Argumente 2/ 2012 Demokratie und Teilhabe

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ARGUMENTE 2/2012 Demokratie und Teilhabe Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin September 2012

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

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ARGUMENTE 2/2012 Demokratie und Teilhabe

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


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INHALT

Intro zum Schwerpunkt: Mehr Demokratie und Teilhabe – sozialistische Gesellschaftspolitik zwischen Selbstbestimmung, Gleichwertigkeit und Anerkennung ........................................................................................................... 4 Von Matthias Ecke, Katharina Oerder, Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Magazin Europa am Scheideweg .......................................................................................... 9 Von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender Die Dekonstruktion der Geschlechter und ihre politischen Folgen .................... 14 Von Katharina Oerder und Johanna Uekermann, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende sowie Helene Sommer, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Berlin Rezension: Politik braucht Strategie! ................................................................... 20 Von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand, Lünen

Schwerpunkt Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt ................................................................. 23 von Lena Oerder und Barbara Zimmer, Doktorandinnen im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit den Forschungsschwerpunkten Durchsetzungsmechanismen des Entgeltgleichheitsanspruchs bzw. Brüche im Erwerbsverlauf Gerechte Teilhabe und (direkte) Demokratie........................................................ 29 von Thorsten Faas, Professor für „Methoden der empirischen Politikforschung“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Forschungsschwerpunkten Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlstudien

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Inhalt Argumente 2/2012


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Die Renaissance der Demokratieförderung – neue Chance und alte Probleme . 33 von Dr. Julia Leininger, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung „Governance, Staatlichkeit und Sicherheit“ des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) Die Rettung der Demokratie durch die Piraten? Fünf Missverständnisse........... 38 von Dr. Christian Demuth, Politologe und Referent für Grundsatzfragen beim Parteivorstand der SPD Politik mit dem Einkaufswagen? Erfolgschancen und Probleme der Politisierung von Konsum ............................. 44 von Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen Ziviler Ungehorsam – Zwischen Transformation und Revitalisierung parlamentarischer Demokratie .............................................................................. 50 von Christoph Ellinghaus, Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall Jena-Saalfeld, von 2008 bis 2010 Sprecher des Jenaer Aktionsnetzwerks Interkultur. Die Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft.................. 55 von Dr. Mark Terkessidis, Journalist, Buchautor und Migrationsforscher Inklusion in der exklusiven Gesellschaft ................................................................ 63 von Dr. Ilka Hoffmann, Sonderpädagogin, stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Bildung der SPD, LV Saarland

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INTRO ZUM SCHWERPUNKT: MEHR DEMOKRATIE UND TEILHABE – SOZIALISTISCHE GESELLSCHAFTSPOLITIK ZWISCHEN SELBSTBESTIMMUNG, GLEICHWERTIGKEIT UND ANERKENNUNG Von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende und Mitglieder der Redaktion

Ziel unserer Juso-Politik ist stets, eine gerechte Gesellschaft zu erschaffen, doch wie genau sieht eine solche aus? Das ist eine geradezu existenzielle Frage für uns als linken Verband. Die Antwort darauf formt unsere Programmatik, Strategie und Bündnispolitik, ja Identität. Sie ist immer in bestimmten historischen Situationen neu zu stellen und darauf gemeinsame Antworten zu finden ist eine fortdauernde Herausforderung. Denn stets erwachsen

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Intro Argumente 2/2012

emanzipatorische Bewegungen, wie auch wir Jusos uns verstehen, aus der Erfahrung und Analyse von Ungleichwertigkeit und dem Kampf für deren Überwindung: stets stand und steht dem Erleben von Entrechtung und Ausgrenzung das Bild einer Gesellschaft gegenüber, in der Gleiche Gleichen begegnen, Rechte und Ansprüche gleichwertig aufgeteilt sind. Der Kampf für eine solche Gesellschaft ist es, weshalb wir Jusos Politik machen.


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Doch bei dem Streben nach einer gerechten Gesellschaft sind wir auch heute, im frühen 21. Jahrhundert, noch lange nicht am Ende des Weges angekommen. Welche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sind es, die uns tagtäglich begegnen? Mit welchen Kritikpunkten müssen wir uns dabei auseinandersetzen? Wir sagen: Es ist die Gleichzeitigkeit und wechselseitige Verstärkung einer umfassenden und zumindest in Teilen neuartigen Kritik an der Gestaltung unserer demokratischen Verfahren, Akteure und Kultur (Forderung nach mehr Demokratie) und einer Zerrissenheit und Spaltung unserer Gesellschaft, die sowohl im Ausmaß schwerwiegender als auch in ihren Mechanismen feingliedriger und komplexer ist als zuvor (Forderung nach mehr Teilhabe). Diese Forderungen werden an die Politik herangetragen. Mehr Selbstbestimmung, so das klassische sozialistische Credo, verlangt größere Gleichheit und eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft. Doch bei diesen grundsätzlich so richtigen, wie in großen Teilen unerfüllten Forderungen gibt es keine Einigkeit über deren Inhalt und die strategische Ausrichtung. Der Kanon der artikulierten Forderungen wird immer größer. Dabei haben aber bei weitem nicht alle als demokratisch bezeichneten Initiativen emanzipatorischen Charakter. Es fällt auf, dass sich bei vielen der aktuellen Diskussionen in der Bundesrepublik eine Perspektive der tatsächlichen oder vermeintlichen individuellen Betroffenheit mit gesamtgesellschaftlichen Klagen verbinden. Was dabei oft aus dem Blick gerät ist der „Blick auf das Ganze“. Allgemein schwillt die Klage über den Zustand unserer demokratischen Verfahren und Akteure an. Parteienskepsis sagen manche, Politikverdrossenheit andere, und

einige sprechen gar von Postdemokratie1. Vielfältig sind die Symptome für die Erosion des Vertrauens in die Demokratie: niedrige Wahlbeteiligung, sinkende Mitgliedschaft und sinkendes Vertrauen in politische Parteien, allumfassende, teils verächtliche Kritik an ProtagonistInnen des politischen Systems. Immer weniger Menschen glauben, dass Politik überhaupt noch in der Lage ist, gesellschaftliche Zustände zu verändern. Manche sehen in mehr direktdemokratischen Verfahren die Lösung für die Legitimations- und Beteiligungsprobleme. Aber direktdemokratische Verfahren haben im Vergleich zu repräsentativer Demokratie auch große Defizite. Daraus folgt nicht die Ablehnung von mehr Volksentscheiden und Volksinitiativen, sondern die Erkenntnis, dass sie nur dann wirklich ein Demokratiegewinn sein werden, wenn für alle Menschen auch die materiellen und sozialen Voraussetzungen erfüllt werden, um daran zu partizipieren. Dies berührt einen wesentlichen Knackpunkt der Debatte. Die Frage der gleichwertigen Beteiligung an den gemeinsam getroffenen, kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu unserer Zukunft weitet das Scheinwerferlicht aus: über die Frage demokratischer Teilhabe hinaus, auf Teilhabe insgesamt. Ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Makel unserer Demokratie besteht heute darin, dass die Stimme der einen so viel lauter als die der anderen ist, weil es jenen an den materiellen Voraussetzungen für demokratische Mitbestimmung zunehmend fehlt. Unsere Demokratie ächzt unter der Ungleichheit ihrer BürgerInnen.

1 Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt/Main.

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Wie diese Ungleichheit zu bewerten ist, wird ebenfalls intensiv diskutiert. Allzu häufig wurde dabei jedoch der Fehler gemacht, angesichts der neuen identitätsbasierten Bewegungen die Bedeutung der sozialen Frage zu relativieren. Dabei gibt es wahrlich keinen Grund, die soziale Frage als gelöst zu betrachten. In keinem anderen Industrieland etwa nimmt die Ungleichheit so stark zu wie in Deutschland. Sozialistische Gesellschaftspolitik ist daher ohne Umverteilung von Kapital und Macht nicht zu denken. Gerechtigkeit in einer vielfältigen Gesellschaft überwindet Statusunterschiede und kulturelle Werthierarchien. Linke Politik hört auch nicht bei der Verteilungsfrage auf. Anerkennung und Teilhabe heißt genauso die Umgestaltung der symbolischen Ordnung wie die Umgestaltung der Institutionen. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt, obwohl unsere Gesellschaft durch Emanzipation der Geschlechter, Migration, Individualisierung und die Pluralsierung der Lebensweisen wohl vielfältiger ist als je zuvor. Linke Politik steht vor der Herausforderung, Vielfalt solidarisch zu organisieren. Die feinen Unterschiede2, so Pierre Bourdieu in seinen berühmten Studien zur gesellschaftlichen Schichtung, die Distinktionslinien sozialer Hierarchie, sind zwar nicht ausschließlich aus unterschiedlicher materieller Ausstattung zu erklären (und mithin nicht alle und sämtlich durch materielle Umverteilung aufzulösen), aber sie weisen doch alle auch auf soziale Herkunft zurück. Strittig ist jedoch die Bewertung und Einordnung der Ursachen und Entwicklungen verschiedener Ungleichheiten. Die Diskussion dreht sich dabei vor allem um die Frage, welche Verhältnisse unsere Gesellschaft grundsätzlich strukturieren. Las-

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Intro Argumente 2/2012

sen sich die verschiedenen Ungerechtigkeiten von der Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse und dem Geschlechterverhältnis ableiten, oder gibt es weitere Widersprüche, die davon unabhängige Begründungen liefern. Kurz, ist die soziale Ungleichheit der entscheidende Grund für andere Diskriminierungen oder ist sie nur eine, wenn auch besondere Achse der Diskriminierung, unter mehreren anderen, die sich gegenseitig durchstrahlen und verstärken. Aus diesen unterschiedlichen Ansätzen ergeben sich zwar oft die gleichen realpolitischen Forderungen, aber dahinter stecken doch unterschiedliche Politikansätze. Ob sich die Erscheinungsformen und Wirkmechanismen von Ungleichheit selbst verändert haben oder ob es vor allem die Art und Weise ist, wie sie wahrgenommen werden und gegen sie vorgegangen wird, ist entscheidend für den eigenen strategischen Ansatz. Stellt Social Justice in the Age of Identity Politcs (Nancy Fraser)3 seit einigen Jahren neuartige Anforderungen an die Gesellschaftstheorie und politische Praxis linker Politik oder verdeckt eine solche Anpassung die zentralen Herausforderungen um die Gesellschaft grundsätzlich zu verändern? Mit Sicherheit haben identitätspolitisch aufgeladene Konflikte zunehmend die Geographie sozialer Kämpfe verändert. Die Frage ist aber, inwieweit diese Entwicklung auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft hilfreich ist.

2 Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main. 3 Fraser, Nancy (1996): Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition, and Participation. The Tanner Lecturs on Human Values. Stanford.


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Auf jeden Fall ist die Reform der Demokratie aufs Engste mit der Gerechtigkeitsfrage verknüpft. Gesellschaftliche Partizipation, Selbstbestimmung, Gleichwertigkeit und Anerkennung stehen im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung – und im Mittelpunkt dieses ArgumenteHeftes.

Ob die Piraten die Demokratie retten können, fragt Christian Demuth. Anhand einer Reihe von zentralen Problemen der derzeitigen demokratischen Konstellation zeigt er auf, ob die Piratenpartei darauf Antworten liefert und wie diese zu bewerten sind. Die Diskussion über Verfahren reiche nicht aus, sondern Machtverhältnisse und Verteilungsgerechtigkeit müssten in den Blick rücken.

Zu den einzelnen Beiträgen Die vielfältigen Faktoren, die Frauen an einer gleichberechtigten Teilhabe an unserer Gesellschaft hindern stellen Barbara Zimmer und Lena Oerder in dem ersten Beitrag vor. Sie legen dabei besonderes Augenmerk auf den Arbeitsmarkt und stellen beispielsweise eine Lebenslaufperspektive von Frauenkarrieren dar. Torsten Faas nimmt sich den Auswirkungen und Problemlagen verschiedener direktdemokratischer Verfahren an. Faas zeigt auf, wie sehr soziale und politische Teilhabe miteinander verwoben sind und direktdemokratische Verfahren beeinflussen. Am Beispiel Hamburg wird verdeutlicht, wie sehr sich die soziale Schere bei der Beteiligung an Wahlen gerade bei anderen Formen politischer Beteiligung – Bürgerschaftswahl und Volksentscheid – öffnet. Juliane Leininger wirft einen Blick auf die Renaissance der Demokratieförderung in den Zeiten einer neuen Demokratisierungswelle in den Arabischen Staaten. Sie plädiert für eine Stärkung zivilgesellschaftlicher Akteure ohne den Blick auf die Förderung institutioneller Strukturen zu verlieren.

Sigrid Baringhorst bietet einen Überblick über die Diskussion, inwiefern politischer Konsum als politische Partizipation zu verstehen ist und was er bringt. Ihr Urteil ist optimistisch: Politik mit dem Einkaufswagen ist möglich, aber nicht ohne Voraussetzungen. Christoph Ellinghaus nimmt sich einer zivilgesellschaftlichen Ausdrucksform demokratischen Gestaltungswillens an, des zivilen Ungehorsams. Er debattiert Erfolgsbedingungen dieser Protestform und ihre prekäre Verortung zwischen Legitimität und Legalität. Mark Terkessidis problematisiert das normative Verständnis von „Integration“ in unserer durch Ungleichheit geprägten Einwanderungsgesellschaft. Er plädiert für eine interkulturelle Gesellschaft, die die Institutionen an die unterschiedlichen Voraussetzungen und Hintergründe der Menschen anpasst anstatt die Menschen in die autoritäre Gussform des Ideals einer überkommenen Mehrheitsgesellschaft zu pressen. Und schließlich wirft Ilka Hoffmann einen Blick auf die Herausforderung Inklusion in einer auf Ausschluss beruhenden Gesellschaft. Sie zeichnet die sozialen

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K채mpfe von Menschen mit Behinderungen in Deutschland nach und zeigt die paradigmatische Bedeutung des Konzepts Inklusion f체r unsere Gesellschaft.

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EUROPA AM SCHEIDEWEG Von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Magazin

Ein wirkliches Sommerloch gibt es in diesem Jahr nicht. Die wirtschaftliche und politische Lage in Europa und den einzelnen Ländern spitzt sich immer weiter zu. Die Krisen im EuroLand werden immer bedrohlicher und die Diskussionen über den richtigen Ausweg werden immer heftiger. Dabei wird das ganze Versagen der deutschen Bundesregierung immer deutlicher. Mittlerweile hat man sich ja fast schon daran gewöhnt – Länder melden Zahlungsschwierigkeiten, werden von Ratingagenturen herabgestuft, zu massiven Spar- und Privatisierungsmaßnahmen gezwungen, starker Protest der Bevölkerung und jeden Monat gibt es einen EU-Krisen-Gipfel, auf dem neue Rettungsmaßnahmen beschlossen werden. Nur die Krise wird nicht überwunden.

Spanien und Italien in den Mittelpunkt der Krisendiskussion. Es scheint so, als ob die wichtigen Akteure nicht mehr weiterwissen. Die bisherigen Rettungspläne sind noch nicht überall ratifiziert, und wo sie schon greifen sollen funktionieren sie nicht. Die verordnete Sparpolitik hilft nicht weiter, sondern verstärkt die Probleme in den Krisenländern. Gleichzeitig wird die Debatte gerade in Deutschland immer schärfer geführt. Noch wird vor allem über Griechenland diskutiert, aber es geht schon lange nicht mehr um Griechenland, in den kommenden Monaten wird sich entscheiden, ob der Euro als gemeinschaftlichen Projekt überlebt und die Europäische Union eine Zukunft hat.

Neben Griechenland und den anderen Staaten unter den europäischen Rettungsschirmen tritt immer deutlicher und bedrohlicher die Lage in

Bei der Eurokrise schlägt nun vor allem die Finanz- und Bankenkrise von 2008 durch. Nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA stand das Weltfinanzsystem vor

Gescheiterte Krisenüberwindung

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dem Kollaps. Dieser konnte nur durch massive staatliche Rettungspakete abgewendet werden. Dabei ist nichts anderes passiert, als dass die Staaten die Spekulationsrisiken der Banken und Investoren übernommen haben und so die Belastungen auf die Steuerzahler übertragen wurde. Anstatt danach die Finanzmärkte strenger zu regulieren, wurde das Spiel neu eröffnet und die Spekulation mit billigem Geld noch weiter befeuert. Dann hat vor über zwei Jahren die Eurokrise mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands begonnen. Das Agieren der verantwortlichen Politiker in den vergangen zwei Jahren war durch Rumlavieren und auf Zeit spielen geprägt. Dabei spielte insbesondere die schwarz-gelbe Bundesregierung eine verheerende Rolle. Dabei konnte sie ihre Position aber nie halten. Wahrscheinlich hätte uns vieles erspart werden können, wenn es bei dem Bekanntwerden der Probleme Griechenlands ein klares Bekenntnis zum Euro und allen seinen Mitgliedsstaaten gegeben hätte. Gerade durch die verweigerte Hilfe ist die Spekulation gegen einzelne Mitgliedsstaaten und den Euro als Ganzes erst möglich geworden. Griechenland aufzufangen wäre aus wirtschaftlicher Perspektive keine große Schwierigkeit gewesen, anders sieht es aus, wenn nun die großen Volkswirtschaften Spanien und/oder Italien vollends ins Trudeln geraten. Nach den Vorstellungen der Bundeskanzlerin sollten mit Fiskalpakt und ESM die Voraussetzungen geschaffen sein, um die Krise zu bewältigen. Aber noch bevor die Beschlüsse die Hürde Bundesverfassungsgericht genommen haben, ist in Deutschland und Europa die Debatte nach der Reichweite und Wirksamkeit dieser Maßnahmen ausgebrochen. Und dies ist

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Europa am Scheideweg Argumente 2/2012

auch vollkommen berechtigt, denn bisher wird das akuteste Problem bei den Maßnahmenkatalogen ausgeklammert. Der ESM ist dringend notwendig, um die Handlungsfähigkeit der betroffenen Staaten zu erhalten und drohende Zahlungsausfälle zu verhindern. Mit dem Fiskalpakt soll die vermeintliche Schuldenproblematik radikal angegangen werden. Dahinter stecken vor allem alte ideologische Auseinandersetzungen, Liberale und Konservative haben es geschafft mit dieser Debatte die Regulation der Finanzmärkte von der Agenda zu nehmen und die Schuld der andauernden Krisen alleine einem Staatsversagen zuzuschreiben. Mit dem Fiskalpakt wird die Handlungsfähigkeit aller europäischen Staaten weiter eingeschränkt und jede Hoffnung auf konjunkturelle Erholung weggespart. Sicherlich ist es ein riesiger Erfolg, dass im Verlauf der Verhandlungen um den Fiskalpakt ergänzende Wachstumsprogramme und die Finanztransaktionssteuer durchgesetzt wurden, allerdings sind dies zwar sehr wichtige Schritte in die richtige Richtung, aber sie werden erst mittelfristig Wirkung entfalten können. Gescheiterte Bundesregierung Alle bisherigen Maßnahmen haben vor allem eine Zielrichtung – das Vertrauen der Finanzmärkte sollte zurückgewonnen werden. Dies ist nicht nur der falsche Ansatz, sondern er wurde auch noch ständig aus den eigenen Reihen der Regierung torpediert. Die immer wieder und wieder vorgebrachten Forderungen aus den Koalitionsparteien keine Hilfen mehr zu gewähren, Griechenland aus dem Euro zu werfen und noch heftigere Sparmaßnahmen durchzuziehen, laden nur zu weiteren Spekulatio-


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nen gegen den Euro ein. Es wird immer deutlicher, dass CDU/CSU und FDP versuchen, sich mit nationalistischen Stammtischparolen zu profilieren und dabei in Kauf nehmen, dass der Euro scheitert. Immer wieder wird die Hilflosigkeit der Bundesregierung deutlich, bei den letzten entscheidenden Abstimmungen im Bundestag gab es keine Kanzlerinnenmehrheit und nach jeder europäischen Verhandlungsrunde kommt die schärfste Kritik an den Ergebnissen von Merkel aus den eigenen Reihen. Von dieser Regierung ist keine Lösung der Eurokrise zu erwarten. Mit dem Mantra des Sparens um jeden Preis und dem Bedienen der Klischees von faulen Südländern bekommen sie aber immer noch starke Umfragewerte. Davon darf sich die Sozialdemokratie aber auf keinen Fall anstecken lassen. Das Wegducken der Kanzlerin vor der Verantwortung wird nur solange funktionieren, wie die ökonomischen Auswirkungen der Krise in Deutschland selbst noch nicht deutlich zu spüren sind. Krisenlösung neu ausrichten Die beiden akuten Probleme der Eurokrise sind, neben den langfristigen Fehlentwicklungen (Verteilungsfrage, wirtschaftliches Ungleichgewicht, Steuersenkungswettbewerb), die Refinanzierung der Krisenstaaten und die Unterkapitalisierung vieler Banken. Für beide dieser Herausforderungen haben die Euroländer noch keine wirksame Antwort. Nach nunmehr zwei Jahren Krise wird nun endlich auch über diese Probleme diskutiert. Nur wenn es gelingt diese anzugehen, kann der Euro überleben. Im Zentrum muss dabei eine geringere Abhängigkeit von den Finanzmärkten stehen. Langfristig bedeutet dies eine

wirkliche Fiskalunion mit einer koordinierten Finanz- und Haushaltspolitik, die sich nur am Schuldenstand orientiert. Hinzu muss eine gemeinsame Haftung für die Schulden kommen, um jeden Anschein der Zahlungsunfähigkeit eines Euro-Staates zu beseitigen. Alleine eine solche glaubhafte Ankündigung, kann zu einem Sinken der Renditen für Staatsanleihen führen. Des Weiteren gehört eine Umverteilungspolitik dazu, die für eine gerechte Verteilung der Lasten sorgt. Aber selbst so wäre die Krise noch nicht kurzfristig zu bewältigen. Wenn der Euro eine Zukunft haben soll müssen die beiden akutesten Probleme schnell angegangen werden, die finanzmarktunabhängige Refinanzierung der Staaten und die Konsolidierung des europäischen Bankensystems. Handlungsfähigkeit der Krisenstaaten sicherstellen Diese Krise kann nur überwunden werden, wenn die europäischen Staaten sich endlich zur gegenseitigen Solidarität und der bedingungslosen Verteidigung des Euros bekennen. Solange die Gegenmaßnahmen nur halbherziges Stückwerk bleiben, werden die Angriffe aus den Finanzmärkten gegen einzelne Staaten und den Euro als Ganzes weitergehen. Der Auslöser der Krise war das sprunghafte Ansteigen der Renditen auf griechische Staatsanleihen, weil das Land durch die drei großen Ratingagenturen abgewertet wurde. Da Griechenland als Mitglied des Euros darauf nicht fiskalpolitisch reagieren konnte und es kein klares Bekenntnis zu Griechenlands Zahlungsfähigkeit gegeben hat, ist Griechenland vollkommen abhängig von den europäischen Hilfszahlungen. Dieses Schicksal droht nun auch weiteren Staaten.

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Dem kann nur entgegengewirkt werden, wenn die Staatsfinanzierung im Notfall auch ohne die Finanzmärkte sichergestellt werden. Dies wurde in der Krise schon mehrmals deutlich, immer wieder hat die EZB mehr oder weniger autonom, auch gegen ihre Rechte, eingegriffen. Ob nun der Aufkauf von Staatsanleihen oder die Bereitstellung billigen Geldes für die Banken, ohne diese Eingriffe wäre das System Euro schon längst kollabiert. Sicherlich ist die Art und Weise und die Wirkung dieser Maßnahmen vielfältig zu kritisieren, aber da alle anderen Verantwortlichen nicht gehandelt haben, ist es doch zu begrüßen. Diese Ansätze müssen in klare Regeln gegossen werden, um eben auch die negativen Folgen zu minimieren. Dafür gibt es verschiedene Varianten. Bei allen Varianten gibt es nicht nur massive Widerstände, sondern durchaus auch rechtliche Hindernisse. Wenn aber nichts angegangen wird, steht dem Euro als Gemeinschaftsprojekt keine große Zukunft mehr bevor. Die massiven Ungleichgewichte im europäischen Wirtschaftsraum in Fragen der Staatsverschuldung und der damit einhergehenden Zinssituation bedarf dringend der Abhilfe. Die erste Möglichkeit um den kriselnden Staaten aus der Klemme zu helfen wäre die Einführung von Eurobonds. Dies bedeutet im Kern eine Bewertung des Euroraumes als Ganzes und nicht mehr jedes einzelnen Staates für die Ermittlung der Renditen auf Staatsanleihen. Es gibt verschiedene Modelle, wie dies organisiert werden könnte. Sicherlich bedeutet dies auch für einige Länder wie Deutschland etwas höhere Kosten für die Refinanzierung an den Finanzmärkten, diese Mehrkosten kommen aber nicht in die Dimensionen, die jetzt zur Rettung anderer Staaten schon aufgebracht werden. Kein

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Europa am Scheideweg Argumente 2/2012

anderes Land hat so sehr von der Einführung des Euros profitiert wie Deutschland. Eurobonds wurden im vergangen Jahr oft diskutiert, aber bisher sind sie an vielen Widerständen, insbesondere aus Deutschland, gescheitert. Dabei bieten gerade Eurobonds in Verbindung mit einem Altschuldentilgungsfonds die Möglichkeit, die Finanzsituation der Staaten bei entsprechenden Rahmensetzungen zu entspannen. Dabei geht es erst mal nur darum überhaupt wieder Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu eröffnen. Wenn man sich für Eurobonds in einer Fiskalunion entscheidet ist dies aber auch eine Fortsetzung der bisherigen Mechanismen, nur auf einer anderen Ebene. Das stärkste Instrument zur Sicherstellung der Refinanzierung der Staaten ohne auf die Finanzmärkte angewiesen zu sein wäre eine Möglichkeit, Staatsanleihen durch die EZB direkt aufzukaufen oder den Staaten Kredite durch die EZB zu gewähren. Momentan stellt die EZB billiges Geld den Banken zur Verfügung, die dies dann zu viel höheren Zinsen an die Staaten weitergeben. Natürlich kann so etwas nur innerhalb eines klaren Rahmens geschehen. Dies bedeutet aber eben nicht, die Hilfen von drakonischen Sparmaßnahmen, Privatisierungen und Sozialkürzungen abhängig zu machen, sondern Europa auf einen gemeinsamen Wachstumspfad zu bringen. Die EZB muss mehr noch als in der Vergangenheit eine Ausgleichs- und Umverteilungsrolle wahrnehmen und muss Mitgliedsstaaten in Zeiten finanzieller Engpässe mit relativ zinsgünstigen Krediten aushelfen können, um deren Situation nicht auch noch zu verschärfen. Aufgabe der Zinspolitik muss es sein, nicht Staaten in noch tiefere Verschuldung zu treiben, sondern Krisensituationen vorzubeugen.


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Kurzfristig kann diese Lösungsstrategie auch durch eine Bankenlizenz für den ESM verfolgt werden. Dieser Weg hat vor allem den Vorteil, dass dies rechtlich am unproblematischsten umgesetzt werden kann.

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Es muss klare Verfahren und Regeln für Bankeninsolvenzen geben. Denn ein Rettungsschirm darf die Pleite von Banken nicht ausschließen.

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Die Hilfe für einzelne Banken muss an Kontroll- und Eingriffsrechte der Bankenaufsicht gekoppelt werden. Bei neuen Einlagen durch Europa müssen der Höhe entsprechende Eigentumsrechte an den Hilfegeber übergehen.

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Die Hilfe für einzelne Banken darf nicht an neue Sparvorhaben für das Land ihres Sitzes gebunden sein.

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Es muss eine Europäische Bankenabgabe eingeführt werden, bei der alle Banken in den Rettungsmechanismus einzahlen, die auf dem europäischen Markt Handel treiben. l

Bankenrettung, aber richtig! Bei der Ausgestaltung der neuen Bankenrettungspläne müssen die richtigen Lehren aus den Maßnahmen und Folgen der Rettungspakete nach der Finanzkrise von 2008 gezogen wurden. Diese hatten drei grundlegende Fehler. Zum ersten wurden die Maßnahmen rein nationalstaatlich abgewickelt, so dass es zu neuen Verwerfungen auf dem europäischen Bankenmarkt kam. Zum zweiten wurde die Rekapitalisierung gewährt, ohne Einfluss auf die Strategie der Banken zu nehmen, so dass sie mit dem neuen Kapital die alten Strategien fortgesetzt haben, die mit zur Krise führten. Zum dritten wurden im Ergebnis vor allem private Risiken/Schulden in staatliche Schulden umgewandelt, ohne die Verursacher der Krise an den Kosten zu beteiligen. Ein Mechanismus zur Bankenrettung auf europäischer Ebene ist notwendig, er darf aber nicht bedingungslos sein. Er ist nur zustimmungsfähig, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: l

Es muss ein Schritt auf dem Weg zur Bankenunion sein, dies bedeutet einheitliches Bankenrecht und einheitliche Bankenaufsicht. In einer europäischen Bankenunion muss die Bankenlandschaft neu strukturiert werden und Kunden- von Investitionsbanken entflochten werden.

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DIE DEKONSTRUKTION DER GESCHLECHTER UND IHRE POLITISCHEN FOLGEN Von Katharina Oerder und Johanna Uekermann, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende sowie Helene Sommer, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Berlin

Eine der größten Debatten, die wir Jusos letztes Jahr auf dem ÄnderDas!Sommercamp mit der Grünen Jugend ausgefochten haben war – neben der Frage nach dem Ende des Wachstums und dem Primat der Erwerbsarbeit – die Umstellung auf Unisex-Toiletten. In regelmäßigen Abständen wurden einzelne Wasch- oder Toilettenräume von Männer- oder Frauenräumen zu Unisex-Toiletten umfunktioniert. Schließlich wolle man auch Menschen entgegen kommen, die nicht wissen ob sie sich männlich oder weiblich fühlen sollen und Geschlechterrollen dekonstruieren. D‘accord! Viele Jusos reagierten trotzdem mit Unverständnis auf die Leidenschaft, mit der die Debatte um die Unisex-Toiletten geführt wurde. Was für viele von der Grünen Jugend als entscheidende Frage im Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter diskutiert wurde, warf bei den Jusos eine ganz andere Frage auf: geht diese Diskussion an

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der gesellschaftlichen Realität vorbei? Und was nützt es eigentlich alleinerziehenden Müttern, die am Existenzminium knapsen, wenn ein paar Studis und AkademikerInnen auf das gleiche Klo in Brandenburg gehen? Dies ist jedoch nur ein Beispiel von vielen, in denen die Theorie die Praxis in den sprichwörtlichen Schwanz beißt. Nicht immer wird aus „gut gemeint“ auch gute Politik. Immer wieder wurden und werden wir in den politischen Debatten mit dem hegemonialen Kampf um Begrifflichkeiten, postgender, Geschlechter, Gleichstellung, queer und so weiter, konfrontiert. Zu diesen wollen und müssen wir Jusos uns sowohl theoretisch als auch politisch-konkret positionieren. Wir wollen versuchen, hier einen ersten Problemaufriss zu leisten und die Debatte innerhalb der Jusos über die verschiedenen Definitionen und Auffassungen sowie politische Handlungsanleitungen anzustoßen. Während die „Dekonstruktion der Geschlechter“ nach Simone de Beauvoir noch

Die Dekonstruktion der Geschlechter und ihre politischen Folgen Argumente 2/2012


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die Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht (sex und gender) bedeutete, ging Judith Butler Anfang der 1990iger Jahre einen Schritt weiter. In ihrem bekanntesten Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“ beschreibt sie sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht als gesellschaftlich konstruiert. Geschlecht ist laut Judith Butler also eine soziale/kulturelle Kategorie. Die Einteilung in „männlich“ bzw. „weiblich“ ist keine natürliche, unausweichliche Einteilung, vielmehr entsteht diese dadurch, dass gemäß dieser Zweigeschlechtlichkeit gehandelt wird. Und was konstruiert wurde kann folglich auch wieder dekonstruiert werden. Für Judith Butler sind die Unterschiedlichkeiten der Menschen innerhalb der Geschlechter größer, als zwischen den Geschlechtern. Damit werden diese unnötig. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass es so viele Identitäten gibt, wie es Menschen gibt. Doch was bedeutet diese Analyse für unsere tagtägliche politische Arbeit? Wie können wir als Jusos überhaupt noch Gleichstellungs- und Frauenpolitik machen, wenn alle Geschlechter bereits abgeschafft und dekonstruiert haben? Und was bedeutet das für die politische Praxis im Verband? Einige Parteien haben dieses Problem für sich bereits gelöst. Die Piratenpartei, beispielsweise, hält sich selbst für „postgender“. Eine Umfrage des Kegelclubs (eine informelle Gruppe innerhalb der Piratenpartei, die sich mit Geschlechterpolitik auseinandersetzt) zeigte jedoch, dass die meisten Mitglieder nicht wissen, was „postgender“ (nämlich Geschlecht als Kategorie zu eliminieren) überhaupt bedeutet. Folgt man der Piratenpartei und der „postgender“-Haltung, gibt es folglich auch keine Geschlechterdiskriminierung

mehr. Denn was es nicht gibt, kann auch nicht diskriminiert werden. Das also von neun Menschen in ihrem Bundesvorstand nur zwei Frauen sind, ist für sie somit nicht systematisch, sondern reiner Zufall. Gleichstellungspolitische Debatten zu führen, Frauenförderung einzufordern, Machtgefälle zu identifizieren und politische Konsequenzen daraus zu ziehen wird dann gerne als antiquiert diffamiert. Denn nur wer noch in Geschlechtskategorien denkt, kann so argumentieren und wer noch so argumentiert, der hat es demnach einfach noch nicht verstanden. Für eine Partei, die sich vor allen anderen für Frauenwahlrecht und Gleichstellungspolitik eingesetzt hat, wäre ein solcher Weg nicht akzeptabel. Und für einen feministischen Richtungsverband wie unseren noch weniger. Denn selbst wenn Geschlecht eine konstruierte Kategorie ist, die immer noch vorhandene gesellschaftliche Aufteilung in Zweigeschlechtlichkeit ist wirkmächtig und lässt sich nicht wegdiskutieren. Und nicht nur durchzieht die Strukturierung in Frauen und Männer unsere gesamte Gesellschaft, sie bestimmt ein Machtgefälle – und das betrifft nicht nur abstrakt sondern ganz konkret die ökonomische und soziale Verteilung in unserer Gesellschaft und damit die Lebenschancen, -welten und -realitäten. Davor einfach die Augen zu verschließen würde bedeuten, untätig in Hinsicht auf Diskriminierung qua Geschlecht zu werden. Diskriminierung geschieht nicht einfach nur aufgrund irgendeines Geschlechtes, sondern aufgrund eines ganz bestimmten Geschlechtes. Natürlich werden auch Männer manchmal auf Grund ihres Geschlechtes diskriminiert. Das dies jedoch umgekehrt in wesentlich höherem Maße vorkommt ist kein Zufall, sondern sympto-

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matisch. Männerdiskriminierung ist ungerecht, Frauendiskriminierung ist strukturell. Wir akzeptieren die Dekonstruktion der Geschlechter als einen theoretischen Aspekt in unserem Wertegebäude. Wir wollen, dass alle Menschen frei und selbstbestimmt leben können. Auf dem Weg zu diesem Ziel sind Debatten darüber, wie, wann und warum Geschlechtskonstruktionen zustande kommen und der Versuch, eine gesellschaftliche Diskussion und Reflektion über diese Fragen anzuregen ein wichtiger Beitrag. Wir wollen, dass Schluss ist mit der Reproduktion von Rollenbildern und Stereotypen und wir verneinen auch nicht, dass das Offenlegen und Zurückdrängen solcher Muster ein Schritt auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit sind. Die Kategorien, die wir theoretisch dekonstruieren, haben jedoch trotzdem reale Auswirkungen auf das Leben von Menschen – selbst wenn wir uns scheinbar von ihnen befreit haben. Diese ungerechten Verteilungen von Lebenschancen wollen wir bekämpfen. Nur die Gleichheit von Lebenschancen und Voraussetzungen schafft die Bedingung um individuelle Lebensmodelle leben zu können. Deshalb ist die Übertragung unserer theoretischen Erkenntnisse auf unsere real existierende Gesellschaft stets an gewisse Voraussetzungen gebunden. 1. Reale Machtkonflikte müssen weiter berücksichtigt werden: Konflikte zwischen den Geschlechtern haben ganz reale Auswirkungen. Diese gehen über die einschränkende Wirkung der Geschlechtszuweisung hinaus, denn Machtstrukturen in Deutschland und auf

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der ganzen Welt sind männlich geprägt. Dabei geht es nicht nur um Diskriminierung durch Geschlecht, sondern um Diskriminierung eines bestimmten Geschlechts: Frau. Diese Analyse stellt für uns eine zentrale Ausgangsbasis unserer Politik dar. Das Konstrukt „Frau“ wird nicht nur als Individuum, sondern auch als Gruppe diskriminiert. Das heißt, die Lösung, „so viele Geschlechter wie Menschen“ ist zu einfach um dieses Machtgefälle zu lösen. 2. Gleichstellungspolitik ist mehr als Queer: Häufig wird in der Debatte Queer-Politik und Gleichstellungspolitik debattiert, versucht voneinander abzugrenzen oder gleichzusetzen. Gleichstellungspolitik lässt sich für uns jedoch Queer-Politik nicht so einfach zuordnen. „Queer“ wird als eine Art Sammelbekken, unter dem sich außer Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Intersexuellen, Transgendern, Pansexuellen, Asexuellen und BDSMlern auch heterosexuelle Menschen, welche Polyamorie praktizieren, und viele mehr zusammenschließen, beschrieben. Eine Besonderheit liegt auf einer von der Heteronormativität abweichenden Geschlechtsrollen-Präsentation. Dies ist jedoch nur ein Aspekt von Gleichstellungspolitik. Darüber hinaus geht es uns um knallharte Umverteilungspolitik. Umverteilung von Macht und von Ressourcen. Von gesellschaftlich definierten Männern zu gesellschaftlich definierten Frauen. Ein queer-theoretischer Diskurs allein kann geschlechterpolitische Probleme nicht abbilden.

Die Dekonstruktion der Geschlechter und ihre politischen Folgen Argumente 2/2012


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3. Wir müssen weiterhin die Lebensrealitäten von Menschen berücksichtigen und diskutieren: Für die Mehrheit der Menschen geht es nicht in erster Linie darum, sich aus den Ketten ihres Geschlechtes zu befreien. Sie fühlen sich eigentlich als Mann oder Frau recht wohl in ihrer Haut. Dies wollen wir nicht pathologisieren sondern akzeptieren es als Ergebnis gesellschaftlicher und kulturelle Sozialisation. Für diese Mehrheit der Menschen ist es dennoch virulent, geschlechtsspezifische Machtverhältnisse anzugreifen, denn ihre Lebensrealität ist sehr direkt und konkret durch sie bestimmt, sei es durch ökonomische Ungleichheit oder die Einschränkung ihrer Lebenschancen. „Ein anderes Leben muss möglich sein“ gilt ebenso für freiwillig-glückliche Männer oder Frauen. Dennoch wollen viele dieser Menschen mehr Gerechtigkeit und Gleichstellung der Geschlechter. Dies nehmen wir weiterhin als Leitlinie unserer Gleichstellungspolitik an. 4. Sozialistische Gleichstellungspolitik muss in der Lage sein, gesellschaftliche Verhältnisse anzugreifen: Auf dem Weg zu einer gleichgestellten und freien Gesellschaft kommt uns als Verband die Rolle zu, Konzepte zu entwickeln, um Macht- und Verteilungsfragen konkret anzugreifen. Die Analyse von Lebensrealitäten von Frauen und Männern muss uns zu Politikkonzepten führen. Gleichstellung kann sich für unseren Verband nicht darin erschöpfen, unsere eigenen Bilder zu reflektieren und in unserem beschränkten Rahmen Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Wir müssen dafür stehen in unserer Partei und gesamtgesellschaftlich, Politikansätze

durchzusetzen, die die Lebensrealitäten von allen Menschen, im gleichstellungspolitischen Kontext aber vor allem für Frauen zu verbessern. Dazu gehört diese Lebensrealitäten zu kennen, anzuerkennen, aufzugreifen und Lösungen zu finden. 5. Diskriminierung muss weiter sichtbar gemacht werden: „Sex-counting“, also das Aufschlüsseln von statistischen Daten anhand des Geschlechts, ist nach wie vor nötig. Nur gendersensible Statistiken ermöglichen uns Informationen über die Ungleichheitsverhältnisse in der Gesellschaft, im Arbeitsleben und in der Politik. Fehlen Daten und Informationen, fehlen Entscheidungsgrundlagen. Geschlecht muss also weiter als Analyse- und Strukturkategorie Anwendung finden. 6. Die Dekonstruktion von Geschlechtern darf nicht auf Kosten von Schutzräumen von benachteiligten Gruppen gehen: Diese Schutzräume können sich sowohl auf mehr ideologische Räume, wie z. B. autonome Frauenstrukturen als auch in ganz konkreten, nur einem Geschlecht offen stehenden Räumen wie Wasch- oder Duschräume, beziehen. Wir halten weiterhin an den Möglichkeiten für autonome Frauenstrukturen fest, wann sie sinnvoll erscheinen. Diese können sowohl zum Austausch über spezifische Problemlagen als auch für strategische Absprachen um männlichen Machtzirkeln entgegen zu arbeiten, dienen. Auch sexuelle Diskriminierungen und Übergriffe gegen Frauen sind nicht von der Hand zu weisen. Wenn es also um Schutz von Intimsphäre von Frau-

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en geht, stellen wir diesem ebenfalls ganz praktische Möglichkeiten zur Verfügung. Aus diesen Überlegungen ergeben sich politische Konsequenzen für unsere praktische Arbeit.

von Menschen zu verändern, die von Frauen zu verbessern. Erst dann wird aus Theorie Politik.

1. Die Gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau ist weiterhin eine der drei Säulen unserer JusoArbeit:

Die große Mehrheit der Menschen, die sich in ihrer Zweigeschlechtlichkeit pudelwohl fühlt wollen wir nicht missionieren. Den Druck von Geschlechterungerechtigkeit und Frauendiskriminierung, der von so vielen jedoch verspürt wird, begegnen wir mit aller politischen Härte. Dabei wollen wir besonders an den Stellschrauben drehen, die systematische Geschlechterungerechtigkeit produzieren und somit das patriarchale System für die gesamte Gesellschaft festschreiben. Struktureller Diskriminierung des Geschlechtes „Frau“ gilt es politisch zu begegnen und strukturell zu bekämpfen. Diese Diskriminierung sehen wir vor allem in den Sozialversicherungssystemen, dem Arbeitsmarkt und dem Steuersystem. Gleichzeitig wollen wir Räume und Möglichkeiten schaffen für all die Menschen, denen das Denkgebäude der Zweigeschlechtlichkeit in all seinen theoretischen und praktischen Begrenzungen zu eng ist.

Wir Jusos sind ein sozialistischer, internationalistischer und feministischer Richtungsverband. Die Diskriminierung des Geschlechtes „Frau“ zu bekämpfen ist unser Ziel. Herrschaft, Macht und Ressourcen sind in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft ungleich verteilt. Frauen werden strukturell benachteiligt. Frauendiskriminierung ist nicht nur Theorie, sondern ganz real und tagtäglich. Wir erkennen dies an und wollen diese Diskriminierung überwinden. Dafür machen wir Frauenund Gleichstellungspolitik. Dafür machen wir Realpolitik. 2. Politik ist mehr als Selbstreflektion Vielen neueren gender- oder queertheoretischen Bündnissen oder Aktionen geht es vor allem darum, mit hegemonialen Strukturen zu brechen, für Unordnung und Andersdenken zu sorgen. Alternative Denkmuster und –wege aufzuzeigen ist stets ein wichtiger Baustein unserer Jusopolitik gewesen. Wir können und wollen bei Information und Sensibilisierung jedoch nicht halt machen. Ziel einer jungsozialistischen Politik ist es, Herrschaftsverhältnisse zu verändern, Macht und Ressourcen umzuverteilen. Dies wollen wir auch in der Gleichstellungspolitik tun. Unser Ziel ist es also, konkrete Lebensrealität

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3. Wir machen Politik für Menschen

4. Wir betreiben weiterhin Sex-counting. Bei Anmeldungen zu Veranstaltungen des Juso-Bundesverbandes muss, bei Bedarf, weiterhin das Geschlecht, das ein Mensch in seinem Personalausweis angegeben hat, angegeben werden. Eine Möglichkeit, dass sich, sobald alle „Männerplätze“ zu Kongressen belegt sind, findige sonst-immer-Männer anfangen, sich unter „anderes Geschlecht“ anzumelden und somit jegliche Idee der Dekonstruktion der

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Geschlechterkategorien konterkarieren, wollen wir nicht bieten. Wir halten weiter an dem Ideal der ausgeglichenen Repräsentation der Geschlechter auf unseren Veranstaltungen fest. Wenn nötig auch mit der Quote.

gleichstellungspolitischen Rahmen geben. l

Arbeit

einen

5. Wir halten an der Frauenquote fest. Dies gilt für die Besetzung von Listen, Posten und der Redeliste. Denn auch die Machtverhältnisse innerhalb unseres Verbands sind weiterhin zweigeschlechtlich aufgeladen, wie jeder und jede – leider – relativ einfach an den konkreten Zahlen in unseren Strukturen und Vorständen nachweisen kann. 6. Autonome Frauenstrukturen sind auch in unserem Verband notwendig. Sie können dabei helfen, Frauen untereinander zu vernetzen, Schutzräume für Debatten zu schaffen, die in anderen Kontexten schwierig zu führen sind und Diskussionskulturen zu verändern. Autonome Frauenstrukturen sollen dabei als Tankstelle dienen, in denen Frauen Kraft für ihre weitere politische Arbeit schöpfen. Solche Strukturen haben aber auch ihre Schattenseiten. Allzu oft binden sie Kapazitäten von Frauen und entziehen so Ressourcen, anstatt – was eigentlich ihre Aufgabe sein sollte – Ressourcen freizusetzen. Gerade beim Einsatz von solchen autonomen Strukturen gilt es Augenmaß zu bewahren und sich am tatsächlichen Bedarf zu orientieren. Diese beschriebenen Leitlinien können sicherlich noch nicht allumfassend sein, sollen uns jedoch bei unserer weiteren

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REZENSION: POLITIK BRAUCHT STRATEGIE! Von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand, Lünen

In internen Debatten aller Parteien ist die Aussage: „Da müssen wir über die richtige Strategie diskutieren“ ein oft benutzter Allgemeinplatz – auch in der SPD und bei den Jusos. Was genau „politische Strategie“ sein soll, wie sie sich von anderen Begriffen wie dem der „Taktik“ abgrenzt, und welche einzelnen Elemente unter den Begriff „Strategie“ fallen, ist dagegen den meisten völlig unklar. Auch in der Politikwissenschaft hat in Deutschland erst in den letzten Jahren ein vertieftes Nachdenken über die Hintergründe und Varianten politischer Strategie eingesetzt. Zu den Pionieren einer solchen Wissenschaftsrichtung gehören die Politikwissenschaftler Joachim Raschke und Ralf Tils. Aufbauend auf ihre 2007 erschiene und sehr umfangreiche „Grundlegung“1 haben die beiden Autoren ihre zentralen Gedanken nun in einem kleinen Einführungslehrbuch in die Politische Strategie zusammengefasst. Auch innerhalb der professionellen Politik ist nach Raschke und Tils großer Nachholbedarf in Sachen politischer Strategiefähigkeit festzustellen, und dies vor allem aus zwei Gründen: Zum einen existiere ein

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„Strategieparadox“, da die Fähigkeit zu strategischem Handeln zwar von Politikerinnen und Politikern erwartet werde, bei der (Aus-) Wahlentscheidung für ein Amt aber überhaupt keine Rolle spiele. Zum anderen würden Macht- und Konkurrenzkämpfe innerhalb der Organisation strategischer Arbeit die Vertrauensbasis entziehen. Im Band entfalten Raschke und Tils der Reihe nach die einzelnen Elemente, die ihrer Forschung zufolge für die Entwicklung politischer Strategie wichtig sind. Dabei verweigern sich beide ausdrücklich Analogien zur militärischen Strategie – der im Feuilleton oft zitierte alte General Clausewitz spielt in der politischen Strategie also keine Rolle. Im Kern geht es bei der Entwicklung politischer Strategie demnach um die Klärung von „Führung, Richtung, und Strategiekompetenz“. Zunächst ist also die interne Hackordnung zu klären. Des Weiteren – und vielleicht überraschend für manchen Strategen einer politisch auf eine „Mitte“ orientierten SPD – ist die Richtung zu bestimmen. Kurz: Strategie kann sich nicht 1 Raschke, Joachim/Tils, Ralf (2007): Politische Strategie. Eine Grundlegung; VS-Verlag, Wiesbaden.

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im reinen Machterhalt erschöpfen, sondern muss operationalisierbare inhaltliche Ziele in den Blick nehmen. Erst nach Klärung dieser beiden Fragen kommt für Raschke und Tils dann die Frage der Strategiefähigkeit im eigentlichen Sinne. Wie dieser Dreiklang im Einzelnen mit Leben erfüllt werden kann, erörtern die beiden Autoren anhand von Beispielen politischer Steuerung aus den verschiedenen Epochen der Bundesrepublik. Herausragendes negatives Beispiel ist dabei die Entwicklung der SPD seit 2005 – ohne Führung, ohne Richtung, ohne Strategiekompetenz. Aber auch die CDU müsse sich nach dem Ende der Ära Merkel „neu erfinden“. Aus den Beispielen heraus leiten Raschke und Tils eine allgemeinere Definition politischer Strategie ab: „Politische Strategien sind erfolgsorientierte Konstrukte von Politakteuren, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-UmweltKalkulationen beruhen. Aufgegliedert auf die bereits angesprochenen einzelnen Elemente bedeutet Strategiefähigkeit daher „Führung“ (Bildung eines strategischen Zentrums), „Richtung“ (Definition eines inhaltlichen Korridors), und „Strategiekompetenz“ (das Vorhandensein von strategischem Wissen). Es bleibt den Leserinnen und Lesern des Buches selbst überlassen, einmal den Versuch einer Anwendung dieses Schemas auf das aktuelle Handeln der SPD zu unternehmen. Aber schon ein kursorischer Blick macht deutlich: Welche Rolle die „Troika“ Gabriel/ Steinmeier/ Steinbrück spielen soll, welche politischen Ziele die drei miteinander und mit der SPD verbinden sollen, und welche Ideen der politischen Um- und Durchsetzung sozialdemokratischer Politik vorgesehen sind, ist völlig unklar.

Auch wenn Politik – gerade im ehrenamtlichen Bereich wie bei den Jusos – nicht am Reißbrett entsteht, und viele der beschrieben Prozesse eher in professionellen Umgebungen mit einer gewissen Kontinuität auch der Aktiven sinnvoll umgesetzt werden können, so bietet das Buch auch für an politischer Organisation interessierte Jusos eine wichtige Lektüre. Dies gilt umso mehr, als die Autoren offensichtlich die Möglichkeiten guter politischer Arbeit bei den Jusos unterschätzen, und die JusoVergangenheit einiger führender Sozialdemokraten gerade als Grund für ihre Strategieunfähigkeit benennen. Im Gegenteil – viel von dem, was die Autoren in Sachen politischer Strategie herausarbeiten, dürfte auch denjenigen bekannt und plausibel vorkommen, die mit offenen Augen durch ihr politisches ( Juso-) Leben gehen. Der Nutzen des Buches liegt daher vor allem in der durch die Autoren geleisteten Bündelung und Systematisierung des Wissens über politische Strategie. Deutlich wird zudem: Politische Strategie ist keine Geheimwissenschaft rauchverhangener Hinterzimmer, sondern etwas, was sich rational durchdenken und aneignen lässt. Und dieser Aspekt ist wichtig: All diejenigen, die Politik zwar mit heißem Herzen, aber nüchternem Verstand betreiben wollen, müssen sich mit den Bedingungen politischer Organisation und Strategie auseinandersetzen. Die Arbeiten von Raschke und Tils in den letzten Jahren - vor allem aber das vorliegende Buch - bieten einen guten und spannend geschriebenen Einstieg in strategisches politisches Denken. Interessant für die weitere Debatte rund um politische Strategie könnte sein, Elemente für die Anwendung politischer Strategie auch im Bereich von ehrenamtlicher Arbeit samt entsprechenden Schu-

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lungsangeboten zu entwickeln. Beim Blick auf die SPD und den Wahltermin 2013 fällt auf, dass wohl doch noch einige politisch-strategische Arbeit nötig sein wird, um auch nur in die Nähe einer Regierungsbeteiligung zu kommen… l Joachim Raschke/ Ralf Tils Politik braucht Strategie. Taktik hat sie genug Ein Kursbuch 263 Seiten, 24,90 € Campus Verlag, Frankfurt/Main 2011

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TEILHABE VON FRAUEN AM ARBEITSMARKT Von Lena Oerder und Barbara Zimmer, Doktorandinnen im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit den Forschungsschwerpunkten Durchsetzungsmechanismen des Entgeltgleichheitsanspruchs bzw. Brüche im Erwerbsverlauf

Schwerpunkt

Wir wissen alle: Seit über 60 Jahren gilt in Deutschland laut Grundgesetz, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Aber trotz des verfassungsrechtlich verankerten Gleichberechtigungsgebotes von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG), des Diskriminierungsverbotes (Art. 3 Abs. 3 GG) und des seit 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), ist tatsächliche Gleichstellung insbesondere auf dem Arbeitsmarkt lange nicht verwirklicht. Frauen verdienen im Schnitt immer noch deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen, sie sind seltener in Chefsesseln und Aufsichtsräten zu finden und ihre Lebensläufe sind häufiger von sorgearbeitsbedingten Pausen der Erwerbsarbeit durchzogen. Die anhaltende Benachteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen steht damit im Widerspruch zu unserem Grundgesetz und zu internationalem Recht.

Dieser Widerspruch bekommt mit dem demographischen Wandel und dem damit einhergehenden Fachkräftemangel eine neue Präsenz in der politischen und wirtschaftlichen Diskussion. Vermehrt soll nun auch aus einer ökonomischen Perspektive heraus das Erwerbspersonenpotential von Frauen, Älteren und Migrantinnen genutzt werden um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Plötzlich ist Teilhabe an der Gesellschaft für alle gesellschaftlichen Gruppen also nicht nur ein Akt der Nächstenliebe, sondern für die Wirtschaft überlebenswichtig. Nicht zuletzt das verschafft der Frauenbewegung und den Gleichstellungsfragen zusätzliches Gehör. Folgerichtig verweist auch die Europäische Kommission (2010) mit Nachdruck darauf, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern am Erwerbsleben und an Entscheidungsprozessen ein wirtschaftliches und demokratisches Gebot sei.

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Die Lebenslaufsperspektive Die Folgen der geringeren Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt, lassen sich anhand einer Lebenslaufsperspektive aufzeigen. Erst hierin zeigt sich, dass viele unserer Entscheidungen auf spätere Phasen im Leben Auswirkungen haben, die wir vielleicht nicht in Gänze vorweg sehen und die auch im späteren Erwerbs- oder Lebensverlauf nur schwer oder gar nicht rückgängig zu machen sind. Brüche oder Lücken im Arbeitsleben, wie sie beispielsweise durch die Geburt des ersten Kindes entstehen, können über die Elternzeit hinaus mit schwerwiegenden Folgen für den Erwerbsverlauf und die soziale Sicherung einhergehen. Mit der Lebenslaufperspektive können solche Wirkungsketten realistisch erfasst werden. Auch der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung nimmt diese Perspektive ein.1 Die Sozialpolitik orientiert sich ebenfalls an einem bestimmten Lebenslauf2: 40 Jahre sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung, ohne Unterbrechung. Die Sozialpolitik gewährleistet für dieses „Normalarbeitsverhältnis“ einen entsprechenden Schutz vor eintretenden Risiken wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Armut im Alter. Dumm nur, dass dieses Modell nicht der Lebensrealität einer Vielzahl von Frauen entspricht, insbesondere nicht der vieler Mütter. Ihre Lebensverläufe sind häufig gekennzeichnet durch Brüche und Lücken, Parallelitäten von Kindererziehungszeiten und zunehmend Unterbrechungen aufgrund von Pflegeverantwortung. Reaktion auf die atypische Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt war und ist noch immer, die Frauen über Versorgungsleistungen ihrer Ehemänner abzusichern

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(z.B. über die Krankenversicherung des Mannes). Damit verbunden ist weiterhin die Annahme eines traditionellen Alleinernährers, welche Frauen in der Position der Hausfrau und allenfalls in einer zuverdienenden Funktion sieht. So ist auch das Leitbild der Sozialversicherung der männliche Vollzeitarbeitnehmer, der als Ernährer seinen abhängigen Familienangehörigen Ansprüche im Sozialversicherungssystem vermittelt. Ungleichheiten im Erwerbsverlauf von Frauen und Männern ergeben sich in allen Stadien der Arbeitsmarktpartizipation; bei der Berufswahl, während der Berufstätigkeit und schließlich in der Nacherwerbsphase.

Gute Voraussetzungen Schaut man an den Beginn weiblicher Erwerbskarrieren fällt auf, dass junge Frauen in den vergangenen Jahren insbesondere bei der Bildung aufgeholt, ja junge Männer sogar überholt haben. Fast 40 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 26 Jahren gaben 2008 an, eine Fach-/oder Hochschulreife erworben zu haben. Bei Männern im gleichen Alter waren es mit 31 % deutlich weniger.3 Gute Voraussetzungen also, sollte man meinen. Auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen zeigt uns insgesamt zunächst posi1 BMFSFJ (2011): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. 2 Bogedan et al. (2010): Arbeits- und sozialrechtliche Regulierung für Übergänge im Lebenslauf – Ein Beitrag für ein soziales Recht der Arbeit. In: Arbeit und Recht 7-8. S. 320-322. 3 Statistisches Bundesamt (Hg.) (2010): Frauen und Männer in verschiedenen Lebensphasen. Wiesbaden.

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tive Bilanzen. Zunehmend haben Frauen den Anspruch, eigenständig ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Beschäftigungsziel der EU, bis 2010 die (Frauen-) Erwerbstätigenquote auf 60 Prozent zu erhöhen wurde schon 2005 erreicht. Mittlerweile (2011) liegt die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland bei ca. 70 Prozent.4 Betrachtet man allerdings den Umfang der geleisteten Arbeitszeit – also das tatsächliche Arbeitszeitvolumen – wird schnell klar, dass dieser positive Beschäftigungseffekt insbesondere durch die Ausweitung von Teilzeit und geringfügiger Beschäftigung der Frauen erreicht wurde.

In der Erwerbsphase – zumeist Teilzeit 52% aller beschäftigten Frauen arbeiteten 2010 in einem Teilzeitarbeitsverhältnis. Bei den Männern waren es hingegen nur 18 %.5 Auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse werden zu zwei Dritteln durch Frauen ausgeübt. Hierzu zählen auch Mini-Jobs, die kaum existenzsichernde Ansprüche in den gesetzlichen Sicherungssystemen bringen. Noch stärker ausgeprägt sind atypische Beschäftigungsverhältnisse bei Migrantinnen, älteren Frauen und Müttern. Von den Frauen mit Kindern arbeiteten 2008 fast drei Viertel (73%) auf Teilzeitbasis. Zum Vergleich: die Teilzeitquote der Väter lag zwischen 4% und 6%. Während mit der Anzahl der Kinder bei Männern das Arbeitsvolumen steigt, ist bei Müttern das Gegenteil der Fall. Dass dies oft unfreiwillig geschieht, ist kein Geheimnis. 84% der Mütter geben als Grund für ihre Teilzeiterwerbstätigkeit an, Betreuung von Kindern oder Pflegebedürftigen leisten zu müssen. Väter arbeiten hingegen, wenn sie denn in

Teilzeit arbeiten, eher aus arbeitsmarktspezifischen Gründen in dieser Beschäftigungsform. Dann nämlich, wenn kein Vollzeitarbeitsplatz zu finden war.6

Sorgearbeit = Frauenarbeit Ein Großteil unbezahlter Sorgearbeit wird in Deutschland nach wie vor von Frauen geleistet. Die Pflege von Familienangehörigen wird zu 73% (Daten für 2002) von ihnen erbracht, also, lediglich zu 27% von Männern getragen.7 Meist sind es die EhepartnerInnen (28%), die Töchter (26%) oder die Mütter (12%), die private Pflege übernehmen. Seltener handelt es sich dabei um die Söhne (10%) oder andere Angehörige. Interessant ist, dass immerhin 6% der privaten Pflegepersonen Schwiegertöchter sind, nie (bzw. der Anteil ist verschwindend gering) pflegen hingegen die Schwiegersöhne.8 Durch die anfallende Pflegearbeit ist es häufig kaum möglich, den eigenen Beruf noch in vollem Maße auszuführen. Hierdurch entstehen dann verringerte Auf4 Eurostat-Datenbank: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/refresh TableAction.do;jsessionid=9ea7d07e30ed46e6cb7 4a8b24c758191b94132009c05.e34OaN8Pc3mMc 40Lc3aMaNyTaxmLe0?tab=table&plugin=1&pc ode=t2020_10&language=de 5 Wanger, Susanne (2011): Ungenutzte Potenziale in der Teilzeit: Viele Frauen würden gerne länger arbeiten. (IAB-Kurzbericht, 09/2011), Nürnberg. 6 Statistisches Bundesamt (Hg.) (2010): Frauen und Männer in verschiedenen Lebensphasen. Wiesbaden. 7 Schneekloth, Ulrich; Wahl, Hans Werner (Hg.) (2006): Selbständigkeit und Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privathaushalten. Pflegearrangements, Demenz, Versorgungsangebote. Stuttgart: Kohlhammer. 8 Ebd.

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stiegs- und Karrierechancen, Lohneinbußen, geringere Beiträge in die sozialen Sicherungssysteme, bis hin zu einem erhöhten Armutsrisiko im Alter. Die rechtlichen Ansätze zur Vereinbarkeit von Erwerbsund Pflegearbeit bieten bisher nur unzureichend Abhilfe; Das Pflegezeitgesetz enthält einen Anspruch auf Freistellung zur Pflege naher Angehöriger, jedoch muss der Lohnausfall selbstständig finanziert werden. Das seit diesem Jahr geltende Familienpflegezeitgesetz enthält ein Finanzierungsmodell für die Erwerbsminderung wegen Pflegeaufgaben, jedoch keinen Anspruch gegenüber den ArbeitgeberInnen, auf Inanspruchnahme dieses Modells.

schaft vorherrschenden Frauen- und Familienbildern. Die Berufsfelder sind dabei eng verknüpft mit den Karriereverläufen, Aufstiegschancen und Einkommensgewinn. Hier wird nun in der Regel der altbekannte Appell an die Frauen selbst gerichtet, sich für eine vermehrte Partizipation doch bitteschön andere Berufe zu suchen, bessere. Soll heißen: männlichere. Dass diese Logik aber auch andersherum funktioniert, zeigt die Historie. Bereits mehrere Studien haben belegt, dass mit dem Wechsel eines Männer- zu einem Frauenberuf ein Abwerten dieser Tätigkeit einhergeht, und umgekehrt.10 Erinnert sei nur an den ehemals einflussreichen Beruf des Sekretärs.

Berufswahl Aber nicht nur die Form der Beschäftigung, sondern auch bestimmte Tätigkeitsfelder erzeugen Risiken im (weiblichen) Erwerbsverlauf. Frauen finden sich häufiger in frauendominierten, schlechter bezahlten Berufen. Junge Männer hingegen haben ein breiteres und weniger sozial-, dafür technikorientiertes Tätigkeitsspektrum.9 Längst wissen wir: die freie Wahl des Berufes ist ebenso sehr eine autonome Entscheidung einzelner Frauen, wie die Frage ob an Weihnachten die Geschenke für die Schwiegereltern mitgekauft werden. Doch nicht nur durch unbewusste gesellschaftliche, auch durch direkte institutionelle Rahmenbedingungen wird der Berufseinstieg und die gesamte Teilhabe von Frauen beeinflusst; durch die Verfügbarkeit sozialer Dienstleitungen wie vorhandene oder fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen, die Betriebsstrukturen und natürlich von den dort und in der Gesell-

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Frauen führen – leider selten Sowohl die Berufswahl als auch die erhöhte Teilzeitquote haben einen direkten Einfluss auf die Präsenz von Frauen in Führungspositionen. In den vergangenen – Jahren wird man wohl langsam sagen müssen – wurde das Thema „Frauenquote“ in Medien und Politik breit diskutiert. Bei den HochschulabsolventInnen haben Frauen zunächst noch die Nase vorn. Betrachtet man allerdings die Zahlen fällt auf, dass die oft zitierte gläserne Decke weiterhin nur schwer zu zerbrechen ist. So sind Führungspositionen im Allgemeinen 9 BMFSFJ (2011): Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht. 10 Knapp/Wetterer, Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, 1998, S. 222ff.; Teubner, Neue Berufe für Frauen: Modelle zur Überwindung der Geschlechterhierarchie, 1989, S. 30ff..

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zu 70% von Männern besetzt. Im mittleren Management finden sich lediglich noch 15% Frauen und auf Vorstandsebene sind sie mit 3% kaum noch vertreten.11 Gründe für diese signifikante Unterrepräsentanz von Frauen finden sich zahlreiche: zum einen werden Teilzeitbeschäftigte - also insbesondere Frauen - seltener für Führungspositionen in Betracht gezogen. Ihnen werden in der Regel geringere Karriereambitionen und Qualifikationsdefizite unterstellt. Zum anderen gibt es in den frauendominierten Arbeitsmarktsegmenten deutlich weniger Aufstiegschancen, nicht zuletzt weil es sich dabei um eher kleinere Betriebe handelt. Auch die Rollenvorstellungen, die mit einer Führungsposition verbunden werden und eher männlich konnotiert sind, spielen bei der Besetzung von Führungspositionen eine bezeichnende Rolle. Zusätzlich gelten bestehende Männerseilschaften als Barriere: Männer reproduzieren durch ihre Stellenbesetzung bestehende Ungleichheiten in der Vergabe von Führungspositionen.

Gender Pay Gap Eine Folge der aufgezeigten geschlechtsspezifischen horizontalen und vertikalen Segregation am Arbeitsmarkt ist die ausgeprägte Lohnlücke von 23,1 %. EU-weit sind es lediglich 16,4 %, womit Deutschland auf dem viertletzten Platz im EU-Vergleich rangiert.16 Gründe hierfür finden sich neben der Segregation des Arbeitsmarktes erneut zahlreiche: Familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und -reduzierungen vor allem in der Altersgruppe um die 30, in der Männer erhebliche Verdienstzuwächse rea-

lisieren können. Zentral für die Lohnlücke in Deutschland ist außerdem die Diskriminierung von Frauen beim Entgelt, beispielsweise durch fälschliche oder lückenhafte Arbeitsbeschreibungen typischer Frauentätigkeiten. So wurden (und werden) teilweise bei der Beschreibung von Altenpflegetätigkeiten die körperlichen Belastungen in diesem Beruf nicht zur Kenntnis genommen und konnten damit auch nicht mit in die Bewertung einfließen.

Folge: Gender Pension Gap Dem Gender Pay Gap folgt in der Nacherwerbsphase der Pension Gap, der als Bilanz am Ende eines Erwerbslebens sicherlich nicht die Lebensleistung beschreibt. Er liegt derzeit bei knapp 60 %. Das heißt, in Deutschland beziehen Frauen um 60 % geringere eigene Alterssicherungseinkommen als Männer. Damit wird erneut deutlich, welche Folgen Kindererziehung und damit verbundene Erwerbsunterbrechungen oder Reduzierungen auf die Alterseinkommen haben. Der Gap fällt bei verheirateten Frauen ohne Kinder geringer aus als bei denen mit Kindern. Ebenfalls wenig erstaunlich: Verheiratete und Verwitwete weisen einen deutlich höheren Gender Pension Gap auf (63,8 % bzw. 65,4 %) als Geschiedene und Ledige (18,8 % bzw. 9,0 %).13 11 BMFSFJ (2010): Frauen in Führungspositionen. Barrieren und Brücken. Heidelberg. 12 http://ec.europa.eu/justice/gender-equality/gender-pay-gap/situation-europe/index_en.htm, (Stand 23.07.2012). 13 BMFSFJ (Hg.) (2011): Gender Pension Gap. Entwicklung eines Indikators für faire Einkommensperspektiven für Männer und Frauen. Berlin.

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Rollenbilder verändern Positiv stimmen die Zahlen zu den sich verändernden Einstellungen zur Rolle der Frau in Beruf und Familie. Der Anteil an egalitären und geleichberechtigten Einstellungen in Deutschland nahm in den vergangenen Jahren über alle Altersklassen und geschlechterübergreifend zu. Dabei sind die Einstellungen zur Frauenerwerbstätigkeit in den neuen Bundesländern tendenziell positiver. Dies nicht zuletzt, weil Männer und Frauen die Erfahrung gemacht haben, dass Kinder auch mit einer erwerbstätigen Mutter gut versorgt sein können.14 Sofern sich diese Einstellungen auch in den Erwerbskonstellationen widerspiegeln, eröffnet dies beiden PartnerInnen Möglichkeiten auf Partizipation und Entfaltung und ist zugleich mit höheren Einkommen und gesteigerten Zufriedenheitswerten verbunden.

Endlich Handeln Um weiter Geschlechterstereotype und traditionelle Rollenbilder zu beseitigen müssen auch Anreize für Frauen bestehen, moderne und egalitäre Paarbeziehungen zu leben. Bisher ist dies noch zu wenig der Fall. Insbesondere die Ehe führt häufig, je länger sie besteht, zu einer Re-Traditionalisierung der Arbeitsteilung in Paarbeziehungen.15 Hier gilt es eine Modernisierung von Rollenbildern vor allem in Recht und Gesetz einzuarbeiten und Regelungen, die den beruflichen Aufstieg von Frauen fördern zu etablieren. Hierzu zählt auch die Abschaffung des Ehegattensplittings, dass die Erwerbsarbeit von Frauen wenig lohnend erscheinen lässt. Weil Frauen häufiger in schlechtbezahlten Berufen arbeiten

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und/oder schlechter bezahlt werden als Männer, ist die Einführung eines Mindestlohn und ein gesetzliches Entgeltgleichheitsgesetz unumgänglich um Gleichstellung zwischen den Geschlechtern zu erreichen. Zur Gleichstellung gehört auch eine gerechte Neubewertung von typischen Frauenberufen. Weiterhin sollte der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung endlich durchgesetzt, sowie die Infrastruktur im Pflegesektor weiter ausgebaut werden um Vereinbarkeitsrisiken zu kompensieren. Die Einführung des Betreuungsgeldes ist keine Alternative zu Krippenplätzen. Sie setzt vielmehr Anreize, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Zu weniger statt mehr Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt, zu mehr statt weniger Abhängigkeit von Ehemännern, und damit zu weniger statt mehr Gleichberechtigung der Geschlechter. Kurz, in eine Richtung die von SozialdemokratInnen seit jeher abgelehnt wird. Auch die Geschlechterquote in den Aufsichtsräten muss gesetzlich geregelt werden. Freiwillige Selbstverpflichtungen zeigen schließlich so gut wie keine Wirkung. Flankierend müssen Betriebe und Führungskräfte stärker für Geschlechterthemen sensibilisiert werden. Schließlich muss eine Umverteilung von unbezahlter Familienarbeit auf beide Geschlechter erreicht werden, damit Teilhabe am Arbeitsmarkt nicht länger ein Vereinbarkeitsproblem ist, welches zu oft zur Überlastung von Frauen führt. l 14 Blohm/Walter (2011): Einstellungen zur Rolle der Frau. In: Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Band I. Berlin/Wiesbaden. S. 393-398. 15 Klaus/Steinbach (2002): Determinanten innerfamilialer Arbeitsteilung. Eine Betrachtung im Längsschnitt. Zeitschrift für Familienforschung, 14. Jg., Heft 1/2002, S. 21-43.

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GERECHTE TEILHABE UND (DIREKTE) DEMOKRATIE Von Thorsten Faas, Professor für „Methoden der empirischen Politikforschung" an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Forschungsschwerpunkten Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlstudien

Hamburg, 18. Juli 2010. Volksentscheid über die Schulreform. 1.251.686 Hamburgerinnen und Hamburger sind aufgerufen, sich zwischen dem Vorschlag der Initiative „Wir wollen lernen!“ und dem Vorschlag der Bürgerschaft (und der dortigen schwarz-grünen Mehrheit) zu entscheiden. 492.094 Stimmberechtigte machen von ihrem Stimmrecht Gebrauch (427.425 (!) davon per Brief), das entspricht einer Beteiligung von 39,3 Prozent. Ob das nun viel oder wenig, zu viel oder zu wenig ist, darüber lässt sich trefflich und lange streiten. Unbestritten ist allerdings, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Hamburger Stadtteilen ganz erheblich waren: In Nienstedten gaben 60,3 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimme ab, in Groß Flottbek 60,1 Prozent, in Othmarschen 59,8 Prozent. Dem stehen am unteren Ende der Beteiligungsskala Bilbrook mit 12,5 Prozent, Kleiner Grasbrook/Steinwerder mit 20,5 Prozent und Hammerbrook mit 20,9 Prozent gegenüber.

Hamburg, 20. Februar 2011. Bürgerschaftswahl in Hamburg nach dem Ende der schwarz-grünen Koalition, die nicht zuletzt auch in Folge des verlorenen Volksentscheids zur Bildungsreform in die Brüche ging, aber das ist wieder ein anderes Thema... 1.254.638 Hamburgerinnen und Hamburger sind zu den Wahlurnen gerufen; 718.876 Wahlberechtigte machen von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Die Wahlbeteiligung liegt stadtweit bei 57,3 Prozent. Und erneut sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen Hamburgs immens. Groß Flottbek, Nienstedten und Wohldorf-Ohlstedt bilden die Spitzengruppe mit 76,8 und zwei Mal 76,7 Prozent; am unteren Ende rangieren – erneut – Billbrook (26,1 Prozent) und Kleiner Grasbrook/Steinwerder (35,6 Prozent) sowie Rothenburgsort (mit 39,7 Prozent). Hamburg, 27. September 2009. Bundestagswahl nach vier Jahren „Große Koalition“ in Berlin. Die Wahlbeteiligung erreicht bundesweit einen historischen Tiefststand mit 70,9 Prozent. In Hamburg sind 1.256.634 Bürgerinnen und Bürger

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zur Stimmabgabe aufgerufen, 896.053 kommen der Aufforderung nach, was einer Beteiligung von 71,3 Prozent entspricht. Die höchsten Wahlbeteiligungsraten werden in Wohldorf-Ohlstedt (86,7 Prozent), Groß Flottbek (86,8 Prozent) und vor allem der HafenCity (87,4 Prozent) verzeichnet; die niedrigsten – wie schon bei der Bürgerschaftswahl – in Billbrook (40,6 Prozent), Kleiner Grasbrook/Steinwerder (48,9 Prozent) sowie Rothenburgsort (54,4 Prozent). Wie lassen sich diese Zahlen einordnen? Zweifelsohne: Die Wahlbeteiligung an der Bundestagswahl 2009 war historisch niedrig. Und dennoch ragen die hier erzielten Beteiligungsraten für die Bundestagswahl 2009 weit (und vor allem positiv) aus den anderen Werten heraus. Dies gilt zunächst für das Niveau der Beteiligung: Mit 71,3 Prozent lag die Beteiligung an der Bundestagswahl um 14 Prozentpunkte über der Beteiligung an der Bürgerschaftswahl 2011 und diese lag nochmals um 18 Prozentpunkte höher als die Beteiligung am Volksentscheid zur Schulreform. Die Bundestagswahl ragt aber auch hinaus, wenn man sich die Unterschiede zwischen den Stadtteilen anschaut. Schaut man sich etwa exemplarisch die Situation in Kleiner Grasbrook/Steinwerder an, dann liegt die Beteiligung an der Bundestagswahl 2009 dort etwa zweieinhalbmal höher als die Beteiligung an der Volksabstimmung 2010. In Bilbrook liegt sie sogar mehr als dreimal höher. Auf der anderen Seite, etwa in Groß Flottbek, steigt die Wahlbeteiligung „nur“ von 60,1 auf 86,8 Prozent. Das entspricht einem Anstieg von weniger als 50 Prozent. Mit anderen Worten: Die Bundestagswahl 2009 war – trotz

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des historischen Tiefststandes – diejenige Wahl, bei der sich die Hamburger Stadtteile (und die dort lebenden Menschen) mit Blick auf ihre Beteiligung am ähnlichsten waren, bei der die soziale Schere der Beteiligung noch relativ geschlossen war. Bei den anderen Formen politischer Beteiligung – Bürgerschaftswahl und Volksentscheid dagegen – öffnet sich die Schere deutlich. All diese Unterschiede sind dabei keineswegs zufällig, sondern erstaunlich robust: Die resultierenden Muster der Beteiligung ähneln sich bei den drei hier betrachteten Ereignissen in einem erstaunlich hohen Maße: Stadtteile haben entweder ein relativ hohes Beteiligungsniveau oder ein relativ niedriges Beteiligungsniveau. Dies gilt für alle drei der hier betrachteten Ereignisse, auch wenn die Höhe der Beteiligung und die Unterschiede zwischen den Stadtteilen je nach Ereignis unterschiedlich stark ins Gewicht fallen. Und diese stabilen Muster haben ihre Gründe: Nienstedten etwa, einer der Stadtteile mit den höchsten Beteiligungsraten, weist ein durchschnittliches Einkommen je Steuerpflichtigem von über 150.000 Euro aus, während die amtliche Statistik für Kleiner Grasbrook/Steinwerder einen Wert von 17.845 Euro berichtet. Umgekehrt liegt der Anteil der Hartz IV-Empfänger dort bei 27,9 Prozent, in Nienstedten dagegen bei 0,9 Prozent. Offenkundig – und das zeigen in jüngerer Vergangenheit auch die Arbeit von Armin Schäfer am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in beeindrukkender Art und Weise – sind die soziale und die politische Teilhabe in hohem Maße miteinander verwoben. Die Erwar-

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tung, die etwa der amerikanische Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset schon 1960 formuliert hat – „groups subject to economic pressures with which individuals cannot cope … might also be expected to turn to government action as a solution“ – scheint sich in der Realität nicht zu bewahrheiten. Im Gegenteil: Diese Gruppen in ökonomischen Turbulenzen wenden sich sogar verstärkt von der Regierung und der Politik ab. Gleichwohl erfreuen sich direktdemokratische Verfahren in der aktuellen Diskussion über alle Parteigrenzen hinweg wachsender Beliebtheit. Alle Parteien haben sich die Ausweitung direktdemokratischer Verfahren auf ihre Fahnen geschrieben. Und das ist grundsätzlich auch gut so. Politische Partizipation ist das Lebenselixier der Demokratie, je mehr es davon gibt, umso besser. Aber Demokratie heißt auch demokratische Gleichheit: one man (und natürlich one woman), one vote. Aber diese Facette direktdemokratischer Verfahren kommt in den einschlägigen Diskussionen häufig sehr kurz. Die Befürworter einer Ausweitung verweisen mitunter auf das universell gegebene Wahlrecht und die Freiwilligkeit und Freiheit der Wahl, die auch das Recht auf Nichtwahl und Nichtbeteiligung umfasse. Diesem Argument liegt allerdings eine starke Annahme zugrunde, nämlich dass all jene, die sich an Wahl- und Abstimmungstagen nicht beteiligen, dies bewusst (nicht) tun. Wirft man allerdings einen Blick auf die Partizipationsforschung und die dort diskutierten Motive, die zur Nicht-Beteiligung führen, so ist dies nur ein Aspekt unter mehreren. In einem wichtigen Beitrag der drei amerikanischen Poli-

tikwissenschaftler Sidney Verba, Kay Lehman Schlozman und Henry E. Brady wird eine Trias von Erklärungsfaktoren präsentiert. Bürgerinnen und Bürger beteiligen sich nicht, „because they can’t, because they don’t want to, or because nobody asked”. Gerade die Unterscheidung zwischen Nicht-Können und Nicht-Wollen hat eine wichtige normative Implikation. Wenn gefordert wird, dass alle Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen sollten, dann setzt diese Forderung des Sollens zwingend ein Können voraus. Pointiert heißt es dazu bei Brady, Schlozman und Verba (1995: 272): „If individuals eschew politics because they do not care – because they prefer to devote themselves to private rather than public pursuits – then we are apt to dismiss inactivity as a matter of personal choice. If the failure to get involved is the consequence of resource constraints that make it difficult for even those who are politically interested and engaged to take part in political life, then we are likely to be more concerned about political inactivity”. Letztlich erfordert die Diskussion um direkte Demokratie eine präzise Analyse der damit verbundenen Motivlagen. Dies gilt für die Motive für oder gegen mehr (direkte) Demokratie insgesamt, aber auch für die Motive, die im konkreten Fall eines direktdemokratischen Verfahrens dazu führen, dass sich eine stimmberechtigte Person für oder gegen die Teilnahme (mehr oder minder bewusst) entscheidet. Es geht an dieser Stelle um die Grundarchitektur unseres demokratisch verfassten politischen Systems und Änderungen daran sollten auf der Basis solider Informationen erfolgen, um nicht falsche Prämissen zur Grundlage fundamentaler Entscheidungen zu machen.

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Schauen wir noch einmal nach Hamburg: Anlässlich der dortigen Bürgerschaftswahl 2011 sind im Rahmen der German Longitudinal Election Study rund 500 Hamburgerinnen und Hamburgern mittels einer (Online-)Befragung interviewt worden. Dabei sollten sie auch ihre Zustimmung zu den folgenden beiden Aussagen geben: „Volksabstimmungen sind ein gutes Mittel, um wichtige politische Fragen zu entscheiden“ sowie „Volksabstimmungen sind eine Gefahr für die Demokratie“. Die erste Aussage stößt dabei auf sehr große Zustimmung in der Bevölkerung, während die zweite („Gefahr für die Demokratie“) auf nicht minder große Ablehnung stößt. Insgesamt also erfreuen sich die direktdemokratischen Verfahren sehr positiver Resonanz. Doch auch hier fördert ein Blick auf damit verbundene Hintergründe deutliche Unterschiede zutage: Sowohl die Unterstützung direktdemokratischer Verfahren (am Beispiel der beiden skizzierten Aussagen) als auch die tatsächliche Beteiligung an Volksentscheid sowie Landtags- und Bundestagswahl in Hamburg (die im Rahmen der Umfrage ebenfalls erfragt wurde) belegen: Es sind die politisch Interessierten, die die Idee direkter Demokratie (zumindest in Hamburg) in stärkerem Maße unterstützen und die auch in stärkerem Maße daran (aber auch an anderen Verfahren verfasster politischer Partizipation) teilhaben.

unterstreicht auch die oben skizzierte Trias: Der dritte Faktor – „because nobody asked“ – zeigt, dass es externe Anreize geben kann (und sollte), die motivationale und strukturelle Defizite, die bei bestimmten Bevölkerungsgruppen potenziell bestehen, kompensieren können. Das zielt in Richtung politischer Bildung, aber auch in Richtung politischer Parteien und ihrer Mobilisierungsfähigkeiten. Und es zielt indirekt auch in Richtung der Politik insgesamt, politische Partizipation und die dafür nötigen Instrumente so zu gestalten, dass sie attraktiv, leicht verständlich und anwendbar und damit so wenig selektiv wie möglich sind. l

Literatur: Brady, Henry E., Sidney Verba und Kay Lehman Schlozman. 1995. Beyond SES. A Resource Model of Political Participation. American Political Science Review 89: 271-294. Faas, Thorsten. 2010. Arbeitslosigkeit und Wählerverhalten. Direkte und indirekte Wirkungen auf Wahlbeteiligung und Parteipräferenzen in Ost- und Westdeutschland. Baden-Baden: Nomos. Schäfer, Armin. 2012. Beeinflusst die sinkende Wahlbeteiligung das Wahlergebnis? Eine Analyse kleinräumiger Wahldaten in deutschen Großstädten. Politische Vierteljahresschrift 53.

All das ist kein Grund, die Flinte der Demokratie und der Partizipation ins Korn zu werfen. Aber es unterstreicht, dass man selektive Aspekte, die mit Partizipation verbunden sind, im Lichte demokratischer Gleichheit im Auge behalten muss. Das

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DIE RENAISSANCE DER DEMOKRATIEFÖRDERUNG – NEUE CHANCE UND ALTE PROBLEME1 Von Dr. Julia Leininger, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung „Governance, Staatlichkeit und Sicherheit“ des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE)

Internationale Demokratieförderung hat seit den Protestbewegungen im arabischen Frühling von 2011 eine Renaissance erlebt. Nachdem die aktive Unterstützung von Demokratisierungsprozessen jenseits der Europäischen Union und Nordamerikas in den vergangenen Jahren in die Kritik geraten ist, bekennen sich westliche Staaten wieder offensiver zur aktiven Demokratieförderung. In den ungeahnten Dynamiken des „Arabischen Frühlings“ wittern DiplomatInnen und PraktikerInnen der staatlichen sowie nicht-staatlichen Entwicklungszusammenarbeit neue Chancen für internationale Demokratisierungspolitik. So stehen offene Fragen über die Förderung von Demokratie und Menschenrechten im Raum: Welche Rolle spielen externe Faktoren bei der Etablierung und Konsolidierung von demokratischen Institutionen und Menschenrechtsstandards? Zu wel-

chem Grade und mit welchen Mitteln kann die internationale Gemeinschaft Demokratie von außen fördern? Doch was im Kontext der Arabellionen in neuem Gewand erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung zum Großteil als „alter Hut“. Wer Demokratie im arabischen Raum und anderswo unterstützen will, muss neuartige Chancen erkennen und sich gleichzeitig altbekannten Problemen stellen.

Ein anerkanntes „Mantra“: Demokratieförderung bedarf Zeit Dass Demokratisierung ein langwieriger und keinesfalls linear verlaufender Prozess ist, und daher auch langfristiger För1 Teile dieses Beitrags stammen aus der folgenden Veröffentlichung: Böckenförde, Markus/Leininger, Julia (2012): Demokratie und Menschenrechte in der deutschen Außenpolitik, in: APuZ 10/2012, 5. März 2012, S. 40.46.

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derungsstrategien bedarf, findet in Wissenschaft und politischer Praxis weitgehend Anerkennung. Wenngleich der Aufbau repräsentativer Institutionen wie eines Parlamentes relativ schnell geschehen mag, entscheiden letztlich das Verhalten und die Wertvorstellungen politischer Eliten und Gesellschaftsgruppen über die Qualität und den Fortbestand einer Demokratie. Gerade dieser soziokulturelle Wertewandel einer Gesellschaft bedarf viel Zeit. In der deutschen Demokratieentwicklung vollzog sich eine Liberalisierung von Werten in wesentlichen Bereichen weitgehend im Gleichklang mit der Entwicklung, Anwendung und Auslegung des formellen Rechts. So gelang es in Deutschland z.B. erst 1969 einen Großteil der Vorschriften aus dem Strafgesetzbuch (StGB) zu streichen oder zu entschärfen, die keine Rechtsgutverletzungen, sondern „unmoralische“ Taten unter Strafe stellten (wie „Unzucht zwischen Männern“). Es dauerte bis 1994 und bedurfte der Pflicht zur Rechtsangleichung von Ost- und Weststrafrecht bis die strafrechtliche Diskriminierung homosexueller Männer gänzlich aufgehoben wurde. Dass dies noch nicht das Ende der Diskriminierung auf Grundlage sexueller Orientierung in Deutschland war, ist weithin bekannt. 1957 begründete das Bundesverfassungsgericht, dass sowohl die Bestrafung von „Unzucht unter Männern“ als auch die gleichzeitig bestehende Straflosigkeit der Unzucht unter Frauen mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Aus der gegenwärtigen Perspektive dürfte dieses Urteil bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung Erstaunen oder gar Entsetzen hervorrufen. Gleichwohl haben sich die einschlägigen Grundrechte seither nicht in relevanter Weise geändert. Bis

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heute hat der abschließend formulierte Artikel 3 Absatz 3 GG die sexuelle Orientierung in den Kanon der Diskriminierungsgebote nicht mit aufgenommen. Und dennoch ist anzunehmen, dass das Gesetz von damals heute für verfassungswidrig erklärt werden würde. Mag dieser Fall Geschichte sein, das Fortleben „unmoralischer“ Straftatbestände beschäftigt Deutschland auch noch in der Gegenwart: Nach Artikel 173 Absatz 2 Satz 2 StGB ist der Beischlaf unter erwachsenen Geschwistern strafbar. Dessen Verfassungsmäßigkeit wurde noch 2008 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Das abweichende Sondervotum entblättert in bestechender Weise das Fehlen eines anerkannten Strafzwecks für diese Norm. Dies verdeutlicht, dass auch unser gegenwärtiges in Recht gefasstes Wertesystem noch Raum zur Entwicklung hat. Leser und Leserinnen, die sich dabei ertappen, diesen Fall als etwas grundsätzlich anderes zu sehen, spiegeln den Umstand, dass auch wir noch nicht aus wertebezogener Perspektive allen menschenrechtsrelevanten Standards Rechnung tragen wollen. Was die obigen Absätze verdeutlichen sollen: Der demokratische Freiheitsgrad und damit die Menschenrechte des Einzelnen werden zumeist so formuliert oder ausgelegt, dass sie mit dem Wertesystem einer Gesellschaft auf „Tuchfühlung“ bleiben. Sie mögen dem gesellschaftlichen Wertewandel ein Stück vorausgehen, ihn unterstützen oder beschleunigen, sie bleiben aber immer im Bezug zum Wertesystem. Nur so lässt sich die soziale Akzeptanz von Freiheits- und Menschenrechten gewährleisten. Fehlt dieser Bezug, drohen freiheitliche Werte und Menschenrechte

Die Renaissance der Demokratieförderung – neue Chance und alte Probleme Argumente 2/2012


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als exogene Produkte verstanden und nicht substanziell und nachhaltig umgesetzt zu werden. Von einer außen- und entwicklungspolitischen Perspektive betrachtet, bedeutet dies, dass Prozesse soziokulturellen Wandels nicht abgekürzt werden können. Oft werden in Entwicklungsländern politische und bürgerliche Rechte niedergeschrieben, um äußeren Erwartungen von Geberländern zu entsprechen und Bedingungen für den Transfer von Hilfs- und Entwicklungsgeldern zu gewährleisten. Eine wirksame und nachhaltige Umsetzung ist aber selten möglich, wenn darin gesellschaftlich legitimierte Werte nicht gespiegelt sind.

Prozesse fördern, nicht nur Produkte fordern Erkennen wir anhand deutscher Erfahrungen die prozesshafte Entwicklung von Menschenrechtsstandards als notwendig an, bleibt die Frage nach dem Umgang mit dieser Erfahrung in der internationalen Demokratieförderung. Prozesse fördern und Produkte fordern – wie schwierig und ambivalent diese Wahl ist, zeigt beispielsweise der deutsche Umgang mit dem Gesetzesentwurf zur Verschärfung der Strafbarkeit der Homosexualität in Uganda. Homosexualität ist dort strafbewehrt, mit einer Höchststrafe von bis zu 14 Jahren Haft. Für viele Menschen in afrikanischen Gesellschaften gilt Homosexualität als „unmoralisch“; so steht in 38 von 54 afrikanischen Staaten Homosexualität unter Strafe. Ein 2009 in Uganda vorgelegter Gesetzesentwurf, der eine Verschärfung der Strafen vorsah, löste kontroverse gesellschaftliche Debatten aus. Zwar wurde Todesstrafe im neu vorgelegten Gesetzes-

entwurf (2012) als Höchststrafmaß fallengelassen, mehrere Verschärfungen gegenüber den bestehenden Straftatbeständen bleiben aber erhalten. In Uganda repräsentiert die Gesetzesinitiative homophobe Teile der Gesellschaft. Was können außenpolitische Akteure tun, wenn die von ihnen geförderten demokratischen Prozesse illiberale und menschenrechtsfeindliche Werte auf die politische Tagesordnung bringen? Die einfache Antwort lautet: Menschenrechtsverletzungen anmahnen und demokratische Prozesse respektieren. Im Falle der Todesstrafe für Delikte von Homosexuellen können sich Geber auf universelle Menschenrechte beziehen und deren Einhaltung energisch einfordern. Dies ist im ugandischen Fall gegenüber der Regierung des Landes mit Nachdruck geschehen. Die internationalen und nationalen Proteste haben aber nicht verhindern können, dass das Thema in der neuen Legislaturperiode abermals auf der parlamentarischen Agenda steht. Dies spricht dafür, dass die Intervention von Geberländern über die Exekutive eine relevante parlamentarische und gesellschaftliche Debatte unterbunden hat. Dadurch wurde die Rolle des ohnehin starken ugandischen Präsidenten weiter gestärkt und hat seine Einmischung in die Arbeit des Parlamentes unterstützt. Damit haben Geber den demokratischen Prozess unterminiert, dessen Förderung sie sich zugleich selbst aufgegeben haben. Wie an der Geschichte Deutschlands bereits deutlich wurde, braucht es Zeit, wenn freiheitliche Werte aus sich heraus in einer Gesellschaft wachsen sollen. Im Hin-

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blick auf die neue ugandische Gesetzesinitiative ohne Todesstrafe darf der Zeitfaktor nicht außer Acht gelassen werden. Geber sind zwar ihrer eigenen Bevölkerung Rechenschaft schuldig, wie sie die ihnen anvertrauten Steuergelder ausgeben. Doch darf dies weder auf Kosten soziokultureller Entwicklung in der ugandischen Gesellschaft gehen, noch die Rechenschaftspflicht der ugandischen Regierung gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung beschädigen. Dies kann umgangen werden, indem der Fokus stärker auf die Dynamik politischer Prozesse und nicht primär auf die vermeintlichen Ergebnisse gelegt wird. Debatten wie die über Rechte Homosexueller in der ugandischen Gesellschaft können nur im jeweiligen Kontext ausgetragen werden. Indem demokratische Institutionen mit Leben ausgefüllt und von der Bevölkerung in Anspruch genommen werden, können sich demokratische Prozesse, Verhaltensweisen und Einstellungen festigen. Erst wenn die Regierung wider der Meinungs- und Versammlungsfreiheit eine öffentliche Diskussion zu unterbinden sucht – wie dies in Uganda im Februar 2012 gegenüber einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten gegen das Gesetzesvorhaben geschehen ist –, können Geber hier durch abgestimmte Verurteilungen der Situation glaubwürdig eingreifen. Jedoch in demokratischem Rahmen ablaufende Debatten durch einen einseitigen Dialog mit der Regierung zu ersticken, stärkt langfristig weder Demokratie noch die Menschenrechte – und untergräbt damit die eigene außenpolitische Zielsetzung.

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Die Zivilgesellschaft ist wichtig, aber nicht alleinentscheidend Die neue Welle internationaler Demokratieförderung setzt auf die Unterstützung nichtstaatlicher Gruppen. Dies ist ein Bereich, der seit jeher einen zentralen Bestandteil internationaler Demokratieförderung darstellt. Vor dem Hintergrund theoretischer Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen, beispielsweise in Bolivien, ist die Förderung zivilgesellschaftlicher Gruppen zwar wichtig für Demokratisierung. Eine zu starke Fokussierung auf prodemokratische Akteure darf aber nicht auf Kosten institutioneller Fördermaßnahmen gehen. Ohne die Entwicklung rechenschaftspflichtiger, repräsentativer oder auch partizipativer staatlicher Institutionen ist keine nachhaltige Demokratisierung zu erwarten. Nur wenn Interessen der Bevölkerung kanalisiert und in kollektive Entscheidungen übersetzt werden können, kann eine dauerhafte demokratische Gemeinschaft entstehen. Die Regeln hierfür können politische Eliten und die Bevölkerung in einem iterativen Prozess aushandeln; sie können vorerst aber auch auf Pakten zwischen Eliten basieren. Es gilt also, dass Demokratieförderung keine Frage des „entweder-oder“ zwischen Zivilgesellschaft oder demokratischen Institutionen ist, sondern eine Frage des „sowohl-alsauch“. Zudem entpuppt sich die Identifizierung von Akteuren, die gewissenhaft und nachhaltig für die Öffnung eines autoritären Regimes und für Demokratisierung stehen, immer wieder als schwierig und langwierig. Dabei stellt sich gerade in autoritären Kontexten die Beurteilung der Glaubwürdigkeit politischer Akteure als

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große Herausforderung dar. Inwiefern sich hinter einem Schleier demokratischer Rhetorik entsprechende Werte und Einstellungen verbergen, zeigt sich in der Regel erst im gemeinhin langwierigen Verlauf von Demokratisierungsprozessen. Setzen externe Akteure also primär darauf, sich vor oder während einer Umbruchphase zu engagieren, fördern sie zwangsläufig auch Kräfte, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als Nicht-Demokraten entpuppen können. Staatliche Organisationen sind daher auf die Zusammenarbeit mit traditionellen, nichtstaatlichen Demokratieförderern wie die deutschen oder europäischen politischen Stiftungen angewiesen. Sie pflegen in der Regel politische Netzwerke und können gesellschaftliche Dynamiken besser einschätzen als staatliche Akteure, die vor allem mit demokratischen wie autoritären Regierungen zusammenarbeiten.

Langwierigkeit sozio-kulturellen Wandels anerkennen, sondern auch politische Strategien entsprechend gestalten. „Produkte“ wie die Gewährung freiheitlicher Rechte, einzufordern, steht im Einklang mit der Zielsetzung, Demokratie in anderen Staaten und Gesellschaften zu unterstützen. Damit dies, zweitens, gelingen kann, dürfen Forderungen keine leeren Worthülsen bleiben, sondern müssen in Entwicklungsländern durch eine aktive und langfristige Förderung demokratischer Prozesse begleitet werden. Drittens ist die Zivilgesellschaft kein Allheilmittel zur Unterstützung von Demokratisierungsprozessen. Ihre Förderung muss im Einklang mit der Unterstützung demokratischer Institutionen stehen. l

Zusätzliche Risiken für die Demokratieförderung ergeben sich, wenn eine starke externe Förderung von Oppositionskräften in autoritären Kontexten kontraproduktiv wirkt: Diese Gruppen können entweder in den Augen der Bevölkerung diskreditiert oder vom autoritären Regime für ihre Aktivitäten bestraft werden. Je offensiver in den letzten Jahren externe Geber Menschenrechts- oder Demokratieaktivisten unterstützten, desto massiver schränkten die Regierungen den Handlungsspielraum derselben ein, beispielsweise in Russland, wo NROs, die Gelder aus dem Ausland erhalten, einem jüngsten Gesetzentwurf zufolge mit verschärfter Überwachung rechnen müssen. Kurzum, wer Demokratie effektiv fördern möchte, sollte erstens nicht nur die

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DIE RETTUNG DER DEMOKRATIE DURCH DIE PIRATEN? FÜNF MISSVERSTÄNDNISSE Von Dr. Christian Demuth, Politologe und Referent für Grundsatzfragen beim Parteivorstand der SPD

Gründe für die Attraktivität der Piraten Vier Landtagswahlen hintereinander, in Berlin, im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen, gelang es den Piraten deutlich in ein Landesparlament einzuziehen. In den Umfragen auf Bundesebene schwächelten die Piraten zwar in den letzten Monaten leicht, blieben aber trotzdem stabil über 5 Prozent. In Umfragen geben sogar rund 18 Prozent der Befragten an, dass sie sich vorstellen könnten, die Piraten zu wählen. Von diesen wiederum nannten 72 Prozent ihre Unzufriedenheit mit den anderen Parteien als Hauptmotiv solcher Überlegungen.1 Die Piratenpartei ist derart nicht nur überwiegend eine Protest-Partei, sondern scheinbar eine sehr attraktive Alternative sowohl im Verhältnis gegenüber allen anderen Protestparteien als auch gegenüber den etablierten Parteien. Die Piratenpartei mobilisiert überdurchschnittlich ehemalige Nichtwähler, gleichzeitig erhält sie von al-

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len anderen Parteien Stimmen, blickt man auf die Wählerwanderungen der letzten Landtagswahlen: Während in SchleswigHolstein besonders CDU und FDP an die Piraten verloren, waren es in NRW viele ehemalige SPD-Wähler und GrünenWähler, welche die Piraten wählten.

Gründe für die Wahl der Piraten Dass eine Partei wie die Piraten gerade jetzt attraktiv erscheint, ist nicht überraschend angesichts des aktuellen Bildes, welche die politischen Institutionen abgeben. Insgesamt sechs Krisenerscheinungen können in den Augen der Menschen angeführt werden: Erstens untergräbt die etablierte Politik die eigene Legitimation, weil sie in den letzten Jahren demokratische Verfahrensweisen selbst aushöhlt. Indem etwa Demokratie als Störfaktor gesehen wird, der nötige Reformen verhindert. In1 Forschungsgruppe Wahlen, April 2012.

Die Rettung der Demokratie durch die Piraten? Fünf Missverständnisse Argumente 2/2012


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dem Angela Merkel von einer „marktkonformen Demokratie“ spricht oder der nicht demokratisch gewählte italienische Regierungschef Monti die Mitwirkungsrechte der Parlamente in der Euro-Krise in Frage stellt. Werden aber die eigenen demokratischen Verfahrensweisen ständig von den Institutionen selbst in Frage gestellt, so ist es nicht überraschend, dass alternative demokratische Beteiligungsinstrumente wie plebiszitäre Elemente oder eine Internetbeteiligung, wie sie die Piraten propagieren, zur Projektionsflächen politischer Hoffnungen werden. Zweitens verspielt die Politik das Vertrauen der Bevölkerung, weil sie trotz wiederholter Ankündigungen lagerübergreifend nicht imstande zu sein scheint, die wild gewordenen Finanzmärkte zu bändigen oder die Krise im Euro-Raum zu beherrschen. Damit verfestigt sich in der Bevölkerung der Eindruck, das politische System könne den Herausforderungen nicht mehr gerecht werden und die Sehnsucht nach Alternativen steigt. Mittlerweile glauben über 80 Prozent der Menschen, dass die Politik nicht mehr die zentralen Probleme in Deutschland lösen kann. Dass die Piratenpartei auch keine Lösungen für diese Probleme haben, schadet ihr daher nicht: In den Augen der Bevölkerung gibt sie wenigstens zu, nicht alle Antworten zu haben. Drittens wird zunehmend von den Bürgern wahrgenommen, dass die Politik letztlich nicht mehr der Mehrheit der Bevölkerung nutzt, sondern sich eine Minderheit bereichert: Was sollen die Menschen davon halten, dass einerseits Banken gerettet werden und daher die Staatsschulden steigen, sich Banker aber weiterhin

horrende Gehälter und Boni auszahlen. Für viele scheinen daher nur noch mächtige Interessengruppen hinter den Kulissen die Politik zu bestimmen. Wenngleich dies oft als „Postdemokratie“ bezeichnete Bild ein Zerrbild ist, so hat die Merkel-Regierung doch einiges dafür getan, diese Vorurteile zu bestätigen – man nenne nur die „Möwenpicksteuer“ und die Geburtstagsfeier mit Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, im Kanzleramt. Auf die Frage, „Glauben Sie, dass die Abgeordneten in Berlin in erster Linie die Interessen der Bevölkerung vertreten, oder haben sie andere Interessen, die ihnen wichtiger sind?“, antworteten 39 Prozent, die Politiker verfolgten vor allem persönlichen Interessen, 21 Prozent sagten, sie orientierten sich an den Interessen ihrer Partei, der Wirtschaft oder von Lobbyisten. Nur noch 20 Prozent der Deutschen glaubten, dass sich die Abgeordneten für die Interessen der Bevölkerung einsetzen würden. Vor zehn Jahren waren es noch 42 Prozent und 1978 sogar 55 Prozent, welche eine Gemeinwohlorientierung der Parlamentarier annahmen.2 Jene postdemokratischen Zustände machen wiederum Forderungen der Piraten mit ihrem Anti-Establishment-Gestus nach mehr Transparenz attraktiv. Dazu kommt viertens ein immenses Misstrauen gegenüber dem Staat gerade bei vielen jungen Leuten. Die aktuelle Affäre um die Rolle des Verfassungsschutzes in der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, die Spätwirkungen der staatlichen Maßnahmen in der Folge der Anschläge vom 11. September, der Umgang mit Wikileaks, aber auch etwa die 2 Zahlen von Allensbach, Erhebung 28.10. bis 11.11.2011; vgl. Petersen 2011.

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intransparente Aushandlung von Abkommen etwa im Rahmen der ACTA-Beschlüsse sind nur einige Beispiele für die Kritik an einer (vermeintlichen) Aushöhlung von Bürgerrechten. Das ist auch das eigentliche Thema der Mitglieder der Piratenpartei. Die Mehrheit der Mitglieder mit 60,7 Prozent bezeichnet sich derart als linksliberale Partei. Immerhin 76,7 Prozent gaben an, sich wegen der „Verteidigung und Stärkung der Bürgerrechte“ bei den Piraten zu engagieren.3 Fünftens reagieren die Menschen oftmals nur noch zynisch gegenüber den erstarrten Routinen der etablierten Politik, die zur reinen Inszenierung verkommen zu sein scheint. Erkennbar werden die Piraten auch wegen ihrem Äußeren ausgewählt. Das zentrale Argument ist allein: Diese seien „anders als die anderen Parteien“.

traktivität der Piraten also erklärbar. Welche Antworten haben aber nun die Piraten darauf? Letztlich finden sich bei den Piraten zwei Schlagwörter: Transparenz und Partizipation, jeweils verbunden mit der Vision, diese beiden Forderungen durch technische Lösungen zu revolutionieren und die Demokratie dadurch besser zu machen. So heißt es bei der Piratenpartei: „Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie, bei der die Freiheit, die Grundrechte, vor allem die Meinungsfreiheit sowie die Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen gestärkt werden können. Die Piratenpartei sieht es als Ihre Aufgabe an, die Anpassung der gelebten Demokratie in der Bundesrepublik an die neuen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu begleiten und zu gestalten.“4 Und die Piratin Marina Weisband stellte fest, die Piraten hätten „nicht nur ein Programm anzubieten, sondern ein Betriebssystem“.

Sechstens droht die soziale Basis der Demokratie zu erodieren. Demokratie und Soziale Gerechtigkeit gehören aber untrennbar zusammen. Gerade junge Arbeitnehmer scheinen nicht mehr von den bestehenden Institutionen des Sozialstaats zu profitieren: Denn was bringt der Kündigungsschutz oder das Recht für Alleinerziehende, die Arbeitszeit zu reduzieren, bei Einjahresverträgen mit einem halbem Jahr Probezeit? Es ist wenig überraschend, dass deshalb eine zentrale Forderung der Piraten nach einem Grundeinkommen an Bedeutung gewinnt. Auch der hohe Anteil an Arbeitslosen und jungen Wählern unter der Wählerschaft der Piraten ist derart erklärbar.

Blickt man genauer auf die Forderungen der Piraten, so scheinen jedoch fünf Missverständnisse bei der Bewertung der Piraten zu bestehen. Missverständnis Nummer eins besteht darin, dass mehr direkte Beteiligung sowie Transparenz das politische System per se demokratischer machen. Wie oft in der Öffentlichkeit unterschätzen auch die Piraten, dass es sich in Deutschland nicht um eine allgemeine, sondern um eine soziale Repräsentationskrise handelt. Die Wahlbeteiligung zwischen Personen mit Abitur und Personen mit Haupt- oder Volksschulabschluss be-

Sind die Piraten eine Lösung? Angesichts der beschriebenen Kritik an der repräsentativen Demokratie ist die At-

3 Tobias Neumann, Die Piratenpartei in Deutschland. Entwicklung und Selbstverständnis, Berlin 2011: 101. 4 Siehe https://www.piratenpartei.de/politik/staatund-demokratie/mehr-demokratie/.

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Die Rettung der Demokratie durch die Piraten? Fünf Missverständnisse Argumente 2/2012


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trug zwischen 1984 und 1992 4,6 Prozentpunkte, von 2002 bis 2008 verdoppelte sich dies auf 9,5 Prozentpunkte. Zwischen Wählern mit Hochschulreife und ohne Schulabschluss stieg die Differenz von 12,3 Prozentpunkten auf 26,2 Prozentpunkte.5 Bei der Bundestagswahl 2009 lagen in Hamburg 45 Prozentpunkte und in Leipzig 33 Prozentpunkte zwischen den armen und reichen Stadtteilen mit der höchsten und der niedrigsten Beteiligung.6 Darauf haben die Piraten aber keine Antworten. Sie werden zwar auch von Wählern mit geringem Einkommen – vor allem prekären Solo-Selbständigen – bzw. geringer formaler Bildung gewählt. Doch in Bezug auf ihre Demokratie-Reform-Forderungen bestätigen alle Studien dass eben die soziale Spaltung mit aufwändigeren Partizipationsformen noch größer wird: Schon die direkte Demokratie weist eine größere soziale Selektivität auf als Parlamentswahlen. Bei Projekten zur Bürgerbeteiligung oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen steigt die soziale Spaltung noch einmal erheblich an. Letztlich ist damit auch die Internet-Demokratie ein elitäres Projekt. Dies liegt schon allein am Zugang zu dem Medium. Knapp 90 Prozent der Abiturienten besitzt einen Netzanschluss, aber nur 60 Prozent der Sozial Schwachen. „Noch größer ist die digitale Spaltung unter Berücksichtigung der monatlichen Haushaltseinkommen der Befragten. Nur 53 Prozent der Befragten mit einem Haushaltsnettoeinkommen von unter 1.000 Euro nutzen das Internet, bei Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 Euro und mehr sind dies allerdings 92,3 Prozent“.7 Das zweite Missverständnis besteht darin, dass die Piraten glauben, durch ihre

Internet-Demokratie mehr Menschen zu beteiligen. Das Gegenteil scheint der Fall: jene, die sich bei den Piraten bislang in den Politik-Prozessen teilnehmen, im höchsten Maße privilegiert zu sein, weil sie Zugang und Verständnis zur Technik haben sowie die Zeit, sich am Computer zu beteiligen. Die meisten aus dem Spitzenpersonal der Piratenpartei arbeiten entweder in der Computerbranche und sitzen daher laufend am Computer, oder sie sind arbeitslos, Studenten oder – gerade in Berlin – prekäre Selbständige. Alle haben sie auf jeden Fall Zeit, sich im Netz zu tummeln. Selbst innerhalb der Piraten besteht ein Gap: Von allen 31.000 Mitgliedern (Stand: Juli 2012) war nur eine Minderheit von etwa 9.200 bei Liquid Feedback überhaupt angemeldet. Und der Parteivorsitzende Bernd Schlömer stellte derart fest, „wenn eine Partei mit 31.000 Mitgliedern eine Entscheidung trifft, weil 440 Ja sagen und 390 Nein“, dann sei dies „erschreckend wenig“. Dies sei keine Basisdemokratie, so dass die Liquid-Feedback-Beteiligung auch nur unverbindliche „Meinungsbilder“ seien.8 Missverständnis drei besteht darin, die Piratenpartei hätte schon eine völlig neue Vision der Demokratie umgesetzt. Die Piraten suggerieren durch eine Software eine 5 Wolfgang Merkel und Alexander Petring, Partizipation und Inklusion, siehe: http://www.wzb.eu/sites/default/files/zkd/dsl/partizipation_und_inklusion.pdf, eingesehen am 7.8.2012. 6 Achim Schäfer, Beeinflusst die sinkende Wahlbeteiligung das Wahlergebnis? Eine Analyse kleinräumiger Wahldaten in deutschen Großstädten., in: Politische Vierteljahresschrift, 53, 240-264. 7 Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linkspartei; BT-Drucksache 17/9264. 8 Interview mit Bernd Schlömer, in: ZEIT, 31.5.2012.

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Mitmach-Demokratie für alle einzuführen: jeder kann Anträge schreiben und abstimmen. „Glaubt man den Piraten, ermöglicht die Software eine neue, flüssige Form der Demokratie, in der jeder Bürger permanent entscheiden und seine Stimmen an wechselnde Vertrauensperson delegieren kann“.9 Schaut man genau hin, erweist sich dies als cleverer Marketing-Gag, indem etwa die Berliner Piraten großspurig behaupten, die Ersetzung der Monarchien durch die Demokratie sei ein ähnlicher Fortschritt gewesen wie nun die Ersetzung der „parlamentarischen Demokratie von der liquiden Demokratie“.10 Denn nicht nur beteiligen sich bislang kaum Mitglieder an den Liquid-FeedbackProzessen, sondern das System ist auch nicht demokratischer. So wird etwa Piraten-intern kritisiert, dass der Landesverband Berlin die Partei deshalb dominiere, weil die Berliner Liquid am intensivsten nutzten und dort am stärksten vertreten seien.11 Das ist dabei keineswegs eine singuläre Anomalie, sondern eine Konstante bei den Piraten: Aus der grundsätzlichen Ablehnung des allgemeinen Delegiertensystems kommt es immer wieder zu Demokratie-Defiziten. Etwa, indem stolz darauf hingewiesen wird, dass auf Bundesparteitagen alle Mitglieder teilnehmen dürfen, dies aber Folge hat, dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob das Wetter gut oder schlecht ist oder ob der Parteitag an einem Ort in einem eher linken norddeutschen oder in einem eher liberalen süddeutschen Landesverband stattfindet. Dieses Zufallsprinzip ist nicht demokratischer. Das Missverständnis vier besteht darin, dass die Piraten ein neues, erfolgreiches Politikmodell zu haben, das als Vorbild für alle Parteien gelten sollte. Doch blickt man

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genau hin, dann schwindet der Reiz der reinen Ehrenamtlichkeit, der ständigen Präsenz im Internet sowie der Schwarmintelligenz. Das Politikmodell der Piraten brennt nämlich nicht nur die eigenen Leute aus, es beutet sie auch aus. Auch deshalb haben schon so viele Piraten wegen Burn out aufgegeben. Als erste hauptamtliche Pressesprecherin der Piraten bekommt man ein Gehalt von nur 800 Euro im Monat. Es wird immer vergessen, dass eine der größten Errungenschaften der Demokratie ist, Geld für die Ausübung in demokratischen Prozessen zu bekommen, weil dadurch nicht nur jene sich beteiligen konnten, die Geld und Zeit haben. Letztlich sind unheimlich viele Piraten-Anhänger selbst skeptisch, dass ihr Politikmodell funktioniert. Selbst bei ihrem Hauptthema „Transparenz“ drohen die Piraten an einem Konflikt zwischen Transparenz und Datenschutz in ihrem Politikmodell zu scheitern. Zum einen soll politische Macht transparent sein, zum anderen wurde aber in Berlin ein Antrag auf Namenspflicht bei verbindlichen Abstimmungen auf einem Parteitag abgelehnt.12 Doch es gibt ein weiteres, fünftes Missverständnis, und zwar die Behauptung der Piraten, wenn man die Oberfläche/Formen verändere, gäbe es eine neue Politik. Das Problem besteht darin, dass die Piraten – ähnlich war es im Guttenberg-Hype – die Debatte weiter von einer Inhalts-Frage zu 9 Fabian Reinbold , B-Frage quält die Piraten. Siehe: Spiegel-Online, 11. Juni 2012. 10 Interview mit dem Berliner Pirat Alexander Morlang, in: Spiegel 30/2012. 11 Fabian Reinbold, B-Frage quält die Piraten. Siehe: Spiegel-Online, 11. Juni 2012. 12 Fabian Reinbold, B-Frage quält die Piraten. Siehe: Spiegel-Online, 11. Juni 2012.

Die Rettung der Demokratie durch die Piraten? Fünf Missverständnisse Argumente 2/2012


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einer Formfrage verschoben – und derart letztlich postdemokratische Zustände verstärken. Die dauerende Inszenierung „gegen die da oben“, ist zwar populär, wird aber nichts verändern: denn wenn die Kritik immer nur „auf die da oben“ projiziert wird, dann wird der bestehende Widerstreit zwischen Arm und Reich oder konservativ und progressiv nicht angegangen. Wenn die Macht der globalen Unternehmen und Finanzmärkte nicht reguliert werden, bringt auch mehr Transparenz und Partizipation nichts. Wenn die soziale Spaltung nicht zurückgedrängt wird, wird sich auch nichts an der sozialen Repräsentationskrise verändern. Linke, welche die Piraten wählen, sitzen daher einem Selbstbetrug auf. Zudem gerät die Kritik der Piraten selbst zunehmend zur oberflächlichen Floskel: Man ist gerade höchst erfolgreich, wenn man gegen das „Raumschiff Berlin“ schimpft. Damit hat übrigens Guttenberg ähnlich kokettiert wie aktuell die Piraten. Das reicht meist aus, ohne dass man selbst darlegen muss, was eigentlich für die Mehrheit der Bevölkerung besser werden würde.

tiven aufgezeigt werden. Und jeder spürt: Es muss grundsätzlich was ins Lot gebracht werden in unserer Demokratie. Mehr Transparenz und Partizipation sind wichtige Themen, zu denen sowohl SPD als auch Grüne schon vor den Wahlerfolgen der Piraten bereits weitgehende Vorschläge wie etwa die Einführung eines Lobbyregisters oder von direkter Demokratie auf Bundesebene als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie gemacht haben. Aber viel wichtiger erscheint es, Forderungen zu formulieren, wie die Politik das Primat gegenüber den Finanzmärkten zurückerobern kann. Wie man es schafft, Menschen aus sozial schwachen Schichten wieder für die Demokratie zurückzugewinnen. Dies wird langfristig nicht durch eine Protestpartei und auch nicht durch LiquidDemocracy gelingen. Es reicht eben nicht aus, über Verfahren zu reden, sondern auch über Machtverhältnisse und Verteilungsgerechtigkeit. Und natürlich geht es auch darum, die anderen Parteien wieder attraktiver zu werden. Die SPD hat hier bereits eine Parteireform beschlossen – die muss sie nun mit Leben gefüllt werden. l

Zusammenfassung: Die Piraten sind natürlich keine Bedrohung der Demokratie. Sie sind aber auch keine Retter der Demokratie, wie viele glauben oder erhoffen. Sie sind aber, wie der Herausgeber des Freitags, Jakob Augstein, feststellte, „gute Populisten“, die in der Tat einen Anschub geben könnte, um in Deutschland und Europa wieder mehr Demokratie zu wagen. Denn die Kritik am Zustand der Demokratie, wegen der die Piraten gewählt werden, ist ja nicht falsch. In der Politik müssen wieder klare Alterna-

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POLITIK MIT DEM EINKAUFSWAGEN? ERFOLGSCHANCEN UND PROBLEME DER POLITISIERUNG VON KONSUM Von Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen

Eindimensionale Negativbilanzierungen der Entwicklung politischer Partizipation haben lange Zeit innovative und kreative Formen bürgerschaftlicher Teilhabe, in denen ein erstarktes Bedürfnis nach gesellschaftlicher und politischer Einflussnahme zum Ausdruck kommt, verkannt. Dies gilt insbesondere für die Teilhabe in Form von politisiertem bzw. politischem Konsum. Dabei wird unter politisiertem bzw. politischem Konsum nicht nur die gestiegene Bereitschaft verstanden, durch Beteiligung an Boykotten von Produkten, Firmen oder Branchen politische und ethische Ziele durchzusetzen. Zugenommen haben auch sogenannte Boykotte, wie etwa im Fair Trade- oder Bio-Konsum, mit denen durch gezielte Konsumnachfrage Marktprozesse verändert werden sollen. Oft geht es bei der politischen Aufladung von Konsum jedoch nicht um eine direkte Beeinflussung des Marktes durch Nachfrageveränderung,

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sondern um indirekte Formen der Einflussnahme: Insbesondere durch kampagnenförmige Skandalisierungen werden Normverletzungen wie menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern auf die öffentliche Agenda gesetzt, um so Druck auf Unternehmen wie politische Entscheider auszuüben. Auch Konsumverzicht, der gerade im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte verstärkt eingefordert wird, und die Propagierung von Praktiken eines kollaborativen, auf Teilen und Tauschen ausgerichteten Konsums haben in den letzten Jahren als markt- wie medienbezogene Formen der ethischen Aufladung von Konsum an Bedeutung gewonnen. JournalistInnen wie Tanja Busse deuten die gewachsene Sensibilisierung von VerbraucherInnen für die sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen von Produktion, Distribution und Konsumption gar als Ausdruck einer „Einkaufsrevolution“.

Politik mit dem Einkaufswagen? Erfolgschangen und Probleme der Politisierung von Konsum Argumente 2/2012


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„Konsumenten entdecken ihre Macht“ so der Untertitel ihres 2006 erschienen Buches, in dem der kritisch reflektierende, politische Konsument angesichts der Trägheit der politischen Institutionen zum entscheidenden Akteur einer globalen zivilgesellschaftlichen Gegenmacht avanciert. Neben einer Vielzahl von Offline-Ratgebern gibt es inzwischen im Internet Hunderte von Social Web-Projekten, die rund um das Thema des politischen Konsums mehr oder weniger kollaborativ kritisches Verbraucherwissen generieren: so etwa die Web-Community „www. utopia.de“, die nach eigenen Angaben inzwischen mehr als 60.000 Mitglieder hat, das nach Wikipedia-Vorbild gegründete Wiki „www.wiki-products.de“ oder unternehmenskritische Watchdog-Seiten wie „www.knowmore.org“.

Konsumenten. Grundlegender ökologischer Wandel, so etwa die Argumentation von Armin Grunwald, sei nur durch politisch-institutionelle Reformen und ein darauf zielendes Bürgerengagement durchzusetzen. „Es geht, sollen die großen Nachhaltigkeitsprobleme ernsthaft in Angriff genommen werden, nicht um umweltbewussten Einkauf, sparsames Autofahren und sorgfältige Mülltrennung, sondern um das Engagement ,von Bürgern, Gruppen und Institutionen‘ in der ökologischen Umgestaltung der Gesellschaft – und dies bedeutet zu einem großen Teil ein Engagement dafür, dass die Mechanismen, Funktionsweisen und Erfolgsbedingungen moderner Gesellschaften mit den in der Polis verfügbaren Mitteln in Richtung auf Nachhaltigkeit modifiziert werden.“ (Grunwald 2010: 182)

Aus einer normativen Perspektive erscheint politischer Konsum im Vergleich zu anderen politischen Partizipationsformen, wie wählen gehen, an Referenden teilnehmen oder parteipolitisch aktiv sein, oft als weniger politisch und weniger tugendhaft. Private Tugenden eines nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten handelnden Marktbürgers werden dabei öffentlichen Tugenden eines am Gemeinwohl orientierten Staatsbürgers gegenübergestellt. Republikanischen Idealvorstellungen von Bürgerschaft folgend, wird einem an der Polis ausgerichteten politischen Handeln in der Regel ein moralischer Vorzug gegeben. Auf die politischen Institutionen der Demokratie bezogenes kollektives Handeln sei, so die Annahme, nicht nur hinsichtlich der normativen Bewertung der Motive der Subjekte höherwertig, sondern auch empirisch einflussreicher als das individualisierte Handeln von

Kritisch wird auch auf soziale Selektivitäten des politischen Konsums verwiesen, die den demokratischen Normen der politischen Gleichheit widersprechen. Hartz IV-Empfänger, so die plausible Annahme, könnten an dieser Form der politischen Beteiligung weniger teilhaben als wohlhabende Konsumenten. Aber ist politisiertes, soziale und ökologische Gesichtspunkte in Konsumentscheidungen einbeziehendes Verbraucherhandeln per se weniger politisch und weniger einflussreich als auf die politischen Institutionen gerichtetes bürgerschaftliches Handeln? Wie sinnvoll ist es, staats- und marktbezogene Engagementformen gegeneinander auszuspielen? Was spricht dagegen, Konsum- und Staatsbürgerhandeln als sich ergänzende Rollenrepertoires von BürgerInnen zu betrachten? Inwiefern lässt sich das Argument der sich im politischen Konsum niederschlagenden politischen Ungleichheit

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empirisch erhärten? Und unter welchen Bedingungen entfaltet eine Politisierung von Konsum politische und gesellschaftsverändernde Macht? Um all diese Fragen differenziert beantworten zu können, bedarf es noch eingehender Forschung. Die folgenden Überlegungen können insofern nur eine Richtung andeuten, in der solche Untersuchungen ansetzen sollten. Dabei erscheint es sinnvoll, nach dem Grad der Politisierung und Individualisierung des Handelns die diversen Formen der Politisierung des Konsums grundsätzlich nach zwei Dimensionen, der Mikro- und der Meso-Ebene des Handelns, zu unterscheiden:

Politischer Konsum als individuelles Handeln Einerseits entsteht der Einfluss politischen Konsums durch Aggregation der vielen einzelnen Akte der Nachfrage auf dem Konsumgütermarkt. Die politische Qualität der Signale, die von Konsumtrends wie der verstärkten Nachfrage nach nachhaltiger Mobilität, ökologischem Landbau oder regenerativer Energie ausgehen können, wird oft als eher schwach und indirekt bezeichnet. Allein durch die Summierung von Einzelhandlungen entsteht noch keine genuin kollektive Dimension des Handelns. Doch sind die durch Konsumtrends gesetzten Zeichen des Marktes nicht nur für einzelne Unternehmen und Branchen relevant. Auch für politische Reformen, wie etwa im Bereich von Verbraucher- und Umweltpolitik, können Veränderungen im Konsumverhalten der BürgerInnen durchaus legitimierende Funktionen erhalten. Selbst wenn man

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konzediert, dass Konsumhandeln politisches Entscheidungshandeln nicht ersetzen kann, so sollte umgekehrt nicht der Schluss gezogen werden, der Staat könne den Gesellschaftswandel – etwa im Umweltbereich – einfach verordnen. Konsumund Verhaltensmuster des Alltags lassen sich nicht einfach durch Verbote oder Anreize steuern. Gerade wenn es um grundlegende kulturelle Praktiken, wie die Veränderung des Konsumverhaltens geht, haben politische Steuerungsversuche in westlichen Konsumgesellschaften nur Erfolg, wenn Top-down-Interventionen in das Marktgeschehen durch Bottom-up-Formen der gesellschaftlichen Selbststeuerung ergänzt werden. „Bestimmte soziale Praktiken“, und dies gilt insbesondere für sozialökologische Produktions- und Konsumptionspraktiken, „bedürfen (…) per se einer kulturellen Selbstregulierung. Die Ideale und Werte einer Kultur müssen durch die kollektive Lebenspraxis selbst gefunden und begründet werden.“ (Beetz 2007: 31) Gerade weil große politische Parteien ebenso wie Unternehmen in einer ökologisch verhängnisvollen wirtschaftlichen Wachstumslogik verhaftet sind, kann eine gesellschaftliche Umsteuerung nur Bottom-up und durch die Summe der bewussten Konsumpraktiken der vielen Einzelnen erfolgen. Dabei mag, wie Harald Welzer unlängst im Spiegel monierte, Fair-Tradeund Bio-Boom (allein) wenig helfen: „Will man soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im globalen Maßstab, hilft alles nichts: Dann muss man die Komfortzone verlassen, auf Wohlstand verzichten, abgeben, andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln. Was das politisch heißt, kann weder mit dem Kauf von fair gehandeltem Kaffee, noch durch

Politik mit dem Einkaufswagen? Erfolgschangen und Probleme der Politisierung von Konsum Argumente 2/2012


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das rituelle Verlautbaren von Absichten beantwortet werden, sondern nur durch die ernsthafte Auseinandersetzung darüber, was man für die Zukunft behalten und was man aufgeben möchte.“ (Welzer 2012: 63) Aber auch Konsumverzicht kann nicht einfach politisch verordnet werden, sondern bedarf der Legitimation und Verankerung in den lebensweltlichen Praktiken der Menschen. Der gewachsene Trend zum Car-Sharing wie die gestiegene Beliebtheit von Tauschbörsen können durchaus als Zeichen eines beginnenden Einstellungswandels gedeutet werden, in dem Vorstellungen von Besitzindividualismus und des individuellen Statusgewinns durch demonstrativen Konsum zumindest partiell in Frage gestellt werden. Gewinnen Formen des kollaborativen Konsums an Verbreitung, verliert auch das Argument, die Politisierung des Konsums verschärfe die Umsetzung von sozialer Ungleichheit in politische Ungleichheit, an Gewicht. Politischer Konsum ist nach der Wahlbeteiligung die wohl am stärksten verbreitete Form politischer Partizipation: 55 Prozent der Westdeutschen und 49 Prozent der Ostdeutschen können nach Jan van Deth als „politische Konsumenten“ bezeichnet werden (van Deth 2012: 158f ). Inwiefern stimmt nun die Annahme, dass politische Konsumenten sich in ihren sozialen Merkmalen vom Durchschnittsbürger unterscheiden? Folgt man den Untersuchungen von van Deth zur politischen Partizipation in Europa, so ist die These der Unterrepräsentation ärmerer Bürger nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch scheinen sie hinsichtlich des politischen Konsums nicht stärker unterrepräsentiert zu sein als hinsichtlich anderer Formen der politischen Beteiligung. Zwar ist noch im-

mer die Wahlbeteiligung die sozial inklusivste Form der politischen Partizipation, doch unterscheidet sich politischer Konsum davon abgesehen kaum von anderen Beteiligungsformen wie Parteiaktivität oder Teilnahme an politischen Protestaktivitäten. Die soziale Verzerrung nach Bildung und Geschlecht ist sogar geringer als bei Partei- und Protestaktivitäten, so dass van Deth zu dem Schluss kommt, dass eine Stärkung von politischem Konsum angesichts nachlassender politischer Beteiligungsbereitschaft, sogar zu einer „reduction of political inequality“ beitragen könne (van Deth 2012: 165).

Politischer Konsum als kollektives Handeln Abgesehen von Änderungen auf der Mikro-Ebene individueller Konsumpraktiken ist die Politisierung des Konsums auch als Entwicklung eines neuen Typs kollektiver Engagementpolitik zu beschreiben. Auf der Meso-Ebene politischen Handelns, d.h. auf der Ebene sozialer Bewegungen und kollektiven Protests, zeigt sich seit einigen Jahren eine deutliche Zunahme unternehmens- und marktkritischer Kampagnen und anderer Formen eines sogenannten kollektiven politischen Konsumerismus. Fragt man nach den Bedingungen des Erfolgs solcher kampagnenförmigen politischen Aufladungen des Konsums, so sind vor allem folgende Faktoren hervorzuheben (vgl. Baringhorst u.a. 2010): l

Transsektoralität. Innovativ und erfolgversprechend ist vor allem die Zusammenarbeit von Nichtregierungsor-

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gansationen aus verschiedenen Aktionsfeldern wie Entwicklungsorganisationen, Frauenorganisationen und kirchliche Organisationen mit gewerkschaftlichen Organisationen wie insbesondere der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. l

Transnationalität. Akteure des Nordens und des Südens arbeiten in den Kampagnen wie aber auch bei der Erstellung von Expertisen und Gutachten zusammen. Normativer Fokus der Kampagnen ist die Durchsetzung globaler sozialer Gerechtigkeit, die Achtung politischer und sozialer Menschenrechte, insbesondere die Verbesserung von Arbeitsbedingungen wie Arbeitsplatzsicherheit, eine das Überleben sichernde Entlohnung, das empowerment der Arbeitnehmer des Südens durch Zulassung von Arbeitnehmervertretungen sowie eine ökologisch nachhaltige Entwicklung in den Entwicklungsländern.

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Medienorientierung. Während der Erfolg von Verbrauchermobilisierungen in der Vergangenheit vor allem an der Anzahl der Unterstützer von Boykottmaßnahmen gemessen wurde, setzen gegenwärtige Aktionsbündnisse, die an die Macht der Verbraucher appellieren, eher auf die Erzeugung medialer, d.h. massenmedialer wie viraler Aufmerksamkeit.

Auch wenn hochgesteckte Vorstellungen einer umfassenden Transformation der Gesellschaft allein durch die Mobilisierung von Verbrauchermacht überzogen sind, sollten doch die Erfolge der Skandalisierung von Verletzungen menschenrechtli-

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cher Normen durch Verbraucher mobilisierende Kampagnen nicht unterschätzt werden. Diese zeigen sich z.B. in einer Abnahme von Kinderarbeit und einer Zunahme unabhängiger wie branchen- bzw. unternehmenseigner Zertifizierungs- und Monitoringprozesse. Dabei sollten jedoch die oft nicht-intendierten, aber möglichen Folgen konsumeristischer Mobilisierungen beachtet werden. Da es sich bei menschenrechtsbezogenen Verbraucherprotesten in der Regel um transnationale Kampagnen und die Skandalisierung transnational operierender Konzerne handelt, sind für die Beurteilung ihres Erfolgs nicht nur die Chancen zur Mobilisierung westlicher Konsumenten zu berücksichtigen, sondern auch die nicht immer spannungsfreie Beziehung zwischen westlichen Nicht-Regierungs Organisationen (NRO) und KonsumentInnen auf der einen und den betroffenen ArbeitnehmerInnen in den Produktionsländern des Südens auf der anderen Seite. In Bezug auf Status und Lebenswelt besteht eine tiefe Spaltung zwischen westlichen VerbraucheraktivistInnen und asiatischen oder lateinamerikanischen ArbeiterInnen. VerbraucheraktivistInnen und ArbeiterInnen leben in sehr disparaten sozialen und kulturellen Räumen. Die Unterstützungsbereitschaft westlicher KonsumentInnen ist nicht zuletzt deshalb groß, weil die Beteiligungskosten im Vergleich zu anderen Formen der Teilhabe wie Mitgliedschaft in Vereinen oder Parteien eher gering und Beteiligungsschwellen physisch wie psychisch leicht zu überwinden sind. Bezieht man jedoch auch die ArbeiterInnen in den Produktionsstätten der Entwicklungsländer in die Gesamtbetrachtung mit ein, so können die Kosten der politi-

Politik mit dem Einkaufswagen? Erfolgschangen und Probleme der Politisierung von Konsum Argumente 2/2012


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schen Beteiligung sehr ungleich verteilt sein: Zwar können die Bedingungen der ProduzentInnen in den Entwicklungsländern durch Fair Trade-Konsum durchaus verbessert werden, doch schaden BoykottAktionen oft mehr als sie nutzen. Während die westlichen VerbraucherInnen nichts zu verlieren haben und selbst bei Scheitern der Gesamtaktion ein gutes KonsumentInnengewissen als Gewinn verbuchen können, riskieren die AkteurInnen des Südens ihren Job und im Extremfall sogar ihr Leben, wenn sie sich an einer transnationalen konsumeristischen Protestkampagne beteiligen. Inzwischen gibt es kaum ein Großunternehmen, das sich nicht in aufwendig produzierten Hochglanzbroschüren zum Prinzip unternehmerischer sozialer Verantwortung bekennt und durch werblich genutzte Pro-Bono-Projekte auf sein moralisches Gewissen aufmerksam macht. Ohne systematische Überwachung durch unabhängige Monitoring-Agenturen bleiben die unternehmerischen Selbstverpflichtungen und codes of conduct (Verhaltenskodizes, Anm. d. Red.) jedoch in der Regel nicht viel mehr als simple Symbolpolitik. Ohne unabhängiges Monitoring besteht die Gefahr, dass beunruhigte KonsumentInnen durch wohlklingende Absichtserklärungen vorschnell beschwichtigt werden, ohne dass effektive und langfristig wirksame Änderungen angeregt wurden. Nicht zuletzt aufgrund der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gelingt es transnationalen Protestinitiativen, Menschenrechtsverletzungen einer über die nationalen Grenzen hinausgehenden Öffentlichkeit bekannt zu machen. Unternehmen, deren moralisches

Fehlverhalten an den medialen Pranger gestellt wird, müssen Gewinneinbußen oder zumindest eine Schädigung ihres Markenimages befürchten. Weil die neuen Chancen, der Mobilisierung westlicher KonsumentInnen mit ernst zu nehmenden Risiken einhergehen, bringen die gewachsenen Möglichkeiten, öffentlichen Druck auszuüben, für zivilgesellschaftliche AkteurInnen auch eine gewachsene Verantwortung für die nicht-intendierten Folgen ihrer Kampagnen und Aktionen mit. Die Gefahr, die Situation in den Entwicklungsländern durch ein gutes KonsumentInnengewissen westlicher Bürgerkonsumenten zu verschlechtern, kann nur durch kritische Selbstreflexion und kontinuierliche Evaluation kurz- und langfristiger Protestfolgen gemindert werden. l Literatur: Baringhorst, Sigrid (2006): Keine Reizwäsche aus Burma. Menschenrechte durch politisierten Konsum? In: Lamla, Jörn/ Neckel, Sighard (Hg.): Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesbaden, S. 233-258. Baringhorst, Sigrid/ Kneip, Veronika/ März, Annegret/ Niesyto, Johanna/ (2010): Unternehmenskritische Kampagnen, Wiesbaden. Beetz, Michael (2007): Verbraucheröffentlichkeit und Bürgerschaft, in: Baringhorst, Sigrid/ Kneip, Veronika/ März, Annegret/ Niesyto, Johanna (Hg.): Politik mit dem Einkaufswagen. Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft, Bielefeld, S. 29-52. Busse, Tanja (2006): Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, München. Van Deth, Jan W. (2012): Is Creative Participation Good for Democracy?, in: Micheletti, Michele/ McFarland, Andrew S. (Hrsg.): Creative Participation, London, S. 148-173. Grunwald, Armin (2010): Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann, in: GAIA, Jg. 19, H. 3, S. 178-182. Welzer, Harald (2012): Das gute Leben gibt es nicht umsonst, in: DER SPIEGEL, H. 26/2012, S. 63f.

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ZIVILER UNGEHORSAM – ZWISCHEN TRANSFORMATION UND REVITALISIERUNG PARLAMENTARISCHER DEMOKRATIE Von Christoph Ellinghaus, Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall Jena-Saalfeld, von 2008 bis 2010 Sprecher des Jenaer Aktionsnetzwerks

Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams erleben seit ca. drei Jahren eine breite Wiederaneignung, nachdem sie zuletzt in den 1980er Jahren als politisches Mittel von den Neuen Sozialen Bewegungen eingesetzt wurden. Während die letzen 20 Jahre weitgehend von der Folgenlosigkeit demonstrativer Proteste gegen Naziaufmärsche, gegen Sozial- und Demokratieabbau, gegen Atomenergie und Kriege geprägt waren, gelingt nun die Konstruktion erfolgreicher temporärer Gegenmachtkonstellationen. Neue Konzepte politischer Protestartikulation und -mobilisierung treffen auf veränderte gesellschaftliche Meinungen und könnten in den nächsten Jahren starke Protestdynamiken auslösen. Ob sie zu einer Revitalisierung der parlamentarischen Demokratie alten Stils oder zu einer grundlegenden demokratischen, sozialen

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und ökologischen Transformation beitragen werden ist offen. Entscheidend wird sein, ob es weiteren außerparlamentarischen Akteuren gelingt, sich das in Ansätzen vorhandene politische Handwerkszeug dieser neuen Konzepte anzueignen, zu verbreitern und weiterzuentwickeln, ob sich die Mosaik-Linke zu strategischen Bündnissen zusammenfinden kann und ob es gelingt eine weitgehende Annäherung zwischen appellativer Forderung und gegenmächtiger Straßenaktion zu kreieren. Am Beispiel Dresden werden im Folgenden die Chancen aufgezeigt und ihre Grenzen benannt.

Das Beispiel Dresden In den Jahren 2010 bis 2012 ist es in Dresden einem breiten bundesweiten

Ziviler Ungehorsam – zwischen Transformation und Revitalisierung Parlamentarischer Demokratie Argumente 2/2012


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Bündnis gelungen, mit Massenblockaden den Naziaufmarsch in Dresden rund um den 13. Februar zu stoppen. Bis dahin konnte er sich über zehn Jahre weitgehend ungestört zum größten Aufmarsch der extremen Rechten in Europa entwickeln. Erst mit der Entscheidung zu gemeinsamen Aktionen zivilen Ungehorsams war es Teilen der Zivilgesellschaft und antifaschistischen Gruppen gelungen, aus der bis dato appellativen Haltung heraus einen Schritt nach vorne zu machen. Ohne einen Blick auf Entwicklung und Situation der extremen Rechten ist dies nicht erklärbar.

Die extreme Rechte Das Erstarken der extremen Rechten seit Beginn der 1990er Jahre und der NPD seit den 2000ern ist im wesentlichen auf die folgenden ihrer Aktivitätsfelder zurückzuführen: l

Nazimusik und Konzerte als Einstiegsmittel und Begleitmusik

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Kulturelle Hegemonie in einzelnen Stadteilen und Landstrichen

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Gewalttätiges Auftreten gegenüber und Verdrängen von alternativen Lebensweisen und -einstellungen

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Kümmerer für sozial schwache Deutsche

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Personalintensive Wahlkämpfe

Ob sich politische Konzepte erfolgreich entwickeln können, liegt auch bei der extremen Rechten an der Frage, ob sie über genügend und motiviertes Personal zum

Einsatz in ihren Aktivitätsfeldern verfügt. Ohne die Gelegenheit interessierte Menschen weiter in die Szene zu integrieren und zu politisieren, gäbe es weder Zugänge noch regelmäßige Motivation an einer national-kämpferischen Ideologie festzuhalten. Diese Funktion übernehmen in der extremen Rechten erfolgreiche Aufmärsche. Sie haben sich zur entscheidenden Sozialisierungsinstanz und zum Mobilisierungsmotor entwickelt. Die Parallele zur Entwicklung der NS-Bewegung in den 1930ern und der sich konstituierenden Identität des „politischen Soldaten“ sind unübersehbar. Die Bilder der späteren NSU-Täter beim Aufmarsch in Dresden 1998 zeigen die Aktualität dieses Befundes.

Anti-Nazi-Bewegungen Spätestens mit dem öffentlichen Auftreten der rechtsextremen Republikanern ab Ende der 1980er Jahre und ihren Wahlerfolgen ist das breite politische Spektrum der Nazi-GegnerInnen mit der Frage nach der richtigen Gegenwehr konfrontiert. Während SPD, Grüne und Gewerkschaften Verbote fordern und maximal Gegenkundgebungen in weiter Entfernung organisieren, versuchen ihre Jugendorganisationen und antifaschistischen Gruppen zunächst Hand in Hand das Auftreten der Neo-Nazis effektiv zu verhindern. Schnell wird klar, dass die Polizei die Aufmärsche der extremen Rechten schützt und handfest durchsetzt. Antifaschistischer Widerstand wird kriminalisiert und spätestens ab Mitte der 1990er Jahre sind es nur noch Gruppen aus dem autonomen Spektrum, die einen Verhinderungsanspruch politisch formulieren, versuchen praktisch umzusetzen und nahezu überall an der Polizei scheitern.

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Ab Mitte der 2000er, dem Einzug der NPD in einige Landtage, dem Aufkommen sog. „national befreiter Zonen“ und dem Anwachsen neonazistischer Aufmärsche auf bis zu 8000 TeilnehmerInnen, werden die Fragen nach einer effektiven Bekämpfung der extremen Rechten drängender.

fahrungen in Dresden und anderswo lassen sich folgende Elemente als Schlüssel zu Erfolg herauskristallisieren: l Breite lokale Diskussion im Vorfeld über die Legitimität zivilen Ungehorsams l Formulierung eines gemeinsamen Aktionskonsens

Während sich das Parteien- und Gewerksschaftsspektrum mit der Frage nach Legalität und Legitimität konfrontiert sieht und zumeist über wenig Erfahrung mit Straßenaktionen jenseits von Infostand und Latschdemo verfügt, sieht sich das autonome Spektrum vor Identitätsproblemen, sobald es sich aus seiner Nische der konsequentesten, radikalsten Nazi-Gegner auf Bündnisse mit der Reform-Linken zubewegt.

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Transparentes Aktionskonzept, das Menschen unterschiedlichen Alters und Erfahrungshorizontes Beteiligungsmöglichkeiten bietet

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Öffentliche Aktionstrainings und die Bildung von Bezugsgruppen und Aktionsfingern

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Aktionsrat aus allen Spektren für schnelle Entscheidungen auf dem Weg zum Blockadepunkt

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Aktionsinfrastruktur die sich um Versorgung und Kommunikation kümmert

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Basisdemokratische Entscheidungsfindung in der Blockadesituation

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Solidarischer Umgang mit den möglichen Kosten für Betroffene

Beide Spektren erkennen jedoch exemplarisch 2009 in Dresden, dass der polizeilich umgebene Wanderkessel der AntifaDemo genauso wenig zur Verhinderung beiträgt, wie die bunte Demo des VielfaltBündnisses weit ab der Nazi-Route. Der Schlüssel zum Erfolg wird ab 2010 ein Aktionskonsens, der massenhaften zivilen Ungehorsam formuliert und den Rahmen gemeinsamer Massenblockaden definiert, die auch gegen die Polizei durchgesetzt werden, ohne diese zum Gegner zu erklären.

Erfolgskriterien Die Erfolge der Aktionen 2010 bis 2012 führten in vielen Städten zu einem Bemühen das Modell von Dresden-Nazifrei zu adaptieren. Betrachtet man die Er-

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Für Dresden gilt, dass der Mut aller Beteiligten, das eigene Terrain zu verlassen und sich auf das Experiment der Zusammenarbeit und die politische Konfrontation mit der konservativen Landesregierung und ihrer Medien einzulassen, auf vielfältige Weise belohnt wurde. Am eindringlichsten war sicher das individuelle Erlebnis aus der Ohnmacht vor polizeilich geschützten Naziaufmärschen ausbrechen zu können und kollektive Handlungsfähigkeit herzustellen. Die Er-

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fahrung, auch in Situationen, in denen man einer polizeilich hochgerüsteten Übermacht gegenübersteht, trotzdem mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams sitzend oder stehend die eigene Person in die politische Waagschale zu werfen und damit das politische Kräfteverhältnis umzukehren, zählt sicher zu den tiefgreifendsten Momenten solcher Aktionen. Des Weiteren zu erleben, dass moderierte Basisdemokratie mit 2000 Menschen an einem Blockadepunkt keine „Laberveranstaltung“ sein muss, sondern als entscheidungsfähige direkte Demokratie funktioniert, kann nachhaltige Effekte auslösen. Angesichts der Bedrohungsszenarien sich im Bündnis nicht auseinanderdividieren zu lassen und auch nach der Razzia gegen das Pressezentrum zusammen zu halten, hat ein tiefes Vertrauen zwischen den unterschiedlichen Spektren geschaffen.

Das Konzept unter Druck In das Konzept sind die Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten Bewegungsgeschichte (68er, Friedensbewegung, AntiAKW Bewegung, Antifa) eingeflossen und die scheinbar endlosen Debatten in der Vorbereitung auf die Proteste gegen den G8 Gipfel. Trotz des Erfolgs ist das Konzept kein Selbstläufer und steht von verschiedenen Seiten unter Druck: l

Der politische Druck von außen mittels Gerichtsverfahren, negativer Presse, Aufkündigung staatlicher Förderprogramme ist groß und nicht alle sind dem jederzeit gewachsen.

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Unterschiedliche politische Fraktionen in den Reihen der eigenen Organisationen, Parteien und Spektren befürchten zu große Annäherungen, damit einhergehende Identitätsverluste und torpedieren die Zusammenarbeit. Das Konzept ist ohne die Bereitschaft Vieler, ihren privaten Alltag für Wochen und Monate zurückzustellen und ihre Energie und Kreativität zu investieren, nicht machbar. Die Kosten für manche Menschen die von Verfahren, Verletzungen, Ausgebranntsein betroffen sind, sind hoch und werden nicht überall solidarisch getragen.

Legalität und Legitimität Dem Aktionskonzept wird vielerorts entgegengehalten, es kultiviere leichtfertig den Verstoß gegen Gesetze. Inhärent sei nicht nur die Verantwortungslosigkeit, andere Menschen zu illegalem Handeln aufzurufen, es drohe auch die Gefahr einer zukünftigen Aufweichung des in Gesetzen geregelten Umgangs der Menschen miteinander. Zur Legitimität des Verstoßes sei an dieser Stelle auf den Text von Peter Zimmermann, Oberkirchenrat i.R. verwiesen.1 Wer Gesetze tatsächlich für Natur gemacht oder gottgegeben hält, der sei daran erinnert, dass sie immer Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse waren und sind. Für einen nicht unerheblichen Teil der Akteure formuliert 1 Zimmermann, Peter (2008): Ziviler Ungehorsam gegen rechtsextreme Aufmärsche. Jenaer Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus, Juli 2008. http://aktionsnetzwerk.de/joomla/images/stories/pdfs/ziviler_ungehorsam.pdf [02. 08. 2012]

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ziviler Ungehorsam weder einen Anspruch auf Abschaffung aller Gesetze noch auf eine Sondermoral, behauptet jedoch mit einer politischen Argumentation, in dem angegriffenen Punkt die Gesetzeslage nicht zu akzeptieren und auf seine Veränderung in der Zukunft hinzuarbeiten. Dabei ist sowohl die Interpretation der Tat als Gesetzesverstoß als auch eine ggf. zu erwartende Strafe eine Frage politischer Hegemonie.

Die politischen Organisationsprozesse rund um die Massenaktionen sind vielmals handlungsorientierter und zielgerichteter angelegt als es politischer Alltag ist. Gleichzeitig erleben viele Menschen zum ersten Mal die Anforderungen direkter Demokratie, wenn sie sich mit anderen in einer Bezugsgruppe, in einem Aktionsfinger, in einem Delegiertenplenum verständigen und einigen müssen.

Emanzipatorischer Impuls

Ausblick

Verbunden mit dem Konzept massenhaften zivilen Ungehorsams ist für viele der Akteure die Hoffnung auf einen emanzipatorischen Impuls. Es wird darauf gesetzt, dass es gelingt, die Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit auch auf den Alltag zu übertragen.

Die Anwendbarkeit des Konzepts auf andere politische Themen und seine Alltagsübertragbarkeit sind nach wie vor offene Fragen. Wie sollte es bei einem Konzept, das von Menschen gemacht und gefüllt wird auch anders sein. Die immer drängenderen sozialen Fragen, vor denen wir in den nächsten Jahren stehen werden, legt ein aktives und gemeinsames Ringen um diese Konzepte nahe. Klar ist, dass wir eine Veränderung kapitalistischer Vergesellschaftung nicht per Appell sondern nur durch den Aufbau transformatorischer Gegenmacht unter aktiver Beteiligung und Verantwortungsübernahme vieler Menschen erreichen werden. Ein gerechtes, soziales und ökologisches Miteinander jenseits nationalistischer und rassistischer Zuschreibungen wird es nicht ohne Kosten und viel Auseinandersetzung geben. l

In Betrieb, Schule, Universität und Stadtviertel erleben Menschen wie Institutionen ihr Leben strukturieren, ohne dass ihre Interessen berücksichtigt werden. Niederlagen und Enttäuschungen über Parteien, Gewerkschaften und Verbände haben zu einem starken Rückzug aus demokratischen Aushandlungsprozessen geführt. Menschen erleben sich verwaltet und nicht beteiligt. Die Folgenlosigkeit appellativer Proteste hat diese Prozesse vielerorts verstärkt. In einer fragmentierenden Gesellschaft beschreiben sich Menschen in der Vorbereitung und Durchführung von Aktionen zivilen Ungehorsams für eine Zeitlang als „ganz“. Im Moment der Aktion stehen Wollen und Handeln plötzlich in einem geschlossenen Zusammenhang.

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INTERKULTUR. DIE HERAUSFORDERUNGEN DER EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT.1 Von Dr. Mark Terkessidis, Journalist, Buchautor und Migrationsforscher

Ich hab ja damals ein wenig in mich hinein gelächelt, als die Bundesrepublik 1998 erstmalig anerkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei – was für eine Erkenntnis... Trotzdem hat diese Anerkennung enorm viel ausgelöst. Man war gezwungen, das Provisorium aufzugeben. Davor sind viele Entscheidungsträger implizit davon ausgegangen, dass all diese Leute, die nach Deutschland gekommen sind, irgendwann einfach wieder nach Hause gehen. Das mag völlig realitätsfern gewesen sein, aber es war eine Annahme, die alle politischen Prozesse geprägt hat mit dem Ergebnis, dass die Einwanderer nicht in der Gesellschaft ankommen konnten. Mit diesem Provisorium ist seit einigen Jahren endgültig vorbei. Erstaunlicherweise gab es dann ab 2000 eine Renaissance des Begriffes Integration. Das war deswegen überraschend, weil der Begriff Integration aus den mittleren 1970er Jahren stammt. Tatsächlich

blieb auch die Problemagenda der Migration nach 2000 die gleiche wie damals. Das bedeutete, man sprach über patriarchale Familienverhältnisse, man sprach über mangelnde Sprachbeherrschung und über Gettobildung – nun Parallelgesellschaft genannt. Das war das ganze Themenspektrum. Ich habe die Wiederkehr dieses Begriffes nicht gerne gesehen. Der Begriff war schon in den 1970er Jahren kritisch zu sehen, aber die Situation nach 2000 ließ sich damit gar nicht mehr erfassen. Unterdessen gibt es zwar einen pragmatischen Begriff von Integration als Integrationspolitik, die auf Chancengleichheit und Teilhabe zielt, doch das herrschende Verständnis von Integration ist weiterhin 1 Dieser Text ist die gekürzte Transkription eines Vortrags vom des Autors am 06. 05. 2010 im Bruno Kreisky Forum in Wien, basierend auf dem gleichnamigen Artikel in: Isolde Charim, Getrud Auer Borea (Hg.): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden, Bielefeld: transcript 2012. Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

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normativ – und das halte ich für sehr problematisch. Dieses Verständnis geht davon aus: Es gibt die einen, das sind die Richtigen, die bewohnen diese Gesellschaft zu Recht und haben auch die geeigneten Voraussetzungen dafür, und es gibt die anderen, die eine Reihe von Defiziten aufweisen, die korrigiert werden müssen – und zwar auf kompensatorische Weise, also neben dem Regelbetrieb der Institutionen. Und zu einer gewissen Stunde Null, etwa dem Schuleintritt, können wir dann alle gemeinsam durchstarten. Nun ist heute zum einen völlig unklar, was diese Norm eigentlich sein soll, und zum anderen hat sich gezeigt, dass diese Norm aus politischem Interesse verschoben werden kann, um Personen mit Migrationshintergrund nicht in der Gesellschaft ankommen zu lassen. Integration ist ein unklarer Begriff, mit dem man meiner Meinung nach nicht weiterkommt. Zumal durch diese Herangehensweise eine regelrechte Helferindustrie entstanden ist, um die jeweiligen Defizite zu kompensieren ist. Ich bin Psychologe und kann ganz böse sagen, dass meine Profession ein enormes Interesse daran hat, dass Leute Probleme haben. Und so verhält es sich teilweise eben auch mit dieser Hilfsindustrie.

gute Maßnahme, weil zumindest ist endlich aufgefallen, dass da etwas getan werden muss. Allerdings ist es so, dass Familien mit Migrationshintergrund oft ihren Kindern erstmal ihre Muttersprache beibringen. Und das ist pädagogisch richtig: Weil das etwa die Sprache ist, die sie am besten beherrschen. Wenn diese Kinder nun mit drei Jahren in den Kindergarten kommen (vorher gibt es ja kaum Angebote in Deutschland), dann haben sie zum Zeitpunkt des Tests ein Jahr Deutsch gelernt im Kindergarten. Insofern war die Feststellung von Defiziten wenig überraschend – hier wäre also ein Test in der Muttersprache gut gewesen, damit man auch weiß, was die Kinder für Potentiale haben. Überraschend war allerdings, dass bei der Sprachstandsfeststellung gezeigt werden konnte, dass auch über ein Viertel der einheimischen Kinder kein zureichendes Sprachniveau aufweist. Offenbar ist das Sprachniveau also keineswegs vom Migrationshintergrund abhängig, sondern auch vom sozialen Milieu oder anderen Faktoren. Da muss man doch umdenken. Jetzt ist es doch nicht mehr getan mit kompensatorischen Angeboten, sondern man muss die Neustrukturierung des ganzen Kindergartens angehen – oder besser gesagt: der ganzen vorschulischen Erziehung.

Obwohl es wie gesagt pragmatischere Ansätze gibt, hat das normative Verständnis von Integration weiterhin Effekte. Vor einigen Jahren wurde in Deutschland unter großer Medienaufmerksamkeit die sogenannte Sprachstandsfeststellung eingeführt. Im Alter von vier Jahren werden nun alle Kinder in den Kindergärten getestet, wie ihr Sprachniveau in Deutsch aussieht. Nun kann man sagen, das ist erstmal eine

Nachdem die Ergebnisse bekannt waren, hat man oftmals – Kindergärten sind vielfach in freier Trägerschaft und daher sehr unterschiedlich – den Erziehern den "Sprachunterricht" als zusätzliche Leistung aufgebürdet. Die wiederum haben von Spracherziehung aber gar nicht so viel Ahnung und müssen dafür auf Konzepte zurück greifen, die sie quasi importieren. Eine Evaluation aus Baden-

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Württemberg hatte dann das unschöne Ergebnis, dass diese Sprachförderung überhaupt nichts nutzt. Die Vergleichsgruppen mit und ohne Förderung hatten am Ende das gleiche Sprachniveau. Ich glaube, dass die Logik falsch ist. Die richtige Logik wäre es, sich zu fragen, wie muss sich die Institution rüsten in Anbetracht der Tatsache, dass es Leute mit unterschiedlichen Voraussetzungen, unterschiedlichen Hintergründen gibt. Jede moderne Pädagogik basiert auf Individualisierung. Da müsste man schon bei der Ausbildung der ErzieherInnen ansetzen. Zudem gehört Spracherwerb in den Regelbetrieb des Kindergartens. Es hat überhaupt keinen Sinn, weiter nach der Logik der Sonderklasse vorzugehen, bestimmte Kinder zur Kompensation auszugliedern, damit sie dann irgendwann der Norm entsprechen. Tatsächlich gibt es das 1950er Jahre Normkind mit den richtigen Voraussetzungen nicht mehr – wenn es denn je existiert hat. Statt von Integration möchte ich lieber von Interkultur sprechen. Das ist ein Begriff, der schon längere Zeit diskutiert wird. Etwa in dem Begriff „interkulturelle Öffnung“. Allerdings gibt es auch ein naives, harmonisierendes Verständnis. Da stellt man sich unter interkulturell – sehr polemisch formuliert - eine Band vor, in der türkische Musiker mit griechischen Instrumenten russische Volksweisen spielen und ein nigerianischer DJ macht dazu Beats. Ich weiß, das ist sehr polemisch, aber ich möchte bei diesem Beispiel bleiben, um zu erklären, was ich eben nicht unter Interkultur verstehe. Interkultur sollte kein Sonderbereich sein, Interkultur hat nach meiner Auffassung nicht vor-

rangig was mit Ethnizität zu tun, und Interkultur ist keine primär pädagogische Angelegenheit. Interkultur ist ein Programm zur Veränderung von Institutionen. Kommen wir zunächst zu den Sonderbereichen. In Deutschland finden alljährlich an vielen Orten die „interkulturellen Wochen“ statt. Aber was heißt das? Dass die restlichen 51 Wochen nicht interkulturell sind, also „normal“? Nehmen wir mal ein Beispiel aus dem Bereich der Kultur – ich finde es ja sehr gut, dass „interkulturelle Öffnung“ heute nicht mehr nur an den Beispielen Verwaltung, Gesundheitsversorgung und Sozialdienste diskutiert wird, sondern auch in den Institutionen der Hochkultur, die ja auch für alle da sein sollen. In der Kulturförderung also gibt es sehr häufig einen Extrabereich für interkulturelle Kunstprojekte. Nur was ist das eigentlich: ein interkulturelles Kunstprojekt? Ist das die erwähnte Band? Oder er Bereich, wo die Leute mit den komischen Namen ihre Anträge stellen? Und die anderen Förderbereiche: nicht interkulturell, also „normal“? Ich selbst habe lange bei der Welle „Funkhaus Europa“ des Westdeutschen Rundfunks moderiert. Das ist ein Nischenprogramm, das sich hauptsächlich an Leute mit Migrationshintergrund richtet. Ich hab da immer gerne gearbeitet, aus Interesse. Aber warum sind eigentlich nur die Mitarbeiter von „Funkhaus Europa“ dazu gezwungen, die ganze Differenz auszuhalten? Was habe ich eigentlich mit jemandem zu tun, der russischer, italienischer oder türkischer Herkunft ist? Warum werden wir alle in diesem Programm untergebracht, während der Rest des WDR erst recht zaghaft beginnt, sich für die neue

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Vielfalt der Nutzer zu interessieren? Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland arbeiten etwa 3% bis 4% Leute mit Migrationshintergrund. Wenn bei den Kindern unter 6 Jahre in den deutschen Städten die Kinder mit Migrationshintergrund bereits in der Mehrheit sind, dann brauchen alle Programme eine Veränderung – das ist eine Herausforderung für die gesamte Institution. Sicher ändert sich gerade das Bewusstsein. In der Kulturförderung etwa hat die Stadt München neue generelle Richtlinien, wonach alle Projekte, die dort beantragt werden, kulturelle Vielfalt sichtbar machen, Austausch und Grenzüberschreitung befördern sollen. Zudem sollen die Projekte das identitätsbezogene Konzept von Kultur in Frage stellen und zu Auseinandersetzung anregen. Das ist eine neue Logik. Es geht nicht darum, dass jeder er selbst bleibt und in seiner Nische ein paar Euro bekommt, sondern es geht um Mainstreaming und Veränderung. Allerdings: Papier ist geduldig. Die Erwähnung des identitätsbezogenen Konzeptes bringt mich auf den zweiten Punkt: Interkultur hat nicht primär mit ethnischer Herkunft zu tun. Gewöhnluch wird davon ausgegangen, dass die ethnische Differenz von Anfang an und immer da ist und deswegen die Basis von Zusammenarbeit darstellen muss. Das ist nicht mein Verständnis von Interkultur, weil ich kein Interesse daran habe, dass Leute unter die Knute irgendeiner konservativen Vorstellung von „Identität“ gezwungen werden. Es geht darum, sich zu verändern. Es geht darum, einen neuen, gemeinsamen Raum zu erfinden, in dem man in Zukunft leben möchte. Das bedeutet eben nicht,

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dass Unterschiede irrelevant sind oder verleugnet werden müssen. es bedeutet, dass sie auf eine neue Art und Weise eingebracht werden können – im Sinne einer gemeinsamen Veränderung. Diese Festlegung auf Herkunft ist vielen Personen mit Migrationshintergrund bekannt. Ich selbst etwa bin anfangs im Gymnasium immer der Fachmann für Griechenland gewesen – zu einem Zeitpunkt, wo ich noch nie dort war. Ein Geschichtslehrer war sogar der Auffassung, ich müsste auch Fachwissen über die Antike haben. Immer wenn ich das erzähle, wird gelacht. Aber auf der anderen Seite ist es das, was viele Kinder dieser Tage in der Schule immer noch erleben, wenn es heißt: Ayse, erzähl uns mal was über den Islam. Aber Ayse kann nichts über den Islam erzählen, weil vielleicht Religion keine Rolle spielt, oder doch – dann aber ist es etwas selbstverständliches, dass Kinder nicht erklären können. Ayse ist ja in der Schule, um was zu lernen. Kindern mit Migrationshintergrund wird aber eine Art genetisches Herkunftswissen unterstellt. Das ständige Ansprechen der Kindern darauf, dass sie anders sind, führt am Ende dazu, dass sie sich tatsächlich anders fühlen und dass sie anfangen, diese Andersheit auch gewissen kulturellen Inhalten zu füllen, weil sie keine Lust haben, immer ein Defizit in Bezug auf ihre Herkunft zu haben. Tatsächlich führt das „Versagen“ in Sachen Herkunftswissen dazu, dass es heißt: „Du bist ja gar kein richtiger Grieche, du bist gar kein richtiger Türke.“ So richtig deutsch können sie aber auch nicht werden. So wird Kindern dann eingeredet, dass sie „zwischen zwei Stühlen“ sitzen. Und dieser Zustand wird seit den 1970er Jahren von zahlreichen Forschern

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untersucht, ohne dass darüber nachgedacht wird, wie dieser Zustand schon im Kindessalter durch diese Art von naivem interkulturellem Verständnis produziert wird. In der Debatte über Postkolonialismus wurde bereits zu Beginn der 1990er Jahre über einen anderen, eben nicht-nationalen Kulturbegriff gesprochen. Es geht nicht mehr um das Eigene, sondern um es mit Eduard Glissant zu sagen, um eine „Poetik der Beziehung“. Und natürlich sorgt die Einwanderungsgesellschaft nicht nur für Probleme in der Selbstwahrnehmung bei den Einwanderer, sondern eben auch bei den Einheimischen. In diesem Sinne hat Stuart Hall festgestellt, auch das „Britische“ sei immer schon „durch das Nadelöhr des anderen“ hindurchgegangen? Was verbinden wir mit Britisch-Sein, hat Hall gefragt - es ist der Tee am Nachmittag. Doch dieser Tee stammt aus Ceylon. Im Teeritual ist die Geschichte der kolonialen Reise stets präsent. Stuart Hall hat sich auch dagegen gewehrt, dass er als Jamaikaner, der nach Großbritannien gekommen ist, als Einwanderer betrachtet wird. Denn er wäre er immer schon dort gewesen. Er sei der Zucker gewesen, der Generationen von britischen Kindern die Zähne zerstörte – die karibischen Inseln waren im Empire die Zuckerproduzenten Nummer eins. Die Rückfrage des „Kreolischen“ an das Britische hat also gezeigt, dass dieses nicht etwas Gegebenes ist, wonach man einfach suchen kann. So sehe ich auch Interkultur nicht primär unter diesen ethnischen Gesichtspunkten, sondern als Erfindung eines neuen Raums. Der dritte Punkt, den ich ansprechen wollte, ist das pädagogische Verständnis

von Interkultur. Das hat natürlich viel mit der bereits erwähnten kompensatorischen Idee von Integration zu tun. Das bedeutet, die Potentiale von Einwanderern werden gar nicht ernst genommen, sondern die Bemühungen in allen bereichen dienen nur der Beseitigung von Defiziten. Das wirkt sich im bereich der Kultur besonders dramatisch aus. In Köln etwa hat es über mehrere Jahre das Projekt „Planet Kultur“ gegeben. Da wurden Jugendliche mit Migrationshintergrund vom Arbeitsamt in eine Maßnahme eingewiesen, bei sie durch Theater und begleitenden Unterricht für den Arbeitsmarkt „fit“ gemacht werden sollten. Am Ende wurde Shakespeare aufgeführt, durchaus sehenswert, aber natürlich völlig entwertet dadurch, dass es als Sozialprojekt gesehen wurde. Noch bis vor kurzen wurden die meisten Kulturprojekte, die Personen mit Migrationshintergrund einbezogen haben, aus Sozialtöpfen finanziert. Hier herrscht dann plötzlich ein so instrumentelles Kulturverständnis – das würde man im Hinblick auf „normale“ Kultur niemals akzeptieren. Und am Ende sorgt das eben nicht für die „Verbesserung“ der „armen Jugendlichen“, sondern dafür, dass sie auf ihrem Platz bleiben. Seit sich nun herumgesprochen hat, wie die Zahlenverhältnisse sind bei den Kindern unter 6, lautet die Wunderwaffe „kulturelle Bildung“. Das ist im übrigen auch nicht falsch, und es gibt viele interessante Ansätze, aber andererseits kann Einbeziehung, naiv angegangen, auch neuen Ausschluss bedeuten. Zum Beispiel dann, wenn die Jugendlichen mit Migrationshintergrund dazu aufgerufen werden, ununterbrochen ihr „eigenes Leben“ aufzuführen bzw. „die Straße“ auf die Bühne zu bringen.

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Bildung, kulturelle Bildung sind sehr gut, aber nur dann, wenn sie Jugendliche nicht auf „ihre“ Tradition, die Authentizität des „eigenen Lebens“, Integrationsprobleme festlegen, sondern ihnen neue Horizonte eröffnet und gleichzeitig ihre Geschichten, Interessen und auch Eigenproduktionen ernst nimmt und als Anregungen in den gesamten Betrieb einfließen lässt. Was wäre nun das Programm Interkultur? Bleiben wir noch kurz bei den Einrichtungen des Kulturbetriebes. Unterdessen wird ja gefragt: warum kommen Leute mit Migrationshintergrund so selten ins Theater? Warum kommen sie weniger in die Museen? Da gibt es häufig erstmal eine Abwehrhaltung: Die Leute sind selbst schuld. Die kommen nicht, weil sie sich mehr für Fernsehsender aus der Heimat oder deutsches Unterschichtsfernsehen interesieren. Die haben nicht die nötigen Qualifikationen, um die hohe Kultur zu begreifen, sprechen möglicherweise nicht einmal unsere Sprache. Man sucht also die Ursachen als bei den Leuten. Das wäre aber der Punkt, wo man in punkto Interkultur umdenken müsste: Eben nicht zuerst nach den Defiziten der betreffenden Gruppen suchen, sondern die Institution in den Fokus rücken: Wie „offen“ ist die Institution, welche unsichtbaren Hürden gibt es, welche Voraussetzungen müssen Personen implizit erfüllen, ist die Atmosphäre tatsächlich so, dass sich alle Bewohner einer Stadt, alle Mitglieder der Gesellschaft wohl führen können? Wie schon erwähnt, war „interkulturelle Öffnung“ schon lange ein Thema. Allerdings ging es da oft um die Einrichtungen, die mit „dem Migranten“ zurecht

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kommen mussten. Daher bestanden die Programme ins Sachen „interkulturelle Öffnung“ häufig in Kompetenztrainings mit den einheimischen Mitarbeitern von Verwaltung, Gesundheitsversorgung und die Sozialdienste. Diese Trainings können gut sein, verbreite aber auch oft ein „Ethno-Rezeptwissen“, dass ziemlich klischeehaft Alltagschwierigkeiten zu Kulturproblemen verklärt. Da wird aber zum Beispiel in Sachen Verwaltung nur selten darauf geschaut, ob der Personalbestand der Institution noch mit der tatsächlichen Bevölkerung korrespondiert – und wie man das verändern kann. In den letzten Jahren hat sich die Polizei in einigen Bundesländern wie Hessen oder RheinlandPfalz sehr um die Erhöhung des Anteils von Beamten mit Migrationshintergrund bemüht, eben weil für die Polizeiarbeit, die ja auf der Ressource Vertrauen basiert, die „Passung“ mit der Bevölkerung ein entscheidendes Erfolgskriterium darstellt. Kurz gesagt – nur durch eine bewusste, proaktive Veränderung des Personalbestandes von Institutionen kann sich ein neuer interkultureller Raum entwickeln. Allerdings reicht dieser Wandel des Personalbestandes allein nicht aus, solange die Organisationskultur gleich bleibt. Eine naive Herangehensweise führ am Ende dazu, das die betreffenden Personen die Einrichtung schnell wieder verlassen, weil sie sich instrumentalisiert fühlen – etwa um „die Türken“ anzusprechen. Das Schauspiel Köln etwa hatte mit großer Medienaufmerksamkeit eine Quote im Ensemble eingeführt. Viele der „Neulinge“ kamen frisch von der Schauspielschule und bekamen nur winzige, quasi „dienende“ Rollen, während die Intendanz sich zu der Maßnahme beglückwünschte, und ver-

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ließen daher das Theater bald. Die Intendantin meinte kürzlich, dass sie demnächst keine Zugeständnisse mehr machen würde bei Qualität – womit klar ist: Das Scheitern hat damit zu tun, dass die betreffenden Personen nicht gut genug war. So können unreflektiert eingeführte Maßnahmen auch nach hinten losgehen. Was die Organisationskultur angeht, muss man schauen: Welchen „Typus“ gibt es, den die Einrichtung in ihren unterschiedlichen Sektoren, in der Leitung, in der Verwaltung, in der Technik, in der Dramaturgie, im Ensemble und im Publikum implizit bevorzugt. Warum hat dieser „Typus“ eigentlich Privilegien, ist das noch zeitgemäß und welche Geschichten werden erzählt, um die Privilegien dieses Typus zu legitimieren? In den Diversity-Programmen im englischsprachigen Raum stehen häufig sogenannte Codes of Conduct am Anfang, Betriebsvereinbarungen, die festlegen, wie eine nicht-diskriminierende Atmosphäre in einem Unternehmen oder einer Einrichtung beschaffen sein soll. Das ist sinnvoll, denn so werden Regeln explizit gemacht. Im Grundes geht es darum, den Begriff Barrierefreiheit zu erweitern, der in Bezug auf Behinderung verwendet wird. In diesem Fall werden eben unsichtbare Schwellen und Hürden angesprochen – jedenfalls Barrieren, die bestimmten Personen den Zutritt, das Weiterkommen in der Institution oder den Zugang zu ihren Dienstleistungen erschwert. Und hier zeigt sich auch der Kulturbegriff, der bei Interkultur im Zentrum steht: Das Organisationsprinzip muss angepasst werden an die Individuen und ihre unterschiedlichen Vorrausetzungen und Hintergründe. Das muss noch mal wiederholt werden: Es geht eben nicht um Gruppen und Defizite, son-

dern um Individuen und das Ausschöpfen von deren Potentialen. Da muss nun jede Institution für sich selbst einen Plan machen mit konkreten Zielen – meine Ideen zu Interkultur können nur eine Art Leitfaden sein. Da braucht es auch eine gewisse Flexibilität. Und teilweise kann man auch nur via Gruppenzugehörigkeit zu Individuen vordringen, denn Einwanderergruppen haben aufgrund ihrer jahrzehntelangen Ausgrenzung natürlich alternative Kommunikationsstrukturen entwickelt. Ein schönes Beispiel kommt von der Berliner Philharmonie. Dort wird seit einigen Jahren eine Reihe gemacht mit türkischer Kunstmusik, und natürlich wollte man auch, dass die Berliner Bevölkerung türkischer Herkunft an diesem Angebot Interesse entwickelt. Es wurde Werbung gemacht, in den entsprechenden Zeitungen, mit Plakaten in türkischer Sprache in den richtigen Vierteln – aber der Erfolg wollte sich nicht einstellen. Offenbar gingen die Leute nicht zu den Vorverkaufsstellen. Als nachgefragt wurde, stellte man fest: Viele Leute türkischer Herkunft erwarten, dass sie da, wo das Plakat hängt, auch eine Karte kaufen können, etwa im Gemüseladen. Und dann hat die Philharmonie ein bestimmtes Kontingent an Karten in die Gemüseläden gegeben. Und tatsächlich hat das dazu geführt, dass deutlich mehr Karten an Berliner türkischer Herkunft verkauft wurden. Man sieht dabei auch: bei Interkultur geht es um Kreativität. Das darf sogar Spaß machen, das ist keine beklagenswerte, zusätzliche Integrationsanstrengung. Um die Logik zu illustrieren, erzähle ich gern eine Geschichte von Roosevelt

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Thomas, einem schwarzen Organisationsberater, der den Begriff Diversity Management in den 1990er Jahren stark gemacht hat. Es ist Geschichte von der Giraffe und dem Elefanten. Die Giraffe hat ein Haus, das auf die Bedürfnisse einer Giraffe abgestellt ist, und hat auch mal einen Preis bekommen für das schönste GiraffenHaus des Jahres. Irgendwann sieht sie auf der Straße den Elefanten vorbeilaufen und denkt: Ach, den kenne ich vom Elternabend, den lade ich zum Kaffee ein. Der Elefant kommt und steht zunächst mal ratlos vor der Tür, die lang und schmal ist. Nun kann man einen zweiten Flügel der Tür öffnen, und er tritt ein, doch danach ist er der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Er stößt Vitrinen um, weil er nicht durch die Durchgänge passt, will die Treppe hoch, doch die bricht ein – bis es der Giraffe irgendwann reicht. Sie sagt: Wenn du öfter hier her kommen willst, solltest du dringend eine Diät machen – und empfiehlt ihm als Weg zum Abspecken das Ballett. Der Elefant wiederum meint: Wenn wir beide zusammen in einem Haus leben wollen, dann müssen wir das Haus umbauen. Illustrative Geschichten führen so weit wie sie können, und diese Geschichte lebt von realen Unterschieden. Oft genug geht es aber auch nur um Zuschreibungen. Das ändert aber nichts an der Logik: man muss das Haus umbauen. Bezogen auf die Individuen, ihre unterschiedlichen Hintergründe und ihre unterschiedlichen Voraussetzungen. Und dabei geht es um einen Erneuerungsprozess, der die Zukunft von allen gestaltet. l

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INKLUSION IN DER EXKLUSIVEN GESELLSCHAFT Von Dr. Ilka Hoffmann, Sonderpädagogin, stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Bildung der SPD, LV Saarland

1. Die Inklusionsdebatte in Deutschland vor dem Hintergrund der UNKonvention über die Rechte behinderter Menschen Obwohl der Begriff der Inklusion schon 1994 auf dem Congress of Special Needs Education in Salamanca Erwähnung fand, wird er in Deutschland erst seit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2009 verstärkt diskutiert. Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde bereits 2006 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Zentrale Begriffe der Konvention sind ‚Teilhabe‘ und ‚Empowerment‘. Teilhabe meint in diesem Zusammenhang die gleichberechtigte Teilhabe an der Infrastruktur, den gesellschaftlichen Aktivitäten und den Bildungsmöglichkeiten des jeweiligen sozialen Umfelds, in dem die Menschen leben. Empowerment bedeutet wörtlich ‚Ermächtigung‘. Konkret hebt der Begriff darauf ab, dass Menschen mit Behinderungen in die Lage versetzt

werden, ihre Rechte einzufordern und wahrzunehmen. Dies macht die Überwindung physischer und kommunikativer Barrieren durch entsprechende Unterstützungsmaßnahmen notwendig. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist im Zusammenhang mit zahlreichen anderen UN-Konventionen und Deklarationen zu den allgemeinen Menschenrechten zu sehen. Zu nennen sind hier insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1969 und das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979. In der UN-Behindertenrechtskonvention werden die allgemeinen Menschenrechte aus dem spezifischen Blickwinkel von Menschen mit Behinderungen behandelt. An der Erarbeitung des Konventionstextes waren die Verbände der Betroffenen maßgeblich beteiligt. Sie konnten bei der Formulierung der Rechte auf Teilhabe und

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Selbstbestimmung auf die Tradition von Bürgerrechtsbewegungen ab den 70er Jahren zurückgreifen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Psychiatriereform der 70er Jahre in Italien und anderen Ländern Europas sowie die deutschen „Krüppelgruppen“ der späten 70er Jahre.

nachgegangen werden, warum es gerade hierzulande so schwierig ist, Menschen mit Beeinträchtigungen als gleichberechtigte Bürger anzusehen.

2. Traditionslinien des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen in Deutschland

Die Psychiatriereform in Italien stellte den verbreiteten Ansatz, dass Menschen mit Behinderungen erst in einer Therapieeinrichtung ‚geheilt‘ werden müssen, um an der Gesellschaft teilzuhaben, radikal in Frage. So betonte Adriano Milani Comparetti (1986: 16), einer der Vordenker der Psychiatriereform, dass „Rehabilitation mit dem Einbeziehen in das normale Leben beginnt und ohne dieses zum Scheitern verurteilt ist." Die Krüppelbewegung in Deutschland wollte durch provokante Aktionen die Verlogenheit der bundesdeutschen Gesellschaft im Umgang mit behinderten Menschen entlarven. Für Aufsehen sorgte Franz Christoph, einer der Mitbegründer der Krüppelbewegung, als er 1981 den damaligen Bundespräsidenten Carl Carstens mit einem Stock vor die Beine schlug. Er kommentierte seine Aktion im selben Jahr in der Krüppelzeitung mit den Worten: „Der Hieb zielte auf die verlogenen Gönner, die von Integration und Miteinander reden, die offene und verstärkte Diskriminierung behinderter Personen aber nicht sehen wollen.“

Wie brüchig der Fürsorgegedanke im Hinblick auf das Lebensrecht und die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen allerdings ist, wurde in Deutschland spätestens ab 1920 deutlich. In diesem Jahr brachten Karl Binding und Alfred Hoche ihre Schrift „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ heraus, die später handlungsleitend für die Euthanasiegesetze der Nationalsozialisten wurde.

Die Aktionen der Krüppelbewegung und die durch die Psychiatriereform vermittelten Denkanstöße haben den Betroffenen zwar Mut gemacht, ihre Rechte selbstbewusster zu vertreten. An der gesellschaftlichen Haltung ihnen gegenüber hat sich dadurch in Deutschland allerdings wenig geändert. Im Folgenden soll der Frage

Dass dieses Gedankengut bis heute in die Gesellschaft hineinwirkt, belegt die Tatsache, dass noch 2011 der Euthanasiebefürworter Peter Singer den Ethikpreis der Giordano-Bruno-Gesellschaft erhalten konnte. Dieser sagte in einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 2001 wörtlich: „Wenn Menschen auf einem so niedrigen

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Ab der frühen Neuzeit war der Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen geprägt von dem Spannungsfeld zwischen totaler Ablehnung und christlicher Fürsorge. Durch den grundsätzlichen Glauben der Aufklärung an die Bildsamkeit jedes Menschen entstanden einzelne Bildungseinrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen. Diese nahmen sich aus dem Gedanken christlicher Fürsorge heraus der Menschen mit Beeinträchtigungen an.

Inklusion in der exklusiven Gesellschaft Argumente 2/2012


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intellektuellen Entwicklungsstand sind, dass sie ihrer selbst nicht bewusst sind, dann sind wir nicht verpflichtet, sie am Leben zu erhalten. Aber ich halte es für durchaus vernünftig, wenn sich eine wohlhabende Gesellschaft dafür entscheidet, sie zu pflegen und damit unseren Respekt für sie auszudrücken.“ Es ist also laut Peter Singer „durchaus vernünftig“, behinderte Menschen nicht zu töten. Es ist in seinen Augen aber auch keine Straftat, dies zu tun – von dem Recht auf ein menschenwürdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe, die er Menschen mit schweren Behinderungen implizit abspricht, ganz zu schweigen. Dass der Aufschrei über diese Preisverleihung in der breiten Öffentlichkeit eher gering war, zeigt, dass wir über den Gedanken einer Fürsorge als Gnadenakt noch nicht sehr weit hinaus gekommen sind. Der Umgang mit Menschen mit schweren und komplexen Behinderungen wird an die Beschäftigten von Spezialeinrichtungen delegiert, die von den politischen Machthabern in Sonntagsreden mit einem halb mitleidigen und halb anerkennenden Schulterklopfen bedacht werden.

3. Deutschland als exklusive Gesellschaft In dem Ausschluss und der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen offenbart sich ein Grundproblem der bundesdeutschen Gesellschaft, für die die Stigmatisierung und der Ausschluss einzelner Gruppen von gesellschaftlicher Teilhabe konstitutiv ist. Dies zeigt sich beispielsweise beim Umgang mit Ausländern, deren Diskriminierung sich – ganz abgese-

hen von den zahlreichen Benachteiligungen im Alltags- und Berufsleben – von der Einschränkung der politischen Mitbestimmung über den fehlenden Schutz der Familie (Verweigerung von Familienzusammenführung, Auseinanderreißen von Familien bei Abschiebungen) bis zur Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit bei Flughafenasyl und der Ab schiebepraxis erstreckt. Nicht weniger diskriminierend ist in Deutschland der Umgang mit Arbeitslosen. Insbesondere Langzeitarbeitslose behandelt man hierzulande ja mittlerweile wie Aussätzige, die man mit den kaum zum Überleben reichenden Hartz-IV-Sätzen fast schon absichtsvoll von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließt. Erst kürzlich wieder zeigte sich die Stigmatisierung von Hartz-IV-Empfängern bei der Diskussion um das Betreuungsgeld. So wurde die Forderung, dieses auf die HartzIV-Sätze anzurechnen, ausdrücklich damit begründet, dass in Hartz-IV-Familien das zusätzliche Geld ohnehin nur für Alkohol und Zigaretten ausgegeben würde – als würde man automatisch zu einem schlechteren Menschen, wenn man seinen Arbeitsplatz verloren hat. Diskriminiert werden in Deutschland aber auch Kinder, denen man unter dem Vorwand des Schutzes der Familie allzu oft die Menschenrechte vorenthält. Diskriminiert werden Senioren, vor allem Hochbetagte, denen man ihr langes Leben als ineffektiven Kostenfaktor für die Gesellschaft vorwirft. Diskriminiert werden die ‚working poor‘, die zynischerweise trotz ihres Einkommens unterhalb des Existenzminimums als Beleg für das deutsche Jobwunder herhalten müssen.

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Dies wirft die Frage auf: Was muss man eigentlich tun, um in Deutschland nicht diskriminiert zu werden? Erste Möglichkeit: Man wird zum Superstar gekürt und dient damit als Projektionsfläche für die in der Enge des bürgerlichen Alltags unterdrückten Wünsche. Zweite Möglichkeit: Man ist ein vollgültiger Teil eben dieses bürgerlichen Alltags, erkennbar an dem entsprechenden Habitus. Letzteres ist entscheidend, und eben das macht die Transformation in eine inklusive Gesellschaft in Deutschland so schwer. Denn der Habitus ist nicht einfach eine bestimmte Art, sich zu geben, die man von einem Tag auf den andern ändern könnte. Vielmehr handelt es sich dabei nach Pierre Bourdieu (1997: 206) um „eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt“, in der sich die für eine soziale Klasse zentralen Deutungsmuster der Wirklichkeit manifestieren. Die Beharrungskraft des Habitus kommt auch darin zum Ausdruck, dass Bourdieu von der „Inkorporierung“ sozialer Strukturen im Einzelnen spricht (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 173). Folglich ist der Habitus für ihn auch ein „System von Grenzen“ (Bourdieu 1997: 207), innerhalb derer sich das Denken und Handeln des Einzelnen bewegt. Als System „dauerhafter (…) Dispositionen“ (Bourdieu 1998: 99) ist der Habitus konstitutiv für die Gesamtheit der Lebensäußerungen des Mitglieds einer sozialen Klasse und schafft „einen Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er

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hat usw. – all das ist eng miteinander verknüpft“ (ebd.: 206). Wer ein vollgültiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werden möchte, hat es also nicht so leicht wie der Hauptmann von Köpenick, der einfach eine Uniform überstreifen musste, um Anerkennung zu finden. Der Habitus ist vielmehr eine Art innere Uniform, in die man hineingeboren werden muss, um sie richtig tragen zu können. Er ist etwas Immaterielles, in unserem Fall gewissermaßen der Geruch des bürgerlichen Rudels, an dem einer den anderen als seinesgleichen erkennt. Umgekehrt bedeutet dies, dass Inklusion nicht einfach auf dem Verordnungsweg durch ein paar kosmetische Maßnahmen erreicht werden kann. Ihr Gelingen setzt vielmehr den bewussten Willen der herrschenden bürgerlichen Klasse voraus, den für ihren Habitus konstitutiven Hang zum diskriminierenden Ausschluss anderer als solchen zu erkennen und zu überwinden. Hieraus ergibt sich auch unmittelbar die zentrale Bedeutung, die der Umgestaltung des deutschen Schulsystems im Rahmen einer inklusiven Umgestaltung der Gesellschaft zukommt. Denn die Schule hat bei der „Inkorporierung“ sozialer Strukturen im konkreten Subjekt eine Schlüsselfunktion (vgl. hierzu ausführlich Legrand 2011). Sie kann entweder – wie es der Praxis des herkömmlichen selektiven Schulwesens in Deutschland entspricht – die familiäre Sozialisation in der bürgerlichen Familie verstärken, indem sie all jene, die dem bürgerlichen Habitus nicht entsprechen, auf niedere Schulformen relegiert. Oder sie kann dieser Sozialisation

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durch Formen gemeinsamen Unterrichts entgegenwirken, in denen Andersartigkeit grundsätzlich als Bereicherung und Chance für eigenes geistiges Wachstum erfahrbar wird, anstatt lediglich als Störfaktor für die bürgerliche Inzucht gebrandmarkt zu werden. Welche geradezu aggressiven Abwehrimpulse die Bemühungen um eine Umgestaltung des deutschen Schulwesens bei jenen auslösen können, die speziell das Gymnasium unbedingt für die Reproduktion des bürgerlichen Habitus und die damit einhergehenden Machtverhältnisse erhalten wollen, hat sich zuletzt wieder im Rahmen des Hamburger Bildungskampfs gezeigt. Der Erfolg, den das Hamburger Bürgertum hierbei hatte, birgt die Gefahr, dass auch andernorts Pläne für mehr gemeinsamen Unterricht entweder ganz aufgegeben oder so verwässert werden, dass unter dem Label ‚Gemeinschaftsschule‘ letztlich nur die alte ‚Volksschule‘ wiederbelebt wird – als eine Art Restschule für all jene, die man von der Schule für die bürgerliche Elite – dem Gymnasium – fernhalten möchte.

4. Inklusion in der exklusiven Gesellschaft? Als relatives spätes Kind der Menschenrechtsbewegung stellt die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen zweifellos einen epochalen Fortschritt dar. Wichtig erscheint insbesondere, dass die Konvention Menschen mit Beeinträchtigungen einen Rechtsanspruch auf gesellschaftliche Teilhabe einräumt und sie so aus der Ecke der Fürsorgeempfänger herausholt.

Dennoch bleibt die Gefahr, dass den Behinderten zwar äußerlich eine bessere Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht wird, sie aber innerlich weiterhin abgelehnt werden. Dabei spielen zweifellos Projektionen von Ängsten vor dem eigenen körperlichen Verfall eine zentrale Rolle. Als bloße Mitläufer, die man nur deshalb nicht aussondert, weil der Gesetzgeber einen dazu zwingt, wären die Betroffenen aber nach wie vor kein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die Finanzkrise ein willkommenes Argument liefert, um den Prozess der materiellen und geistigen Barrierefreiheit zu verschleppen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Inklusion als Projekt der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft kaum erfolgreich sein kann, wenn gleichzeitig die Exklusion und Diskriminierung anderer Teile der Bevölkerung fortdauert. Auf diese Weise könnten erstens leicht einzelne Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, und zweites bliebe der Geist des Ausschlusses bestehen und würde wohl auch auf den Umgang mit behinderten Menschen zurückzuwirken. Zu hoffen bleibt daher, dass der Prozess der Inklusion auf die separierenden Strukturen der deutschen Gesellschaft zurückwirkt, dass also das inklusive Ideal auf das vorherrschende exklusive Denken einwirkt und dieses sukzessive transformiert. Es steht außer Frage, dass dies ein sehr langwieriger Prozess sein wird. Andererseits haben auch die UN-Konventionen gegen Rassendiskriminierung und für die Gleichberechtigung der Frau gezeigt, dass der Rechtsanspruch auf uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe langfristig nicht ohne Auswirkungen auf die gesellschaftli-

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Argumente_2_2012_Inhalt 04.09.12 12:58 Seite 68

chen Einstellungen bleibt – auch wenn selbst in diesen Fällen das Ideal vollständiger Diskriminierungsfreiheit noch nicht erreicht ist. l Literatur: Beauftragter der Bundesrepublik Deutschland für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Hrsg.): Die UN-Behindertenrechtskonvention. Deutscher und englischer Text sowie die Schattenübersetzung des Netzwerks Inklusion. (Online Broschüre, abzurufen unter HYPERLINK "http://www.behindertenbeauftragter.de"www.behindertenbeauftragter.de). Berlin 2009. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede (frz. La distinction. Critique sociale du jugement, 1979). Frankfurt/M. 1998. Ders.: Pierre Bourdieu im Gespräch – Die feinen Unterschiede. In: Baumgart, Franzjörg: Theorien der Sozialisation, S. 206 – 216. Bad Heilbrunn 1997. Ders. / Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie (frz. 1992). Frankfurt/M. 1996. Christoph, Franz: Erläuterungen zu meiner Aktion bei der Reha ´81. In: Krüppelzeitung 2/1981, S. 24 – 27. Legrand, Philippe: Die Reproduktion sozialer Ungerechtigkeit im deutschen Schulsystem – Mythos Chancengleichheit. In: Tabula Rasa. Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur 4/2011 (Online-Veröffentlichung). Milani Comparetti, Adriano: Von der Medizin der Krankheit zu einer Medizin der Gesundheit. In: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit – Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung (1985; 2. erw. Aufl. 1986) S. 16 – 27 (www.bidok.at). Singer, Peter: „Nicht alles Leben ist heilig“. Interview im Spiegel vom 25.11.2001.

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Teile dieses Beitrags stammen aus der folgenden Veröffentlichung: Böckenförde, Markus/Leininger, Julia (2012): Demokratie und Menschenrechte in der deutschen Außenpolitik, in: APuZ 10/2012, 5. März 2012, S. 40.46. Forschungsgruppe Wahlen, April 2012. Zahlen von Allensbach, Erhebung 28.10. bis 11.11.2011; vgl. Petersen 2011. Tobias Neumann, Die Piratenpartei in Deutschland. Entwicklung und Selbstverständnis, Berlin 2011: 101. Siehe https://www.piratenpartei.de/politik/staatund-demokratie/mehr-demokratie/. Wolfgang Merkel und Alexander Petring, Partizipation und Inklusion, siehe: http://www.wzb.eu/sites/default/files/zkd/dsl/partizipation_und_inklusion.pdf, eingesehen am 7.8.2012. Achim Schäfer, Beeinflusst die sinkende Wahlbeteiligung das Wahlergebnis? Eine Analyse kleinräumiger Wahldaten in deutschen Großstädten., in: Politische Vierteljahresschrift, 53, 240-264. Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linkspartei; BT-Drucksache 17/9264. Interview mit Bernd Schlömer, in: ZEIT, 31.5.2012. Fabian Reinbold , B-Frage quält die Piraten. Siehe: Spiegel-Online, 11. Juni 2012. Interview mit dem Berliner Pirat Alexander Morlang, in: Spiegel 30/2012. Fabian Reinbold, B-Frage quält die Piraten. Siehe: Spiegel-Online, 11. Juni 2012. Fabian Reinbold, B-Frage quält die Piraten. Siehe: Spiegel-Online, 11. Juni 2012. Zimmermann, Peter (2008): Ziviler Ungehorsam gegen rechtsextreme Aufmärsche. Jenaer Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus, Juli 2008. HYPERLINK "http://aktionsnetzwerk.de/joomla/images/stories/pd fs/ziviler_ungehorsam.pdf [01" http://aktionsnetzwerk.de/joomla/images/stories/pdfs/ziviler_ungehorsam.pdf [02. 08. 2012] Dieser Text ist die gekürzte Transkription eines Vortrags vom des Autors am 06. 05. 2010 im Bruno Kreisky Forum in Wien, basierend auf dem gleichnamigen Artikel in: Isolde Charim, Getrud Auer Borea (Hg.): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden, Bielefeld: transcript 2012. Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

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Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin September 2012

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

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