nicht. Sie ist weder de-

finiert noch existiert ein einheitliches Verständnis derselben. Von daher lohnt die Mühe der Auseinandersetzung mit dem demokratischen Verständnis derer, die sich als tragende Säulen der Gesellschaft verstehen, um letztlich die eigene Interpretation des Demokratiebegriffs darzulegen. Die freiheitlich demokratische Grundordnung Schon kurz nach Gründung der Bundesrepublik hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage auseinanderzusetzen, was einen demokratischen Verfassungsstaat, wie er im Grundgesetz festgeschrieben ist, ausmacht. Als es 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP) verbot, prägte das höchste deutsche Gericht den Begriff der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“.1 Ihr sind die acht folgenden Grundpfeiler wichtigster Bestandteil des demokratischen Verfassungsstaats, nämlich (1) die Achtung der Menschenrechte, (2) Volkssouveränität, wobei die Parteien Träger der politischen Wil1 BVerfG, Urteil vom 23.10.1952 – 1 BvB 1 /51 = BVerfGE 2, 13.

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lensbildung sind, (3) Gewaltenteilung, (4) Verantwortlichkeit der Regierung (5) die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, (6) die Unabhängigkeit der Gerichte, (7) das Mehrparteienprinzip, (8) Chancengleichheit für alle politischen Parteien sowie die verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. Seither ist die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ der Maßstab des staatlichen Demokratiebegriffs. Ihr zugrunde liegt der repräsentative Parlamentarismus mit einer starken Konzentration auf die Parteien als Trägerinnen der politischen Willensbildung. Sie stehen im Zentrum des demokratischen Verfassungsstaats. Sie stehen daher auch im Zentrum der politischen Auseinandersetzung in Bezug auf sogenannte „antidemokratische Kräfte“. Sinnbildlich hierfür ist die anhaltende Diskussion um ein Verbot der NPD, das Holger Stahlknecht, neuer Innenminister in Sachsen-Anhalt, nach dem gescheiterten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 2003 derzeit gerne wieder in Gang setzen möchte. Über Parteigrenzen hinweg ist dies jedoch hoch umstritten. Dessen tatsächliche Umsetzung liegt in weiter Ferne und es ist im Übrigen auch gar nicht relevant, möglicherweise sogar kontraproduktiv. Insofern können die Argumente für oder gegen ein NPD-Verbotsverfahren an dieser Stelle dahinstehen. Nicht unwichtig ist jedoch die Beobachtung, welche Schlüsse aus der verfassungsrechtlichen Definition der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gezogen werden. Gemeint ist die Abgrenzung zu den vermeintlichen „Feinden der Demokratie“. Das Verfassungsgericht selbst stellt fest, dass die zuvor definierte Grundordnung eine wertgebundene ist, nämlich beruhend auf der Menschenwürde und den Prinzipien der

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Freiheit und der Gleichheit.2 Obwohl es erkennt, dass die Regierung so versucht sein könnte, eine unliebsame Opposition zu beseitigen,3 ist es gewiss, dies mit der Benennung unabdingbarer Verfassungsprinzipien zu verhindern. Es verkennt dabei jedoch zugleich, dass auch Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit nicht nur immer wieder zu erkämpfende, sondern auch ebenso unterschiedlich definierbare Werte sind, deren Deutungshoheit in einer repräsentativen Demokratie der jeweils parlamentarischen Mehrheit obliegt.4 Politischer Extremismus Nur so ist letztlich auch die Lehre vom „Politischen Extremismus“ zu verstehen. Als extremistisch müssen demnach jene gelten, die sich gegen Grundprinzipien des demokratischen Verfassungsstaats wenden. 5 Wer eine Partei oder eine Vereinigung als extrem einstufen will, müsse nicht warten, bis diese Gewalt anwendet oder propagiert.6 „Rechtsextremismus“ soll demnach eine Sammelbezeichnung für jene Strömungen sein, die das Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit verwerfen und sich nationalistisch gebärden.7 Als „linksextremistisch“ seien dagegen solchen Strömungen zu bezeichnen, die nach eigenem Anspruch jegliche Herrschaft des Menschen über den Menschen durch eine Verabsolutierung des Gleichheitsgebots abschaffen wollen.8 Die 2 BVerfGE 2, 1, 12. 3 BVerfGE 2, 1, 11. 4 Backes/Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 29. 5 Backes/Jesse, (Fn 4), S. 42; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, S. 265. 6 Jesse, (Fn 5), S. 265. 7 Jesse, (Fn 5), S. 267. 8 Jesse, (Fn 5), S. 267; Edinger, Links- und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, S. 7.

Schubladen bestimmen unseren Alltag Argumente 1/2011


„kapitalistische Klassengesellschaft“ gelte dabei als die Ausgeburt des Bösen.9 Derartige Definitionen werden im politischen Kontext gerne aufgegriffen. Ihre Abstraktheit und ihr unbestimmter Tenor führen jedoch zu jener ungewollten Unterdrückung unliebsamer Oppositionen. Mit staatlichem Auftrag werden als „links-“ und „rechtsextremistisch“, wie auch „islamistisch“ definierte Organisationen beobachtet, öffentlich denunziert und gegebenenfalls verboten. Interessant ist dabei auch, dass die Definition eben jener Behörde, die diesen staatlichen Auftrag wahrnimmt, zugleich die Formulierung des Auftrags selbst ist. So verwendet die Bundesregierung nicht etwa einen wissenschaftlich geprägten „Extremismusbegriff“, sondern den des Verfassungsschutzes.10 Folge dieser abstrusen Regierungspraxis ist nicht nur die willkürliche Beobachtung unliebsamer Oppositionsparteien, sondern auch die Disziplinierung zivilgesellschaftlicher Projekte. So wurden unmittelbar nach der Regierungsübernahme von CDU/CSU und FDP Mittel für derartige Projekte gekürzt, indem die bestehenden Bundesprogramme allgemein auf „jede Art des Extremismus“ ausgeweitet,11 nicht aber wesentlich finanziell aufgestockt wurden. Mittelkürzungen waren die Folge. Zudem kommen seit Anfang 2011 nur noch diejenigen Organisationen in den Genuss einer staatlichen Förderung, die zuvor eine gesonderte Erklärung zur Verfassungstreue abgaben.12 Der 9 Jesse, (Fn 5), S. 267. 10 Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Daniela Kolbe, Petra Ernstberger, u.a. und der Fraktion der SPD – BT-Drs. 17/2041 vom 09.06.2010, BT-Drs. 17/2298, S. 2. 11 BT-Drs. 17/2298, S. 1. 12 Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Daniela Kolbe – BT-Drs. 17/4153, BT-Drs. 17/8904.

spröde Disziplinierungsversuch der Bundesfamilienministerin hat so selbst den Boden der Verfassung verlassen – wegen der Einschränkung von Meinungs-, Handlungs-, Bekenntnis- und Vereinigungsfreiheit. Unklar ist nämlich, welcher Zusammenhang zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und etwa dem Bekenntnis zur Ausgestaltung des grundgesetzlichen Asylrechts, der Wehrpflicht oder etwa dem Länderfinanzausgleich bestehen soll. Nicht ohne Grund kommen daher mehrere Rechtsgutachten zu dem Schluss, der von Kristina Schröder und der Bundesregierung eingeschlagene Weg selbst ist verfassungswidrig.13 Kategorisierung ist Schubladendenken Wegen der Abstraktheit der ExtremismusDefinition ist eine Kategorisierung gesellschaftlicher Gruppen kaum möglich, erst recht nicht, wenn zugleich ein geschlossenes Weltbild Voraussetzung der Zuordnung sein soll. Tatsächlich geht die heute gängige Kategorisierung des politischen Spektrums in „rechts“ und „links“ auf die Sitzordnung in der Französischen Nationalversammlung von 1789 zurück. Die heute nicht mehr zeitgemäße Einteilung orientiert sich an einer unbestimmten „Mitte der Gesellschaft“, die mangels trennscharfer Definition ihrer Ränder kaum ausgemacht werden kann.14 Während verfassungsfeindliche Parteien vom Bundesverfassungsgericht noch negativ anhand der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ definiert wurden15, versu13 Battis, Zur Zulässigkeit der „Extremismusklausel“ im Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“; Georgi, Bekenntnisklausel im Zuwendungsbereich, S. 20. 14 Neugebauer, Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus, S. 14. 15 BVerfGE 2, 12 f.

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chen Teile aus Wissenschaft und Politik, einzelne „extremistische“ Bestrebungen positiv zu formulieren. Im Fokus steht dabei allerdings ganz überwiegend die Definition des „Rechtsextremismus“.16 Linksextremismus Ausgehend von der Annahme der „Demokratiefeindlichkeit“ und der Negierung grundgesetzlich verankerter Menschenrechte, die als gefährlich und bedrohlich zu empfinden seien,17 ist eine plausible Umschreibung des „Linksextremismus“ bisher weder wissenschaftlich noch gesellschaftspolitisch gelungen.18 Exemplarisch soll hier – neben einer wissenschaftlichen – die Ansicht der Bundesregierung genügen, die besonders „linksextremistische“ Merkmale in den Schlagwörtern „Antirepression“, „Antimilitarismus“ und „Antifaschismus“ erblickt.19 Belustigend gar ist eine Definition, die im „Linksextremismus“ folgende Merkmale vereinigt sieht: „sozialistische Wirtschaftsordnung“, „sozialistische Gesellschaftsordnung“, „sozialistische Herrschaftsordnung“, „Antikapitalismus“, „Internationalismus“.20 Weshalb die Kritik an kapitalistischer Verwertungslogik, insbesondere im Nachgang der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, dem Gedanken unserer Verfassung entgegenstehen soll, erschließt sich zumindest bei der Lektüre des Grundgesetzes nicht ansatzweise. Ebenso verhält es sich mit einer pazifistischen Grundhaltung oder dem Gedanken internationaler Solidarität. In diesem Kontext müssten selbst 16 Vgl. Neugebauer, (Fn 14), S. 16. 17 Neugebauer, (Fn 14), S. 14. 18 Heimann, Linksradikalismus und Linksextremismus, S. 404. 19 BT-Drs. 17/2298, S. 2. 20 Edinger, (Fn 8), S. 7.

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Teile der SPD im Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen stehen, bei weiter Interpretation auch der Arbeitnehmer_innenflügel der CDU. Es macht daher wenig Sinn, alle Phänomene bezüglich kapitalismuskristischer bzw. -feindlicher Einstellungen, Verhaltensweisen oder Systeme „in einen Topf“ zu werfen.21 Rechtsextremismus Definitionsversuche des sogenannten „Rechtsextremismus“ orientieren sich hingegen zumeist an Einstellungsmustern. Ganz überwiegend werden hierbei autoritaristische, nationalistische, fremdenfeindliche, chauvinistische, antisemitische oder pronazistische Einstellungen angeführt.22 Eine Konsensgruppe von Sozialwissenschaftler_ innen rund um die Leipziger Wissenschaftler Decker und Brähler den „Rechtsextremismus“ 2006 als ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Element Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich in den Dimensionen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur, nationaler Chauvinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus.23 Ein geschlossenes „rechtsextremes“ Weltbild soll sich aus mehreren Einstellungsmustern zusammensetzen, wobei jedoch kein allgemeiner Konsens darüber existiert, welche Bestandteile ein solches ausmachen.24 Neben der Einstellungs- soll zugleich auch die Handlungsebene eine Rolle spie21 Neugebauer, (Fn 14), S. 31. 22 Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 25 f. 23 Hövermann/Küpper/Zick, Die Abwertung der Anderen, S. 29. 24 Brähler/Decker/Geißler, Vom Rand zur Mitte, S. 13.

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len.25 Gemeint sind gewaltvolle Auseinandersetzungen aufgrund bestehender Einstellungen, die Mitgliedschaft in einer als „rechtsextremistisch“ beobachteten Partei oder etwa das persönliche Wahlverhalten.26 Allerdings müssen auch diese Defintionsversuche verwundern, wenn man die genannten Einstellungsmuster auf die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ projiziert oder gar auf die sich als dem „demokratischen Spektrum“ zugehörig bezeichnenden Parteien. Insofern ist der Begriff des „Rechtsextremismus“ auch in den Sozialwissenschaften umstritten und unklar. Es existiert keine allgemein anerkannte Definition und schon gar keine Theorie des „Rechtsextremismus“.27 In der neueren Wissenschaft wird auch die Verwendung des Begriffs kritisch gesehen, nur wegen der scheinbaren Notwendigkeit einer Sammelbezeichnung dennoch gebraucht.28 Insgesamt ist festzuhalten, dass sich die Extremismustheorie und alle mit ihr verbundenen Definitionen eindimensional an einem normativen Demokratieverständnis orientieren.29 Damit wird sie der Komplexität der Verhältnisse nicht gerecht, sondern behindert eher die Forschung zu den einzelnen Merkmalen der ihnen zugehörigen Einstellungen oder Verhaltensmuster.30 Zudem sind die untersuchten Einstellungen allesamt in der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ anzutreffen.31 Es handelt sich somit keineswegs um Randphänomene, wie 25 Brähler/Decker/Geißler, (Fn 24), S. 12; Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. 26 Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, S. 25. 27 Stöss, (Fn 22), S.13; Brähler/Decker/Kiess/Weißmann, Die Mitte in der Krise, S. 10 ff. m.w.N. 28 Vgl. Brähler/Decker/Kiess/Weißmann, (Fn 27), S. 17 f.; Brähler/Decker/Geißler, (Fn 24), S. 11. 29 Winkler, Jürgen R., Rechtsextremismus, S. 45. 30 Neugebauer, (Fn 14), S. 31.

es der Begriff des „Extremismus“ gerne suggerieren würde.32 Wenn schon die Definitionen der scheinbaren „Extremismen“ nicht gelingen, so muss eine Abgrenzung zum „Links-“ bzw. „Rechtspopulismus“ erst recht scheitern. Fraglich ist indes auch, welche Aussage hinter einer solchen Abgrenzung steckt, wenn beispielsweise „Rechtspopulismus“ die Einstellungsmuster des sogenannten „Rechtsextremismus“ auf sich vereinigen soll, nicht aber die Akzeptanz von Gewalt.33 Erfahren Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im „rechtspopulistischen Kleid“ so möglicherweise eine Aufwertung? Freilich ist es notwendig, auch den Aspekt der Handlungsebene nicht unerwähnt zu lassen. Allerdings wird auch dort gehandelt, wo landläufig von „Rechtspopulismus“ gesprochen wird. Diese Einstellungen innerhalb sogenannter „demokratischer“ Parteien sind es, die zu einer faktischen Aushebelung des Asylrechts Mitte der 1990er Jahre führten, mit denen Roland Koch seinen Wahlerfolg in Hessen erreichte,34 mit denen Jürgen Rüttgers abermals versuchte, nordrhein-westfälischer Ministerpräsident zu werden,35 mit denen die CDU in Sach31 Vgl. u.a. Brähler/Decker/Kiess/Weißmann, (Fn 27); Brähler/Decker/Geißler, (Fn 24); Hövermann/ Küpper/Zick, (Fn 23); Heitmeyer, Deutsche Zustände; Stöss, (Fn 22). 32 Butterwegge, Gegenwärtiger Stand und Perspektiven der Rechtsextremismusforschung, S. 28 33 Hövermann/Küpper/Zick, (Fn 23), S. 29. 34 Im Wahlkampf seines ersten Wahlerfolges ließ Roland Koch eine Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft durchführen. Während des Kopf-an-Kopf-Rennens mit seiner SPD-Herausforderin, Andrea Ypsilanti, thematisierte er im Wahlkampf die zunehmende Kriminalität ausländischer Jugendlicher und wertete den Spitzenkandidaten der Grünen wegen dessen Migrationshintergrundes öffentlich in seinen Äußerungen ab. 35 Bekannt wurde dies durch die Aufzeichnung einer Wahlkampfrede, in der Rüttgers offen über „arbeitsfaule Rumänen“ herzog.

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sen-Anhalt36 stärkste Kraft bei der Wahl 2011 wurde oder mit denen Sarrazin die öffentliche „Integrationsdebatte“ vereinnahmt. In den verschiedenen Gesetzen finden sich zudem Regelungen, die Menschen explizit aufgrund ihrer Herkunft diskriminieren. Expemplarisch seien Unterschiede im Existenzminimum nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und dem Sozialgesetzbuch II (ALG II oder „Hartz IV), die kriminalistische Erfassung des Herkunftslands in der polizeilichen Kriminalstatistik mit zweifelhaftem Erkenntnisgewinn, die Zuweisung zu einzelnen Regierungsbezirken mit faktischem Hausarrest über die Residenzpflichtregelung oder die Versagung des aktiven und passiven Wahlrechts – mindestens auf kommunaler Ebene – für „ausländische“ Bewohner_innen.

Will man die problematisierten Einstellungen zielgerichtet untersuchen und im politischen Kontext auch denen gegenüber problematisieren, die sich durch die Sammelbezeichnung „Rechts-“ oder „Linksextremist_in“ nicht angesprochen fühlen, sollte eher von „Diskriminierung“, „Abwertung“ oder „Vorurteilen“ gesprochen werden.37 Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld prägte den Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit,38 dem sich auch Teile der politischen

Praxis anschlossen.39 Konstrukte des sogenannten Syndroms, mithin Untersuchungsgegenstand, sind Rassismus, Heterophobie, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Etabliertenvorrechte und der klassische Sexismus.40 Freilich sind dadurch nicht alle Diskriminierungsformen erfasst. Nicht thematisiert werden beispielsweise Diskriminierungsformen wie der Klassismus41, Ableismus42, Adultismus43 oder die noch immer existierende WestOst-Diskriminierung.44 Neben der Ablehnung der Extremismustheorie ist es stets auch erforderlich, den eigenen Sprachgebrauch hinsichtlich verfestigter Begriffe zu reflektieren, um dem Mainstream alt eingesessener Strukturen entgegenzuwirken. Dabei ist es auch notwendig, den Blick nicht allein auf diejenigen zu richten, die ihre Programmatik auf die Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen fokussieren und bereit sind, diese gewaltvoll durchzusetzen. Es geht auch darum, Menschen in den gesellschaftlichen Alltag zu integrieren, indem Partizipationsmöglichkeiten geschaffen, Alltagsdiskriminierungen entgegengewirkt und im zwischenmenschlichen Umgang thematisiert werden. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Programme, Opferberatungen, mobile Beratungsteams, antifaschistische Archive, etc. versuchen genau das. Ein erster Schritt ist die Sicherstellung ihrer langfristigen Existenz. und Nachhaltigkeit ihrer Arbeit. Dabei geht es aber auch um die Evaluation der bisherigen

36 In ihrem Wahlprogramm bekennt sich die CDU Sachsen-Anhalt u.a. „zur besonderen Verantwortung gegenüberMenschen deutscher Abstammung [...], deren Familien wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit ein besonders schweres Krisenfolgenschicksal erleiden mussten.“, Pkt. 5.9; vgl. auch Pkt. 3.14, 5.3, 5.10, 13., 13.2, 16.4. 37 Vgl. Hövermann/Küpper/Zick, (Fn 23). 38 Heitmeyer, Deutsche Zustände. Folge 1, S. 15 ff.

39 Vgl. etwa Anetta Kahane, Reflektieren. Erkennen. Verändern., S. 6. 40 Heitmeyer, (Fn 38). 41 Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. 42 Diskriminierung aufgrund der Behinderung. 43 Diskriminierung aufgrund des Alters; auch Ageismus als besondere Form der Altersdiskriminierung. 44 Vgl. auch Czollek/Perko/Weinbach, Gender und Queer.

Fazit

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zivilgesellschaftlichen Praxis, ebenso wie die Untersuchung der bestehenden materiellen gesetzlichen Regelungen hinsichtlich deren Diskriminierungsgehalts. Entsprechende Landesprogramme können hierbei eine Orientierungshilfe bieten. So muss auch die Bedeutung des Verfassungsschutzes sowie die Verbots- und Repressionspraxis hinsichtlich unliebsamer Vereinigungen und Gruppen in Frage gestellt werden. Letztlich geht es um die Partizipation aller Teile der Gesellschaft, die Integration von Mindermeinungen, das Erlernen und frühzeitige Ermöglichen von Teilhabe und Mitbestimmung und die Gewährleistung unantastbarer Menschenrechte, wie die Handlungs- und Persönlichkeitsfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Menschenwürde und Glaubensfreiheit. Nach der sogenannten Linkswende der Jusos im Jahr 1969 war ein Schwerpunkt jungsozialistischer Politik die Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche. Dies gilt es fortzusetzen.

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Literatur: Backes, Uwe / Jesse Eckhard, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1996 Battis, Ulrich, Zur Zulässigkeit der „Extremismusklausel“ im Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“, Berlin 29. November 2010 Brähler, Elmar/Decker, Oliver/Geißler, Norman, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Friedrich-EbertStiftung, Berlin 2006 Brähler, Elmar/Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Weißmann, Marliese, Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Friedrich-EbertStiftung, Berlin 2010 Butterwegge, Christoph, Entwicklung, Gegenwärtiger Stand und Perspektiven der Rechtsextremismusforschung, in: Butterwegge, Christoph/Griese, Birgit/ Krüger, Coerw/Meier, Lüder/Niermann, Gunther, Rechtsextremisten in Parlamenten, Opladen, 1997, S. 9-53 Czollek, Leah C./Perko, Gudrun/Weinbach, Heike, Gender und Queer. Ein Lehrbuch, Weinheim 2009 Edinger, Michael, Forschungsprojekt LIREX, „Linksund rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“, Jena 2010 Georgii, Harald, Bekenntnisklausel im Zuwendungsbereich, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages – WD 3 – 3000 – 505/10, Berlin 13. Januar 2011 Heimann, Horst, Linksradikalismus und Linksextremismus, in: Lexikon des Sozialismus, Köln 1986. Heitmeyer, Wilhelm, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation, Juventa Verlag, Weinheim 1987 Heitmeyer, Wilhelm, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: Deutsche Zustände. Folge 1, Bielefeld 2002, S. 15-36.

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Hövermann, Andreas/Küpper, Beate/ Zick, Andreas, Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2011 Jesse, Eckhard, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, Nomos Verlagsgesellschaft, BadenBaden 1997 Kahane, Anetta u.a., Reflektieren. Erkennen. Verändern. Was tun gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?, Amadeu-Antonio-Stiftung, Berlin 2006 Neugebauer, Gero, Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen

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und Forschungsergebnissen, in: Schubarth, Wilfried/ Stöss, Richard, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000, S. 13-37 Stöss, Richard, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, 3. Auflage, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2000 Stöss, Richard, Rechtsextremismus im Wandel, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2005 Winkler, Jürgen R., Rechtsextremismus. Gegenstand – Erklärungsansätze – Grundprobleme, in: Schubarth, Wilfried/Stöss, Richard, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000, S. 38-68

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DAS GUTE UNTERNEHMEN – DER REGIONALE GENOSSENSCHAFTSVERBUND Von Ole Erdmann, stellvertretender Vorsitzender der SPD Bonn

Schwerpunkt

Die SPD diskutiert 2011 ihren Fortschrittsbegriff. Es gilt, Fehlentwicklungen der letzten Jahre politisch Rechnung zu tragen. Eine neue Allianz zwischen progressivem Bürgertum über die abhängig Beschäftigten bis hin zum Prekariat ist dafür notwendig. Dazu wird in der SPD u.a. an den Themenblöcken Direkte Demokratie, Beschäftigung, Umwelt und Finanzpolitik gearbeitet. Zwar findet sich die Stärkung der Mitbestimmung häufig in den dazu vorgelegten Papieren. Auch über Bändigung des Finanzmarktkapitalismus wird gesprochen. Die systemischen Funktionsmängel des Finanzmarktkapitalismus sind aber nicht allein mit Versatzstücken wie der Stärkung z.B. von Betriebsräten bei Unternehmensübernahmen oder Umstrukturierungen oder der Einführung einer Finanztransaktionssteuer zu überwinden. An umfassenden Vorschlägen zur Gestaltung der Rahmenbedingungen (Makroebene) für einen guten Kapita-

lismus mangelt es nicht1. Im Folgenden soll allerdings der Blick auf die Mikroebene gerichtet werden. Dies hat strategische und inhaltliche Gründe. Im Mittelpunkt steht also die Frage der betrieblichen Organisation alltäglicher Wirtschaftsprozesse und das Verhältnis von Partizipation am und Verantwortung für das Ergebnis von Wirtschaftsprozessen in Unternehmen. Die in Umfragen seit Jahren immer wieder nachgewiesenen Skepsis eines erheblichen Teils der Menschen in Deutschland – in einer Befragung in Westdeutschland von 2010 bewerten 39 % das Wirtschaftssystem als nicht überlebensfähig (!)2 – gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsweise findet keinen wahrnehmbaren Niederschlag in betrieblichen Alternativmodellen. So bleibt es bei Kritik und bestenfalls bei 1 Herr, Hansjörg; Kellermann, Christian; Dullien, Sebastian: „Der gute Kapitalismus“, transkript Verlag, Bielefeld 2009 2 Dörre, Klaus „Wirtschaftsdemokratie – eine Bedingung für individuelle Emanzipation“ in spw 180, Dortmund 2010

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abstrakten Änderungsvorschlägen für eine andere makroökonomische Politik. In Elmar Altvaters Buch „Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen“ nimmt die Frage, wie denn nun fortschrittlich, nichtkapitalistisches Wirtschaften auf der Mikroebene, also im Betrieb, aussehen könne, gerade mal wenige Seiten ein3. Auch die umfassende Kapitalismusanalyse von Hansgeorg Conert befasst sich nach 458 Seiten für genau 19 Seiten eher abstrakt mit der Frage, wie ein sozialistisches Wirtschaften denn nun funktionieren könnte4. Dieses Missverhältnis praktikabler Ansätze für eine sozialistische Betriebswirtschaft und eine umsetzungstaugliche Transformationsprogrammatik hat schon Klaus Novy in den 70iger Jahren in seiner umfassenden Analyse der Sozialisierungsstrategien der Arbeiterbewegung zu Beginn des 20 Jh. hingewiesen: „Gewiss ist das Fehlen konkreter Transformationsstrategien und ihrer Ökonomie nicht einzige, sicherlich aber eine der entscheidenden Ursachen sozialistischer Regierungsunfähigkeit.5“ Mit Blick auf die Debatten bei den Jusos zu Beginn der 1970iger Jahre stellt er fest: „Wenn im Umkreis der jungsozialistischen Theoriediskussion beispielsweise die Forderung nach der Verstaatlichung der Banken aufkommt, so impliziert der fehlende Rekurs auf die intensive Debatte um dieses Thema in der Zeit zwischen 1918 und 1933 einen Rückfall hinter ein historisch schon einmal erreichtes Komplexitätsniveau der Auseinander3 Altvater, Elmar: „Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn Kennen“, S. 202Ff; Westfälisches Dampfboot, Münster 2006 4 Conert, Hansgeorg: „Vom Handelskapital zur Globaisieirung“, Westfälisches Dampfboot, Münster 1998 5 Novy, Klaus: Strategien der Sozialisisierung“; S. 14; campus Verlag Frankfurt a.M. 1978

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setzung; (...)6“. Wurde in der besagten Theoriediskussion der Sozialisierungsbegriff noch synonym mit einer sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft gesetzt, so wird heute über die Ausgestaltung sozialistischer Wirtschaftsmodelle und damit sozialistischer Betriebe nicht einmal mehr wahrnehmbar diskutiert, geschweige denn der historisch Erfahrungsschatz der Arbeiterbewegung dazu zu rate gezogen. Die Sozialdemokratie sollte sich vor diesem Hintergrund ihrer historischen Stärke bewusst werden, dass sie immer auch konkretes Wirtschaftshandeln selbst gestaltet hat, und nicht nur auf den „großen Kladderadatsch“ (Friedrich Engels) gewartet hat. Inhaltlich geht es also darum, praktikable betriebswirtschaftliche Konzepte für eine emanzipatorische Gestaltung der Wirtschaftsprozesse auf Mikroebene zu entwickeln. Strategisch geht es darum, die Interessen von Millionen von Arbeitnehmern und Verbrauchern, die partizipieren möchten und können, zu berücksichtigen und ihnen sozialdemokratische Angebote für eine Neugestaltung ihrer Arbeitsplätze und der Betriebe, in denen und mit denen sie arbeiten, zu machen. Es kann dabei nicht um ein alleingültiges Idealmodell eines sozialistischen Betriebes gehen, wohl aber um deutlich über Mitbestimmung und Umweltauflagen hinausgehende Unternehmensmodelle für eine progressive Wirtschaftsweise. Warum Unternehmen? Unternehmen werden im Kapitalismus mit dem Ziel gegründet, die Marktverhältnisse intern auszuschalten (Reduktion der Transaktionskosten, die bei Bereitstellung von Produktionsfaktoren auf dem Markt anfal6 Ebd., S.21

Das gute Unternehmen – der regionale Genossenschaftsverbund Argumente 1/2011


len würden7) und in einer strategisch steuerbaren Einheit die Produktionsfaktoren so zu kombinieren, dass das Ziel der Einheit nachhaltig erreicht werden kann. Befindet sich das Unternehmen in Privatbesitz, so ist das vorrangige Ziel der Eigentümer die Gewinnerwirtschaftung, d.h. die Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Diese Eigentümer haben unterschiedliche Informationsund Wissensstände, eigene Abhängigkeiten oder machtpolitische Ziele innerhalb des Unternehmens. Das operative Management steht zwar formal in der Abhängigkeit vom Eigentümer, hat jedoch große Informations- und Handlungsvorsprünge gegenüber diesem. Das damit aufgeworfene principalagent-Problem hat lange Zeit die betriebswirtschaftliche Diskussion um Unternehmensführung geprägt8. Der Trend zum Finanzmarktkapitalismus hat die Position des im rheinischen Kapitalismus erstarkten Managements (oft in enger Kooperation mit der Arbeitnehmerseite im Betrieb oder der Branche) wieder verändert bzw. geschwächt. Das Diktat der in kurzen Zeitperioden getakteten Finanzmarktes und seiner Renditeerwartungen macht einerseits das Management zu getriebenen der Eigentümererwartungen. Die betrieblichen Konsequenzen daraus sind vielfach untersucht worden und sind wichtige Triebkräfte für das Wiederaufkommen der Diskussion um Wirtschaftsdemokratie9. Die Möglichkeiten 7 Vgl Williamson, Oliver E.: „Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus: Unternehmen, Märkte, Kooperationen.“ Tübingen, 1990 8 Steinmann, Schreyögg: „Grundlagen der Unternehmensführung“, S. 89-94; Gabler Verlag, Wiesbaden 2000 9 Vgl. Dörre, Brinkmann: „Finanzmarktkapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells?“ in: Finanzmarktkapitalismus, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45/2005, VS Verlag, Wiesbaden 2005

des Betriebsverfassungsgesetzes ebenso wie die gerade in Klein- und Mittelständische Unternehmen (KMU’s) eben gar nicht erst verbreitete verfasste Mitbestimmung lassen hier kaum eine konsequente Antwort im Sinne langfristig (sozial und ökologisch) nachhaltigen Wirtschaftens zu. Zu begrenzt sind ihre Handlungsmöglichkeiten gegenüber den privaten Shareholdern und den hegemonialen Kräften der Kapitalseite. Andererseits nimmt die regionale Einbettung der Eigentümer durch die Tendenz zur Internationalisierung ab. Ein regionaler Referenzrahmen für unternehmerisches Handeln verliert damit an Bedeutung. In diesem Rahmen sind Eigentümer und die Stakeholder des Unternehmens in der Verantwortung gegenüber der Stadt und Region, den dort lebenden Beschäftigten und den dort wirkenden Rahmenbedingungen. Die Nutzung eines regionalen Umfeldes und der dort verorteten Stakeholder ist existenziell für den mittelfristig tragfähigen Bestand eines Unternehmens. Kommunale Investitionen in Schulen, Straßen, Kultur und Erholungsangebote oder Netzinfrastruktur sind langfristig angelegte und wirkende Investitionen. Es besteht ein Fristenproblem, da unternehmenspolitische Entscheidungen, die ein in Quartalszahlen getaktetes Management fällt, immer schwieriger in Einklang mit solchen langfristigen Standortpolitiken zu bringen sind10. Die hier beschriebenen Trends wirken bis hinein in den Bereich von privaten Unternehmen, die landläufig als Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU’s) bezeichnet werden. Ihre Eigentümerstruktur und die sich daraus ergebenden Investitionsentscheidungen werden zwar durch international agierende Investoren und Banken 10 ebenda.

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zunehmend ebenfalls beeinflusst, dies geschieht jedoch weniger als bei Großunternehmen. Grund sind die starke Verflechtung mit regional begrenzten Märkten und oftmals auch die Eigenschaft als Familienunternehmen, bei denen bei den Eigentümern auch andere, als reine Profitziele von Bedeutung sind. Im Sinne wirtschaftsdemokratischer Überlegungen ist dies jedoch keinesfalls mit einem strukturellen Vorteil aus Arbeitnehmersicht verbunden. Im Gegenteil wirken hier oftmals paternalistische Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse, die dem Konzept von Wirtschaftsdemokratie fundamental entgegenstehen11. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass Mitarbeiter- und Belegschaftsinteressen oftmals nicht deckungsgleich sind mit gesellschaftlichen Interessen wie sie in der Kommune oder auch überregional definiert werden. So kann ein Betreiber eines Atomkraftwerkes oder ein Automobilzulieferer eben andere Ziele verfolgen, als eine Kommunale Bürgerschaft, die den ÖPNV oder Solarenergie fördern möchte. Folgen für sozialdemokratische Programmatik Ausgehend von den oben beschriebenen Merkmalen und Bedingungen für Unternehmen in der derzeitigen Kapitalismusausprägung gilt es, zunächst die Frage nach der Marktordung zu stellen, in der progressive Unternehmen einen alternativen Wirtschaftsansatz realisieren können. Anschließend ist die Eigentums- und Umfeldstruktur von Unternehmen zu betrachten, mit denen wirtschaftsdemokratische Unternehmensmodelle umgesetzt werden können. 11 Vgl. Böckler-Impuls Ausgabe 3/2009: „Zonen der Ratlosigkeit“

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Verbindung von Markt und Plan Die Sozialdemokratie hat auf die ordnungspolitische Diskussion welche Steuerung der Wirtschaft sinnvoller und praktikabler sei, schon lange eine allgemeine Antwort gefunden: der Markt ist Grundlage des wirtschaftlichen Handelns, d.h. dezentrale Entscheidungen autonomer Wirtschaftssubjekte über Investitionen und Einsatz von Produktionsmitteln, vermittelt über Preissignale. Der Plan, d.h. der politisch regulierende Eingriff des Staates (der Zentrale), kommt dort zum Tragen, wo der Markt von allein nicht im gesellschaftlich gewünschten Sinne funktioniert. An der effizienten Gestaltung dieser Allokation sind die uns bekannten zentralen Planwirtschaften regelmäßig gescheitert, da sie keine funktionierendes Verfahren zur Verarbeitung der dezentral verfügbaren Informationen (über Nachfrage und Angebot von Produktionsfaktoren und Gütern) entwickeln konnten. Umgekehrt scheitern Einzelunternehmen in Marktwirtschaften regelmäßig daran, indem sie ihr Eigeninteresse verfolgen, gesellschaftliche notwendige Ziele wie soziale Balance und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu verwirklichen. Aus diesem Grund haben wir heute in den Marktwirtschaften der westlichen Industrieländer, insbesondere mit dem deutschen Modell, eine Mischwirtschaft aus Markt- und Planwirtschaft. Zwar halten private Kapitalbesitzer das Eigentum über die Produktionsmittel und treffen ihre Investitionsentscheidungen autonom im Hinblick auf den Markt, jedoch können sie dies nur unter Einhaltung eines komplexen Regimes an Normen, Auflagen und Regeln tun. Zudem wird ein erheblicher Teil der wirtschaftlichen Tätigkeiten unter öffentlicher Verantwortung ausgeübt. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Markt- und Planwirt-

Das gute Unternehmen – der regionale Genossenschaftsverbund Argumente 1/2011


schaft ist durch die ideologische Polarisierung in Wissenschaft und Politik begründet, in der Plan mit Sozialismus und Markt mit Kapitalismus gleichgesetzt wurde. Beide Gleichsetzungen sind unzutreffend und verstellen den Blick auf mögliche Lösungen wirtschaftlicher Probleme12. Die Ausweitung der Wirtschaftsdemokratie erfordert eine dezentrale Steuerung von Wirtschaftsprozessen, also eine große Entscheidungsautonomie der ökonomischen Akteure. Dazu ist auf eine marktwirtschaftliche Ordnung zurückzugreifen, da sonst innerbetriebliche oder auch lokale Demokratie als lediglich ausführende Einheiten eines zentralen Plans reale Gestaltungsmöglichkeiten beraubt wären, ganz abgesehen von den bekannten volkswirtschaftlichen Nachteilen einer Zentralplanwirtschaft13. Selbstorganisation im regionalen Verbund Die dezentrale Verteilung von wirtschaftlich relevanten Informationen, also Wissen, lässt sich nicht nur abstrakt im gesamtwirtschaftlichen Rahmen (Unternehmen, Verbraucher), sondern auch konkreter innerhalb von Unternehmen feststellen. Hier geht es darum, dass die MitarbeiterInnen eines Unternehmens in einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie der entscheidende Produktionsfaktor sind. Das Wissen der Mitarbeiter wird im Bereich der Förderung von Innovationen zunehmend als strategi12 Vgl. Karl Georg Zinn, „Zur Ordnungspolitischen Diskussion: Markt oder Plan?“, in „Arbeiterselbstverwaltung“, Arne Heise (Hg), München 1989, S. 29ff 13 Eckhard Bergmann, Dietmar Krischausky, „Selbstverwaltung, Anarchie und Märkte“, in „Arbeiterselbstverwaltung“, Arne Heise (hg), München 1989, S. 21

sche Ressource begriffen. Die Hebung des „tacit knowledge“, das sich eben nicht in Form von Patenten am Markt erwerben lässt, sondern personal gebundenes Wissen und Kreativität ist, ist als Chance für wirtschaftsdemokratische Ansätze zu werten14. Ansätze wie open innovation, bei der kunden- und mitarbeiternah die Entwicklung von neuen Produkten und Dienstleistungen betrieben wird, sind Indizien für eine Entwicklung von Unternehmensführung, die anschlussfähig für wirtschaftsdemokratische Elemente ist15. Vorschläge für verbesserte Abläufe oder sogar patentierfähige Ideen in Unternehmen, lassen sich durch demokratische Einbindung der Mitarbeiter sowohl in ihren jeweiligen Fachgebieten und Abteilungen wie auch im Gesamtunternehmen organisieren. Auch spielt die Motivation der Mitarbeiter eine erhebliche Rolle bei dem gelingen von Innovationen, da von ihnen nicht nur die Ideen als Auslöser für Innovationen abhängen, sondern auch die Akzeptanz bei der Umsetzung von neuen Methoden, Verfahren und Produkten16. Ein wirtschaftsdemokratischer Ansatz, der maximal mögliche Mitarbeiterpartizipation ermöglicht, kann ist damit kein verstaubtes Ziel aus der sozialistischen Mottenkiste, sondern eine Möglichkeit zu beobachtende Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise in eine neue Wirtschaftsweise im hegelschen Sinne „aufzuheben“. Zur effektiven Beteiligung der Mitarbeiter oder auch des lokalen Betriebsumfeldes an betrieblichen Entscheidungsprozessen 14 Arno Brandt, „Exile on Mainstreet – ökonomische Perspektiven jenseits der Wallstreet“, in spw Heft 180, Ausgabe 5/2010, S. 35 15 ebenda, S. 36ff 16 Ulrich Klotz; Innovationen werden von Menschen gemacht!“, in Wissenschaftsnotzien 22, Berlin 2005, S. 48, Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

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kann zur Modifizierung des Zielsystems des Unternehmens führen, d.h. das neben das Gewinnerwirtschaftungsziel weitere Ziele wie etwa die umweltverträgliche Ausgestaltung der Produktion, angemessene Ausbildungsplätze in der Gemeinde oder eine familienfreundliche Arbeitsumgebung treten. Um dies dauerhaft zu gewährleisten ist neben den gesetzlichen Bestimmungen auf Dauer eine Veränderung der Eigentümerstruktur sinnvoll. Wenn die Belegschaft oder die Kommune am Betriebssitz über Eigentumsanteile Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen kann, sind Unternehmensentscheidungen zwar weiterhin von Marktlage und auch der Gewinnerwirtschaftung geprägt, müssen jedoch nachhaltiger auf weitere Aspekte des Wirtschaftsprozesses Rücksicht nehmen17. Wichtig ist hier auch, die Anreizsysteme in Unternehmen zu berücksichtigen. Der systematische Anreiz für die Mitarbeiter, das Wohl des Unternehmens durch Vorschläge für Verbesserungen und Innovationen voranzubringen, wächst mit dem Maß an wirtschaftlicher Mitverantwortung. Dass dies bei unternehmerischem Handeln auch bedeuten kann, negative Ergebnisse mittragen zu müssen, ist für viele innerhalb der Linken gerne zum Anlass genommen Mitarbeiterbeteiligungen abzulehnen. Der Anspruch an Mitgestaltung kann jedoch nicht ohne Anerkennung einer gleichmäßigen Risikoverteilung funktionieren. Die Beteiligung am Eigentum des Unternehmens kann klassisch auch durch die Genossenschaft organisiert werden. Das Prinzip eine Stimme pro Kopf in Versammlung der Eigentümer (Genossen) unabhängig von der Höhe des Genossenschaftsan17 vgl Vorschlag aus der IG Metall Region Stuttgart für einen Regionalfonds zum Ausgleich von Bankenrettungsmaßnehmen von 2009“

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teils ist die älteste und gesetzlich verankerte Form der unternehmerischen Demokratie in Deutschland und Europa. Die Stärkung der Genossenschaften schreibt sich zwar die SPD seit Jahrzehnten in Grundsatzprogramme oder sogar aktuelle Positionspapiere18, eine umfassende Genossenschaftsdiskussion, die endlich auch eine Entbürokratisierung des deutschen Genossenschaftsrechts ermöglichen würde, fehlt aber noch. Hier ist durch die Schaffung des Modells einer „kleinen Genossenschaft“ die Möglichkeit gegeben, die zahlreichen Vereine, Gmbhs oder GbRs, die in Deutschland im Bereich der sozialen Ökomomie, Stadtteilwirtschaft, Gesundheit, Kultur, Pflege u.ä.) existieren, in eine demokratische Unternehmensform zu bringen19. Anders als etwa in Italien oder Spanien ist die deutsche Genossenschaftstradition konservativ pro-kapitalistisch geprägt. Spätestens seit der Zerschlagung der Arbeitergenossenschaften (Kosum-, Wohnungs- und zum Teil auch Produktionsgenossenschaften) aus der Weimarer Zeit, lehnen die mächtigen Genossenschaftsverbände, die eine hohe Kontrolle und Regulierung gegenüber den Genossenschaften gesetzlich untermauert ausüben, einen emanzipatorisch-demokratisierenden Anspruch fundamental ab. Ca 7000 in Deutschland bestehende Genossenschaften fallen damit für die Stärkung von wirtschaftsdemokratischen Modellen politisch-strategisch weitgehend aus. Eine praktische Betrachtung lohnt sich jedoch, insbesondere im Bereich der Wohnungsgenossenschaften, die nach wie vor für Stadtteilentwicklung und sozial ausgeglichener Wohnraumversorgung eine 18 Vgl. Fortschrittspapier des SPD Parteivorstandes Januar 2011, S. 18 19 Vgl Burchart Bösche in WISO direkt, Dezember 2007; „Wieso brauchen wir die kleine Genossenschaft“

Das gute Unternehmen – der regionale Genossenschaftsverbund Argumente 1/2011


große Rolle in Deutschland spielen (http:// www.wohnungsbaugenossenschaften.de/). Andere Ansätze wie etwa die Überführung von ehemals öffentlichen Einrichtungen in Genossenschaftsbetriebe sind derzeit ebenfalls in der Diskussion. So werden Freibäder als Genossenschaft durch ihre Nutzer und die sie unterstützende lokale Umfeld betrieben20. Dies kann die Selbsthilfe und Selbstorganisationskräfte von lokalen Gemeinschaften aktiveren helfen. Neben den Formen, durch Miteigentümerschaft die Partizipation der Mitarbeiter zu stärken, ist ein weiterer wichtiger Aspekt für das gelingen alternativer Unternehmensformen von großer Bedeutung: die das Unternehmen umgebenden Strukturen und Akteure und die Beziehungen, die diese mit dem Unternehmen pflegen. Gehen wir bei diesem Ansatz davon aus, dass es grundsätzlich bei einer marktwirtschaftlichen Ordnung bei umfassender politischer Marktregulierung bleibt. Ein solches alternatives Unternehmen ist nun jedoch nicht nur von Wettbewerbern (auf dem Weltmarkt oder mindestens einem europäischen Markt) umgeben, sondern auch von potenziellen Partnern, die komplementäre Güter oder Dienstleistungen entlang der Weltschöpfungskette mit dem betrachteten Unternehmen austauschen, also etwa Kredite, technische Komponenten, Rohstoffe, Personal u.ä. Die Erkenntnis, dass regionale Bildung von Wachstumskernen um bestimmte Branchen über die so genannte Clusterbildung regionale Wirtschaftspotenziale entfalten helfen, ist in der staatlichen Wirtschaftsförderung ein seit Jahren verfolgter Ansatz21. Diesen gilt es auch für progressive Unternehmensformen mit ihren Spezifika (erweiterte Ziel20 http://www.neuegenossenschaften.de/gruendungen/ kultur_u_sport/Hallenbad_Noerten.html

funktion, komplexe Eigentümerstruktur, umfassende interne Mitbestimmung) zu nutzen. Die Einbettung in einen lokalen bzw. regionalen (also räumlich begrenzten) Verbund, der diese Eigenarten positiv bewertet und fördert bzw. nutzt, kann ein entscheidender Erfolgsfaktor sein. Schon heute stehen Unternehmen in ihrem lokalen bzw. regionalen Umfeld in vielfältigen Beziehungen zu Schulen und Berufsschulen, Banken, Dienstleistern, Universitäten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Zulieferern uvm. Vom Funktionieren dieser Beziehungen hängt der Erfolg auf dem Markt massiv ab. Dies ist auch für die Schaffung progressiver Wachstumskerne zu berücksichtigen. Ein „progressives Cluster“ ersetzt allerdings keinesfalls die makroökonomische Regulierung und Förderung progressiver Unternehmensmodelle durch die Politik. Das weltweit bekannteste Beispiel für ein Ineinandergreifen von umfassender demokratischer Mitarbeiterbeteiligung über eine Genossenschaftsform, Clusterbildung und regionaler Einbettung ist die Kooperative Mondragon in Spanien22. Entstanden aus einer Berufsschule, deren Absolventen in den 1950iger Jahren einen Betrieb zur Fertigung von Haushaltsöfen gründeten, hat sich ein Verbundkonzern entwickelt, in dem bis heute von über 80.000 Mitarbeitern fast 90% Miteigentümer ihrer Betriebe sind. Mehrere Banken im Besitz des Genossenschaftsverbundes stellen Finanzierungsmittel zur Verfügung. Marktbedingte Veränderungen beim Personalbedarf werden durch 21 Vgl Porter, Michael E.: Locations, Clusters and Company Strategy. In: Clark, G.L.; Feldman, M.P. und Gertler, M.S. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Economic Geography, New York 2000, S. 253ff 22 Christine Wicht: „Mondragón – eine Genossenschaftsbewegung trotzt der Finanzkrise“, www.humane-wirtschaft.de – 03/2009

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Umschulung und Umsetzung innerhalb des Verbundes mitarbeiterverträglich aufgefangen. Gehaltsspreizungen, d.h. das Verhältnis der höchsten zu den niedrigsten Gehältern von Mitarbeitern innerhalb des Unternehmens, sind auf 8:1 begrenzt, während man bei der Deutschen Bank ein Verhältnis 400:1 annimmt. Interne Rücklagen und Solidaritätsfonds sorgen für Unterstützung in Krisenzeiten und finanzieren soziale Projekte im Unternehmensumfeld23. Die Mitarbeiter, die auch Genossen sind, bestimmen über ein Delegiertensystem die Unternehmenspolitik mit und wählen die Konzernleitung. Eigene Ausbildungsstätten, Technologiezentren und sogar eine eigene Hochschule bieten eine eng mit der betrieblichen Realität und deren Anforderungen verbundene Ausbildung an. Selbst in Krisenzeiten wie 2009 gelang es dem Konzern, verglichen mit dem privatwirtschaftlichen Umfeld, die Beschäftigung weitgehend zu halten und die erweiterte Zielfunktion des Verbundes aufrechtzuerhalten. Sicher finden sich im Baskenland und in der Historie des Konzerns regionale Besonderheiten, die das Modell Mondragon nicht ohne weiteres in andere regionale Kontexte überführen lassen. Die erfolgreiche Verbindung der oben beschriebenen drei Elemente einer emanzipatorischen und wirtschaftsdemokratischen Unternehmensform (Mit-

bestimmung durch (Mit)Eigentum, regionale Einbettung, Verbund/Cluster) kann dieses Beispiel auf beeindruckende Art und Weise demonstrieren. Wirtschaftsdemokratie konkret: der regionale Genossenschaftsverbund Wie angedeutet ist ein Beispiel wie die Kooperative Mondragon voraussetzungsvoll. Rechtliche Rahmenbedingungen, Kooperationspolitiken, Wirtschaftsförderungspolitik für Clusterbildung, geeignete Förderprogramme bis hin zu steuerrechtlichen Anreizen sind politisch zu gestalten. Die Sozialdemokratie aber auch Gewerkschaften und progressive UnternehmerInnen sollten daraus lernen und an der Förderung der drei Elemente einer erfolgreichen wirtschaftsdemokratischen Unternehmensform politisch und praktisch mitarbeiten. Die Jusos können dabei Antreiber in einer neuen Diskussion um eine wirtschaftsdemokratische Betriebswirtschaft sein. Dafür müssten sie neben der Makropolitik stärker die Mikroebene in den Blick nehmen. Die Forderung nach einer Vermögenssteuer allein bringt uns keine neue Wirtschaftsweise. Betrieblichen Alternativen zu kapitalistischen Unternehmen im Hier und Jetzt zu entwickeln und zu fördern, ist inhaltlich wie strategisch deutlich wichtiger.

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23 Michael Krätke, „Wenn alle nützlich sind“, in: der Freitag, Ausgabe 20.05.2009

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GESCHLECHTERGERECHTE DEMOKRATIE. UTOPISCHER FLUCHTPUNKT MIT REALISIERUNGSCHANCE? Von Birgit Sauer, Professorin am Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien

Schwerpunkt

1. Transformationen liberaler Demokratien in der Ära ökonomischer Globalisierung und politischer Internationalisierung. Problemhintergrund Schlagwörter wie „Postdemokratie“ (Ranciè re 1997; Crouch 2008) oder „GegenDemokratie“ (Rosanvallon 2008) sollen die gegenwärtigen Transformationen westlichliberaler Demokratien auf den Begriff bringen. Die damit verknüpften Befunde sind durchaus ambivalent. Mit dem Konzept der „Counter-democracy“ will Pierre Rosanvallon (2008) auf Orte und Modi der Partizipation jenseits klassischer demokratischer Institutionen als einzige Chance der Organisation des Zusammenlebens verweisen. Die „postdemokratische Konstellation“ hingegen wird von Crouch (2008: 10, 13) als eine entpolitisierte Situation beschrieben, in der es zwar noch konkurrierende Parteien gibt, in der wohl noch Wahlen stattfinden, in der die BürgerInnen jedoch zu bloßen

KonsumentInnen eines politisch kaum noch zu unterscheidenden Polit-Angebots degradiert werden. BürgerInnen werden gleichsam zwangsweise zu PassivbürgerInnen gemacht, denn politische Aktivität ist nicht denkbar und nicht erwünscht. Demokratische Institutionen sind bloße Verwaltungshüllen, und der so genannte Sachzwang erzwingt vorgeblich politische Entscheidungen, doch in Wirklichkeit wurde die Entscheidungsmacht den „Lobbyisten der Wirtschaft“ übereignet (ebd.: 11). Der Raum des Politischen, also der öffentlichen Debatte, der Partizipation und vor allem des Mitentscheidens, wurde also sukzessive verengt, so dass sich BürgerInnen durch die politische Elite nicht mehr vertreten fühlen. Doch aus einer feministischen Perspektive lässt sich ein geschlechterdemokratisches „Davor“ – also vor der Postdemokratie – nur schwer ausmachen. Jener „Augenblick der Demokratie“, den Colin Crouch (2008: 14ff.) beschwört, war ein zutiefst maskuli-

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nistischer Moment, zeichnen sich doch repräsentative Demokratien schon immer durch eine Kontinuität des Ausschlusses von Frauen aus politischen Institutionen sowie der Negierung ihrer Interessen aus. Bietet die nun neuerlich entbrannte politische und wissenschaftliche Debatte um den Zustand der Demokratie, bieten vor allem „gegen-demokratische“ Ereignisse wie die Proteste gegen „Stuttgart 21“ neue Räume für Geschlechterdemokratisierung, d.h. für die gleichberechtigte Partizipation von Frauen, für ihre größere Sichtbarkeit in politischen Institutionen, für ihr Gehörtwerden im politischen Entscheidungsprozess, vor allem aber für die Durchsetzung ihrer Interessen – und zwar der Interessen ganz unterschiedlicher und vielfältiger Frauengruppen? Dieser großen Frage möchte der Text nachgehen und zunächst die geschlechterdemokratischen Bedingungen skizzieren und daran anschließend Überlegungen zur Geschlechterdemokratisierung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland anstellen. 2. Paradoxer demokratischer Einschluss von Frauen Ohne Zweifel wurden Frauen in den vergangenen 30 Jahren sichtbarer in der Politik. Sie nehmen aktiv an der formalisierten Politik wie auch an so genannten unkonventionellen, zivilgesellschaftlichen Politikformen teil. Die empirische Partizipationsforschung konnte herausarbeiten, dass der gender gap in der Wahlbeteiligung seither sukzessive geschlossen wurde: Frauen beteiligen sich annähernd gleich häufig an bundesdeutschen Wahlen wie Männer. Auch ihre quantitative Repräsentation in politischen Entscheidungsgremien stieg deutlich an: Der Frauenanteil im derzeitigen Deutschen Bundestag

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liegt bei 32,7%, ebenso hoch ist der Frauenanteil an den Ministerposten. Und mehr noch: Deutschland hat eine Bundeskanzlerin. Frauen sind also nicht mehr so ganz fremd in der Politik, sondern Politik wurde auch für Frauen ein Beruf wie jeder andere „Karriereberuf“, allerdings mit den gläsernen Wänden und Decken wie auch in anderen Berufsfeldern. Darüber hinaus entstand das Politikfeld der Gleichstellung, das durch Institutionen wie Frauenministerien und Gleichstellungsstellen sowie durch Instrumente der Frauenförderung und des Gender Mainstreaming die Interessen von Frauen im Politikprozess zu berücksichtigen sucht und die politischen Institutionen responsiver gegenüber den Interessen von Frauen machen soll. Durch Maßnahmen wie Frauenquoten und Frauenförderprogramme, aber auch durch die teilweise Anerkennung von Kinder- und Pflegearbeit bei sozialpolitischen Leistungen verbesserte sich die Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben und an öffentlichen Ressourcen in den letzten Dekaden. Dennoch qualifiziert die feministische Kritik die bürgerlich-repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland als „Androkratie“, also als Männerherrschaft, und nicht als Volksherrschaft. Trotz formal gleicher politischer Rechte und obwohl sich die politischen Institutionen, vor allem die Parteien seit der partizipatorischen Revolution der 1970er Jahre sukzessive für Frauen öffneten, werden politische Entscheidungen nach wie vor mehrheitlich von Männern getroffen. Die demokratischen Verfahren der Wahl von RepräsentantInnen stellen Männlichkeit als System immer wieder her, nicht zuletzt weil die Idee der Repräsentation den demokratischen Gedanken verengt: Die BürgerInnen können fast nur Personalent-

Geschlechtergerechte Demokratie. Utopischer Fluchtpunkt mit Realisierungschance? Argumente 1/2011


scheidungen treffen, also RepräsentantInnen wählen, ein weiteres Selbstregierungsrecht ist ihnen entzogen. Der Repräsentationsprozess aber ist ein geschlechtlicher Herrschaftsmechanismus, weil er gegenüber der Vielheit der Bedürfnis- und Interessenlagen selektiv und exklusiv ist und die Vielfalt von Bedürfnissen in bürokratische Verfahren und Instrumente transformiert. Repräsentations- und Wahlverfahren setzen daher eher (männliche) Partikularinteressen durch, als dass sie Universalität und Chancengleichheit realisieren. Demokratisch-repräsentative Verfahren übertragen also herrschenden Gruppen Macht und marginalisieren zugleich stimmlose Gruppen. Noch kaum wird in Deutschland über die Verantwortlichkeit (accountability) für frauenfeindliche oder maskulinistische Politik gesprochen. Im repräsentativen Politiksystem können sich PolitikerInnen der Verantwortung entschlagen, da es keine geschlechtersensiblen Mechanismen der Zurechnung von Verantwortung gibt. Diese Situation hat sich im Zuge neoliberaler ökonomischer Globalisierung und politischer Internationalisierung zugespitzt. Gesellschaftlich wichtige und verbindliche Entscheidungen werden immer weniger im Parlament, sondern vielmehr in der Lobby des Parlaments, in supranationalen Gremien wie der EU, in Labors oder in Vorstandsetagen multinationaler Konzerne getroffen. In Verhandlungsprozessen im vor- oder nicht-parlamentarischen Raum wird ein sowieso bereits geschlossenes Netzwerk politischer und privater, d.h. ökonomischer, teilweise auch zivilgesellschaftlicher Organisationen, noch dichter geknüpft. Dadurch sinken zum einen die Chancen zur Partizipation und zur egalitären quantitativen Repräsentation von Frauen, denn die zunehmende Verlagerung politischer Entscheidungen in

nicht einmal mehr durch den Wahlakt legitimierte Verhandlungssysteme und Politiknetzwerke schließt Frauen nachhaltig aus politischen Entscheidungsprozessen aus. Entöffentlichung, d.h. fehlende Öffentlichkeit und Kontrolle, ist – anders gesagt – ein Modus der Re-Maskulinisierung von politischen Entscheidungsprozessen und der Verstärkung männerbündischer Strukturen. Zum anderen erschwert dieser Politikumbau auch das „Handeln für“ gleichstellungspolitische Belange, also auch die qualitative Repräsentation von Frauen und die Responsivität politischer Institutionen für Geschlechtergerechtigkeit. So gibt es Indizien dafür, dass der gestiegenen quantitativen Repräsentation in nationalen politischen Institutionen eine Tendenz der Ent-Mächtigung von Frauen, z.B. durch Sozialabbau und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen gegenüber steht. Beispielsweise stieg der gender pay gap in der Bundesrepublik in den letzten Jahren wieder an (Europäische Kommission 2010: 6). Trotz der erhöhten quantitativen Repräsentation von Frauen finden also die Interessen von Frauen in politischen Maßnahmen keine angemessene Berücksichtigung. Dies führten die Rettungsaktionen aus der Wirtschafts- und Finanzkrise deutlich vor Augen: Rettungsschirme wurden für Erwerbsarbeitsplätze von Männern, nicht aber für jene Tätigkeiten aufgespannt, die im Rahmen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vornehmlich von Frauen erbracht werden wie beispielsweise Pflegearbeit, und dies, obgleich hier eine enorme Versorgungslücke besteht (Scheele 2009). 3. Chancen für eine Geschlechterdemokratisierung? Ist Geschlechterdemokratie also unmöglich geworden oder eröffnet die Transformation

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von Demokratie möglicherweise doch auch demokratiepolitische Chancen? Letzteres geschieht sicher nicht automatisch – vielmehr muss um diese Chance gekämpft werden. Was wären nun Bedingungen für eine geschlechtergerechte „Neuerfindung“ von Demokratie? Ist die quantitative Repräsentation von Frauen in der Politik eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit, und sind effektiv sanktionierbare Quotenregelungen deshalb nach wie vor wichtig, so kann freilich frauenpolitisches Engagement von Politikerinnen nicht qua Geschlecht erwartet werden. Vielmehr muss die Frage der Repräsentation von Frauen mit der Frage verknüpft werden, wie frauenpolitische Institutionen und Gesetze in ihrem Bestand gesichert und erweitert, wie der Zugang von frauenbewegten zivilgesellschaftlichen Gruppierungen zu politischen Entscheidungsräumen garantiert werden kann, damit das „Handeln für Frauen“ – und zwar nicht nur in Parlamenten und Parteien, sondern auch in Verhandlungsnetzwerken sowie bei der administrativen Umsetzung von Gesetzen – realisiert werden kann. Schließlich ist mit dem frauenbewegten Politik-Ideal auch ein normativer, nicht-instrumenteller Partizipationsbegriff verbunden: Politische Partizipation wird im Gegensatz zur rituellen Vergewisserung staatlich-administrativer Institutionen in Wahlen und im Unterschied zur bloß zielgerichteten und interessenorientierten Beeinflussung der politischen Entscheidungsträger auch als Teilnahme am politischen Gemeinwesen mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaft verstanden. Partizipation als Kern von Zivilität und Bürgerschaftlichkeit soll ein gemeinsamer Lernprozess, ein Prozess der Interaktion und der Kommunikation sein. Neuere internationale Studien zeigen, dass es für die politische Durchsetzung der

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Interessen von Frauen, also für das „acting for“, sowie für transformative Partizipation mindestens Viererlei braucht: Zum ersten ist eine vielfältige frauenbewegte Zivilgesellschaft Grundbedingung für eine Vitalisierung von Demokratie, da der repräsentative Mechanismus nicht in der Lage ist, die Vielfalt von Interessen „darzustellen“, geschweige denn entsprechendes staatlich-politisches Handeln in Gang zu setzen. Die frauenbewegten Kräfte in der Zivilgesellschaft sind beispielsweise gegenüber wirtschaftlichen Interessen zu schwach, als dass sie sich in staatlichen Gesetzen und Maßnahmen institutionalisieren könnten. Deshalb bedarf es zweitens öffentlich garantierter Ressourcen, d.h. Geld, aber auch Zeiten und Räume der Diskussion über „Fraueninteressen“. Es ist eine Binsenwahrheit, dass es „die“ Interessen aller Frauen nicht gibt, dass vielmehr die Interessen von Frauen divers sind, ja dass sie auch antagonistisch sein können. Umso mehr kommt es darauf an, dass es Institutionen und Verfahren gibt, wie über diese Interessen gestritten werden kann. Diese Frauenöffentlichkeit kann nicht nur eine Parteienöffentlichkeit sein – traditionellerweise erfüllen die Parteien in westlichen Demokratien diese Funktion der Interessenartikulation und -bündelung. Vielmehr müssen frauenbewegte Gruppen aktiv in diesen Prozess der Interessenartikulation eingebunden werden, und zwar in einem kritischen Prozess der öffentlichen Debatte ganz unterschiedlicher Gruppen von Frauen. Es braucht also Schnittstellen zwischen frauenbewegter zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit und staatlichen (gleichstellungspolitischen) Institutionen. Eine solche Schnittstelle wäre eine ständige „Frauenkonferenz“, an der möglichst viele unterschiedliche Frauengruppen beteiligt werden sollten.

Geschlechtergerechte Demokratie. Utopischer Fluchtpunkt mit Realisierungschance? Argumente 1/2011


Zum dritten sind Institutionen der Vermittlung von frauenbewegten Öffentlichkeiten in das politische System hinein nötig. Es braucht also nicht nur Frauen in repräsentativen Entscheidungsorganen wie Parlamenten, sondern es braucht vor allem solche Frauen – und selbstverständlich auch Männer –, die sich für Geschlechtergerechtigkeit sowohl in politischen Entscheidungsprozessen wie auch in Policy-Netzwerken und in der Verwaltung einsetzen. Diese qualitative demokratische Repräsentation von Frauen kann im Rahmen gleichstellungspolitischer Institutionen wie beispielsweise Gleichstellungsstellen und Frauenbüros sowie einem eigenen Ministerium, das die Gleichstellung nicht der Familienpolitik unterordnet, erfolgreich sein. Aktives Handeln für Frauen braucht zudem rechtlich gesicherte Instrumente einer Gleichstellungspolitik, also „bewehrte“ Gleichstellungsprogramme. Der Abbau solcher gleichstellungspolitischen Institutionen, wie wir ihn in der Bundesrepublik erleben, ist weit gefährlicher für Gleichstellungspolitik als das Sinken der Frauenanteile im Bundestag oder in den Landesparlamenten. – Und wie wichtig diese „watchdog“-Position von gleichstellungspolitischen Institutionen wäre, zeigte einmal mehr die unterlassene Gleichstellungsperspektive in der Finanzund Wirtschaftskrise. Zum vierten darf Demokratie nicht nur als Verfahren der Mehrheitsfindung und Repräsentation verstanden werden. Demokratie hat vielmehr ganz unmittelbar mit den Lebensbedingungen unterschiedlicher Menschen zu tun. Ein „dünner“ oder schwacher Begriff von Demokratie, der lediglich auf die Institutionen und Verfahren der Parteiendemokratie abzielt, ist angesichts der dramatischen Veränderungen westlicher Gesellschaften nicht mehr angemessen:

Citizenship, also aktive politische Teilnahme erfordert gleiche soziale Teilhabe. Anders gesagt: Nur die Ermächtigung von Frauen zur Politik – die Verfügung über Zeit und ökonomische Ressourcen, also soziale Gleichstellung – ermöglicht ihnen politische „Selbstbestimmung“. Geschlechterdemokratisierung muss daher an der Verteilung von Arbeit und der daran geknüpften Entlohnung sowie den damit verbundenen Ungleichheiten ansetzen. Die uralte Forderung der Frauenbewegung nach einem weiten Politikbegriff gilt nach wie vor – Demokratie muss entgrenzt werden und darf nicht auf den engen Raum demokratischer Wahl und Entscheidung bezogen bleiben, sondern Demokratie muss andere gesellschaftliche Räume erfassen, sei es die Bank, die Werkbank oder die Küche. Ein schon vielfach eingeklagter „neuer“, demokratischer Geschlechtervertrag muss auf Gerechtigkeit bei der Verteilung von Arbeit, von gesellschaftlich notwendiger Care- und Pflegearbeit und von Erwerbsarbeit zielen. Nur eine gerechte Verteilung von Ressourcen bietet die Chance zur Demokratie.

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Literatur Crouch, Colin 2008, Postdemokratie, Frankfurt/M. Europäische Kommission 2010, Der geschlechtsspezifische Verdienstabstand in Europa aus rechtlicher Sicht, Brüssel. Ranciè re, Jacques 1997, Demokratie und Postdemokratie, in: Badiou, Alain/Ranciè re, Jacques/Riha, Rado/Sumic, Jelica (Hrsg.), Politik der Wahrheit, Wien, S. 94-122. Rosanvallon, Pierre 2008, Counter-democracy: Politics in the Age of Distrust, New York: Cambridge University Press. Scheele, Alexandra 2009, Ist die Krise männlich?, in: diskurs, www.dgbdebatte.blogspot.com, 17.7., download am 17.8.2009.

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KRITIK AM KAPITALISMUS UND DER BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT Von Peter Metz, Mitglied des Thüringer Landtags

Schwerpunkt

Rede anlässlich des Gedenkens an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Liebe Genossinnen und Genossen, wir haben uns heute hier versammelt, um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu gedenken. Sie wurden vor 92 Jahren durch rechte Freikorps und unter Billigung der damaligen SPD-Führung im Zuge der Niederschlagung des Spartakusaufstandes ermordet. Schon früh fanden diese beiden die Courage, gegen den von der SPD-Reichstagsfraktion billigend in Kauf genommen und moralisch unterstützen Krieg zu agitieren. Sie gaben der revolutionären Bewegung von 1918/1919 ein Gesicht und sie stehen stellvertretend für hunderte ermordeter Revolutionärinnen und Revolutionäre in der Phase der Novemberrevolution. Doch wir wollen Luxemburg und Liebknecht nicht bloß als Helden gedenken. An dieser Stelle möchte ich an die Theoretiker_innen Liebknecht und Luxemburg erinnern. An einen Genossen und eine Genossin, die eine Kritik an Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft formulierten, die für So-

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zialistinnen und Sozialisten auch heute noch politisch etwas zu bieten hat. Karl Liebknecht, der Zeit seines Lebens in zahlreichen Reden und Artikeln und wenigen längeren Schriften gegen den Militarismus, gegen die Repression und polizeiliche Verfolgung von Revolutionären und Revolutionärinnen und für die sozialistische Jugend stritt, soll hier nur kurz erwähnt werden. Rosa Luxemburgs Überlegungen zur Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen möchte ich etwas mehr Zeit widmen, denn sie formulierte eine sozialistische Kritik jenseits von sozialdemokratischem Reformismus und Bolschewismus. Als Lenin1, um seine zentralistischen Vorstellungen zu begründen schrieb, der revolutionäre Sozialdemokrat sei nichts anderes als „der mit der Organisation des klassenbewußten Proletariats unzertrennlich verbundene Jakobiner“, hielt Rosa Luxemburg ihm entgegen, dass eine Arbeiterpartei das glatte Gegenteil sei: keine Organisation von Revolutionären die mit der Arbeiterklasse irgendwie verbunden sei und in der 1 in Lenin „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“

Kritik am Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft Argumente 1/2011


ein Zentralkomitee für die Massen die richtigen Entscheidungen treffen, sondern, dass eine Arbeiterpartei „die eigene Bewegung der Arbeiterklasse“2 sein müsse. Der „kühne Akrobat“ Lenin übersehe, „dass das einzige Subjekt, dem jetzt diese Rolle des Lenkers zugefallen, das MassenIch der Arbeiterklasse ist“, das sich partout darauf versteifte, „eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen.“ Er übersehe auch, dass „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung“ begehe, „geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten ‚Zentralkomitees’“ seien. Doch der Ultrazentralismus Lenins lasse das Zentralkomitee als den „eigentlich aktiven Kern der Partei“ erscheinen, „alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Werkzeuge“.3 Er entmündige die Massen. Die Verbrechen, die die Herrschaft der bolschewistischen Bürokratie an den russischen Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch an ausländischen Sozialistinnen und Sozialisten, Kommunistinnen und Kommunisten beging, sind heute hinlänglich bekannt. Ich erinnere nur an Kronstadt4 oder die Auslieferung von kommunistischen, antifaschistischen und jüdischen Menschen vom NKDW an die Gestapo 19395. Auch 1918/1919 als Rosa Luxemburg, nachdem sie mit der Sozialdemokratie ge2 Rosa Luxemburg „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ 3 Ebenda 4 Volin „Der Aufstand von Kronstadt“, in Kronstadt forderten die Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie die Matrosen nicht parteidominierte Räte und einen libertären Kommunismus. Vgl. auch „Dokumente der Weltrevolution – Die Linke gegen die Parteienherrschaft“. 5 Es handelte sich um eine Geschenk unter Freunden im Zuge des Hilter-Stalin-Paktes. Vgl. Bini Adamzcak „Gestern Morgen“.

brochen hatte, sich auf einmal – ebenso wie die russischen Revolutionäre 1904 – plötzlich teil einer revolutionären Minderheit war, agitierte Rosa Luxemburg noch gegen das russische Modell: Gegen die Partei neuen Typs hielt sie an einem Modell fest, das nicht die Massen lenke und führe, nicht „über die Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen“ sollte. Der Spartakusbund sollte „Mahner“ und „Dränger“, „das sozialistische Gewissen der Revolution“ sein, bei jedem „Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution„ vertreten6. Rosa Luxemburg entwarf so einen Sozialismus, der nicht auf durch Fabrik und Kaserne disziplinierte, passive Massen zurückgriff, wie der Bolschewiki7, sondern auf die aktive Gestaltung der Gesellschaft durch die Arbeitermassen. „Das Wesen der Sozialistischen Gesellschaft“ sollte darin bestehen, „dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.“8 Nur konsequent stellte sie fest: Dass der Umbau des Staates und die Umwälzung der Gesellschaft nicht durch eine Behörde, ein Komitee oder das Parlament dekretiert, sondern „nur von der Volksmasse selbst in Angriff genommen und durchgeführt werden“ könne9. Doch Luxemburg nennt, gegen die Reformisten „Bernsteinscher Manier“, noch einen weiteren Grund, warum der Sozialis6 Rosa Luxemburg „Was will der Spartakusbund“ 7 Vgl. Rosa Luxemburg „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ 8 Rosa Luxemburg „Was will der Spartakusbund“ 9 Ebenda

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mus nicht über die parlamentarische Eroberung der Macht, über Komitees und Behörden im Staate geschehen kann: Denn „der Proletarier wird durch kein Gesetz gezwungen, sich in das Joch des Kapitals zu spannen, sondern durch die Not, durch den Mangel an Produktionsmitteln. Kein Gesetz in der Welt kann ihm aber im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft diese Mittel zu dekretieren, weil er ihrer nicht durch Gesetz, sondern durch ökonomische Entwicklung beraubt wurde. Ferner beruht die Ausbeutung innerhalb des Lohnverhältnisses gleichfalls nicht auf Gesetzen, denn in Höhe der Löhne wird nicht auf gesetzlichem Wege, sondern durch ökonomische Faktoren bestimmt. Und die Tatsache selbst der Ausbeutung beruht nicht auf einer gesetzlichen Bestimmung, sondern auf der rein wirtschaftlichen Tatsache, daß die Arbeitskraft als Ware auftritt, die unter anderem die angenehme Eigenschaft besitzt, Wert, und zwar mehr Wert zu produzieren, als sie selbst in den Lebensmitteln des Arbeiters vertilgt. Mit einem Worte, alle Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich durch gesetzliche Reformen auf bürgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten, weil sie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt, noch die Gestalt von solchen Gesetzen erhalten haben.“10. Solche Erkenntnis lassen einen auch heute noch Rosa Luxemburg mit politischem Gewinn lesen. Wir können auf eine revolutionäre Bewegung der Arbeitenden selbst nicht verzichten. Keine Partei kann sie ersetzen, weder eine bolschewistische Minderheit die versucht die Gesellschaft nach ihrem Willen mit Gewalt umzuformen, noch eine sozialdemokratische Partei, die den Lohn10 Rosa Luxemburg „Reform oder Revolution“

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abhängigen soziale Zugeständnisse macht, sich für soziale Verbesserungen einsetzt. Denn „mag der Arbeiter auch halbwegs komfortabel versorgt sein, so verfügt er doch nur über Almosen statt über Gebrauchswerte, weil ihm die wesentliche Gebrauchswertqualität der gegenständlichen Welt, Domäne seines Willens zu sein, verschlossen bleibt.“ Die Verblüffung darüber, warum die subjektiv gut gemeinten Verbesserungen, die man für die Arbeitenden beschließt, diese nicht glücklich machen, ähnelt „der naiven Frage an den verwöhnten Sklaven, an die verwöhnte Gattin oder das verwöhnte Kind, warum sie denn in aller Welt nicht glücklich seien, wo sie doch alles besäßen.“11 Die Arbeitenden müssen endlich aufhören, sozialtechnisch betreut zu werden und sich diese Welt erobern. Auch wenn eine solche eigenständige Bewegung des Proletariats im Moment zumindest in Deutschland sich nicht blicken lässt, so muss es doch die Aufgabe der Sozialistinnen und Sozialisten in der sozialdemokratischen Bewegung sein, die Erinnerung an die Notwendigkeit einer solchen Bewegung für den Sozialismus wach zuhalten und es muss unsere Aufgabe sein, das Entstehen einer solchen Bewegung zu unterstützen und befördern. Denn auch wenn heute die Ordnung in Berlin und überall herrscht, wird so vielleicht eines Tages die proletarische Revolution „rasselnd wieder in die Höh' richten“ und verkünden: „Ich war, ich bin, ich werde sein!“12 Es ist auch unsere Aufgabe, weil es eben die Sozialdemokratie war, die Revolutionärinnen wie Luxemburg und Liebknecht organisatorisch ausgrenzte und polizeilich verfolgen ließ.

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11 Wolfgang Pohrt 12 Rosa Luxemburg „Die Ordnung herrscht in Berlin“

Kritik am Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft Argumente 1/2011


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