Argumente 3/2011 Marx heute Teil I

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Dezember 2011

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

ARGUMENTE 3/2011 Marx heute Teil 1


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ARGUMENTE 3/2011 Marx heute Teil 1

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan Böning Redaktion Simone Burger, Matthias Ecke, Ralf Höschele, Thilo Scholle, Jan Schwarz, Robert Spönemann Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Tel: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


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INHALT

Intro .......................................................................................................................... 4 Von Matthias Ecke, Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

Magazin Regeneriert oder politisch ergraut? Die SPD im Herbst 2011............................... 7 Von Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen Sozialdemokratische Orientierung in der Wirtschaftspolitik.................................13 Von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Schwerpunkt Das Compagnie-Geschäft Marx und Engels….......................................................17 Klaus Körner, Publizist in Hamburg Marx und die Sozialdemokratie – die SPD und Marx… ....................................... 23 Von Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung und deren feministische Bearbeitung.................................................................... 31 Von Lisa Yashodhara Haller, Universität Kassel

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Inhalt Argumente 3/2011


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Staat: Herrschaft? Notwendigkeit? Instrument? Zur Staatstheorie Marx’ und marxistischer Staatstheorie .................................... 38 Von Julian Zado, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender Der Wert des Werts ............................................................................................... 44 Von BjÜrn Brennecke Die Weiterentwicklung zum Kapital ...................................................................... 48 Von Tobias Gombert

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INTRO: MARX HEUTE Von Matthias Ecke, Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

Karl Marx wurde 1818 in Trier geboren, und ist 1883 in London gestorben. Er war Philosoph, Ökonom, Historiker, Soziologe, Journalist, Politiker und Revolutionär. Er ist einer der bekanntesten Menschen der Welt, bis heute werden seine Ideen und Schriften kontrovers diskutiert und weiterentwickelt. Die Prophezeiung seines ersten Biographen Franz Mehring hat sich bewahrheitet: „Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk.“ Dabei ist sein Werk so unterschiedlich bewertet, wie wohl kaum ein anderes. Von seinen GegnerInnen verhasst, aber auch geachtet, von seinen AnhängerInnen sowohl nachgebetet, verschiedentlich interpretiert, als auch immer wieder verworfen. Er war der bedeutendste Kopf der ArbeiterInnenbewegung, bis heute bezeichnet die SPD die marxistische Gesellschaftsanalyse als eine ihrer Wurzeln. Das Verhältnis der SPD zu Karl Marx hat Willy Brandt treffen beschrieben: "Die Analysen des großen Denkers waren vielfach richtig. Teile seines Instrumentariums und seiner Methode sind auf faszinierende Weise modern geblieben. Seine Antworten erwiesen sich vielfach als falsch, seine Hoffnungen als trügerisch." Marx gilt heute vor allem Autor einer Gesellschaftslehre und Pionier der Ökonomietheorie. Er wurde vielfach missbraucht,

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um Gewaltherrschaften zu legitimieren. Ihm wurde und wird viel vorgeworfen. "Marx geht es wie der Bibel: Er wird viel zitiert und kaum verstanden" (Erich Fromm). Dabei sind es gerade die unterstellten Vorwürfe, gegen die er sich selbst am vehementesten ausgesprochen. Marx war weder der Autor eines sozialistischen Systems, noch der Erschaffer einer neuen Utopie. "Wer ein Programm für die Zukunft verfaßt, ist ein Reaktionär" (Marx). Er lehnte gerade geschlossene Welterklärungen ab und missbilligte dogmatische Ideologien. So ist auch sein Ausspruch „Je ne suis pas Marxiste“ zu verstehen, mit dem er sich von sich Marxisten nennenden Gruppen distanzierte. Diejenigen, die nur versuchten, zu verstehen was er aufgeschrieben hatte verachtete er. Und zwar nicht nur weil den meisten nicht einmal das gelang, sondern weil es auch seinen Überzeugungen im tiefsten widersprach. Georg Lukács beschrieb dies so: „Marxisten in dem Sinne, in dem Marx selbst kein Marxist war, es nicht sein wollte, gibt es [...] nicht und kann es nicht geben; das Schwören auf die Worte der Meister ist das Schicksal jeder Schule, die eine endgültige Wahrheit letzter Instanz kennt. Irgendeine Wahrheit dieser Art kennt der Marxismus aber nicht. Er ist kein unfehlbares Dogma, sondern eine wissenschaftliche Methode. Er ist nicht die Theorie eines Individuums, der ein anderes Individuum eine andere und höhere Theorie entgegenstellen könnte; er ist vielmehr der proletarische Kassen-


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kampf, in Gedanken gefaßt; er ist aus den Dingen selbst, aus der historischen Entwicklung emporgewachsen und wandelt sich mit ihr; deshalb ist er so wenig ein leerer Trug wie eine ewige Wahrheit. Dem entspricht es durchaus, daß es gerade die »orthodoxen« Marxisten gewesen sind, welche die wissenschaftlichen Resultate, die einst von Marx und Engels gewonnen worden sind, nach der wissenschaftlichen Methode dieser Männer zu revidieren verstanden haben.“ Marx wichtigstes Instrument war die Kritik, aber nicht nur als Selbstzweck, sondern um die Gesellschaft zu verändern. Dafür ist es notwendig zu Verstehen, was die entscheidenden Funktionen und Hebel der Gesellschaft sind. Ohne die Erkenntnis über die eigene Rolle in der Gesellschaft und das Wissen um die Funktionsmechanismen der Gesellschaft ist keine Emanzipation möglichen. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“(Marx). In diesem Sinne ist er auch heute noch hoch aktuell. Das Verständnis über seine Theorien hilft die Welt zu verstehen. Es geht nicht darum zu begründen warum Marx Recht hatte oder ihn so zu interpretieren, dass er Recht hat, sondern seine Methode der Kritik anzuwenden und die passenden Teile seines Instrumentenkastens der Erklärungsansetze zu nutzen um die Verhältnisse unserer Zeit zu erfassen. Auch für die Jusos war und ist der Bezug auf Marx und seine theoretischen Erben von Bedeutung. Die Jusos verstehen sich heute als sozialistischer, feministischer und internationalistischer Richtungsverband. Dies ist das Ergebnis vieler Diskus-

sionen und Auseinandersetzungen seit der Linkswende 1969. Dabei waren Jusos nie ein einheitlicher Block, sondern immer bestimmt von unterschiedlichen analytischen und strategischen Positionen. Diese schlugen sich in Strömungen nieder, die auch auf die Traditionen und Denkansätze der drei marxistischen theoretischen Stränge der Sozialdemokratie zu Beginn des Jahrhunderts aufgriffen. Die Refos bezogen sich auf Eduard Bernstein, die Antirevisionisten auf Rosa Luxemburg und die JusoLinke auf Karl Kautsky und Rudolf Hilferding. Diese entwickelten sich weiter und nahmen auch immer wieder neue Theorieentwicklung in ihre Programmatik mit auf. Wer sozialistische Politik gestalten will kann auf Marx nicht verzichten. Dies ist der Anspruch der Jusos. Was dies für Jusos bedeutet steht in Potsdamer Grundsatzerklärung von 1991: „Sozialismus bedeutet für uns die Befreiung aller Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung, die Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit, die uneingeschränkte Garantie aller Menschenrechte und Demokratie in allen Lebensbereichen. Dieser Sozialismus ist eine Gesellschaft der Selbstbestimmung in Solidarität, deren Voraussetzung es ist, "die freie Entfaltung eines jeden als Bedingung für die freie Entfaltung aller" (Karl Marx) zu begreifen.“ In diesem Doppelheft der Argumente möchten wir euch einen Einblick in die Ideen von Karl Marx, seine historische Bedeutung, die Weiterentwicklung seiner Schriften und die Debatten über seine Aktualität in verschiedenen Politikfeldern bieten. Die hier versammelten Beiträge spiegeln eine ganze Bandbreite der an Marx‘ Denken anknüpfenden Theoriestränge wieder, naturgemäß nicht alle. Der Pluralismus marxistischer Theoriebildung

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ist Denkanstoß und Herausforderung zugleich. Nicht alle hier vertretenen Ansätze sind zueinander widerspruchsfrei, nicht alle werden im Juso-Verband vollends geteilt. Doch gerade diese Fähigkeit, die vielfältigen Herrschaftsverhältnisse zu analysieren und durch kritische Theorie der Gesellschaft zu erklären, ist eine der unverzichtbaren Stärken des Marx‘schen Denkens. Eine Größe, die die Reichweite seines Werkes über die historischen Bedingungen der Entstehungszeit hinauswachsen lässt. Kritische Gesellschaftstheorie als Voraussetzung für sozialistische Politik, das war Marx gestern, das ist Marx heute. Zu den einzelnen Beiträgen Klaus Körner gibt einen Einblick in das bewegte Leben von Karl Marx. Er geht durch die verschiedenen Stationen und Schaffensphasen in den verschiedenen Städten Europas. Dabei war sein Leben geprägt von ständiger Geldknappheit. Einen Schwerpunkt setzt er auf die Beziehung zu seinem Partner Fridrich Engels. Thilo Scholle und Jan Schwarz setzen sich mit dem Verhältnis zwischen der deutschen Sozialdemokratie und Karl Marx und dem Wiederhall seiner Theorien in der Partei auseinander. Dabei war die Beziehung hoch kompliziert. Zeit seines Lebens begleitete Marx die Entwicklung der deutschen Arbeiterpartei kritisch und mischte sich ein. In der SPD kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Interpretation der marxschen Schriften. Lisa Y. Haller widmet sich den Leerstellen marxistischer Werttheorien aus Sicht einer feministischen Ökonomiekritik. Ihr Bei-

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trag stellt heraus, wie die marxistische Theorie die Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgearbeit vernachlässigt, die Voraussetzung für kapitalistische Akkumulation ist. Sie fordert eine Weiterentwicklung marxistischer Theorie durch einen feministischen Materialismus, um gerade Fragen der Vermarktung von Familienarbeit besser analysieren zu können. Julian Zado betrachtet die Rolle des Staates in der Theorie von Marx und die Entwicklung marxistischer Staatstheorie. Er bearbeitet die Frage, inwieweit Staatlichkeit eine Notwendigkeit ist und welche Rolle er als Machtinstrument hat. Er versteht Staat als Verdichtung von Kräfteverhältnissen ohne den Kapitalismus nicht möglich wäre. Björn Brennecke konzentriert sich auf die Streitfrage, inwieweit die marxsche Werttheorie zur Gesellschaftsanalyse überhaupt geeignet ist. Er stellt die verschiedenen Positionen dar und kommt zu dem Ergebnis, dass ein Marxismus ohne Werttheorie seine schärfste Klinge verliert und alleine denjenigen dienen würde, die ihre Augen verschlossen halten wollen, um sich gemütlich im kapitalistischen System einzurichten. Tobias Gombert erklärt im ersten Teil seines Beitrages die Grundlagen der politischen Ökonomie, wie er sie im „Kapital“ dargestellt hat. Er gibt damit einen Text, der sowohl Einsteigern die Möglichkeit bietet erste Verständnisse über die marxistische Denkweise zu gewinnen, aber auch Marxkennern noch neue Einblicke bieten kann. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der marxschen Krisentheorie und deren Weiterentwicklung. 쎲


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REGENERIERT ODER POLITISCH ERGRAUT? DIE SPD IM HERBST 2011 Von Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen

Magazin

Hat sie sich erholt – die SPD? Schauen wir auf die Wahlen, die seit dem großen Desaster Ende September 2009 in Deutschland stattgefunden haben. In fünf Bundesländern konnte die SPD ihre Regierungsposition behaupten. In drei Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Baden-Württemberg) gelangte die SPD aus der Opposition heraus in das Kabinett. Aus sozialdemokratischer Sicht eine unzweifelhaft erfreuliche Bilanz. Indes: Mit einem kräftigen Ausbau des Wählerfundaments konnten sich die Sozialdemokraten, sieht man von den Wahlgängen in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern ab, keineswegs hervortun. Die SPD hielt in Sachsen-Anhalt und Bremen in etwa ihr vorangegangenes Ergebnis. Dagegen hatte sie einen weiteren Rückgang in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (-9,9 Prozentpunkte) Baden-Württemberg und Berlin zu verkraften.

Sehen wir einmal genauer auf die Bundesländern Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, da hier einige Spezifika der sozialdemokratischen Wähleranatomie gut deutlich werden. Die Sozialdemokraten in NRW verschlechterten sich 2010 gegenüber 2005 um weitere 2,6 Prozentpunkte auf 34,5 Prozent. Die Anteile der baden-württembergischen Sozialdemokraten schmolzen 2011 um zwei Prozentpunkte auf 23,1 Prozent ab. Die SPD in NRW steht damit wieder auf den Stand von 1954. Die Sozialdemokraten im Südwesten verbuchten 2011 das schlechteste Resultat in ihrer Landesgeschichte. Zuwächse verzeichnet die SPD in beiden Ländern allein bei den über 60-Jährigen, einzig bei den Rentnern. Bei den Wählern, die einen Erwerb nachgingen, fiel die SPD um knapp vier Prozent zurück. In der Altersgruppe der 18-44Jährigen war die Abwendung von der SPD mit einem Minus von über sechs Prozent am stärksten.

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Im Kern gilt dieser Entwicklungszug allgemein, für fast alle Bundesländer. Die SPD reüssiert bei den Rentner, und sie stürzt nach 2009 weiter forciert bei den jungen Wählern, die noch in der Ausbildung stecken, ab. Im Westen zogen zuletzt die Grünen daraus ihren Nektar, im Osten bei denjenigen, die als jung, männlich, gering gebildet bezeichnet werden, durchaus die NPD. Und bekanntlich spielt im Wettbewerb um das junge Elektorat mit den Piraten nun noch ein weiter, derzeit besonders attraktiver Anbieter mit. Verändert hat sich seit 2009 die strukturelle Zusammensetzung der Wählerwanderungsflüsse. Am Ende der Großen Koalition verlor die SPD über drei Millionen Wähler von 2005 an die Linke und an das Lager der Nichtwähler. Diese Bewegung hat sich in den letzten beiden Jahren nicht fortgesetzt. Statt dessen hat es einen kräftigen Aderlass in Richtung Grüne gegeben. Kompensieren konnte dies die SPD durch bemerkenswerte Zuwächse aus dem altbürgerlichen Lager, also aus dem Spektrum von CDU und FDP. Natürlich hat sich dadurch die sozialdemokratische Wählerschaft im Jahr 2011 – gerade im Vergleich zu 1998 oder 2002 – signifikant verändert. Linke und ökologisch-postmaterialistische Einstellungen dürften hier deutlich geschwunden sein; konservative Stabilitäts- und Sicherheitserwartungen an Resonanz im SPD-Elektorat gewonnen haben. Viel Erfreuliches lässt sich auch nicht auf der Ebene der Mitgliedschaft entdekken. 2011 fiel die SPD nun auch noch unter die 500.000-Mitglieder-Marke. Seit 2008 hat die CDU gar einen knappen Vorsprung bei den Parteizugehörigen. Das Durchschnittsalter der Sozialdemokraten liegt 2011 bei 58 Jahren, diejenigen unter 36 Jahren bilden nicht einmal 10 Prozent

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der SPD-Mitgliedschaft. Wie bei den Wählern so dominieren in der SPD auch bei den Mitgliedern nunmehr die Rentner und Pensionäre. Die stärkste Gruppe unter den aktiv erwerbstätigen Mitgliedern bilden die Beamten mit 23 %. Arbeiter kommen nur noch marginal, zumindest unterproportional vor in der Partei, die lange auf ihre proletarischen Wurzeln stolz war. Denkbar ernüchternd fiel bekanntlich eine Mitgliederbefragung des WillyBrandt-Hauses im Frühjahr 2010 aus. Die Zahl der Ortsvereine war in den vorangegangenen Jahren erheblich zurückgegangen. In den verbliebenen lokalen Sektionen fanden offensive, nach außen gewandte Aktivitäten kaum noch statt. Die Drähte zur programmatisch gerne belobigten Zivilgesellschaft waren weithin gekappt; regelmäßige Kontakte zu Gewerkschaften und Umweltverbänden fanden in über 90 % der Ortsvereine nicht mehr statt. Nun darf man natürlich nicht jede Veränderung gleich als Krise oder gar Menetekel brandmarken. Selbst die Mitgliederverluste und die Organisationserosion der SPD lassen sich aus einer anderen Perspektive auch milder bewerten. Derartige Rückgänge, die in anderen Partei ganz ähnlich zu beobachten sind, werden vielleicht zu pauschal für den unvermeidlichen Niedergang der Volksparteien und aller Großorganisationen schlechthin in postmodernen, individualisierten Gesellschaften gedeutet. Doch sind derartige Interpretationen zweifelsohne zu stark orientiert an den extrem hohen Mitgliederzahlen aus den Zeiten der Überpolitisierung der 1970er und frühen 1980er Jahre. Seither tragen die Parteien im Grunde ab, was auch in historischer Perspektive ungewöhnlich stark akkumuliert worden war. Jedenfalls haben die Sozialdemokraten

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auch gegenwärtig noch in etwa so viele Mitglieder wie in den Ausgangsjahren des Kaiserreichs oder zu Beginn der 1950er Jahre - in Zeiten mithin, als die Klassengesellschaft noch stabil, die sozialmoralischen Milieus intakt, das kollektive Organisationsverhalten weit verbreitet war. Zumal: In der Größe von Organisation vermittelte sich nicht nur die Stärke, sondern historisch oft genug auch das Dilemma der Sozialdemokratie. Auf der einen Seite sicherte die Organisation zwar die sozialdemokratische Existenz in Kriegsund Krisenzeiten. Denn Organisationen verschwinden nicht so einfach, tragen Beharrungskräfte in sich, unterscheiden sich auf diese Weise von spontanen Bürgerbegehren oder Initiativen, die oft mit großem Schwung und weitgesteckten Zielen entstehen, nach Enttäuschungen und Misserfolgen dann aber ebenso rasch wieder zerfallen. Auf der anderen Seite aber scheuen große Organisationen das Risiko, sind vorwiegend am Selbsterhalt interessiert nicht an schwer kalkulierbaren Veränderungen oder stürmischen Aktivitäten. So hat zwar die Organisation zu den fast 150 langen sozialdemokratischen Jahren beigetragen, hat die elementaren Weltbilder und Zielsetzungen generationenübergreifend aufbewahrt und weitervermittelt, hat aber ebenfalls auch die politischen Erstarrungen und Unbeweglichkeiten der Partei in weichenstellenden historischen Momenten mitverursacht. Der Mitglieder- und Organisationsschwund der letzten Jahre stellt infolgedessen nicht unbedingt ein Menetekel für die Sozialdemokraten dar. Nicht wenige Sozialwissenschaftler und Historiker haben sogar darauf aufmerksam gemacht, dass an Mitgliedern kleine Organisationen oft effizienter und stringenter agieren als große. „In kleinen, zentripetal

organisierten Gruppen“, so etwa der große Soziologe Georg Simmel, „werden im Allgemeinen alle Kräfte aufgeboten und genutzt, während in großen Gruppen Energien oft ungenutzt bleiben.“ Bislang allerdings hat sich die SPD noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, eine kleinere Partei zu werden. Stattdessen setzt sie in regelmäßigen Intervallen unverdrossen auf Mitgliederwerbung. Doch alle verzweifelten Bemühungen, wieder große Volkspartei zu werden, jede Anstrengung, Mitgliederscharen - koste es was es wolle - zu akquirieren, scheinen in Wirklichkeit wie ziellose Donquichotterien. Die Sozialdemokraten sollten sich vielleicht intensiver Gedanken darüber machen, wo ihr Ort in der postindustriellen Gesellschaft und im Vielparteiensystem des 21. Jahrhunderts noch liegen könnte - diesseits der final beendeten Ära von weit ausgreifenden Volks- und Mitgliederparteien. In einer solchen neuen Konstellation vielfacher Heterogenitäten und komplexer Allianzen kommt es mehr denn je auf intelligente und bewegliche Parteizugehörige an, vor allem: auf politische Kunst, taktische Beweglichkeit, strategische Raffinesse - bei einem harten Kern grundsätzlicher Überzeugungen. Überhaupt tun sich in der sozialdemokratischen Debatte zur Organisationsreform einige Widersprüche auf. Die sozialdemokratische Parteiführung will und exekutiert - natürlich - die moderne Wählerpartei, aber sie will auch die partizipationsgeprägte Mitmachpartei unterhalb der Berliner Zentralität. Doch beides geht schwer zusammen. In der modernen, im Prinzip medial getakteten Wählerpartei geht es hochzentralistisch zu; hier beherrschen die PR-Experten, die Consultants, Werbefachleute und Politikprofis das Feld,

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die in kleinen Stäben blitzschnell handeln müssen, immer den aktuellen demoskopischen Befund als orientierenden Maßstab im Auge behalten, die Events inszenieren und alle Politik personalisieren. Dem partizipationsfreudigen Mitmachprojekt aber geht es stärker um Inhalte, um langfristig angelegte Konzeptionen, an denen geduldig und argumentativ gearbeitet wird. Die Partizipationspartei, kurzum, ist also „an der Sache“ orientiert, dezentral verfasst und eigensinnig; die moderne Medienpartei dagegen bewegt sich vorwiegend in den zyklischen Trends je gegenwärtiger Aufgeregtheiten, wird zentral dirigiert und kann sich Widersprüchlichkeiten und Vielstimmigkeiten nicht leisten. Zumal in Wahlkampfzeiten - und wann gibt es sie einmal nicht in Deutschland - haben sich die Oberkommandierenden der SPD dann doch bis dato mehr für die leichter kalkulierbare Medienpartei als für das schwierigere Partizipationsprojekt entschieden. Aber wahrscheinlich ist es sowieso ganz trivial: Zwar wird in schöner Regelmäßigkeit der Charme der Basisdemokratie entdeckt, aber natürlich nie ganz freiwillig. Der Ruf nach mehr Beteiligung ist immer Ausfluss schlimmer Krisen, schwerer Wahlniederlagen, deftiger Mitgliederverluste, vor allem aber Reaktion auf den demoskopisch akkurat ermittelten Anstieg der Parteienverdrossenheit im Volke. Und seit 25 bis 30 Jahren werden die immer gleichen Rezepte feilgeboten. Partizipation, mehr innerparteiliche Debatten, Vorwahlen, offene Listen, größeren Raum für Quereinsteiger. Zumeist endet der Reformimpetus allerdings ziemlich rasch, sei es, weil die jeweils neuen SPD-Eliten letztlich wie i9hre Vorgänger an mehr Debatten und größerer Transparenz in Wirklichkeit ebenfalls kein elementares Interesse hat-

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ten, sei es, weil der Mittelbau und die Mitgliederbasis die neuen Möglichkeiten keineswegs so freudig nutzten, wie man erwartet hatte. Und überhaupt: Im föderalen Deutschland hält die innerparteiliche Depression und Selbstkritikdiskussion nach schlimmen Bundestagswahlniederlagen nie sonderlich lange an, denn meist steht schon nach wenigen Monaten ein „kleiner Machtwechsel“ in den Bundesländern vor der Tür. Für die SPD geschah dies 2010 in NRW, 2011 in Hamburg und BaWü. Dort verflüchtigt sich dann das Interesse an parteiendogenen Veränderungen unmittelbar. Man hat schließlich staatliche Macht, man muss regieren; alles scheint schließlich bestens. Die Reform der Organisation stößt in diesen Bundesländern dann nicht mehr auf tatkräftige Anhänger, sondern auf pures Desinteresse. Überdies: Basisdemokratie birgt Tükken wie Chancen. Ur- und Vorwahlen etwa, meist Kernstück und Zauberformel sozialdemokratischen Reformvorschläge, sind gewiss nicht gerade der letzte Schrei innerparteilicher Reformkreationen. Aber sie mögen doch zu wirksamen Erfahrungen führen, wenn die Kandidaten der Sozialdemokratie künftig einen großen demokratischen Nominierungsprozess durchstehen müssen. Bei diesen Plebisziten müssen die Kandidaten früh Profil zeigen und nicht erst, wie im Falle von Steinmeier 2009, als plötzliche Spitzenkandidaten im Bundestagswahlkampf selbst. Indes, Wählerbindungen lassen sich dadurch nicht revitalisieren. Und auch das: Die offene Feldschlacht verschiedener Kandidaten kann Parteien polarisieren, gar lähmen. Im Übrigen bringen basisdemokratische Wahlen das wohlorganisierte System von Quoten und Proporz durcheinander - und darin besteht der wirkliche

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Widerspruch im Auftritt von Sigmar Gabriel. Er will auf der einen Seite Quotierungen durchsetzen und auf der anderen Seite die freie Wahl der Basis (plus Nichtmitglieder) erreichen. Doch beides passt nicht zusammen, da die Quotierung - man hat ausreichend Migranten zu berücksichtigen, natürlich viele Frauen; real existierende Arbeitnehmer sollen auch nicht unter den Mandatsträgern fehlen, junge Leute haben auf der Liste genügend Plätze zu bekommen, der ein oder andere Seiteneinsteiger wäre fürs Image sicher auch nicht schlecht - die Mitsprache massiv einschränkt, einschränken muss. Und gerade das Kraftpaket Sigmar Gabriel wird sich nicht gerne an die kurze Leine von Basispartizipatoren legen lassen. Schließlich will er führen, die Sozialdemokraten aus alten Stellungen treiben, neue Themen finden und Projekte schaffen. Er wird nicht einfach als Reflex der gegenwärtigen SPD-Mentalität mit all ihren riesigen Defiziten agieren mögen. Mit einigem Recht. Allein ein aufregendes Thema und substantielles Anliegen bewegt Bürger, sich zu aktivieren. Nicht Organisationsreformen als solche, nicht Schnuppermitgliedschaften, nicht Service-Cards oder dergleichen. Kurzum: Die SPD muss klären, was sie eigentlich will. Sämtliche Organisationsreformen, alle neuen Leute an der Spitze allein werden nicht das Geringste bewegen, wenn die Partei nicht zu der Erkenntnis darüber gelangt, wer sie ist, für wen sie Politik machen will, auf welchem Wege, zu welchem Ziel - und mit welchen Weggenossen. Und in dieser Frage ist die SPD seit 2009 nicht recht vorangekommen. Nun sollte man die mittlere Zukunft der Sozialdemokraten natürlich nicht ausschließlich düster sehen. Schließlich

schleppt auch der Gegner, die andere große Volkspartei, eine Menge vergleichbarer und besonderer Probleme mit sich herum. Auch und gerade bei der Union sind die über lange Jahrzehnte stabilen und integrierenden Identitäten - Religion, Heimat, Brauchtum, Nation, lebenslange Familie, Antikommunismus - brüchig bzw. unzeitgemäß geworden. Auch die CDU hat noch keinen Sinnersatz für ihren Sinnverlust gefunden, kennt nicht das Programm und Projekt einer christdemokratischen Politik in nachchristlichen Gesellschaften. Auch der Union fehlt der Nachwuchs. Zusammen: Auch das christdemokratisch-liberale Lager wird in den nächsten Jahren einen vergleichbaren Verschleiß an traditionsgestützten Reserven erleben. Die SPD wird währenddessen nicht unbedingt ihre Baisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts linienförmig fortsetzen. Renate Köcher hatte unlängst in einer ihrer monatlichen Analysen für die FAZ deutlich gemacht, dass das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit, angemessen Löhne, solide Renten, Chancengleichheit, eine ordentliche Gesundheitsversorgung ohne ZweiKlassen-Medizin ganz oben in der Erwartung der Bundesbürger stehen. Das mag der SPD wieder nutzen. Im Übrigen ist die SPD in gewisser Weise tatsächlich Partei der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft. Nun ist die Mitte ein durchaus prekärer, politisch keineswegs unproblematischer Ort. Aber machtpolitisch birgt er doch unzweifelhafte Vorzüge. Die Union hat bündnispolitisch nahezu allein die Freien Demokratenverfügt (oder eben mangels Masse der FDP auch nicht), was sie für die Mehrheitund Machtbildung derzeit auf Länderebene schon erheblich zurückwirft und ihre Perspektiven für 2013 verdüstert. Die Sozi-

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aldemokraten haben in dieser Hinsicht einige Pfeiler mehr im Köcher. Im Übrigen sind sie in der Tat eine kongeniale Repräsentanz des fortgeschrittenen mittleren Lebensdrittels, der 45- bis 60-Jährigen, der Eltern, Berufstätigen und Steuerzahler dieser Republik, der geburtenstarken Jahrgänge der bundesdeutschen Gesellschaft. Es ist schon bemerkenswert, wie sich das in höchst konfliktreichen Jahren erlernte Wahlverhalten dieser Generation für RotGrün biographisch erhalten hat. Nun ist diese geburtenstarke Kohorte ins Alter gekommen. Aber in einer massiv ergrauenden Gesellschaft wie die der Bundesrepublik wird die Partei der neuen Alten - und das könnte die SPD gut werden - im Parteienwettbewerb im Vorteil sein, was allerdings nicht jeder Jusos als rundum beglükkende Zukunftsaussicht empfinden dürfte. Und auf eine alternde Gesellschaft passen auch die sozialdemokratischen Dialektikslogans von gesellschaftlich-ökonomischen Fortschritt bei sozialer Sicherheit. Diese Kombination aus Veränderungszuspruch und Schutzversprechen missfiel zwar lange - seit 2008 allerdings mit zunehmend schwächer werdender Tendenz den Meinungs- und Wirtschaftseliten der Republik, aber sie deckt sich stark mit einer bemerkenswert schichtübergreifenden Alltagsmentalität eines Gros der Deutschen auch im Jahr 2011. Die ergrauende deutsche Gesellschaft dürfte infolgedessen durchaus einige sozialdemokratische Züge tragen. Jedoch: Der Zauber des ursprünglichen sozialdemokratischen Emanzipationsimpetus wird dort nicht zurückkehren. l

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SOZIALDEMOKRATISCHE ORIENTIERUNG IN DER WIRTSCHAFTSPOLITIK Von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Früher war es eine oft wiederholte Phrase, dass die SPD für soziale Gerechtigkeit und die CDU für Wirtschaftskompetenz steht. Beides wurde und wird durch Umfragen, Wahlergebnisse und natürlich auch durch Regierungshandeln immer weiter in Zweifel gezogen. In der Regierungszeit von Rot-Grün und später in der Großen Koalition hat die SPD durch ihre Arbeitsmarkt- und Sozialreformen das Vertrauen breiter Wählergruppen verloren, weil ihr eben die Kompetenz abgesprochen wurde für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Die Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit der CDU unter Merkel in den Krisen haben eine ähnliche Auswirkung auf ihre Wählergruppen - Vertrauensverlust. Ergebnis dieser Entwicklung ist nicht zuletzt auch der allgemeine Verlust des Vertrauens in die Politik, Lösungen zu finden. Seit der katastrophalen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2009 bemüht sich die SPD ihre Kompetenz

im Bereich des Sozialen zurückzuerobern, auch wenn es immer wieder kleine Schritte in die richtige Richtung gegeben hat, ist dies noch nicht gelungen. Es bleibt abzuwarten, welche Beschlüsse auf dem Parteitag 2011 getroffen werden und wie die Parteispitze den Positionswandel in der Öffentlichkeit vertritt. Für eine erfolgreiche Bundestagswahl 2013 wird aber auch die Rückeroberung der Deutungshoheit über die soziale Gerechtigkeit nicht genügen. Es ist absehbar, dass die Krisen an den Finanzmärkten und im Euroraum die politische Debatte der nächsten Jahre bestimmen wird. Und bei dem derzeitigen planlosen und unverantwortlichen Handeln der Bundesregierung ist es eher wahrscheinlicher, dass sich die Krisen auch wieder auf die Realwirtschaft ausweiten, als dass es besser wird. Folglich wird mitentscheidend sein, dass die SPD Lösungswege aus der Krise aufzeigt und ihr auch zugetraut wird, diese umzusetzen.

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In der Vergangenheit wurde Wirtschaftskompetenz der SPD nicht zugesprochen. In der Öffentlichkeit wurden lediglich einzelne Sozialdemokraten, wie Karl Schiller, Helmut Schmidt, Wolfgang Clement oder neuerdings auch Peer Steinbrück als Wirtschaftsfachleute dargestellt. Der Nachsatz hinter solchen Feststellungen war dann nicht selten, „aber er ist in der falschen Partei“. Nun würde ich gerade diesen Nachsatz nicht uneingeschränkt teilen und man muss auch bei den unterschiedlichen Personen sehr stark unterscheiden. So ist es natürlich ein riesengroßer Unterschied, ob man aus der Partei austritt und offen Werbung für CDU und Atomlobby macht, oder innerhalb der Regierung und seiner Partei eine bestimmte Politik durchsetzt. Gemein ist ihnen aber, dass sie mit ihrer Wirtschaftspolitik immer wieder auf starken Widerspruch in der SPD gestoßen sind. Wenn es nun darum geht Vertrauen in die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zu gewinnen muss erst einmal geklärt werden, was darunter verstanden wird, denn es wird leider immer wieder Wirtschaftskompetenz mit Wirtschaftsnähe verwechselt. Ein Satz von Gerhard Schröder beschreibt sehr gut das Verständnis von Wirtschaftspolitik unter neoliberaler Hegemonie: „Es gibt keine linke oder rechte, sondern nur gute oder schlechte Wirtschaftspolitik.“ Da bleibt natürlich noch eine Frage offen, wer denn nach welchen Maßstäben eine Beurteilung abgibt. Und das waren vor allem die Wirtschaftsbosse selber, wenn sie zufrieden waren, handelte es sich um eine gute Wirtschaftspolitik und die beiden wichtigsten Kennzahlen waren und sind der Verlauf des DAX, egal wodurch Kurssteigerungen ausgelöst wurden und die Arbeitslosenzahl, egal welche

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neuen Jobs entstanden sind. Dies spiegelte sich auch immer wieder im Regierungshandeln der SPD wieder: Massive Steuersenkungen, gerade für Unternehmen, Deregulierung der Finanzmärkte, Privatisierung, Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Sozialabbau sind nur einige Beispiele dafür. Damit wird deutlich, dass es sich nicht um eine Aufhebung der Möglichkeit handelte, in linke und rechte Wirtschaftspolitik zu unterscheiden, sondern dass es eine politische Entscheidung war, sich einzig und allein auf Angebotspolitik zu beschränken. Als einzige Begründung wurde nur immer wiederholt, dass es dazu keine Alternative gäbe. Die Politik der SPD hat sich damit dem neoliberalen Zeitgeist untergeordnet und die Phase der Entstaatlichung mitbestimmt. Dies war vor allem dem Glauben geschuldet, dass Politik keine Handlungsmöglichkeiten mehr habe. Mit der Politik die daraus resultierte wurde die Handlungsfähigkeit der Staaten dann auch tatsächlich immer weiter eingeschränkt und die Macht der Märkte gestärkt. Erst mit der Finanzkrise 2008 und der folgenden Wirtschaftskrise ist dieser Zeitgeist aufgebrochen. Auf einmal drohte das Chaos an den Finanzmärkten die komplette Weltwirtschaft in den Abgrund zu reißen und selbst den fundamentalsten Marktfetischisten blieb nichts anderes mehr übrig, als nach der Hilfe der Staaten zu rufen und plötzlich war die Verstaatlichung von Banken der Weg. Es wurde intensiv über die Regulierung der Finanzmärkte und das Ende des Neoliberalismus gesprochen. Doch viel ist davon nicht übrig geblieben, es ist bis heute bei Lippenbekenntnissen geblieben. Obwohl es für viele Forderungen mittlerweile breite Mehrheiten in der Gesellschaft gibt, kamen sie

Sozialdemokratische Orientierung in der Wirtschaftspolitik Argumente 3/2011


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nicht durch. Dies zeigt, dass die neoliberale Ideologie nicht überwunden ist, sondern lediglich ihr Erscheinungsbild geändert hat. Ihr Kern ist und bleibt die Zurückdrängung des Staates. Bis zur Krise war der Hebel dafür das Versprechen, dass der freie Markt zu besseren Ergebnissen führt, als wenn der Staat sich einmischt. Nun ist daraus ein anderes Argument geworden, die Staaten müssen sich einschränken, weil sie aufgrund ihrer Verschuldung keine andere Möglichkeit mehr hätten, als zu sparen und sich dem Diktat der Rating-Agenturen zu unterwerfen. Damit wird die Rettung der Banken und dem Vermögen ihrer Eigentümer zum wichtigsten Argument, die bestehenden Verhältnisse zu erhalten. Es ist nun die Aufgabe der SPD, deutlich zu machen, dass es doch eine Alternative gibt. Wirtschaftspolitik darf sich eben nicht darauf beschränken, nur einen Rahmen zu setzen und den Weg für private Profite freizuräumen. Denn auch in der Wirtschaftspolitik ist die entscheidende Frage, für wen und für welche Interessen man etwas erreichen will. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Ziele, die wir mit unserer Wirtschaftspolitik verwirklichen wollen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle am Wohlstand und dessen Produktion gerecht und selbstbestimmt beteiligt sind. Die Herausforderungen unserer Zeit kann nicht mit Stückwerk begegnet werden. Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise, zunehmende Verteilungsungerechtigkeit innerhalb einzelner Länder, aber auch global, Prekarisierung der Arbeitswelt und der Klimawandel können nur bewältigt werden, wenn bei den Lösungsansätzen alle Ebenen, von der Kommune bis hin zu den internationalen Institutionen, einbezogen werden. Wenn wir wirklich etwas bewegen

wollen, hilft uns das Ausmalen einer Wunschgesellschaft nicht weiter. Wir setzen auf kollektive Lösungen und ein solidarisches Miteinander bei der Bewältigung der Probleme, Individuen können alleine die Gesellschaft nicht verändern, uns geht es gerade um die gemeinsame Lösung der Probleme, um damit die Voraussetzung für eine solidarischere Gesellschaft zu schaffen. Die Bedingungen dafür sind ein Bekenntnis zur Zentralität der Erwerbsarbeit, dem Primat der Politik und der staatlichen Handlungsfähigkeit, sowie der Wille, alle Lebensbereiche und damit auch die Wirtschaft zu demokratisieren und umzuverteilen. Im Antragspaket zum diesjährigen Parteitag finden sich Ansätze, die in diese Richtung gehen. Aber alles steht und fällt mit der Entscheidung darüber, wie ernsthaft das Bekenntnis zur Handlungsfähigkeit des Staates verfolgt wird. Der Wille, die Finanzlage der Kommunen zu verbessern, Bildungschancen zu eröffnen, in Infrastruktur zu investieren, Nachhaltigkeit zu fördern und die Energiewende zu gestalten, alleine reicht nicht aus, wenn alle Vorhaben auf Grund der fehlenden Finanzen verschoben oder zur Symbolpolitik verkommen. Die Probleme, vor denen wir heute stehen, sind leider auch das Ergebnis von der Politik sozialdemokratischer Regierungen, nicht nur in Deutschland. Mit den Rezepten der vergangenen Jahre werden die Krisen nicht gelöst, sondern nur verschlimmert. Ziel einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik muss es sein, die Kräfteverhältnisse wieder so zu verschieben, dass das Primat der Politik greift und zum Vorteil der großen Mehrheit der Menschen eingesetzt wird. Mit den Beschlüssen auf dem Parteitag hat die SPD große Schritte

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in diese Richtung gemacht. Noch vor einem Jahr wäre nicht daran zu denken, dass relevante Steuererhöhungen zur Finanzierung der Bildung und Kommunen beschlossen sowie die Riesterrente infrage gestellt wird. Um als SPD Wirtschaftskompetenz glaubhaft zu besetzen, muss sie dies auch mit dem richtigen Personal verbinden. Endscheidend ist eben nicht, wer das Lob der Spitzen aus den Wirtschaftsverbänden bekommt, sondern wer bereit ist, dieser einseitigen Interessenpolitik entgegenzutreten und wirklich etwas zu verändern. l

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DAS COMPAGNIEGESCHÄFT MARX UND ENGELS Von Klaus Körner, Publizist in Hamburg

Schwerpunkt

Im August 1844 hatten sich der 26-jährige Karl Marx und der zwei Jahre jüngere Friedrich Engels in einem Pariser Café verabredet, um über gemeinsame journalistische Projekte zu sprechen. In Paris traf sich in jener Zeit die europäische intellektuelle Szene, die in der Revolution von 1848/49 eine Rolle spielte. Engels hat über das Treffen später im Kommuniqué-Stil berichtet: „Dabei stellte sich unsere vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten heraus, und von da an datiert unsere gemeinsame Arbeit.“ Daraus entstand eine über fast 40-jährige Zusammenarbeit, wie es sie in der deutschen Geistesgeschichte kein zweites Mal gibt. Soweit daraus allerdings gefolgert wurde, zwischen beiden hätte ein vollständiger Gleichklang bestanden, ist das so nicht zutreffend.

Marx, Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts aus Trier, hatte schlechteste Erfahrungen mit dem preußischen Staat gemacht. Für viele Rheinländer, die die Zeit der napoleonischen Herrschaft als Aufbruch in eine modernere Welt, Gleichberechtigung der Juden, einem modernen Zivilrecht und Geschworenengerichten empfunden hatten, war der Anschluss an Preußen ein Rückschritt. Marx hatte in Bonn und Berlin Rechtswissenschaft und Philosophie studiert und war in diesem Fach 1841 promoviert worden. Doch sein erstes Vorhaben, sich zu habilitieren war daran gescheitert, dass die Regierung seinem Förderer Bruno Bauer 1842 die Lehrbefugnis entzogen hatte. Als Chefredakteur der liberalen Tageszeitung „Rheinische Zeitung“ musste er 1843 erneut die Segel streichen, weil die Regierung das Blatt verboten hatte. „In Deutschland kann ich nichts mehr anfangen“, hatte er seinem Berliner Freund Arnold Ruge geschrieben. In Paris gab er gemeinsam mit Ruge 1844 die Zeitschrift „Deutsch-Französi-

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sche Jahrbücher“ heraus. In seinen Beiträgen arbeitete Marx sich noch an den Themen ab, die ihn Berlin beschäftigt hatten, Religionskritik und Auseinandersetzung mit Hegel. Als sogenannter Linksheglianer fasste Marx seine Religionskritik in dem berühmten Satz zusammen: „Religion ist das Opium des Volkes.“ Und seine „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ endete mit der Feststellung, nur eine Revolution könne Deutschland auf die Höhe der Zeit bringen. Schon von seiner Herkunft war Engels sehr viel positiver auf den preußischen Staat eingestimmt. Er stammte aus einer wohlhabenden protestantischen Unternehmerfamilie. Sein Vater besaß eine Bauwollspinnerei in Barmen mit einer Zweigstelle in Manchester. Ein Jahr vor dem Abitur hatte Vater Engels seinen Sohn aus der Schule genommen. Nach einer kaufmännischen Lehre in Bremen schickte er ihn nach Manchester. Zwischen diesen Stationen lag der einjährige Militärdienst in Berlin. Schon als Kaufmannsgehilfe in Bremen hatte Engels sich, durch Bücherstudium zum Atheisten gewandelt, als kritischer Feierabendjournalist bestätigt. Während des Militärdienstes in Berlin hatte er Kontakt zu den Linksheglianern bekommen und schrieb für Marx’ Jahrbücher den Beitrag „Umrisse der Kritik der Nationalökonomie“. Ökonomie war für Marx das neue große Thema. Aus seiner Pariser Zeit stammen die später entdeckten „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“. Einer der Zentralbegriffe ist die Entfremdung des Arbeiters durch die Arbeitsteilung in der Industrie. Wie die angestrebte Zusammenarbeit zwischen Marx und Engels aussehen sollte, blieb etwas im Unklaren, denn Engels war noch bei der väterlichen Firma in der

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Pflicht und die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ wurden nach einem Doppelheft eingestellt. Es war den beiden Herausgebern nicht gelungen, neben Heinrich Heine französische Autoren für die Mitarbeit zu gewinnen. In Frankreich war die erste Ausgabe unverkäuflich und die für Deutschland bestimmten Exemplare wurden an der Grenze beschlagnahmt. Gegen Marx erging in Preußen ein Haftbefehl wegen Aufrufs zum Hochverrat. Einen gewissen Ersatz bot die Mitarbeit an der Pariser Emigrantenzeitung „Vorwärts“, für die auch Engels aus Barmen schrieb. Doch der preußischen Regierung war auch das ein Dorn im Auge. Auf ihren Antrag verbot die französische Regierung 1845 die Zeitung und wies die Mitarbeiter aus. Familie Marx - Karl Marx hatte seine langjährige Verlobte aus Trier Jenny von Westphalen vor der Ausreise nach Paris geheiratet - floh nach Brüssel, der damals liberalsten Stadt in Europa. Die folgenden drei Jahre waren ihre glücklichste Zeit. Sie hatten noch Geld aus der Mitgift von Jenny und einen Verlagsvorschuss für ein geplantes wissenschaftliches ÖkonomieBuch. Sie meinten, in einer großen Zeit unmittelbar vor einer Revolution zu leben. In Brüssel erwartete Jenny ihr zweites Kind und ihre Mutter hatte ihr die Haushaltsgehilfin Helene Demuth nach Brüssel geschickt. Engels gelang es, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er vor seiner kaufmännischen Arbeit noch eine Sozialgeschichte Englands schreiben müsse, nachdem sein Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, in dem er seine Manchester-Erfahrungen zu Papier gebracht hatte, auch bei der preußischen Regierung gut aufgenommen worden war. Er konnte daher Marx nach Brüssel folgen.

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Beide engagierten sich in linken Arbeiterund Handwerkervereinen - und schoben ihre Buchprojekte bald beiseite. Wichtiger schien ihnen noch eine Abrechnung mit den deutschen Philosophen der Gegenwart zu sein, „Die deutsche Ideologie“. Heraus kam ein umfangreiches Manuskript, das kein Verleger drucken wollte. In der „Deutschen Ideologie“ findet sich im Kapitel über den Materialisten Feuerbach die umfassendste Darstellung der Marx’schen Geschichtsphilosophie und Ideologiekritik, die er je geschrieben hat: Treibende Kraft der Geschichte ist nicht die Kritik, sondern die Revolution. Die Gedanken der herrschenden Klasse einer Epoche sind die herrschenden Gedanken. Die Existenz revolutionärer Gedanken setzt die Existenz einer revolutionären Klasse voraus. Engels veröffentlichte später aus Marx’ Nachlass die Thesen über Feuerbach, die mit der berühmten 11. These enden: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Um die Welt zu verändern engagierten sich Marx und Engels im Bund der Gerechten, einem linken Handwerkerbund, zu dessen Zentrale in London sie schon vorher Kontakt hatten. Sie setzten die Umbenennung in Bund der Kommunisten durch. Als die Zentrale in London Marx dazu aufforderte, aus den vorliegenden Entwürfen ein Programm zu verfassen, erklärte er sich sofort bereit. Binnen weniger Tage schrieb der das „Kommunistische Manifest“ nieder. Als das Manifest Ende Februar oder Anfang März 1848 in London gedruckt wurde, war in Paris und Wien bereits die Revolution ausgebrochen und nur wenige Exemplare erreichten den Kontinent. Dennoch wurde es später zum wichtigsten politischen Pamphlet der Ar-

beiterbewegung. Es zeigt die Sprachgewalt des Verfassers Karl Marx. Der Text beginnt mit der Eröffnungspassage „Ein Gespenst geht um in Europa ...“ und endet mit dem Aufruf zur Revolution: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Anfang März 1848 wurde Marx aus Brüssel ausgewiesen und reiste über Paris nach Köln. Unverzüglich machte er sich daran, Geldgeber für die Gründung einer Zeitung („Neue Rheinische Zeitung“) zu gewinnen. Die neue Zeitung sollte keine kommunistischen Ziele propagieren, sondern für den Erfolg der bürgerlichen Revolution in Deutschland kämpfen. Die Auflage der Zeitung mit Marx als Chefredakteur und Engels als seinem Stellvertreter erreichte schnell ein Mehrfaches der alten „Rheinischen Zeitung“. Hauptthemen waren die Halbheiten der Frankfurter Nationalversammlung. Die Vertreter scheuten vor dem Griff nach der politischen Macht zurück. Zuerst wurde in Wien die Revolution niederschlagen, dann gewann auch in Preußen die Reaktion die Oberhand. Marx wurde am 16. Mai 1848 aus Preußen ausgewiesen. Engels hatte sich noch als Soldat in der badischen Aufstandsarmee engagiert, doch die wurde vom preußischen Heer vernichtend geschlagen. Als einziger Zufluchtsort stand den europäischen Emigranten London offen. Hier trafen sich Marx und Engels wieder. Wie viele andere sahen sie zunächst den Aufenthalt in London nur als kurze Zwischenstation an, bis die Revolution auf dem Kontinent weitergehe. Doch dann erkannten sie, dass die Revolution zu Ende war. Eine neue Revolution könne es nur geben, wenn die ökonomischen Verhältnisse dafür

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reif seien, eine große Krise ausbreche. Engels wurde von seinem Vater als dessen Repräsentant nach Manchester in die Firma Ermen und Engels geschickt. Von dort wollte er Marx in London unterstützen. „Wir zwei betreiben ein Compagniegeschäft“ beschrieb Marx später die Zusammenarbeit mit Engels. Marx Hauptarbeitsplatz war in den nächsten 15 Jahren der Lesesaal des British Museum. Hier fand nicht nur ökonomische Theorieliteratur, sondern auch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Abhandlungen und die Blaubücher der Fabrikinspektoren, in denen sie über die Zustände in britischen Fabriken berichteten. Der Lesesaal war für ihn nicht nur Forschungsstätte, sondern zugleich Fluchtort vor der Misere daheim. Die Familie lebte in einer schäbigen Zweizimmerwohnung im Stadtteil Soho und litt unter ständiger Geldnot. Jenny Marx hatte sich von der Heirat einen gehobenen bürgerlichen Lebenszuschnitt erwartet, wie sie ihn von Trier her kannte. Jetzt musste sie bei den Kaufleuten „anschreiben“ lassen und warten, bis von Engels neues Geld kam, meist per Post in Form von halben Banknoten. Manchmal landet alles Verwertbare, sogar Kleidungsstücke, im Pfandhaus, so dass Marx das Haus nicht verlassen konnte. Zu einer schweren Ehekrise kam es als die Hausgehilfin Helene Demuth von Marx schwanger wurde. Als Helfer in der Not sprang wieder Engels ein, der bereit war, als Vater des Sohnes zu gelten, der nach der Geburt zu Pflegeeltern gegeben wurde. Eine Möglichkeit für Marx, Geld zu verdienen, bot das Angebot des Chefredakteurs der damals größten Zeitung der Welt „New York Daily Tribune“, freier Mitarbeiter für Europa zu werden. Unter Marx’ Namen sind in den 1850er Jahren

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Hunderte von Artikeln erschienen. Anfangs mussten die Texte wegen Marx’ schlechter Englischkenntnisse erst zum Übersetzen nach Manchester geschickt werden, bis sie dann von Marx’ Ehefrau Jenny abgeschrieben und versandt werden konnten. Einen Teil der Aufträge gab Marx einfach an Engels weiter. Im Gegensatz zu Marx in London war Engels in Manchester voll in die britische Gesellschaft integriert. Er war als Geschäftsmann erfolgreich und teilte die Vorlieben des Bürgertums für Reiten, Fuchsjagden und den Besuch von Klubs. Nach Feierabend schrieb er Artikel für Marx. Außerdem wechselte er während seines fast 20-jährigen Manchesteraufenthalts mehrfach wöchentlich Briefe mit Marx. Darin ging es um alle möglichen Themen, von Familienproblemen über Fabrikationsabläufe und theoretische Fragen bis zu den ständigen Geldbitten von Marx. Wie ein roter Faden zieht sich die Ermahnung von Engels, Marx möge doch endlich mit „dem Buch“ also der Analyse des Kapitalismus fertig werden. Hoffnungsvoll hatte Marx am 2. April 1851 geschrieben: „Ich bin soweit, dass ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin.“ Tatsächlich dauerte es noch 16 Jahre bis der erste Band des „Kapital“ 1867 erschien. Dass Marx mit seinem Werk nicht vorankam, hing mit drei Faktoren zusammen. „Das Wahre ist das Ganze“ hatte Hegel gelehrt. Und Marx wollte ein Werk aus einem Guss abliefern. Er konnte sich nicht an die Ausarbeitung setzen, bevor er nicht alles relevante Material ausgewertet hatte. Er glaubte, in der Endzeit des Kapitalismus zu leben und wollte mit seinem Buch die Revolution beschleunigen. Als sich 1857 zuerst in den USA und dann auch in England

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der Beginn einer großen Krise abzeichnete, befürchtete Marx, mit seinem Buch zu spät zu kommen. In Tag-und-Nacht-Arbeit brachte er seine bisherigen Erkenntnisse zu Papier. Am 2. April 1867 war es endlich soweit, dass er seinem Freund Engels, die Botschaft übermitteln konnte, das 25 Bogen umfassende Manuskript des ersten Bandes sei fertig. Er werde es nächste Woche zum Verleger Otto Meißner nach Hamburg bringen, es fehle nur noch das Geld für die Überfahrt. Am 2. September 1867 erschien „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band“ in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Marx untersucht im „Kapital“, wie sich seit dem Mittelalter die Produktivkräfte („Basis“) entwickelten und sich zugleich Wirtschaftsverfassung, Staat, Recht und Ideologien veränderten („Überbau“). Er beschreibt den großen Widerspruch zwischen der Ausbeutung und Verelendung der Arbeiter auf der einen Seite und der Kapitalakkumulation auf der anderen Seite, dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung. Im berühmten apokalyptischen 24. Kapitel prognostiziert er den revolutionären Umschlag hin zu einer klassenlosen Gesellschaft. Man kann das Buch als historisches, philosophisches oder ökonomisches Werk deuten, wie es wohl Marx getan hätte. Doch die Welt der Wissenschaft nahm das Buch kaum zur Kenntnis. In den ersten zwei Jahren wurden gerade 200 Exemplare verkauft. Jenny Marx klagte, wenn die Arbeiter eine Ahnung davon hätten, wie viel Aufopferung dieses Buch gekostet hätte, würden sie ihm mehr Beachtung schenken. Doch auch viele Arbeiterführer kamen mit der Lektüre nicht weit. Für sie reichte es zu wissen, dass es ein wissenschaftliches Buch gab, das den un-

ausweichlichen Sieg der Arbeiterklasse nachwies. Trotz dieser Enttäuschung war Marx Ende der 1860er Jahre auf dem Höhepunkt seines öffentlichen Einflusses. 1864 hatten sich die europäischen Arbeiterorganisationen zur Internationalen Arbeiterassoziation zusammengeschlossen (1. Internationale). Marx gehörte ihr nur als korrespondierendes Mitglied „für Deutschland“, einen Staat, den es noch gar nicht gab, an. Er durfte aber das Programm entwerfen und er verstand es auch mit viel taktischem Geschick, die Verhandlungen zwischen den verschiedenen, meist nicht „marxistisch“ orientierten Fraktionen zu lenken. 1872 zerbrach die Internationale, als die Anarchisten eine feindliche Übernahme versuchten. Marx war jetzt Privatmann. Er hatte keine finanziellen Sorgen mehr, denn Engels hatte sich 1869 in Manchester auszahlen lassen und eine Rente für Marx ausgesetzt. Ab 1870 konnten sich die Freunde fast täglich sehen, nachdem Engels sich in London eine Wohnung genommen hatte. Dennoch zeichnete sich bei Marx ein Kreativitätsbruch ab. Er las und exzerpierte weiterhin Bücher, schrieb ab nichts Neues, sondern beschränkte sich auf die Bearbeitung oder Neuherausgabe alter Texte. Ein britischer Zeitgenosse beschrieb ihn als einen kultivierten Gentleman, den man gut für einen Professor für vergleichende Grammatik oder Altslawisch halten könne. Die Aufgabe, Marx Ideen zu interpretieren und die Führer der Sozialdemokratie zu beraten, ging immer stärker auf Friedrich Engels über. Als seine geliebte Ehefrau Jenny 1881 starb, verließ auch Marx der Lebensmut, er starb am 14. März 1883. Engels fand sich nach dem Tode seines Freundes bereit, aus den Manuskripten die „Kapital“-Bände 2

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und 3 herauszugeben. Mit seiner Kurzfassung der Marx’schen Ideen in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ schuf Engels eine populäre Schrift, die der Arbeiterbewegung Selbstbewusstsein und Siegeszuversicht vermittelte. Der Beginn der Massenwirksamkeit von Marx lässt sich auf die Begräbnisrede am 17. März 1883 datieren, in der Engels verkündete: „Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!“ l

Werner Blumenberg: Karl Marx, rm 76, Reinbek b. Hamburg 1972 Vincent Barnett: Marx, London u. New York 2009 Mary Gabriel: Love and Capital. Karl and Jenny Marx and the Birth of a Revolution, New York u. London 2011 Klaus Körner: „Wir zwei betreiben ein Compagniegeschäft“. Karl Marx u. Friedrich Engels, Hamburg 2009 Karl Marx Lesebuch, hrsg. v. Klaus Körner, Mmünchen 2008 Karl Marx. Friedrich Engels. Studienausgabe in 5 Bänden, hrsg. v. Iring Fetscher, Berlin 2004 Gustav Mayer: Friedrich Engels. Eine Biographie, 2 Bde. Ullstein Buch 3113/4. Frankfurt a. M. u. Berlin 1975 David McLellan: Karl Marx. Leben und Werk, München 1974 Francis Wheen: Karl Marx, München 1999

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MARX UND DIE SOZIALDEMOKRATIE – DIE SPD UND MARX Von Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

„Der Demokratische Sozialismus in Europa hat seine geistigen Wurzeln im Christentum und in der humanistischen Philosophie, in der Aufklärung, in Marxscher Geschichts- und Gesellschaftslehre und in den Erfahrungen der Arbeiterbewegung.“1 „Wir sind durch die Türe getreten, die auch der Denker Marx geöffnet hat. Für uns bleibt die Freiheit, was sie auch für ihn war: der kritische Maßstab, an dem sich jede Ordnung zu rechtfertigen hat.“2 Die Geschichte der Sozialdemokratie ist ohne die Auseinandersetzungen um die Interpretation der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels nicht zu verstehen, aber auch die marxschen Theorien hätte ohne 1 Berliner Programm der SPD, in: Dowe/ Klotzbach, S. 346 (354). 2 Willy Brandt, Rede anlässlich des 30. Jahrestags der Eröffnung des Karl-Marx-Hauses in Trier, 4. Mai 1977, in: ders., Berliner Ausgabe Band 5, Die Partei der Freiheit, S. 257 (265). 3 Siehe z.B. die „Herforder Thesen“ von 1980. 4 Siehe Hamburger Programm.

das Aufgreifen in der SPD nie ihre Bedeutung erlangt. Karl Marx war von den Anfängen der deutschen Sozialdemokratie bis zu seinem Tode ihr kritischer Begleiter und Kommentator. Er und Engels standen zu vielen Parteiführern in regem Briefkontakt und ließen kaum einen Vorgang unkommentiert. Gerade in den Briefen von Marx und Engels untereinander wird deutlich, dass sie zumeist unzufrieden mit der Entwicklung der deutschen Arbeiterpartei waren und auch von vielen Parteifunktionären nicht allzu viel hielten. Bis in die Zeit der Bundesrepublik war fast jede innerparteiliche Debatte davon geprägt, wie die marxschen Schriften ausgelegt werden müssten und inwieweit ihnen gefolgt werden sollte - von den Auseinandersetzung der „Lassallianer“ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins mit den „Eisenachern“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (August Bebel und Wilhelm Liebknecht), der Massenstreikdebatte, dem „Revisionismusstreit“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, den Diskussionen über die (Koalitions-) Politik der SPD in der Weimarer Republik bis hin zum Godesberger Programm von 1959.

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Diese Auseinandersetzungen führten immer wieder zu Spaltungen der Partei. Aber auch noch nach dem Wandel von der marxistischen Klassenpartei zur linken Volkspartei in den 1950er und 1960er Jahren blieben viele Ergebnisse der früheren Auseinandersetzungen wichtig für das Selbstverständnis der SPD. Gerade bei den Jusos spielen die Ideen von Marx und deren Weiterentwicklung seit der Linkswende von 1969 eine wichtige Rolle.3 Die SPD sieht in ihrem Parteiprogramm noch heute die marxistische Gesellschaftsanalyse als eine ihrer Wurzeln an.4 Dementgegen gibt es bei vielen Mitgliedern und in der Öffentlichkeit große Abwehrreflexe, wenn auch nur der Name Marx in die Debatte geworfen wird. Dabei wird oft der Bezug auf marxistische Analyseansätze mit der Befürwortung der osteuropäischen Gewaltregime gleichgesetzt. Dies mag aus der Geschichte der deutschen Teilung und der Ost-West-Konfrontation heraus zu erklären sein, aber weder die Leugnung der eigenen Geschichte noch der Verzicht auf diesen Teil der Identität als Arbeiterpartei wird dem Anspruch sozialer Demokratie gerecht. Franz Müntefering sagte bei der Eröffnung der neuen Ausstellung des Karl Marx Hauses im Juni 2005 in Trier: „Zwischen Karl Marx und der SPD stehen heute das Godesberger Programm und 142 Jahre praktischer Politik. Das Verhältnis der Partei zum einstigen Vordenker der Arbeiterbewegung war immer schwierig, auch anregend, aber nicht prägend, wenigstens nicht in den Jahren, in denen wir hier Sozialdemokratie miterleben.“ Nun ist es für die SPD sicherlich nicht erfolgsversprechend, wieder eine ausschließlich an Marx orientierte Partei zu werden, aber ebenso wenig ist es zielführend, die von Müntefering angesprochenen

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anregenden Elemente zu verdrängen. Die Kritik der bestehenden Verhältnisse, die Frage nach den tatsächlichen Machtstrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Orientierung von Politik auf die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind gerade in der heutigen Zeit aktuell. Marx und die frühe Sozialdemokratie Mit der Industriellen Revolution auf dem europäischen Kontinent entwickelte sich auch die deutsche Arbeiterbewegung weiter. In diese Zeit (1848) fällt auch das bekannteste Werk von Marx und Engels - das „Manifest der kommunistischen Partei“.5 Wenige politische Texte haben größere Wirkung erzielt als dieses „Kommunistische Manifest“. Für tatsächliches politisches Handeln der Arbeiterbewegung war das Manifest aber immer eher ideeller Bezugspunkt denn praktische Handlungsanleitung. In Deutschland blieb die Verbreitung bis zur Jahrhundertwende zudem eher gering. Wirkliche Massenverbreitung erreichte es dann nach der Oktoberrevolution 1917 durch die kommunistischen Parteien. Einflussreich war das Manifest in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung daher vor allem im theoretisch interessierten Teil. Hier hat es auf Grund seiner prägnanten Sprache und inhaltlichen Struktur Einfluss erlangt. Festzuhalten ist: Auch wenn im Manifest noch lange nicht die Abgedruckt zum Beispiel in Dowe/ Klotzbach, S. 55ff.Abgedruckt zum Beispiel in Dowe/ Klotzbach, S. 55ff.marxsche Theorie zu vollen Entfaltung gekommen ist 4 Siehe Hamburger Programm. 5 ‘Abgedruckt zum Beispiel in Dowe/ Klotzbach, S. 55ff.

Marx und die Sozialdemokratie – Die SPD und Marx Argumente 3/2011


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Marx und Engels befanden sich ja noch am Anfang ihrer Schaffenszeit - so ist es doch ein beeindruckendes Zeugnis, wie sich eine materialistische Analyse der bestehenden Verhältnisse in einer außerordentlich prägnanten Sprache beschreiben lassen. Der Standard-Sammelband zur Programmgeschichte der Sozialdemokratie führt das Manifest denn auch als ersten Text in der Sammlung auf. Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) durch Ferdinand Lassalle 1863 war die Geburtsstunde der Sozialdemokratie gekommen. Dieser war vor allem genossenschaftlich geprägt und bezog sich nicht wie die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) auf marxistische Theorie. Beide Vereinigungen standen in Konkurrenz zueinander, die auch noch lange nach der Vereinigung auf dem Gothaer Parteitag 1875 anhielt. In dem dort beschlossenen „Gothaer Programm“6 bestimmten noch die Positionen der Lassallianer, dementsprechend verheerend fiel die Kommentierung von Marx und Engels aus. „Ich höre auf, obwohl fast jedes Wort in diesem dabei saft- und kraftlos redigierten Programm zu kritisieren wäre. Es ist derart, daß, falls es angenommen wird, Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen können und uns sehr ernstlich werden überlegen müssen, welche Stellung wir auch öffentlich - ihr gegenüber zu nehmen haben. Bedenken Sie, daß man uns im Auslande für alle und jede Äußerungen und Handlungen der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. ... Im Allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer

Partei an, als auf das, was sie tut. Aber ein neues Programm ist doch immer eine öffentlich aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt beurteilt danach die Partei. Es sollte daher keinesfalls einen Rückschritt enthalten, wie dies gegenüber dem Eisenacher. Man sollte doch auch bedenken, was die Arbeiter anderer Länder zu diesem Programm sagen werden; welchen Eindruck diese Kniebeugung des gesamten deutschen sozialistischen Proletariats vor dem Lassalleanismus machen wird.“7 Aber trotzdem begrüßten Marx und Engels die Vereinigung zu einer Partei. So schrieb Marx in einem Brief an Wilhelm Bracke, der später als „Kritik des Gothaer Programms“ auch öffentlich bekannt wurde, neben einer Einzelkritik an fast jedem Satz des Programms: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht und die Zeitumstände ließen das nicht zu über das Eisenacher Programm hinausgehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktionen gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme..., so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt.“8 Erfurter Programm Am Gothaer Programm wird deutlich, dass die Eisenacher um Bebel und Liebknecht 6 Siehe Dowe/ Klotzbach, S. 164ff. 7 Aus einem Brief Engels an August Bebel im März 1875. MEW. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 3-9. 8 MEW Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 13-32.

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mit ihren marxistischen Ansätzen entgegen der Annahme von Marx und Engels nicht die Mehrheit in der neuen Partei stellten. Noch waren die Schriften von Marx und Engels in weiten Teilen der Sozialdemokratie unbekannt. Die änderte sich erst nach und nach, erste Popularität bekamen sie mit der Veröffentlichung von Friedrich Engels „Antidüring“9 und August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ sowie durch die Gründung der Zeitungen „Der Sozialdemokrat“ unter Eduard Bernstein und „Die Neue Zeit“ unter Karl Kautsky. Daraus resultierte die Entwicklung zur marxistischen Klassenpartei, die dann trotz der Sozialistengesetze auch zur Massenpartei wurde. Dies schlug sich dann auch im marxistisch geprägten „Erfurter Programm“10 von 1891 nieder, das überwiegend von Karl Kautsky und Eduard Bernstein verfasst wurde. Zwar stieß auch das „Erfurter Programm“ nicht auf die bedingungslose Unterstützung Friedrich Engels, die Kritik fiel nun aber wohlwollender aus: „Der jetzige Entwurf unterscheidet sich sehr vorteilhaft vom bisherigen Programm. Die starken Überreste von überlebter Tradition - spezifisch lassallischer wie vulgärsozialistischer - sind im wesentlichen beseitigt, der Entwurf steht nach seiner theoretischen Seite im ganzen auf dem Boden der heutigen Wissenschaft und läßt sich von diesem Boden aus diskutieren. ... Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsre besten Leute

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unter einem Kaiser Minister werden sollten wie Miquel.“11 Es wurde zur Grundlage der theoretischen Diskussionen und politischen Bildung in der Sozialdemokratie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In dieser Zeit war die Theorie der SPD durch ein sehr starres Verständnis der marxischen Theorie geprägt, in dem kaum Raum für Kritik und Weiterentwicklung war. Kern dieser Dogmatik war die Annahme, dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus unweigerlich zu seinem Ende führen würde. Auch wenn dies der Differenziertheit der Debatten innerhalb Führungsebene der Partei nicht gerecht wird, war dies doch das Leitmotiv der großen Mehrheit der Mitglieder. Dem gegenüber stand eine politische Praxis, die durchaus auf reale Verbesserung der Situation der Arbeiter und Verhandlung mit den herrschenden Eliten setzte. Dies wird auch in den großen Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratie deutlich, die sich um die Strategie und Rolle der Partei drehten. Diese Diskussionen waren durch drei Theoriestränge geprägt, die auch in Zukunft die Debatten der Linken prägten. Für diese stehen insbesondere drei Personen - Karl Kautsky als Vertreter des marxistischen Parteizentrums, Eduard Bernstein als Revisionist und Rosa Luxemburg als Vertreterin des revolutionären Flügels wieder. Der Revisionismussstreit Bevor diese Differenzen offen im „Revisionismusstreit“ ausgetragen wurden stritt 9 Abgedruckt z. B. in: MEW, Band 20. 10 Dowe/ Klotzbach, S. 171ff. 11 MEW Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S. 225-240.

Marx und die Sozialdemokratie – Die SPD und Marx Argumente 3/2011


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man um die Rolle der Partei.12 Kautsky sah alleine die Existenz der Partei und deren Wachstum als Wert an sich an, die er nicht durch offensive Aktionen gefährden wollte und stattdessen auf das Hineintragen des Klassenbewusstseins in das Proletariat setzte. Bernstein wollte die Partei nutzen, um das Proletariat zu bündeln und es zu Erfolgen auf dem parlamentarischen Weg führen, während Luxemburg vor allem auf die praktischen Erfahrungen der Massen in der Revolution setzte. Der „Revisionismusstreit“ hatte seinen Ausgangspunkt in Eduard Bernsteins Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, in der er die Abschaffung des Kapitalismus durch Klassenkampf als durch die Realität als überholt sah, da dieser sich als krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, so dass die SPD nur im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch Sozialreformen Verbesserungen für die Arbeiter und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards erreichen könne. Diese Ansicht mündete in seinem Ausspruch: „der Weg ist mir alles, das Ziel ist mir nichts.“ Dem stellte sich sowohl die Parteilinke unter Luxemburg entgegen, die an der revolutionären Überwindung des Kapitalismus durch die Massen festhielt, als auch das marxistische Zentrum um August Bebel und Karl Kautsky entgegen. Der Streit zwischen den Freunden Bernstein und Kautsky drehte sich vor allem um die unterschiedliche Bewertung des Zustandes des Kapitalismus aus der dann auch verschiedenen Strategien folgten. So stellte Kautsky fest, es sei „jeder ein Revolutionär, der dahin strebt, dass eine bisher unterdrückte Klasse die Staatsgewalt erobert. Er verliert diesen Charakter nicht, wenn er diese Eroberung durch so-

ziale Reformen, die er den herrschenden Klassen abzuringen versucht, vorbereiten und beschleunigen will. Nicht das Streben nach sozialen Reformen, sondern die ausgesprochene Beschränkung auf sie unterscheidet den Sozialreformer vom Sozialrevolutionär.“ Dieser Streit loderte bis zur Verabschiedung des Godesberger Programms nicht nur weiter, sondern brach auch immer wieder offen aus und führte zur Spaltung der deutschen Sozialdemokratie. Während die Gründung der USPD noch Folge der Politik des „Burgfriedens“ im Ersten Weltkrieg war und alle drei Hauptakteure der theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der SPD zu ihr wechselten, wurde in den ersten Jahren der Weimarer Republik die endgültige Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in unversöhnliche Parteien besiegelt. Teile kehrten nach und nach in die SPD zurück, während die KPD sich immer schneller an die sowjetische KPDSU annäherte und Sozialdemokratie und Republik bekämpfte. Das „Görlitzer Programm“13 von 1921 war ausgesprochen revisionistisch ausgerichtet. Allerdings verließ es nicht grundsätzlich die alten marxistischen Grundlagen. Das Ziel der neuen Programmatik war, Wählerinnen und Wähler auch außerhalb der bisherigen proletarischen Stammwählerschaft anzusprechen. Die SPD wollte nunmehr „Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land“ sein. Fortan wurden die Debatten in der SPD durch die Alltagspolitik und die Frage, wie schnell der 12 Siehe dazu die Dokumente in: Peter Friedemann (Hrsg.), Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890 – 1917. 13 Dowe/ Klotzbach, S. 187ff.

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Sozialismus erreicht werden könne geprägt. In dieser Phase fand aber auch ein Wandel im Umgang mit den Texten von Marx statt. Zum einen wurden vor allem auf Initiative sowjetischer Wissenschaftler viele Schriften von Marx und Engels überhaupt erstmals veröffentlich und zum anderen wurde nun nicht mehr hauptsächlich um die Interpretation von Marx gestritten, sondern seine Ansätze weiterentwickelt. Gerade innerhalb der Weimarer Jusos begann innerhalb des „Hannoveraner Kreises“ wieder eine verstärkte Auseinandersetzungen mit den Werken von Marx und Engels. Die Sozialdemokratie in Österreich hatte im Unterschied zur deutschen Sozialdemokratie keine ernsthafte Konkurrenz durch eine weitere Arbeiterpartei zu befürchten. Ein Grund dafür lag auch im stärkeren Zusammenhalt von grundsätzlich revolutionärer Programmatik und tagespolitischen Initiativen, wie es im „Linzer Programm“14 von 1926 zum einen und der sozialdemokratischen Reformpolitik beispielsweise im „Roten Wien“ andererseits deutlich wurde. Der „Austromarxismus“ war so auch in der deutschen Sozialdemokratie einflussreich, einzelne Personen wie beispielsweise Rudolf Hilferding machten in der Weimarer Republik auch in der SPD Karriere. Dieser Einfluss ist auch im Heidelberger Programm15 von 1925 zu finden. Es war eine Rückkehr zu den marxistischen Grundpositionen des Erfurter Programms und ist insbesondere wegen seiner internationalen Politik und der Forderung nach den vereinigten Staaten von Europa bedeutend.

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Die SPD nach dem 2. Weltkrieg Nach den Schrecken des zweiten Weltkrieges wurde die SPD wiedergegründet, bestand aber nur in der BRD weiter, da sie in der sowjetisch Besatzungszone mit der KPD zur SED Zwangsvereinigt wurde. In der DDR gab es kaum ernsthafte Diskussionen über marxsche Theorie, sondern nur Ausarbeitungen zur Analyse des Kapitalismus im Rahmen der der Vorgaben der jeweiligen sowjetischen und ostdeutschen Parteiführung. Der „realexistierende Sozialismus“ ist in diesem Sinne nicht die Umsetzung marxistischer Ideen, sondern vor allem dessen Missbrauch zur Legitimierung von Gewaltherrschaft. In den ersten Jahren nach der Gründung der BRD bezog sich die Sozialdemokratie auf ihre bisherigen theoretischen Grundlagen in marxistischer Tradition und stellte in den Mittelpunkt ihrer Forderungen die Verstaatlichung verschiedener Industriezweige. Sie stand der Politik Adenauers mehr als skeptisch gegenüber und kämpfte gegen die konservative und kapitalistische Restauration der Bundesrepublik. Nachdem sich aber keine Wahlerfolge einstellen wollten, kam es zu einer Diskussion über die Neuausrichtung der Partei. Diese wurde mit dem „Godesberger Programm“16 im Jahr 1959 vollzogen. Zwar gab es noch Versuche beispielsweise von Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen, den marxistischen Analyseapparat für die Programmatik zu erhalten, diese fan14 Auszüge in: Pfabigan, Vision und Wirklichkeit, S. 115ff. 15 Dowe/ Klotzbach, S. 194ff. 16 Dowe/ Klotzbach S. 324ff.

Marx und die Sozialdemokratie – Die SPD und Marx Argumente 3/2011


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den aber kaum Wiederhall auf dem Parteitag. Die SPD wandelte sich von der marxistischen Klassenpartei zur linken Volkspartei. Ironischer Weise kann dies aber nicht als absolute Abkehr von allen marxschen Ideen und deren Weiterentwicklung gesehen werden, sondern stellt in gewisser Weise eine konsequente Fortschreibung der sozialdemokratischen Strategie unter den Voraussetzungen einer demokratischen Republik dar. So heißt es im Abschlusskapitel des „Godesberger Programms“: „Die sozialistische Bewegung erfüllt eine geschichtliche Aufgabe. Sie begann als ein natürlicher und sittlicher Protest der Lohnarbeiter gegen das kapitalistische System. Die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte durch Wissenschaft und Technik brachte einer kleinen Schicht Reichtum und Macht, den Lohnarbeitern zunächst nur Not und Elend. Die Vorrechte der herrschenden Klassen zu beseitigen und allen Menschen Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu bringen das war und das ist der Sinn des Sozialismus. ... Darum ist die Hoffnung der Welt eine Ordnung, die auf den Grundwerten des demokratischen Sozialismus aufbaut, der eine menschenwürdige Gesellschaft, frei von Not und Furcht, frei von Krieg und Unterdrückung schaffen will, in Gemeinschaft mit allen, die guten Willens sind.“ Mit der APO kamen in den 60er-Jahren auch wieder marxistische Diskussionen in die SPD und vor allem in die Jusos.17 Dabei kamen auch wieder die drei grundsätzlichen Theoriestränge aus den Anfängen des Jahrhunderts zum Tragen. Diese entwickelten sich mit den neueren Marxinterpretationen und -Fortschreibungen bis heute weiter.18

Mit dem „Berliner Programm“ von 1989 fand die Bezugnahme auf den Marxismus auch wieder offiziell Einzug in die Programmatik der Sozialdemokratie. Dies galt dabei nicht nur deklaratorisch, sondern, wie sich in den Kapiteln zur Gesellschaftsanalyse mit der Bezugnahme auf den Antagonismus von Kapital und Arbeit zeigte, auch in den Grundlagen der Analyse. Die SPD und Marx – heute Bis heute spielen in der Programmatik der SPD viele theoretische Versatzstücke eine wichtige Rolle, die sich auch auf Marx begründen. Dieses gilt insbesondere für die Betonung der Bedeutung der Arbeit und den Fokus auf die Interessenvertretung der arbeitenden Menschen. Die Ideen von Karl Marx haben daher auch weiterhin ihren Platz in der Sozialdemokratie. Die SPD ist keine marxistische Partei, sie hat viele Wurzeln und setzt sich aus unterschiedlichsten Traditionslinien zusammen. Im aktuellen „Hamburger Programm“ von 2007 heißt es daher, „Sie (die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten) verstehen sich seit dem Godesberger Programm von 1959 als linke Volkspartei, die ihre Wurzeln in Judentum und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung hat.“19 Deswegen bleibt – unabhängig vom Bezug auf Marx - richtig was Wolfgang Abendroth 1964 über die Ausrichtung der 17 Siehe dazu zum Beispiel das „Hamburger Strategiepapier“ von 1971. 18 Näheres dazu in: Vogt, Juso Linke – 40 Jahre theoretische Orientierung der Jusos. 19 Hamburger Programm der SPD.

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Literatur:

SPD schrieb: „In Wirklichkeit ist noch niemals eine bedeutende Reform durch herrschende Schichten den durch sie beherrschten Schichten konzediert worden, wenn sie nicht die Entschlossenheit der Unterklassen zur Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen zu befürchten hatten, wie andererseits die Erzielung von bedeutenden Reformen auf längere Sicht den Willen zur Macht in derjenigen Klasse, die diese Reformen erkämpft hat, für die Zukunft (und häufig auch aktuell) nicht schwächt, sondern stärkt, wenn ihr nur bewußt bleibt, daß sie diese Konzessionen ihrer Gegner ihrem Kampfwillen zu verdanken hat. Deshalb lassen sich also durchaus Reformkämpfe und Reformwillen in eine auf Umwälzung der gesamten Gesellschaftsform und ihrer Machtstruktur gerichtete Bewegung einordnen und gehören notwendig zu ihrer Strategie, wenn sie sich ihrer Zielsetzung permanent bewußt ist. Andererseits wird aber ebenso notwendig die demokratische Befreiungsbewegung einer unterdrückten Klasse ihren Schwung verlieren, wenn sie auf die Einordnung ihrer einzelnen Teilziele in die große Konzeption einer geschlossenen, auf Umwandlung der gesamten Gesellschaft gerichteten Zielsetzung verzichtet.“20 l

20 Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, S. 16.

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Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/ Main 1964 Ders., Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von B. Dietrich und J. Perels, Frankfurt/ Main 1976 Max Adler, Ausgewählter Schriften, Herausgeben von Norbert Leser und Alfred Pfabigan, Wien 1981 Otto Bauer, Eine Auswahl aus seinem Lebenswerk, Wien 1961 August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Erstausgabe 1879 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Erstausgabe 1899 Christoph Butterwegge, SPD und Staat - heute, Berlin 1979 Dieter Dowe/ Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 2004 Georg Eckert, 100 Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie, Hannover 1965 Iring Fetscher, Der Marxismus - Seine Geschichte in Dokumenten, München/Zürich 1983 Peter Friedemann (Hrsg.), Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890 - 1917, 2 Bände, Frankfurt/ Main 1977 Horst Heimann/ Thomas Meyer (Hrsg.), Reformsozialismus und Sozialdemokratie, Bonn 1982 Jungsozialisten in der SPD, Bezirk OWL (Hrsg.), Herforder Thesen. Zur Arbeit von Marxisten in der SPD, Berlin 1980 Karl Kautsky, Karl Marx’s ökonomische Lehren, Erstauflage 1886 Ders., Die materialistische Geschichtsauffassung, 2 Bände, Erstauflage 1927 Paul Levi, Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt/ Main 1969 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, 6 Bände, Berlin 1970 Karl Marx /Friedrich Engels, Werke (MEW) Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 2 Teile, Erstauflage 1897/98 Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, Bonn 2002 Peter von Oertzen, Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Hannover 2004 Alfred Pfabigan (Hg.), Vision und Wirklichkeit. Ein Lesebuch zum Austromarxismus, Wien 1989 Sascha Vogt (Hrsg.), Juso Linke - 40 Jahre theoretische Orientierung der Jusos, Dortmund 2011

Marx und die Sozialdemokratie – Die SPD und Marx Argumente 3/2011


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CARE ALS ZENTRALES STRUKTURPROBLEM KAPITALISTISCHER VERGESELLSCHAFTUNG UND DEREN FEMINISTISCHE BEARBEITUNG Von Lisa Yashodhara Haller, Universität Kassel

1 Einleitung Der Arbeitsbereich der Betreuung, Erziehung und Fürsorge, der in der aktuellen Auseinandersetzung mehrheitlich mit dem englischen Oberbegriff Care umschrieben wird, ist unabdingbar für ökonomische Prozesse, denn Heranwachsende müssen zunächst betreut, erzogen und umsorgt werden, bevor sie als Erwachsene an Arbeitprozessen teilnehmen können. Insofern ist die Versorgung von Menschen Ausgangspunkt für jede Form des Arbeitens und Wirtschaftens. Dieser Umstand wurde von Marx und Engels in ihren Analysen kapitalistischer Verhältnisse sowie in den sich daraus entwickelnden Klassenkämpfen nur unzureichend berücksichtigt. Der vorliegende Beitrag will auf diese Leerstelle des Marxismus aufmerksam machen und darüber hinaus feministische Weiterent-

wicklungen marxistischer Theorie aufzeigen, die dazu beitragen, tagespolitische Herausforderungen zu erkennen. 2 Die Entstehung divergierender Ökonomien Mit dem Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert ist die zunehmende Aufspaltung eines bis dato einheitlichen Wirtschaftsbereiches in divergierende Ökonomien einhergegangen, die zwar Erleichterungen im Arbeitsprozess mit sich brachte, deren Organisation jedoch bis in die Gegenwart hinein eine Vielzahl von strukturellen Problemen verursacht hat. Signifikant für die sich neu formierende kapitalistische Ökonomie ist, dass nicht nur Land und Produktionsmittel, sondern überdies auch die Arbeitskraft in Warenform getauscht wird. Die Zerstörung bisheriger Arbeits- und

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Subsistenzformen sowie die Befreiung der Bevölkerung von feudaler Leibeigenschaft führt Marx als die zwei zentralen Voraussetzungen zum freien Tausch der Ware Arbeitskraft an. Das Subjekt marxistischer Theorie, der doppelt freie Lohnarbeiter, ist insofern „frei im Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat...“1. Dass Marx den doppelt freien Lohnarbeiter auch frei von der Betreuung, Erziehung und Fürsorge neuer Arbeitskräfte wägt, kommt erst im zweiten Halbsatz zum Ausdruck, „...los und ledig, frei ist [er] von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“2. Die Wahl eines Subjektes, das von zwischenmenschlicher Fürsorgeverantwortung losgelöst agiert, verwehrt uns bei der ansonsten aufschlussreichen Kapitallektüre ausgerechnet die spannende Auseinandersetzung mit den Grundlagen kapitalistischer Gesellschaftsformation und insofern der eigentlichen Voraussetzung kapitalistischer Produktion. Die Suche nach diesen Grundlagen nimmt bei der marxistischen Werttheorie ihren Ausgang. 3 Woher kommt der Wert der Ware Arbeitskraft? Im Zuge der doppelten Befreiung des marxistischen Subjekts durch die Auflösung feudaler Leibeigenschaft und der Subsistenzproduktion wurde der Umstand, dass durch die Aufwendung menschlicher Arbeitskraft mehr produziert wird, als der arbeitende Mensch verbraucht, dem Zweck der Mehrwertgewinnung unterstellt. Das Mehrprodukt wird zum Mehrwert, indem die Arbeitszeit, in der die Lohnarbeitenden ihre Arbeitskraft verausgaben, diejenige Arbeitszeit überschreitet,

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die notwendig wäre, um ihre Reproduktionskosten3 zu sichern. Die Produktionsmittelbesitzenden eignen sich diesen Mehrwert an und akkumulieren ihn. Die Abschöpfung des Mehrwertes der Arbeitskraft der Lohnarbeitenden durch die Produktionsmittelbesitzenden, die bis heute jedem abhängigen Lohnarbeitsverhältnis in der freien Marktwirtschaft zu Grunde liegt, bezeichnet Marx als Ausbeutung. Die ausgebeuteten Lohnabhängigen haben die Möglichkeit, gegen die ausbeutenden Produktionsmittelbesitzenden einen kollektiven Arbeitskampf zu führen. Solidarisieren sie sich erfolgreich zum Zweck des Arbeitskampfes, gewinnen sie die Vormachtstellung im Arbeitsprozess.4 Insofern suggeriert die Kapitallektüre, die Erzeugung von Mehrwert sei einzig der Aufwendung der doppelt freien Arbeitskraft der Lohnabhängigen sowie der Bereitstellung von Produktionsmitteln von Seiten der Produktionsmittelbesitzenden zu verdanken. Die kritische Leserin fragt jedoch, wie denn der Wert menschlicher Arbeitskraft entsteht, ohne die doch kein Mehrwert zustande käme? Marx beantwortet diese Frage kurz und bündig. Den Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt er, wie den Wert an1 Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 183 2 Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 183. 3 Unter Reproduktionskosten wird die Gesamtheit aller Kosten verstanden, die benötigt werden, die Lebens- und Arbeitskraft von Subjekten zu erhalten sowie ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Menschliche Bedürfnisse, ebenso wie die Produktionsbedingungen zu ihrer Befriedigung variieren historisch-kontextuell vgl. MEW 23: 185. 4 Wegen der Schwierigkeiten bei der Verwandlung der Warenwerte in Produktionspreise ist von werttheoretischen Schlüssen auf Lohnhöhen ohne eine Berücksichtigung der historischen Gesellschaftsformation abzuraten.

Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung und deren feministische Bearbeitung Argumente 3/2011


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derer Ware auch, „durch die zur Produktion, als auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendigen Arbeitszeit.“5 Auf die Frage, welche Arbeitszeit denn notwendig sei, um menschliche Arbeitskraft zu (re)produzieren, findet die Leserin im Kapital lediglich einen Verweis auf die Arbeitszeit, die notwendig sei, um die Reproduktionskosten zu bestreiten.6 Eine konkrete Klärung erhofft sie sich daher von feministischen Ökonominnen. 4 Wertschöpfungsschwache Arbeit als Gegenstand der Care Ökonomie Feministische Ökonominnen haben bezugnehmend auf Karl Polanyi (1978) herausgearbeitet, dass die menschliche Arbeitskraft zwar ähnlich wie die Güter, die sie produziert, in Warenform getauscht wird, sich die Herstellung von menschlicher Arbeitskraft aber dennoch signifikant von der Herstellung stofflicher Güter unterscheidet, da sie vornehmlich auf Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgeleistungen beruht.7 Die Besonderheit der Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgearbeit besteht wesentlich aus der Entwicklung einer Beziehung zwischen dem Betreuenden und dem Kind, das betreut, erzogen und im besten Fall umsorgt wird. Während bei der Produktion stofflicher Güter neben der Steigerung des absoluten Mehrwerts mittels der Verlängerung des Arbeittages mit Hilfe von effizienzsteigernden Maßnahmen überdies ein relativer Mehrwert8 generiert werden kann, muss bei der Betreuungsarbeit von der Gewinnung eines relativen Mehrwertes weitestgehend abgesehen werden. Denn der relative Mehrwert wird durch eine Optimierung erzeugt, zu deren Zweck Arbeitsgegenstände zunächst in zergliederte

Arbeitsbereiche aufgeteilt und sodann durch detaillierte Zielvorgaben und eine exakte zeitliche Begrenzung rationalisiert werden. Weil der Betreuung jedoch eine Zeitdimension inhärent ist, kann eine auf Effizienzsteigerung basierende Rationalisierung und damit die Gewinnung eines relativen Mehrwertes nicht uneingeschränkt gelingen, ohne dass sich der Charakter der Betreuung und ab einem gewissen Punkt ihre Qualität verändert. Eine Stunde Kindesbetreuung bleibt eine Stunde Kindesbetreuung, auch wenn die Betreuungsperson die Zeit mit dem Kind unterschiedlich intensiv nutzen kann.9 Während die Erziehungsleistung, die im Rahmen der Betreuung erfolgt, durchaus durch Zielvorgaben strukturiert und optimiert werden kann, sind zweitens detaillierte Zielvorgaben mit einer zeitlichen Begrenzung der Fürsorge um ein Kind kaum förderlich, da sich die Fürsorgeleistung in dem Erziehungsprozess entwickelt. Insofern ist drittens der Arbeitsbereich der Betreuung, Erziehung und Fürsorge durch eine asymmetrische Beziehung zwischen 5 Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 184 6 Bei Marx löst sich die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendigen Arbeitszeit, damit ist der Wert der Arbeitskraft bestimmt durch die zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel. MEW 23, S.185. 7 Da die Ware Arbeitskraft niemals vollständig durch Lebensmittel produziert werden kann, übersteigt die Arbeit, die nötig ist, um Arbeitskraft als Ware tauschbar zu machen, grundsätzlich die durch den Einkauf von Lebensmitteln erzeugten Reproduktionskosten. 8 Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 334. 9 So kommt eine Beschleunigung der Kindererziehung zum Zweck der zeitlichen Optimierung der Betreuung einer Verkürzung der Kindheits- und Adoleszenzphase gleich.

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dem Betreuenden und dem Kind gekennzeichnet. Das Kind ist elementar von der Fürsorge des Betreuenden abhängig, mit einer Solidarisierung zwischen den Betreuenden zum Zweck eines Arbeitskampfes gegen das zu betreuende Kind ist insofern nicht zu rechnen, da ein solcher mit der fürsorglichen Haltung gegenüber den Betreuten nicht zu vereinbaren wäre. Weil Betreuung und Fürsorge im Gegensatz zur stofflichen Warenproduktion die Mehrwertproduktion und insbesondere die relative Mehrwertsteigerung kaum ermöglichen, wird der Wirtschaftsbereich der Versorgungsleistungen im Gegensatz zum Wirtschaftsbereich der Güterproduktion als wertschöpfungsschwach bezeichnet. Auf Grund der Besonderheit des Arbeitsbereiches der Betreuung, Erziehung und Fürsorge sowie der divergierenden Wertschöpfungsstärke der beiden Wirtschaftsbereiche können Kinderbetreuung, Erziehung und Fürsorge nicht vollständig im Rahmen einer Zeit- und Verwertungsökonomie funktionieren, wie sie für Lohnarbeit inzwischen in nahezu allen Branchen vorauszusetzen ist. 5 Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung Hieraus folgt, dass sich Fürsorgearbeit zwar nicht wertschöpfend im Rahmen kapitalistischer Produktionsweise organisieren lässt, und folgend weder angeeignet noch akkumuliert werden kann, die kapitalistische Produktionsweise aber gleichwohl auf die Betreuung, Erziehung und Fürsorge von Kindern als zukünftige Arbeitskräfte angewiesen ist. Gesellschaften, die nach dem Prinzip freier Lohnarbeit organisiert sind, stehen deshalb vor dem zentralen Strukturproblem, zum Zweck der Kapital-

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akkumulation die Betreuung, Erziehung und Fürsorge arbeitsfähiger Subjekte jenseits der kapitalistischen Produktionssphäre zu gewährleisten.10 Da Arbeiten der Betreuung, Erziehung und Fürsorge jenseits des marxistischen Erkenntnisinteresses lagen, sucht die kritische Leserin bei der Kapitallektüre vergeblich nach Kategorien zur Bearbeitung dieses zentralen Strukturproblems. Klärung erhofft sie sich daher von feministischen Wohlfahrtsstaatsforscherinnen. 6 Bearbeitung des Strukturproblems durch den Wohlfahrtsstaat Feministische Wohlfahrtsstaatsforscherinnen haben herausgearbeitet, dass Sozialund Familienpolitik durch eine partielle Umverteilung des Lohneinkommens diejenigen zeitintensiven Arbeiten ermöglichen, die eine unabdingbare Voraussetzung für den kapitalistischen Produktionsprozess darstellen, ohne dass diese profitgenerierend organisiert werden müssten. Die Umverteilung von Lohneinkommen bildet damit die eigentliche Voraussetzung zur Überführung von Arbeitskraft in freie Lohnarbeit. Ohne eine Umverteilung von Lohneinkommen kann die Sicherstellung der Betreuung, Erziehung und Fürsorge neuer Arbeitskräfte nicht gewährleistet werden, ohne neue Arbeitskräfte ist eine Aneignung von Arbeitskraft nicht möglich, insofern kann ohne vorausgehende Fürsorgeleistungen weder Mehrwert generiert noch vom Kapital akkumuliert wer10 Lenhard, G./Offe, C., Staatstheorie und Sozialpolitik. Politisch-soziologische Erklärungsansätze für Funktionen und Innovationsprozesse der Sozialpolitik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie SH 19, 1977, S.106.

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den. Die den kapitalistischen Akkumulationsprozess ermöglichenden Einkommensübertragungen werden meist privat im Rahmen von Partnerschaften, Ehe- und Verwandtschaftsverhältnissen getätigt. Einkommensübertragungen im familialen Bereich sind zu einem erheblichen Anteil über das Unterhaltsrecht reguliert und werden von staatlicher Seite in Form von Einkommenssteuerrückzahlungen anerkannt. Zusätzlich reguliert der Staat das Wechselverhältnis zwischen unbezahlter Fürsorge auf der einen und freier Lohnarbeit auf der anderen Seite durch staatliche Transferleistungen. Werden diese Transferleistungen beispielsweise zur außerhäuslichen Kindesbetreuung eingesetzt, resultieren die Gewinne der Kindesbetreuungseinrichtung nicht wie von Marx beschrieben allein aus der Ausnutzung der Arbeitskraft der Erzieherinnen und Erzieher, sondern überdies aus der sozialstaatlichen Umverteilung eines bereits produzierten Mehrproduktes. Die sozialstaatliche Umverteilung ist damit materielle Voraussetzung für die Gewährleistung der wertschöpfungsschwachen Erziehungsarbeit.11 Da der sozialhistorisch den Frauen zugeschriebene Arbeitsbereich der Betreuung, Erziehung und Fürsorge die freie Lohnarbeit erst in größerem Maßstab berechenbar und insofern plan- und organisierbar macht und die hier anfallenden Arbeiten weiterhin mehrheitlich von Frauen geleistet werden, bleibt die Analyse des Kapitalverhältnisses ohne eine Untersuchung von Geschlechterverhältnissen als zentrale Produktionsgröße stark verkürzt. Dass diese Arbeit bei der Erörterung von Lohn, Preis und Profit dennoch nicht vorkommt, ärgert nicht nur die Kapitalleserin zunehmend, sondern führt auch dazu, dass aktu-

elle ökonomische und gesellschaftliche Problemstellungen, die mit den krisenhaften Entwicklungen im Fürsorge-, Erziehungs- und Betreuungssektor verbunden sind, nicht angemessen verstanden werden können. 7 Die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung marxistischer Theorie angesichts der tagespolitischen Herausforderungen Während aus der Perspektive klassischer Ökonomen einzig die Erzeugung eines Produktes Mehrwert schafft, setzt sich in der bürgerlichen Ökonomie die marxistische Sichtweise, der Entlohnung als Voraussetzungzur Erzeugung eines Mehrwertes durch. Durch den grundsätzlich expansiven Charakter der kapitalistischen Akkumulationsdynamik12 sind sowohl Kapitalisten Als auch Lohnabgängige infolge ihrer Abhängigkeit von der Reproduktionskostendeckung unentwegt damit befasst, beue Verwertungs- und Entlohnungsmöglichkeiten für ihre Arbeitskraft zu generieren. Die hiermit erklärbare Tendenz zur Vermarktung von Familienarbeit in der jüngsten Vergangenheit ging Hand in Hand mit den sozialen Kämpfen der Frauenbewegung um eine Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit, mit Hilfe derer ihre Arbeit endlich als wertschaffend sichtbar werden sollte. Das marxistische Credo, 11 Vgl. Chorus, S. (2011): Care-Seiten in der politischen Ökonomie, in: Das Argument 292: Care – eine feministische Kritik der politischen Ökonomie? Reihe DAS ARGUMENT 53. Jg. Heft 3/2011, S. 398. 12 Luxemburg, Rosa (1981):.Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In: Gesammelte Werke, Berlin 1981, Bd. 5.

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dass nur Wert schafft was entlohnt wird, hatte sich bis zu den amtierenden Familienministerinnen durchgesetzt, die raumgreifende Reformen im familienpolitischen Bereich verabschiedeten. Nicht zuletzt unter den Aspekten europäischer Strukturanpassung schien es weitblickend, die unentlohnte Fürsorgearbeit in den Arbeitsmarkt zu überführen, um hierüber das Bruttoinlandprodukt zu steigern und die qualifizierte weibliche Arbeitskraft für wertschöpfungsstarke Arbeiten freizusetzten. Da Fürsorgearbeit jedoch nicht vollständig im Rahmen einer kapitalistischen Produktionsweise verwertbar ist, steigt angesichts der Reduzierungen familienpolitischer Leistungen gesamtwirtschaftlich diejenige Zeit, in der Frauen Fürsorgearbeiten jenseits eines wohlfahrtstaatlichen Ausgleichs nachgehen, um den Fürsorgestandard unserer Gesellschaft wenigstens zu halten. Kennzeichnend für tagespolitische Entwicklungen ist die Inanspruchnahme von Frauen als freie Lohnarbeiterinnen, ohne dass diese frei von der Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgearbeit wären. Eine Konsequenz hieraus ist die Mehrbelastung von Frauen und insgesamt eine Verknappung und Prekarisierung der gesellschaftlichen Fürsorgezeit. 8 Fehlende Begriffe für soziale Kämpfe Ein zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung wandelt sich damit in ein strukturelles Problem von Elternschaft. Der Versuch einer marxistischen Erörterung der tiefgreifenden Veränderungen, denen der bisher unbeachtete, nicht entlohnte und vornehmlich von Frauen ausgeführte Tätigkeitsbereich der Fürsorge unterliegt, schei-

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tert jedoch immer wieder an den Grenzen des Marxschen Arbeitsbegriffes. Da aufgrund der Besonderheit der Fürsorgebeziehung sich die Betreuenden ihrer Fürsorgeverantwortung gegenüber dem Kind nicht im Rahmen eines Arbeitskampfes entziehen können, fragt sich die kritische Leserin, in welcher Weise Betreuende, Erziehende und Fürsorgeleistende sich gegen Kürzungen und Streichungen von Lohnersatzleistungen zur Kindespflege wehren können. Bezugnehmend auf die Kapitallektüre fehlen unserer Leserin allerdings Begriffe, mit deren Hilfe es ihr möglich wäre, Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgearbeit als „Ausbeutung“ vorwiegend weiblicher Arbeitskraft anzuprangern. Klärung erhofft sie sich daher von feministischen Materialistinnen. 9 Der feministische Materialismus und die Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft Feministische Materialistinnen haben darauf hingewiesen, dass in kapitalistischen Gesellschaftsformationen unterschiedliche Ausbeutungs-, Aneignungs- und Abhängigkeitsverhältnisse bestehen. Die grundsätzlich unvollständige kapitalistische Produktionsweise beruht ihrer Konzeptionalisierung nach keineswegs lediglich auf abstrakten Tauschvorgängen, sondern setzt Produktionsweisen jenseits der kapitalistischen voraus. Während der traditionelle Marxismus - nach Abschluss der primären Akkumulation - lediglich die Mehrwertakkumulation in der freien Lohnarbeit kennt, existieren nach Auffassung feministischer Materialistinnen weitere Formen der ‚primären’ Akkumulation. Die Betreuung, Erziehung und Fürsorge ist in ihrer unbezahlten Form in der Regel eine häus-

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liche Produktionsweise und in ihrer bezahlten als wertschöpfungsschwache Form häufig einem öffentlichen Sektor zugewiesen, während die als wertschöpfungsstark geltende, freie Lohnarbeit in der freien Marktwirtschaft verortet wird. Gegenwärtig betonen Materialistinnen die historische Varianz des wechselseitigen Austausch- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den Produktionsbereichen. Deutlich wird in den Konzeptionalisierungen feministischer Materialistinnen, dass Geschlechterverhältnisse einen prägenden Einfluss auf die Formen der Kapitalakkumulation besitzen. Die unterschiedlichen Ausbeutungs-, Aneignungs- und Abhängigkeitsverhältnisse erfordern insofern verschiedene Überwindungsstrategien. 10 Ausblick: Viel Platz zum Weiterdenken - und handeln Die tagespolitische Herausforderung besteht insofern in einer Zusammenführung der interdisziplinären Ansätze einer feministischen Weiterentwicklung marxistischer Theorie. Eine derartige Zusammenführung würde den Raum für die Konzeptionalisierung verschiedener Strategien zur Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftung eröffnen. Diese ist angewiesen auf breite Bündnisse, in denen sich Abhängige von Lohnersatzleistungen und Transferleistungsempfangende ebenso wiederfinden wie freie Lohnabhängige. Denn nicht zuletzt war, trotz der marxistischen Schaffung eines bürgerlichen Wertbegriffes, die Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftung auch das Anliegen von Marx und Engels. l

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STAAT: HERRSCHAFT? NOTWENDIGKEIT? INSTRUMENT? ZUR STAATSTHEORIE MARX’ UND MARXISTISCHER STAATSTHEORIE Von Julian Zado, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender

Wenn wir Jusos Anträge schreiben, dann enthalten diese meistens Forderungen. Häufigster Adressat dieser Forderungen ist der Staat. Das zu recht, denn der Staat ist einflussreicher und effektiver Akteur, der zugleich noch am ehesten zu beeinflussen ist. Die Bezugnahme auf den Staat erfolgt dabei überwiegend positiv - so lehnen wir z.B. Privatisierungen bzw. Entstaatlichungen ab. Ab der Staat ist auch für die Bedienung von Lobby-Interessen, Kriege und Sozialabbau verantwortlich. Und wollte nicht Karl Marx den Staat überwinden? Warum wollen die Jusos ihn dann stärken? Die „herrschende Meinung“ In der juristischen Literatur zur Staatstheorie wird der Staat meistens nach der von Georg Jellinek begründeten sog. „Drei-Elemente-Lehre“ definiert, nach der ein Staat durch die Kriterien Staatsgebiet,

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Staatsvolk und Staatsgewalt bestimmt wird. Zentrales Element ist dabei die Staatsgewalt, unter der eine Form organisierter, dauerhaft ausgeübter Herrschaft verstanden wird.1 Die Gewalt ist es dann auch, die nach verbreiteter Sichtweise den Staat ausmacht. Wird nämlich danach gefragt, wie der Staat mit all seinen Gewaltund Zwangsmitteln (also Polizeiapparat, Gefängnisse usw.) gerechtfertigt wird, wird dies auch heute noch häufig auf der Basis des von Thomas Hobbes propagierten Gewaltmonopols des Staates beantwortet. Danach bestehe ohne den Staat ein „Naturzustand“, in dem alle Menschen nur egoistisch und rücksichtslos ihre Ziele durchsetzen wollen - also ein „Krieg aller gegen alle“. Dieser Zustand soll durch die Monopolisierung der Gewalt beim Staat dem „Leviathan“ - überwunden werden. Nur der Staat hat das Recht zur Anwen1 Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2009, § 3 Rdnr. 20.


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dung von Gewalt (Gewaltmonopol) und sichert auf diese Weise ein friedliches Zusammenleben. Dieser Grundgedanke prägt - trotz zahlreicher Weiterentwicklunge und Einschränkungen - im Kern bis heute das juristische Verständnis vom Staat welches nur eines von Verschiedenen sein kann. Das ist zunächst verständlich, weil in unserer Gesellschaft tatsächlich ein breiter Konsens darüber herrscht, dass private Gewalt grundsätzlich verboten sein soll und nur der Staat Zwangsmittel einsetzen darf. Doch diese Definition bleibt trotz eines richtigen Ansatzes zu verkürzt. Erstens gibt es begründete Zweifel an der Vorstellung eines Naturzustands der Gewalt. Neuere anthropologische und psychologische Forschungen weisen darauf hin, dass der sog. „Naturzustand“ eher von Kooperation und Zusammenhalt geprägt ist, während Gewalt immer nur die Folge von Ausgrenzung und Isolation ist.2 Das macht deutlich, dass der Blick auf staatliche Institutionen gelenkt werden muss, die Gewalt und Ausgrenzung (re)produzieren. Das führt zweitens dazu, dass die normativ unterstellte „Friedlichkeit“ des Staates hinterfragt werden muss. Drittens unterstellt die Rechtfertigung des Staates über das Gewaltmonopol eine prinzipielle Gleichheit der Menschen. Tatsächlich unterscheiden sich die Menschen aber gravierend voneinander durch die materiellen Voraussetzungen, die ihnen zur Verfügung stehen. Zwischen den Menschen bestehen erhebliche Machtunterschiede. Der Staat verhindert durch das Gewaltmonopol möglicherweise - im Grundsatz - die private Anwendung von Gewalt, ändert aber nichts an Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen. Dies spricht insofern nicht gegen das „Gewaltmonopol“ im Sinne eines empirischen Definitionsmerkmals, wohl aber da-

gegen, allein aufgrund des Gewaltmonopols dem Staat positive Eigenschaften zuzuschreiben. Materielle Betrachtung des Staates Was hat das alles mit marxistischer Staatstheorie zu tun? Es zeigt, warum es notwendig ist, den Staat kritisch zu hinterfragen. Wenn allein die Existenz des Gewaltmonopols den Staat rechtfertigen kann, dann sind polizeiliche Eingriffsbefugnisse, Gefängnisse und staatliche Überwachung aus sich selbst heraus gerechtfertigt. Ist es aber wirklich so, dass der Staat per se „gut“ ist? Genau dies hinterfragt marxistische Staatstheorie. Karl Marx hat selbst keine zusammenhängende Staatstheorie entwickelt. Bei der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise hat er aber auch immer wieder Bezug auf den Staat genommen, aus dem die Grundzüge Marx’ Verständnisses des Staates gefolgert werden können. Marx interpretiert dabei ausdrücklich nur den kapitalistischen Staat, der durch die kapitalistische Produktionsweise geprägt ist. Vor der Industrialisierung war im Staat durch das sog. „Lehnswesen“ die politische und ökonomische Macht nicht getrennt. Über Lehen und „Frondienste“3 wurden sowohl die landwirtschaftliche Produktion als auch die politische Macht vermittelt. Mit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise änderte sich dies grundlegend.4 2 Vgl. Hierzu Bauer, Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt 3 Persönliche Dienstleistungen von Bauern für ihre Grundherren (http://de.wikipedia.org/wiki/Frondienste). 4 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, 2005, S. 18 f.

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Staat als Notwendigkeit Kennzeichnend für die kapitalistische Produktionsweise ist das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Die Ausbeutung besteht darin, dass sich Kapitaleigentümer den Mehrwert aneignen, den ArbeiterInnen durch ihre Arbeit produzieren. Diese haben mangels Kapital keine andere Wahl als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Nach Marx setzt dabei der Staat seine Gewaltmittel ein, „um den Arbeitstag zu verlängern und den Arbeiter selbst in normalem Abhängigkeitsgrad zu erhalten.“5 Der Staat verhindert also, dass sich die ArbeiterInnen das Eigentum an den von ihnen produzierten Gütern selbst aneignen. Dazu schafft er eine Eigentumsordnung, die er ggf. auch unter Einsatz von Gewalt (z.B. durch gewaltsame Zwangsvollstreckung) durchsetzt. Diese Eigentumsordnung ist deshalb - aus Sicht des Kapitals - notwendig, weil die kapitalistische Produktionsweise durch Konkurrenz funktioniert. Kapitalisten beuten ihre ArbeiterInnen nicht durch unmittelbare Gewaltanwendung als Leibeigene aus. Wenn die ArbeiterInnen aber gegenüber den Kapitalisten formal frei sind, dann bedarf es einer dritten Partei, die dafür sorgt, dass die produzierten Güter den Kapitalisten gehören - der Staat. Der Staat ist aber auch notwendig, weil die kapitalistische Produktionsweise eine Infrastruktur, z.B. Verkehrswege, Zahlungsmittel usw. erfordert. Für einen einzelnen Kapitalisten ist es unwirtschaftlich, diese Infrastruktur zu schaffen. So existieren formal freie Arbeits- und Austauschverhältnisse. Nach Marx’ Analyse ist es der Staat, der sicherstellt, dass sich trotzdem die Kapitalisten das Eigentum an produzierten Gütern aneignen können. Er sichert auf diese Weise

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den strukturellen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ab. Infolgedessen steigt der Druck auf die Arbeitskräfte. Andreas Fisahn fasst dies so zusammen: „Die (Staats)-Gewalt schafft die materiellen Bedingungen der kapitalistischen Produktion wie die ideologischen und psychologischen, sie erzwingt die Disziplinierung der Arbeit unter die Regelmäßigkeiten der fabrikmäßigen Produktion.“6 Ebenso ist es Bedingung der kapitalistischen Produktionsweise, dass die ‘Spielregeln’ des Marktes eingehalten werden, also zum Beispiel Verträge auch erfüllt werden. Dass diese ‘Spielregeln’, also der gesetzliche Rahmen für die Bedingungen des Marktes, eingehalten werden, ist nicht im Interesse des einzelnen Kapitalisten, der in ständiger Konkurrenz zu anderen Kapialisten steht. Es ist das Interesse der Kapital-Klasse als ganzes, die aber nicht selbstständig handlungsfähig ist. Sie braucht eine von ihr unabhängige Instanz (den Staat), die dafür sorgt, dass alle die ‘Spielregeln’ einhalten. Nach dieser Analyse ist der Staat eine Notwendigkeit zur Absicherung eines gesellschaftlichen Verhältnisses. Sie kann jedoch nicht erklären, warum der Staat dieses Verhältnis absichert. Staat als Instrument Marx sieht den Staat als Instrument der herrschenden Klasse. Die herrschende Klasse, also die Kapitaleigentümer, benötigen den Staat als neutrale Instanz. Deshalb schaffen sie diese neutrale Instanz und setzen ihn nach ihrem Belieben ein: „In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen In5 Marx, Das Kapital, in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. 23, S. 766 6 Fisahn, Herrschaft im Wandel, 2008, S. 95.

Staat: Herrschaft? Notwendigkeit? Instrument? Zur Staatstheorie Marx’ und marxistischer Staatstheorie Argumente 3/2011


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dustrie des Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in dem selben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft.“7 Staatsgewalt wird bei Marx also ausschließlich als Mittel der Repression beschrieben. Diese Analyse erscheint vor dem Hintergrund der Realität im 19. Jahrhundert auch plausibel. Aus heutiger Perspektive ist aber die Ansicht, der Staat arbeite ausschließlich wie ein Instrument im Interesse der herrschenden Klasse, deutlich verkürzt. Dass in einer Demokratie zum Beispiel durchaus auch Lohnabhängige Einfluss auf die Gestaltung der Politik haben, kann kaum bestritten werden. Zudem gibt es zwar - auch heute - zahlreiche repressive Instrumente, die Herrschaft sichern, der Staat ist jedoch keinesfalls auf diese Funktion beschränkt.8 Zudem erscheint es zweifelhaft, den Staat als Maschine anzusehen und ihm damit eine Willenlosigkeit zu unterstellen. Vielmehr zeigt sich immer wieder, dass der Staat auch durchaus einen ‘eigenen Willen’ entwickelt, also eine Politik im Eigeninteresse, zum eigenen Machterhalt oder -ausbau erfolgt. Ausgehend von Marx’ Kritik des Staates haben verschiedene AutorInnen die Analyse des Staates deshalb weiterentwickelt. Staat als Kräfteverhältnis So wendet sich Nicos Poulantzas gegen die Vorstellung vom Staat als Instrument. Er sieht den Staat als Organisator eines Kompromisses zwischen Herrschenden und Beherrschten: „Der Staat organisiert und reproduziert die Klassenhegemonie, indem er einen variablen Kompromißbe-

reich zwischen herrschenden und beherrschenden Klassen absteckt, und dabei den herrschenden Klassen häufig sogar gewisse kurzfristige materielle Opfer aufzwingt, um langfristig die Reproduktion ihrer Herrschaft zu sichern.“9 Der Staat sichert danach durch sozialpolitische Maßnahmen die Reproduktion der Arbeitskraft ab. Auch Poulantzas unterscheidet damit auf Seiten der Kapitalisten zwischen kurzfristigen Individual- und langfristigen Klasseninteressen und weist zudem darauf hin, dass der Staat auch bestimmte Aufgaben übernimmt, die für einzelne Kapitalisten zu risikoreich oder mit zu hohen Investitionskosten verbunden wären. Erst dadurch (zum Beispiel durch die Organisation der Energieversorgung) werde die kapitalistische Produktionsweise vollständig gesichert. Da er damit also auch gegen die kurzfristigen Interessen einzelner Kapitalisten agieren müsse, bedürfe er einer relativen Autonomie gegenüber diesen Einzelinteressen.10 Deshalb kann er also gerade nicht als Instrument betrachtet werden. Die Autonomie bleibt aber relativ, weil Kompromisse nur soweit möglich sind, wie die Interessen der Kapitalklasse noch gewahrt werden. Der Staat organisiert nach Poulantzas folglich durch die Schaffung von Recht und dessen Durchsetzung die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Kapitalisten. Gleichzeitig schwächt er die Mitglieder der beherrschten Klassen. Materielle Zugeständnisse gegenüber der ArbeiterInnen-Klasse verstärken diesen Prozess, der schließlich zu einer Normali7 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW, Bd. 17, S. 336 8 Siehe hierzu auch näher Fisahn, Herrschaft im Wandel, 2008, S. 101 f.. 9 Poulantzas, Staatstheorie, 1978, S. 170. 10 Poulantzas, Staatstheorie, 1978, S. 167 ff.

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sierung und zu bewusster oder unbewusster Akzeptanz führt. Ebenfalls fördert nach dieser Sichtweise der Staat durch das von ihm organisierte Bildungssystem unterschiedliche Qualifikationsniveaus der Arbeitskräfte, was ebenfalls zu einer Isolierung und zu weiteren Interessensgegensätzen innerhalb der ArbeiterInnenKlasse führt.11 Damit müssen wir aber wieder zur Ausgangsfrage zurückkommen: Warum sichert der Staat gerade die Interessen der herrschenden Klassen ab? Wer den ökonomischen Produktionsprozess dominiert, indem er über die Ressourcen, die Arbeitskraft, die produzierten Gütern und letztlich den Profit verfügt, hat mehr finanzielle Ressourcen und mehr Macht. Die Hierarchie innerhalb staatlicher Strukturen bewirkt, dass die Besetzung weniger Posten an der Spitze einen relativ großen Einfluss bewirkt. Zudem können staatliche Akteure, also die politischen und exekutiven Spitzen der Verwaltung, ihr Personal weitgehend selbstständig, also ohne etwa den Einfluss des Parlaments, auswählen. So können sie bewirken, dass die einflussreichen Positionen von denjenigen besetzt werden, die die bestehenden Kräfteverhältnisse nicht grundsätzlich in Frage stellen. Die Kräfte verfügen über unterschiedliche Machtpotentiale, die Strukturen reproduzieren sich dabei immer wieder neu, sodass Verhältnisse tendenziell fortgeschrieben werden - aber eben nicht unverändert. Abhängig von der Organisationsform der Herrschaft können sie damit relativ mehr Einfluss auf den - im Prinzip autonomen Staat ausüben als die beherrschte ArbeiterInnen-Klasse. Diese sind aber nicht völlig ohne Einfluss, insbesondere nicht in der Staatsform der Demokratie. Auf diese

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Weise entstehen auch innerhalb des staatlichen Apparats Interessengegensätze. Zwischen den spezialisierten Zweigen des Staatsapparats, aber auch innerhalb jeder staatlichen Einheit bestehen widersprüchliche Interessen. In diesem Sinne bezeichnet Poulantzas den Staat „[...] als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“12 Auf welche Weise ein Ausgleich zwischen den Interessengegensätzen vorgenommen wird, hängt dann von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Kräfteverhältnis im Staat Skepsis gegenüber dem Staat ist also berechtigt. Aber gerade die Politik eröffnet Einflussmöglichkeiten für die Gesellschaft. Hier können - in einer Demokratie - auch andere Interessen als die des Kapitals vertreten werden. Der Staat ist also nicht unabhängig und verselbstständigt sich von der Gesellschaft. Vielmehr nehmen Politik und Ökonomie nicht nur wechselseitig aufeinander Einfluss, sie sind sogar strukturell verwoben. So werden beispielsweise die ökonomischen Verhältnisse durch politische Festlegungen determiniert (Stichwort: Eigentumsordnung). Gewissermaßen prägen sich Staat und Ökonomie dadurch gegenseitig.. Hier konnten nun nicht ansatzweise alle relevanten Facetten der marxistisch geprägten Staatstheoriediskussion skizziert werden. Hierfür muss auf die weiterführende Literatur verwiesen werden. Es kann 11 Hirsch, Der Sicherheitsstaat, 1986, S. 81. 12 Poulantzas, Staatstheorie, 1978, S. 119.

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aber nun die Frage beantwortet werden, inwiefern eine marxistische Kritik des Staates mit den Forderungen nach einer Stärkung des Staates zusammenpassen. Der Staat organisiert Herrschaft und sichert gesellschaftliche Unterschiede ab. Diese Funktion des Staates wird deshalb auch von neoliberaler Seite nicht in Frage gestellt. Der Staat soll - bitteschön - durchaus dafür Sorgen, dass Kapital im Eigentum der Kapitalisten bleibt, dass Schuldner ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen usw. Abgebaut werden soll nur, was nicht dem Kapital, sondern den Menschen dient. Sozialversicherungen, öffentliche Daseinsvorsorge, ein öffentliches Bildungssystem u.v.a.m. sind Errungenschaften, die den Menschen dienen. Wenn also über „Sozialabbau“ oder „Privatisierungen“ gestritten wird, dann geht es Verschiebungen im Kräfteverhältnis des Staates. Es lohnt sich also, um solche Verschiebungen zu kämpfen. l

Verwendete, zugleich empfohlene Literatur: Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2009 Bauer, Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, 2011 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, 2005 Fisahn, Herrschaft im Wandel, 2008 Poulantzas, Staatstheorie, 1978 und Marx-Engels-Werke.

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DER WERT DES WERTS Von Björn Brennecke

Die Aktualität einer politischen Theorie bemisst sich nach der Fähigkeit dieser Theorie, Funktionsmechanismen der Gesellschaft zu erklären und somit „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären“1 zu können. Dabei sollte sich jede Theorie des Umstandes bewusst sein, dass sie Funktionsweisen beschreibt, indem sie Strukturen und Mechanismen der Gesellschaft operationalisierbar und dadurch verständlich macht, um Tiefenstrukturen der Gesellschaft zu erklären und nicht um nur ein Abbild der Realität zu schaffen. Diese Abbildung der Realität könnte nur erklären, was direkt an der Oberfläche erscheint und direkt sichtbar ist. Aufgabe von Gesellschaftstheorie ist es hingegen, zu erklären, wie die Erscheinung an der Oberfläche entstanden ist und in welchem Verhältnis sie zur Gesellschaft steht. It’s the economy, stupid! Die Krise wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaftskonzepte seit den 1990er Jahren hat - wieder einmal - deutlich gemacht, wie sehr die Ökonomie unser Leben beeinflusst und die Gesellschaft beherrscht. Zwei Jahrzehnte hindurch war der Neoliberalismus mit seinen Glaubensdogmen Privatisierung und Deregulierung die einflussreichste politische Theorie, der nur

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Ewiggestrige widersprochen haben, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollten. Mit dem Ende der Geschichte und dem Sieg des Kapitalismus sollte die Armut von der Bildfläche der Welt verschwinden und ein neues Zeitalter anbrechen. Der Kapitalismus hat - genau wie die liberalen Theoretiker seit zwei Jahrhunderten versprochen haben - unvorstellbare Mengen an Reichtum produziert. Inmitten dieses Reichtums ist die Armut jedoch geblieben; sie hat sich sogar ausgeweitet. Der Neoliberalismus hat stets ein zu viel an staatlicher Regulierung dafür verantwortlich gemacht. Auch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise wird den Chor der Neoliberalen nicht verstummen lassen, die immer noch Privatisierung und Deregulierung fordern. Die Glaubwürdigkeit dieser Apologeten des freien Marktes mag - zusammen mit dem Wert griechischer Staatsanleihen dahingeschmolzen sein; an der politischen und gesellschaftlichen Praxis hat sich nichts geändert. Die Finanzkrise zeigt nur um so deutlicher die Abhängigkeit ganzer Staaten von den Transaktionen an den Finanzmärkten. Die Folge ist, dass - wie aktuell in Griechenland - allein die Ankündigung von Volksabstimmungen von „den Märkten“ derart abgestraft wird, dass man sich fragen kann, ob sich unsere Marktwirtschaft die Demokratie noch leisten kann. 1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 1.


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Auf der anderen Seite fürchten sich ganze Konzerne davor, die Konsumenten könnten realisieren, unter welchen Bedingungen die Waren produziert wurden, mit denen sich der postpolitische Mensch seine Identität zusammenkauft. Die Kunden würden sich angewidert der Konkurrenz zuwenden. Schnell wird in so einem Fall der politisch korrekte Starbucks-Kaffee geboren, von dessen Kaufpreis ein geringer Betrag dafür abgezweigt wird, die Folgen ausufernden, kapitalistischen Wirtschaftens zu beseitigen. Selbstverständlich ist jeder Cent, den Kaffeebäuerinnen und Kaffebauern zusätzlich einnehmen, zu begrüßen. Niemand sollte aber glauben, damit würde sich irgendetwas substantiell ändern. Mit marktwirtschaftlichen Mitteln können die Folgen der Marktwirtschaft nicht ausgeglichen, mit Bio-Bananen das Klima nicht gerettet, mit dem Belzebub der Teufel nicht ausgetrieben werden. Einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz wird es nicht geben - auch wenn versucht wird, die Menschlichkeit in die Verpackung der Ware zu integrieren. Zurück zu Marx Alle diese Beschreibungen - so zutreffend sie sein mögen - begnügen sich jedoch damit, an der Oberfläche zu kratzen. Sie stellen fest, dass die Ökonomie unser Leben beeinflusst, sagen jedoch nicht warum. Sie stellen fest, dass wirtschaftliche Erwägungen wichtiger erscheinen als demokratische Entscheidungsprozesse, sagen jedoch nicht, wie es dazu kommen kann. Dabei ist eigentlich klar, dass der Reichtum - genau wie die Armut, die Ungerechtigkeit und die Krisen - bevor er überhaupt privat angeeignet werden kann, vorher gesellschaftlich produziert werden muss.

Um diesen Schleier zu lüften, gilt es hinab zu steigen in den gesellschaftlichen Keller der Produktion, indem uns die von John Locke und William Petty entdeckte, von Adam Smith und David Ricardo formulierte und von Karl Marx zum zentralen Analyseinstrument verfeinerte und weiterentwickelte Arbeitswerttheorie erwartet.2 Erst hiermit ist es möglich, die Arbeit und die Produktion in den Mittelpunkt der Analyse und Kritik zu stellen und die Tiefenstrukturen kapitalistischer Herrschaft zu entwirren. Die Kritik an der marxistischen Werttheorie - dass Marktpreise letztlich durch Arbeitswerte bestimmt werden - besteht wiederum darin, die Werttheorie sei an der Realität nicht überprüfbar. Diese Kritik hat sich an der Umwandlung der von Marx verwendeten „Werte“, die sich über die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit begründen, in „Preise“, die am Markt gehandelt werden, entzündet. Marx selbst hat im Kapital versucht, diese Wert-Preis-Transformation zu errechnen, konnte dies jedoch nicht erfolgreich zu Ende führen. Auf diesen Umstand kann man nun auf vier Wegen reagieren. Zentralität des Marktes Erstens kann man sich dogmatisch an den Wortlaut der marxschen Texte klammern und die Differenzen bei einer Transformation der Werte in Preise - genau wie die neoliberale Theorie - mit marktverzerrenden Effekten und komplizierten gesellschaftlichen Strukturen erklären, um so die 2

Die Arbeitswerttheorie soll hier nicht im Einzelnen erklärt werden. Eine Suche bei Wikipedia sollte jeder/jedem Interessierten genug Material zum nach- und weiterlesen bringen.

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marxsche Theorie zu retten, obwohl sie einer Überprüfung an der Realität nicht stand hält. Dieser Weg würde jedoch der von Marx selbst aufgestellten Definition von Ideologie entsprechen - der eines notwendig falschen Bewusstseins. Gibt man den Wertbegriff hingegen auf, so bleibt die Bedeutung der Arbeit in der marxschen Analyse zwar anscheinend ein zentrales Element, weil die Arbeit die gesellschaftliche Welt konstituiert und die Quelle allen Reichtums bleibt, als zentraler Anknüpfungspunkt für Kritik wird sie allerdings aufgegeben. Kritisiert werden dann noch die konkrete Ausgestaltung der Arbeit die Ausbeutung - und die private Aneignung des erwirtschafteten Gewinns - die Verteilung des Reichtums. Eine derartige Kritik, die sich auf moralische Kategorien (ungerechte Ausbeutung) oder reine Verteilungsfragen (private Aneignung gesellschaftlich erwirtschafteten Gewinns) begrenzt, kann wiederum die Tiefenstrukturen kapitalistischer Herrschaft nicht mehr erfassen und muss sich auf das Konstatieren von Ungerechtigkeiten beschränken. Ging es den liberalen Klassikern noch darum, die Ursachen der Wertschöpfung und Kapitalakkumulation zu erklären, um die Vorteile kapitalistischer gegenüber feudaler Produktionsweise darzustellen, ändert sich dieses Paradigma in den Neoklassischen Darstellungen. Der Bezugspunkt der Theorie wandelt sich von der Produktionsspähre und einer daraus folgenden objektiv orientierten Arbeitswerttheorie hin zur Zirkulationssphäre als Bezugspunkt und einer am subjektiven Nutzen orientierten Theorie der Preisbildung. Ging es den Klassikern darum, progressiv die Vorteile bürgerlicher Gesellschaften gegenüber feudalen Strukturen darzustellen, geht es der konservativen Neoklassik um die Verteidi-

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Der Wert des Werts Argumente 3/2011

gung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Macht und Einfluss gewinnende organisierte Arbeiterbewegung. Für die Neoricardianer3 hingegen ist die Verwendung gesellschaftlich bestimmter Werte ein unnötiger Umweg. Sie gehen direkt von den Produktionspreisen aus, um das Transformationsproblem zu umgehen, die Produktion des Profits nachzuvollziehen und die marxistische Werttheorie samt aller normativen, gesellschaftskritischen Implikationen somit für überflüssig zu erklären. Diesen zweiten Weg sind weite Teile der Wissenschaft und Politik gegangen. Zentralität der Arbeit Nils Fröhlich4 hingegen geht, als Reaktion auf die Neoricardianer und zur Kritik derselben, nicht von der Frage aus, ob man aus den Werten die Preise ableiten kann. Er geht den umgekehrten Weg. Hierbei wird die Werttheorie in aktualisierter Fassung auf konkretes statistisches Material angewendet, um zu sehen, ob sich ein signifikanter Unterschied zu den Ergebnissen der Neoricardianer ergibt, die mit Produktionspreisen rechnen. Somit soll geklärt werden, welche Relevanz das theoretische Transformationsproblem empirisch überhaupt hat. Fröhlich weist nach, dass der Unterschied im Ergebnis vernachlässigbar ist. Geht es also nur um das Errechnen der wirtschaftlichen Vorgänge, kommen beide Theorien zu einem vergleichbaren Ergebnis. Die Arbeitswerttheorie ist aber - wie Fröhlich nachweist - weniger komplex und 3

Eine Übersicht zu diesem Ansatz findet sich bei H.D. Kurz und N. Salvadori, Theory of Production, Cambridge 1997. 4 Nils Fröhlich, Die Aktualität der Arbeitswerttheorie, Theoretische und empirische Aspekte, Marburg 2009.


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leichter zu berechnen. Die Beschränktheit unpolitischer Ökonomie kann somit einerseits empirisch überwunden werden; andererseits können mit einer kritischen Gesellschaftstheorie weiterhin gesamtgesellschaftliche Strukturen in den Blick genommen werden. Der Anspruch, den Marx schon in seinen berühmten Thesen über Feuerbach formuliert hat, die Welt nicht nur zu erklären sondern sie zu verändern, kann nur eine kritische Theorie der Gesellschaft aufrechterhalten. Zur Darstellung der vierten Variante soll hier die Neuinterpretation der marxschen Theorie von Moishe Postone herangezogen werden. Postone geht vom marxschen Spätwerk aus und beschreibt den Marxismus als eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus.5 Entscheidend für Postone ist der Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit - die Unterscheidung zwischen konkreter Arbeit, die stofflichen Reichtum produziert und abstrakter Arbeit, die Wert produziert. Konkrete, stofflichen Reichtum produzierende Arbeit kann gemessen und errechnet werden. Abstrakte Arbeit hingegen bezieht sich auf die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit und beschreibt die Abhängigkeit des Individuums von gesellschaftlichen Verhältnissen - von der Tiefenstruktur des Kapitalismus. Die Bestimmung des Werts soll demnach explizit keine empirische Kategorie sein, sondern ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis ausdrücken. Das Problem einer mathematischen Transformation der Werte in Preise stellt sich somit für Postone nicht mehr. In den bürgerlichen Revolutionen ist es den Menschen gelungen, sich verbriefte Rechte gegenüber dem Staat zu sichern und eine Gemeinschaft politisch gleicher und freier Menschen zu schaffen - einen

Staat, der relativ frei von direkten, persönlichen Herrschaftsverhältnissen ist. Dieser Freiheit auf der einen Seite, steht auf der anderen Seite die Herrschaft durch gesellschaftliche Verhältnisse gegenüber. Diese Herrschaft zeigt sich in der wertproduzierenden abstrakten Arbeit. Die Rolle der Arbeit im Kapitalismus stellt hier eine historisch spezifische Form abstrakter Herrschaft dar, die es nicht nur zu analysieren, sondern vor allem zu kritisieren gilt. Postone geht es also um eine Analyse der gesellschaftlichen Herrschaft durch eine Kritik der wertproduzierenden abstrakten Arbeit. Der Markt ist dabei nur das Mittel, um die produzierten Werte zu realisieren, weil ein Produkt selbstverständlich verkauft werden muss, um Profit zu bringen. Die Werttheorie ist das Mittel, um diese Oberfläche zu durchdringen und die darunter verborgene Herrschaftsstruktur offen zu legen. Die entscheidende Erkenntnis an dieser Kritik der Arbeit im Kapitalismus ist - gegenüber einer Kritik, die sich bloß auf den Standpunkt der Arbeit stellt und die Arbeit selbst von der Kritik ausnimmt -, dass Herrschaft im Kapitalismus strukturell vermittelt wird. Ein Marxismus ohne Klassentheorie ist denkbar, teilweise sogar nötig, um die sehr grobe Einteilung in Klassen zu differenzieren und die Probleme der modernen Welt analysieren und erfassen zu können. Ein Marxismus ohne Werttheorie hingegen beraubt den Marxismus seiner schärfsten Klinge und dient allein denjenigen als Beruhigungspille, die ihre Augen verschlossen halten wollen, um sich gemütlich im kapitalistischen System einzurichten. l 5

Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003.

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DIE WEITERENTWICKLUNG ZUM KAPITAL1 Von Tobias Gombert

I. Kernpunkte des Kapitals (MEW 23-25) Das bekannteste und wohl auch wirksamste Werk von Marx ist weiterhin das Kapital, das in den Jahren 1867ff. erstmalig erschienen ist. Es ist eine kritische Auseinandersetzung mit den existierenden zeitgenössischen ökonomischen Theorien, wie sie sich aus der buürgerlichen Philosophie ergeben haben. Ich habe mich in diesem Teil zum Kapital entschlossen, nur einen kleinen Ausschnitt zu behandeln: Die historische Herleitung des Kapitals soll in diesem Skript vernachlässigt werden. Es geht hier lediglich darum, einen groben Überblick über die generelle Systematik und Argumentationslinien zu geben und vor allem die Grundzüge des Produktionsprozesses in den Vordergrund zu stellen. Die Lektüre des Originals, die sich immer lohnt, soll dadurch ein wenig erleichtert werden. Also keine abschließende Zusammenfassung, sondern eine Hilfe, in die Lektüre des Originals einzusteigen.

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Schon der Titel des 3-bändigen Werkes spricht Bände: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Das Kapital: Es handelt sich um eine Abhandlung, die nicht generell alle Wirtschaftsformen klären will, sondern historisch an einer geschichtlichen Formation ansetzt, nämlich dem damals zeitgenössischen Kapitalismus. Ohne bereits näher auf die Marxsche Theorie einzugehen, könnte man Kapital als das bezeichnen, was man für die Produktion von Waren einsetzt und was durch den Produktions- und Distributions/Zirkulationsprozess vergrößert werden soll. Dieses Kapital scheint die charakteristische Kategorie dieser Zeit zu sein. Ökonomie: Das Wort kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus dem Wort für »Haus« (oikos) und »Gesetz / Wort« (nomos) zusammen. Im weitesten Sinne umfasst es die gesamte Lebenserhaltung und Form, wie gelebt, 1

Der Text ist ein Nachdruck der Kapitel 5 und 6 aus „Einstieg in die marxistische Denkweise“ von Tobias Gombert / Juso-Landesverband NRW, 2005


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gearbeitet und gewirtschaftet wird und nach welchen »Gesetzen« dies geschieht. Anders als in unserem heutigen modernen Denken kann es sich dabei durchaus um Naturgesetze handeln, das heißt Regeln, die göttlich oder durch die Natur festgelegt seien. Drei wesentliche Aspekte menschlicher Existenz sind damit aber ebenfalls genannt: Naturaneignung, Arbeit und Herrschaft. Der herausragende Theoretiker dieser »Hauswirtschaft«, die zugleich auf den Staat als »große Hauswirtschaft«, übertragen wurde, war in der griechischen Antike Aristoteles: »Nachdem nun klar geworden ist, aus welchen Teilen der Staat besteht, müssen wir nächst über die Hausverwaltung (oikonomía) sprechen, denn die Häuser (oikía) sind ja eben jene Bestandteile des Staates.« (Aristoteles 1994: 48) In der Folge beschreibt er, dass das Verhältnis von Herr und Sklave ein »natürliches« Herrschaftsverhältnis sei, wenn die Versklavung in einem »gerechten Krieg« zustande gekommen sei und der Sklave dann nicht mehr als ein »lebendiges Werkzeug« sei. Solche »natürlichen Begründungen« für Herrschaftsverhältnisse und wirtschaftliche Ausbeutung waren zwar schon in der griechischen Antik nicht unumstritten, haben aber in der Folgezeit gewirkt. Politische Ökonomie: Erst der Zusatz, dass es sich um eine politische Ökonomie handele, macht deutlich, dass es um die gesellschaftliche Organisationsform des Zusammenlebens geht und eben nicht um eine einmal vorgegebene göttliche oder natürliche Ordnung. Zudem wird der Gegenstandsbereich ausgeweitet: Während die Hausgemeinschaft letztendlich eine »Familienwirt-

schaft« darstellt, wird diese nun auf die »große Gemeinschaft« übertragen. Es wird somit zunächst unterstellt, dass die Gesellschaft nichts anderes sei als eine große Familie. Und genau diese Argumentation haben viele bürgerliche Geschichtsphilosophen in unterschiedlichen Formen vertreten. Vor allem unter den liberalen Philosophen des 18. Jahrhunderts war diese Argumentationsweise durchaus verbreitet. Kritik der politischen Ökonomie: In der Marxschen Interpretation kann es offensichtlich um diese Form der Lebens- und Wirtschaftstheorie nicht gehen, aber sie muss sie dennoch ernst nehmen und ihr argumentativ etwas entgegensetzen. Eine einfache Ablehnung reicht offensichtlich nicht aus, sondern erst eine dialektische Arbeitsweise, die liberale Theorie »von dem Kopf auf die Füße stellt«, kann eine neue Theorie begründen. Marx und Engels haben dann auch - wie kaum Wissenschaftler vor ihnen (und wohl auch nach ihnen) - die Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts gekannt und argumentativ »gegengehalten«. A) Der ungewöhnliche Ausgangspunkt: Der erste Satz des Kapitals »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«, die einzelne Ware als seine Elementarform« (Marx/Engels 1998: 49) Marx beginnt ungewöhnlich. Nicht etwa die Ausbeutung, Not und Elend der Arbei-

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terinnen, der Arbeiter und ihrer Kinder, nicht die Beschreibung von Fabriken oder Bergwerken, von Heizöfen oder Dampfloks, Werften oder Landwirtschaft sind das erste Thema und der Ausgangspunkt für die ökonomische Analyse. Er beginnt mit etwas, was man für selbstverständlich oder nebensächlich halten mag: Mit der Ware. Dabei muss man sich klar machen, dass der erste Band des Kapitals zu keinem Zeitpunkt geschrieben worden ist, wo die »ungeheure Warensammlung« für alle fassbar gewesen wäre. Heute gehen wir in den Supermarkt um die Ecke und können einen verschwindend kleinen Teil dieser ungeheuren Warensammlung in Augenschein nehmen. 1867 hingegen war die Lebensrealität der meisten Menschen zwar von der ungeheuren Warensammlung mittelbar bestimmt und gleichzeitig waren die meisten Menschen von ihr ausgeschlossen. Dennoch gibt Marx eine wesentliche Stimmung der gesellschaftlichen Prosperität (Wohlstand; 86 wirtschaftlicher Aufschwung) wieder: »Die ökonomische Signatur der zweieinhalb Jahrzehnte zwischen 1850 und 1873/75 ist eindeutig zu erkennen: Alle Zeichen standen auf Hochkonjunktur. Das trifft einmal auf die Agrarwirtschaft zu, die von 1848 bis 1875 die zweite Phase ihrer »Goldenen Jahre« seit 1826 durchlief. [...] Das positive Urteil gilt, zum zweiten, für die Industriewirtschaft, die - von nur einer ernsthaften Krise kurz unterbrochen - dank der Hochkonjunktur der deutschen Industriellen Revolution einen beispiellosen Aufschwung erfuhr.« (Wehler 1995: 38) Der Agrarkapitalismus und die Industrielle Revolution schienen einen immensen Fortschritt, einen gesellschaftlichen Reichtum zu produzieren, der unermesslich und auch

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ungefährdet schien. Insofern fängt Marx eine Stimmung ein, die sich in den Folgejahren noch weiter verstärken sollte, erliegt ihr aber nicht. Denn Marx benennt schon im ersten Band des Kapitals die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Und tatsächlich folgte die Krise auf den Fuß: »Aus dem trügerischen Gefühl permanenter Prosperität wurde sie (die Landwirtschaft) jedoch seit Mitte der siebziger Jahre jäh herausgerissen, als der Zusammenbruch des europäischen Agrarmarkts eine im Grunde bis heute anhaltende strukturelle Dauerkrise auslöste. [...] Die Trendperiode gipfelte in dem überschäumenden Boom der sogenannten »Gründerjahre“ von 1866 bis 1873, ehe mit der Weltwirtschaftskrise von 1873 und der sich anschließenden, völlig unerwarteten sechsjährigen Depression eine traumatische Zäsur folgte.« (Wehler 1995: 38) Die »ungeheure Warensammlung«, der Reichtum der Gesellschaft war also durchaus eine gesellschaftliche Erfahrung. Aber Marx schließt sich der Euphorie nicht an. Auch bei diesem ungewöhnlichen Auftakt der Analyse lohnt es sich nämlich genau zu lesen: »Der Reichtum der Gesellschaften [...] erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«. Warum »erscheint« der Reichtum nur als »ungeheure Warensammlung«, warum ist er keine? Die Formulierung enthält bereits zwei wesentliche Argumentationen der Marxschen Konzeption:

Die Weiterentwicklung zum Kapital Argumente 3/2011

1. »Erscheinen« hängt immer von dem Betrachter ab. Ihm oder ihr »erscheint« die Anhäufung (Akkumulation) der Waren als ungeheuer. Mit anderen Worten: Der Betrachter interpretiert die Warensammlung und etikettiert sie als »ungeheuer«. Diese Interpretation


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kann man kritisch untersuchen. 2. Das Wort »ungeheuer« zeigt, dass sich der Betrachter, der interpretiert, sich einem Phänomen gegenüber sieht, das über seinen Verstand hinausgeht. »Ungeheuer« wirkt zumeist etwas auf den Betrachter, wenn es groß, übernatürlich, unfassbar und unveränderbar ist. Der Betrachter wäre der »ungeheuren Warensammlung« dann einfach ausgeliefert, die quasi als eine Art eigenständiges Lebewesen erscheint, das gefährlich, aber auch sehr hilfreich sein kann. Die ungeheure Warensammlung deutet aber auch auf die Macht der Wirtschaft hin. Diese Argumentation mag für uns heute ungewöhnlich klingen, doch sie ist nicht aus der Luft gegriffen: Adam Smith, einer der einflussreichsten Ökonomen des 18. Jahrhunderts, hatte in seinem bekanntesten Werk von der »unsichtbaren Hand des Marktes« gesprochen, die nahezu von selbst Wohlstand und Reichtum für alle Nationen bringe. Nun sollte man Smith nicht Unrecht tun: Seine Konzeption ist durchaus vielschichtig und weitsichtig. Dennoch war das »Ungeheure« an der Warensammlung durchaus eine wirkungsmächtige Argumentation. Als ein besonders pointiertes Beispiel, welches Eigenleben der Wirtschaft und der »ungeheuren« Warensammlung zugerechnet wurde, lässt sich an einem Textausschnitt von Immanuel Kant illustrieren: »Man könnte fragen: Wenn die Natur gewollt hat, diese Eisküsten sollten unbewohnt bleiben, was wir aus ihren Bewohnern wenn sie ihnen dereinst (wie zu erwarten ist) kein Treibholz mehr zuführte? Denn es ist zu glauben, daß bei fortrückender Cultur die Einsassen der temperirten Erdstriche das Holz, was an den Ufern ihrer

Ströme wächst, besser benutzen, es nicht in die Ströme fallen und so in die See wegschwemmen lassen werden. Ich antworte: Die Anwohner des Obstroms, des Jenissei, des Lena u.s.w. werden es ihnen durch Handel zuführen und dafür die Producte aus dem Thierreich, woran das Meer an den Eisküsten so reich ist, einhandeln, wenn sie (die Natur) nur allererst den Frieden unter ihnen erzwungen haben wird.« (Kant 1968a: 364) Der Handel werde also den Frieden sichern und die ungeheure Warensammlung kann sich weiter entwickeln und ihre ungeheure gesellschaftliche Wirkung entfalten. 3. Für Marx ist entscheidend, dass er widerspricht, wenn es darum geht, dass die Warensammlung ungeheuer sei: Sie ist interpretierbar und sie ist steuerbar und von Menschen gemacht. Wenn er im Folgenden eine einzelne Ware herausgreift, die Elementarform der Warensammlung, dann soll das zum Verständnis der gesellschaftlichen Anhäufung (Akkumulation) der Waren führen. Er will zunächst die »Elementarform« untersuchen, wie in der Chemie kein Chaos herrscht, sondern Wechselwirkungen von Elementen die Vielfalt an Stoffen und Stoffreaktionen erklären kann und es ermöglicht, chemische Prozesse zu steuern. 4. Die Untersuchung der »ungeheuren Warensammlung« ist auf eine Phase in der Geschichte begrenzt: Den Kapitalismus. Der Kapitalismus ist - das deutet sich hier schon an - eine Art und Weise, wie Natur gesellschaftlich organisiert wird. Sie setzt sich deutlich von anderen Organisationsformen (wie z. B. die mittelalterliche Lehenswirtschaft) ab.

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Der erste Satz des Kapitals enthält bereits wesentliche Weichenstellungen für die Analyse: Die kapitalistische Wirtschaft scheint von einem unübersichtlichen Warenmarkt geprägt zu sein, aber er kann analysiert werden. Dazu muss anhand der »Elementarform« vorgegangen werden. B) Wie ist die Ware bestimmt? Zunächst ist eine Ware ganz einfach zu bestimmen: Sie ist (zunächst) ein bestimmtes Ding. Dinge kann man zunächst physikalisch beschreiben: Sie haben eine Ausdehnung, besondere Eigenschaften und Beschaffenheiten, sie haben Qualitäten und Quantitäten. Dinge sind der Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums. Dinge können einen Gebrauchswert für den Menschen haben, dann sind sie nützlich. Soweit handelt es sich lediglich um Definitionen, denen kaum jemand widersprechen würde. Es entspricht unserer Alltagserfahrung. Doch wie unterscheidet sich ein Ding von der Ware? Eine Ware ist eine gesellschaftliche Form nützlicher Dinge. Ein Ding muss also, um Ware zu sein, noch weitere Bedingungen erfüllen: 1. Ein Ding kann nur zur Ware werden, wenn es gesellschaftlich und individuell zur Bedürfnisbefriedigung benötigt wird. Ein Ding ohne Gebrauchswert wäre eine Ware, die man nicht tauschen könnte. Diese Voraussetzung kann leicht angegriffen werden: Denn was ist schon gesellschaftlich notwendig? Ist eine CD von Daniel Küblböck wirklich notwendig? Ist einen Computer zu besitzen wirklich notwendig? Ist ein modernes Kunstwerk zu besitzen wirklich not-

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wendig? Anders als das bei einigen Philosophen des 18. Jahrhunderts war, ist diese Form von normativer »Kulturkritik« nicht gemeint. Ob es sich um natürliche oder künstlic geschaffene Bedürfnisse handelt, ist für die Argumentation, ob ein Ding zur Ware werden kann gänzlich unerheblich. Der bekannteste Kritiker künstlicher Bedürfnisse, die lediglich gesellschaftlich geschaffen und abzulehnen seien, war im 18. Jahrhundert Jean-Jacques Rousseau. Er sieht mit dem Luxus auch die Unfreiheit der Menschen und die Ungleichheit unter den Menschen weiter wachsen: »Es ist leicht zu sehen, daß der Ackerbau seiner Natur nach die am wenigsten einträgliche von allen Künsten sein muß, weil der Gebrauch seines Erzeugnisses allen Menschen am unentbehrlichsten ist und dessen Preis daher nach den Fähigkeiten der Ärmsten bemessen sein muß. Aus demselben Prinzip kann man diese Regel herleiten: Im allgemeinen sind die Künste im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Nützlichkeit einträglich und die notwendigsten müssen schließlich zu den am meisten vernachlässigten werden.« (Rousseau 1997: 315) Seine Antwort ist dann auch der Versuch, den Luxus und die Entwicklung eines industriellen Sektors und die Anhäufung von Waren zu verlangsamen oder zu verhindern und die Menschen so zu erziehen, dass sie nur ihre natürlichen Bedürfnisse gesellschaftlich befriedigen. Rousseau hat so analytisch im 18. Jahrhundert einige wesentliche Punkte genannt, die auch Marx in seine Konzeption aufnimmt, bleibt aber mit seiner wenig am Fortschritt orientierten Position hinter Marx zurück.


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2. Waren setzen einen Markt voraus, auf dem unterschiedliche Waren getauscht werden. Nur wenn mehrere Händler jeweils für sie nicht, aber für andere nützliche Dinge wechselseitig tauschen wollen, kann man von Dingen als Waren sprechen. 3. Waren müssen vergleichbar sein, sonst könnten sie nicht getauscht werden. Sie müssen also eine Eigenschaft haben, die sie gemeinsam haben und die zugleich relativ sein muss. Waren müssen also bestimmte Werte haben, durch die sie vergleichbar und dadurch tauschbar werden.

C) Wie kommt der Wert in die Ware? Wenn Waren vergleichbar sein müssen, um getauscht werden zu können, braucht man etwas, was in der Ware steckt, eine gemeinsame Eigenschaft aller Waren. Physikalische Eigenschaften eignen sich dazu offensichtlich nicht. Wie könnte man sonst die Küblböck- CD gegen ein Brot tauschen? In beides - Brot und KüblböckCD - ist Arbeit gesteckt worden und das bezeichnet Marx als das Gemeinsame aller Waren. Die in eine bestimmte Ware hineingesteckte Arbeit in Form von Arbeitszeit ist der Maßstab für den Wert einer Ware. Damit gibt es eine weitere Voraussetzung dafür, dass ein Ding eine Ware sein kann: In das Ding muss Arbeit gesteckt worden sein. Wirklich? Ein Stein, den ich vom Spazierweg aufhebe, um ihn einem mit mir spazierenden Freund als Ware anzubieten, würde mir keine besonders gute Verhandlungspositi-

on bescheren, wenn ich seine Taschenuhr dafür haben wollte. Die Taschenuhr will er mir - trotz freundlichster Überzeugungsarbeit - nicht überlassen. Das kann einmal damit zusammenhängen, dass der Freund in diesem Moment keine Verwendung für den Stein hat, er wird aber vor allem anführen können, dass der Wert der Uhr viel höher ist als der des Steins. Näher nachgefragt wird er irgendwann darauf kommen, dass in die Uhr bedeutend mehr Arbeit gesteckt worden ist als in den Stein. Verändern wir die Situation etwas zu meinen Gunsten: Ich hebe statt des Steins einen Rohdiamanten von 24 Karat auf und biete diesen als Tauschobjekt gegen die Taschenuhr. Der Freund würde diesem Tausch wahrscheinlich zustimmen. Widerspricht dieses Beispiel nicht der Wertbestimmung? Ist nicht in diesem Fall der Tauschwert meiner Ware schlichtweg dadurch bestimmt, wie groß jeweils Angebot und Nachfrage für Wackersteine einerseits und für 24-karätige Rohdiamanten andererseits ist? Wie kann man nun dennoch Marx’ These »retten«? Marx hält einer solchen Argumentation zwei wesentliche Argumente entgegen: Wert und Tauschwert einer Ware sind nicht das Gleiche und individueller und gesellschaftlicher Wert unterscheiden sich. Was heißt das? Der Rohdiamant von 24 Karat bestimmt sich im Wert nicht durch die individuelle Arbeit, die ich aufwenden musste, um ihn als Ware anzubieten, sondern der Wert bestimmt sich durch die Arbeits(zeit), die durchschnittlich benötigt wird, um die Ware anzubieten. Marx nennt das die durchschnittlich notwendige gesellschaft-

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liche Arbeit oder die abstrakte Arbeit. Wenn ich also weniger Arbeitszeit für das Finden des Rohdiamanten aufbringen musste, ist das mein Glück, bedauerlicherweise ist es mir bisher aber auch noch nicht passiert. Aus dieser Argumentation leitet sich bei Marx her, dass drei unterschiedliche, zusammenhängende Wertbegriffe zu unterscheiden sind: Der Wert kommt in die Ware durch individuelle Arbeit, die man in sie steckt. Der Wert kann durch Arbeitsstunden bestimmt werden. Als gesellschaftlicher Wert kommt aber nicht die individuelle benötigte Arbeitszeit als Wertmaßstab in Frage, sondern die durchschnittlich gesellschaftlich benötigte Arbeitszeit für die Produktion der Ware. Insofern ist die Arbeitsstunde eines Meisters gegenüber der eines Lehrlings nicht wertvoller. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass der Meister in der gleichen Arbeitszeit mehr schafft. Insofern ist der Stuhl, den der Meister an einem Tag baut individuell weniger wert als der des Lehrlings, der zwei Tage gebraucht hat. Da aber gesellschaftlich höchstens ein Tag durchschnittlich zur Stuhlproduktion gebraucht wird, hat der Lehrling das Nachsehen. Warum aber ist die Arbeitsstunde des Meisters teurer als die des Lehrlings? Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Zunächst handelt es sich um eine Frage des gesellschaftlichen Status und der Konvention, aber darüber hinaus bezahlt man in der Arbeitsstunde des Meisters auch noch die Arbeit mit, die er in seine eigene Ausbildung gesteckt hat. Zudem kann der Meister sich natürlich - egal wie kurz er braucht - immer auf die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit beziehen.

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Probleme bekommt der Meister nur, wenn die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit für die Stuhlproduktion durch Ikea wesentlich gemindert wird. Der durchschnittliche Wert des Stuhls sinkt damit und dem wird sich der Meister auf Dauer kaum entziehen können, es sei denn die Handfertigung begründet einen höheren Gebrauchswert (z. B. auch den Status, individuell gefertigte Stühle zu besitzen). Diese Argumentation mag etwas ungewohnt sein; sie erklärt aber mehr als die simple Behauptung, die Arbeit des Meisters sei mehr wert als die des Lehrlings. Der Gebrauchswert der Ware ist nicht gesellschaftlich bestimmt, sondern lediglich gesellschaftlich beeinflusst. So kann ein Gegenstand individuell sehr unterschiedlich viel wert sein, das ist zunächst nicht gesellschaftlich messbar. Dennoch ist der Gebrauchswert nicht gänzlich ohne gesellschaftliche Komponente: So kann eine Levis-Jeans individuell für einen Jugendlichen einen höheren Gebrauchswert haben als eine Noname-Jeans, wenn er damit zur Clique gehört. Der Tauschwert ist eine abgeleitete Größe aus dem Wert und hat mit dem Gebrauchswert nichts zu tun. Der Tauschwert kann differieren: Auf Dauer wird er sich - allen Schwankungen und Zufällen zum Trotz - an dem Wert, der in die Ware gesteckten, abstrakten Arbeit orientieren. Angebot und Nachfrage sind lediglich Faktoren, die die konkrete Höhe des Tauschwertes beeinflussen. Der Tauschwert kann - wie der Wert auf Dauer für eine Ware sinken, aus welchem Grund, wird später noch Thema sein.

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Nur wenn man die drei Wertbegriffe verstanden hat, wird man auch über die Dynamik kapitalistischer Gesellschaften sprechen und sie verstehen können. Der Wert repräsentiert sich aber bei Marx innerhalb der Geschichte in unterschiedlichen Wertformen, die sich von der einfachen Wertform bis zur »Geldform« entwickeln: • »einfache, einzelne oder zufällige Wertformen«, bei der frei Ware gegen Ware getauscht wird. • »totale oder entfaltete Wertform« (Marx 1998: MEW 23: 77), in der jeweils vergleichbare Waren getauscht werden. Der ungeheure Warenmarkt hat sich bereits entwickelt. • Die »allgemeine Wertform« (Marx 1998: MEW 23: 79), in der eine Ware als allgemeine Wertform angenommen wird, mit der die Mengen der anderen Waren ausdrückbar bemessen und deren Wert damit ausdrückbar wird. • Die Geldform - Eine Ware wird nur als allgemeines Äquivalent gehandelt. Durch das allgemeine Äquivalent wird der Gebrauchswert und Tauschwert getrennt. Der Fetischcharakter der Ware entsteht, weil die drei Wertformen sich erst im Tauschwert realisieren und dieser nun als wertbestimmend erscheint.

D) Die Crux – Die sich selbst reproduzierende Ware und die Marxsche Arbeitswertlehre »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«, die einzelne Ware als seine Elementarform. « (Marx/Engels 1998: 49) Der Tausch von Waren ist keine Angelegenheit, die nur in kapitalistischen Gesellschaften vorkäme. Kehrt man noch einmal zum ersten Satz des Kapitals zurück, so erklärt die bisher beschriebene Tauschwirtschaft noch nicht die »ungeheure Warensammlung« und auch nicht die Anhäufung (Akkumulation) von Waren. Bevor man die Besonderheit kapitalistischer Gesellschaften systematisch erklären kann, muss allerdings zunächst noch eine kleine Ergänzung gemacht werden, die die Definition von Geld betrifft. Geld ist die Ware, die als allgemeines Äquivalent für alle Waren eingesetzt wird. Der Gebrauchswert der Ware Geld liegt für gewöhnlich nur darin, allgemeines Äquivalent zu sein. Die Einführung des Geldes als allgemeine Ware und Tauschmittel vermittelt sich dabei schon mit gesundem Menschenverstand: Müsste ich jedes Mal für meine Ware einen Tauschpartner suchen, der gerade meine Ware benötigt und dessen Ware ich haben will, so wäre das in komplexen Gesellschaften ein schwieriges bzw. unmögliches Unterfangen. Ein allgemeines Äquivalent hilft diesem Problem ab. Eine wesentliche Bedingung für Geld ist dabei, dass es gesellschaftlich limitiert sein muss, so dass der in dem Geld repräsen-

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tierte Wert auch halbwegs konstant bleibt. Dabei haben sich der Wert und der Tauschwert des Geldes weitgehend entkoppelt: Ein 100- €-Schein weist wenig Wert durch die in ihn gesteckte Arbeit aus, repräsentiert aber einen gesellschaftlich formal festgelegten Wert. Stellt man nun die bisher vorgestellte Form des Tausches dar, so lässt sie sich wie folgt in einer Formel darstellen: Ware (W) - Geld (G) - Ware (W) In dieser einfachen Form wäre aber - und das ist entscheidend - keine »ungeheure Warensammlung « und auch keine Akkumulation von Geld und Waren begründbar: Jeder bekäme, bis auf Zufälle und Ausnahmen - den Wert in Waren zurück, den er selbst auch in die Waren gesteckt hat. Wie käme aber dann die Anhäufung von immer mehr Geld und immer mehr Waren zustande? In einem geschlossenen System ließe sich zwar alles erklären, was an Arbeit geleistet wird, um das Überleben zu sichern, nicht aber, dass auch darüber hinaus Waren produziert und getauscht werden. Die Akkumulation der ungeheuren Warensammlung fasst Marx dann auch in eine sehr ähnliche, aber entscheidend abweichende Formel: G(eld) - W(are) - G(eld)’, wobei Geld’ größer sein muss als Geld. Diese kurze Formel fasst die wesentliche Formel des Kapitalismus zusammen: Es geht um die Anhäufung von Kapital. Es geht nicht etwa um die Produktion von Waren, sondern um die Akkumulation von Geld bzw. Kapital. Der Tausch mit Waren,

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die Gebrauchswert haben, ist dort nur ein Mittel zum Zweck, mehr Kapital zu akkumulieren. Problem an dieser Formel ist aber, dass man mit ihr noch nicht begründet hat, warum es eine beständige Akkumulation, also Anhäufung von Waren und vor allem von Geld geben sollte. Wie kann man - mit anderen Worten - systematisch voraussetzen, dass G über den Austausch von Waren zu G’ (also mehr Geld) wird. Natürlich kann man davon ausgehen, dass Menschen immer mehr produzieren und damit auch der jeweilige Gegenwert des allgemeinen Äquivalents (Geld) steigen muss. Allerdings würde es sich letztendlich noch um ein Nullsummenspiel handeln: Der Produzent bekäme regelmäßig nur den Gegenwert als Tauschwert, den er auch in Form von Arbeit(sstunden) in die Ware gesteckt hat, soweit er nicht ein besonderes Verkaufstalent entwickelt hat. Der Warentausch setzt daher schon etwas Wesentliches voraus: Es müsste also eine Ware geben, die sich selbst reproduziert, die sich aus sich selbst heraus wieder selbst schafft. Und diese Ware - so Marx ist die menschliche Arbeitskraft. Ein Produzent kann sein Kapital vermehren, in dem er geschickt handelt - das ist von Zufällen und sicherlich auch vom Verhandlungsgeschick abhängig -, aber systematisch lässt sich die Akkumulation von Waren und von Kapital nur über eine »sich selbst reproduzierende Ware« erklären. Dann lässt sich die einfache Formel des G - W - G’ differenzierter darstellen als G - W - Arbeit/Produktion - W’ - G’. Diese Formel drückt aus, dass der Kapitalist zur Vermehrung seines Kapitals das Kapital durch einen Prozess aus zwei Teil-

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prozessen laufen lassen muss: Den Produktionsprozess und den Zirkulationsprozess. Für sein Kapital muss der Kapitalist dazu zunächst Waren ankaufen, die im Produktionsprozess durch menschliche Arbeit wertvoller werden. Diese Waren müssen dann im Folgenden auf dem Markt angeboten werden und zu mehr Kapital realisiert werden. Dieser Prozess bis zu G’ hängt natürlich von vielen Rahmenbedingungen ab: Ob die Waren, die der Kapitalist benötigt, zum entsprechenden Preis angeboten werden, ob das entsprechende Kapital verfügbar ist bzw. beschafft werden kann etc. Das erfolgreiche Durchlaufen des Gesamtprozesses von G zu G’ ist also kein Selbstläufer, sondern kann unterbrochen werden. Diese Formen der Unterbrechung und ihre Begründungen werden für die Krisenerklärung des Kapitalismus entscheidend sein.

E) Die Notwendigkeit des Mehrwerts für die Kapitalakkumulation Diese These, dass es notwendig sei, eine sich selbst reproduzierende Ware zu haben, damit die Kapitalakkumulation (G-W-G’) funktionieren und erklärt werden kann, ist die umstrittene Arbeitswertlehre. Die Arbeitswertlehre von Marx hat allerdings frühere Quellen. Auch in der bürgerlichen Philosophie seit den liberalen Schriften John Lockes hatte die individuelle Arbeit Eigentum legitimiert: »Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein

Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht.« (Locke 1977: 216f.) 3 Arbeit legitimiert - in dieser klassisch bürgerlichen Argumentation - Eigentum. Für die Zeit in der John Locke die beiden Abhandlungen über die Regierung geschrieben hat (1689), war das eine durchaus moderne und revolutionäre Sichtweise, richtete sie sich doch gegen geburtsständische Privilegien. Dabei schrieb Locke aus der Sichtweise des englischen Kleinadels, der sich in den Auseinandersetzungen und den Umverteilungskämpfen schließlich durchsetzte. Lockes Position hat aber vor allem als Argumentationszusammenhang die bürgerlichen Philosophen nach ihm geprägt. Die Marxsche Arbeitswertlehre hat allerdings noch eine zweite Quelle. Diese liegt bei Adam Smith: »Auf der untersten Entwicklungsstufe gehört der gesamte Ertrag der Arbeit dem Arbeiter, und die Menge Arbeit, die gemeinhin geleistet wird, um ein Gut zu erwerben oder zu erzeugen, ist das einzige Richtmaß, nach dem man die Menge Arbeit bestimmen kann, gegen die üblicherweise gekauft [...] werden sollte.« (Smith 1978: 42f.; zitiert nach Conert 2002: 65) Schon die bürgerliche Philosophie, auf die sich noch heute liberale Wirtschaftstheoretiker berufen, kennt also die Definition, dass der Wert durch menschliche Arbeit in die Ware komme. Auch der zweite Schritt der Erklärung findet sich bereits bei Smith: »Sobald sich

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aber nun Kapital in den Händen einzelner gebildet hat, werden es einige von ihnen natürlich dazu verwenden, um arbeitsame Leute zu beschäftigen, denen sie Rohmaterialien und Unterhalt bieten, um einen Gewinn aus dem Verkauf ihrer Produkte zu erzielen [...] Der Wert, den ein Arbeiter dem Rohmaterial hinzufügt, lässt sich daher in diesem Falle in zwei Teile zerlegen, mit dem einen wird der Lohn gezahlt mit dem anderen der Gewinn des Unternehmers.« (Smith 1978: 43; zitiert nach Conert 2002: 65) Mit anderen Worten: Der Arbeiter gibt bei Smith mehr Arbeit und damit Wert an die Ware ab, als er Lohn als Gegenwert erhält, dadurch kann der »Unternehmer« Gewinne machen. Auf beide Quellen (Liberalismus bei Lokke und bei Adam Smith) bezieht sich Marx in seiner Arbeitswertlehre, allerdings entwickelt er beides weiter. Ausgangspunkt ist dabei die wesentliche Voraussetzung des Liberalismus, die Marx sarkastisch aufgreift: »Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.« (Marx 1998: 183; vgl. auch Marx 1998: 742) Der doppelt freie Arbeiter (frei an seiner Person und frei von Kapital) kann dann einen Vertrag mit dem Kapitalbesitzer eingehen und ihm seine Arbeitskraft verkaufen. Letzteres ist eine wesentliche Weiterentwicklung der liberalen Theoriebildung: Der Arbeiter verkauft nicht ein-

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fach seine Arbeit, sondern er ist gezwungen, sich selbst, seine gesamte Arbeitskraft, zu verkaufen: »So war die Unterscheidung zwischen dem Verkauf der Arbeit des Proletariers an den Kapitalisten und dem Verkauf seiner Arbeitskraft, die für die Marxsche Theorie des Mehrwerts und der Ausbeutung grundlegend ist, im Manifest noch nicht deutlich herausgearbeitet. « (Hobsbawm 2000: 17) Was meint diese Differenzierung von Arbeit und Arbeitskraft? Indem der Kapitalist mit dem Vertrag die Arbeitskraft kauft, hat er systematisch die Möglichkeit, den Arbeiter mehr arbeiten zu lassen, als der Arbeiter für seinen Lebensunterhalt benötigt. Er lässt den Arbeiter also nicht nur für seinen Lebensunterhalt arbeiten, sondern er lässt ihn länger arbeiten und erreicht dadurch einen »Mehrwert«, der sich in den produzierten Waren repräsentiert. Dieser Mehrwert stellt dem Kapitalisten sicher, dass er tatsächlich mehr Kapital am Ende des Produktions- und Tauschprozesses behält, als er vorher an Kapital hineingesteckt hat, dass also tatsächlich G-W-G’ gelten kann. Nur durch dieses Ausbeutungsverhältnis kann man von der »sich selbst reproduzierenden Ware« sprechen: die menschliche Arbeitskraft. Damit ist das Kapital nicht eine Ansammlung von Produktionsmitteln, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis: »Durch den Kauf von Arbeitskraft verwandelt sich Geld in Kapital. Das Kapital ist nicht - wie vulgärökonomisch oder alltagssprachlich angenommen wird - ein Ensemble von Maschinen, Werkstoffen, Geld usw., sondern Resultat einer spezifischen Beziehung von Menschen, von denen die einen über Eigentum an diesen »Produktionsmitteln«

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verfügen, während die anderen allein ihre eigene Arbeitskraft auf den (Arbeits-)markt bringen können.« (Fetscher 1999:107) Die Marxsche Arbeitswertlehre baut damit auf zwei Abstraktionen auf: Als Grundlage des Wertes und des abgeleiteten Tauschwertes liegt nicht die individuelle Arbeit zugrunde, sondern die abstrakte gesellschaftliche Arbeit, die zu einem historischen Zeitpunkt mit technologischen Mitteln durchschnittlich benötigt wird. Zweitens wird das Arbeitsprodukt von seinen Produzenten abgezogen (abstrahiert), da eine Gesellschaft von Warentauschern nur bei Arbeitsteilung vorstellbar ist. Im Folgenden wird Marx noch zwei Formen des Mehrwerts unterscheiden, die mit der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaft zu tun haben. Dazu aber später mehr.

F) Die vier P des Kapitalismus Mit der Arbeitswertlehre verbinden sich in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie vier wesentliche analytische Begriffe, die die Grundkonstellation, aber auch die Entwicklung des Kapitalismus erklärbar machen sollen: Die Produktionsmittel: Die zur Erstellung von Produkten eingesetzten Dinge und Mittel, Rohstoffe, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel, aber auch die menschliche Arbeitskraft, die sich selbst immer wieder reproduziert. Die Produktivkräfte und ihre Entwicklung: Produktivkraft ist die Form der Lei-

stung (Arbeit pro Zeiteinheit): »Je größer die Produktivkraft der Arbeit, desto kleiner die zur Herstellung eines Artikels erheischte Arbeitszeit« (Marx 1998: 55). Die Produktivkraftentwicklung hat aber - und das ist wesentlich - eine dialektische Wirkung: Einerseits erhöht sie die Arbeit pro Zeiteinheit (Leistung), andererseits wird damit auf Dauer die gesellschaftlich benötigte Arbeitszeit, die für die Produktion eines bestimmten Produkts benötigt wird, gesenkt. Damit hat dieser Artikel dann weniger Wert. Dieser geringere Wert wird sich in der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Produzenten einer Ware irgendwann als Tauschwertminderung ausdrücken. Die Wirkung und Logik der Produktivkraftentwicklung ist eine wesentliche Weiterentwicklung in der Marxschen Geschichtstheorie. Die Produktionsverhältnisse - Es gibt im Kapitalismus objektiv zwei Klassen: Kapitalisten und Arbeiter. Die Akkumulation von Kapital kann nur funktionieren, wenn der Kapitalist die Arbeiter ausbeutet. Der Kapitalist schließt einen Vertrag und kauft die Ware Arbeitskraft des Arbeiters. Der Lohn entspricht aber nicht der in der Ware verdinglichten Arbeit, sondern nur den Lebenserhaltungskosten (Reproduktionskosten) des Arbeiters. Der überschüssige (Mehr-)Wert ermöglicht die Kapitalanhäufung. Dieser Ausbeutungsvertrag konstituiert die Produktionsverhältnisse. Die Produktionsverhältnisse unterliegen dabei einem historischen Wandel. So hat auch in der Sklavenhaltergesellschaft der Herr den Mehrwert des Sklaven vereinnahmt, allerdings war dem kein Vertrag unter »Freien« vorausgegangen, sondern ein »Eigentum« an der fremden Person. Die »doppelte Freiheit« des Arbeiters (frei an der Person und

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frei von Kapital) ist somit eine andere Form der Ausbeutung. Die Profitrate zu guter Letzt fasst das Entwicklungsprinzip kapitalistischer Produktion zusammen und bildet die Grundlage für die marxistische Krisentheorie, die nach wie vor in der wissenschaftlichen Diskussion auch bei Marxisten umstritten ist. Auf die Profitrate muss im Folgenden noch näher eingegangen werden.

G) Die Profitrate Die Arbeitswertlehre und Produktivkraft, Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse im Kapitalismus lassen sich in eine erklärende Formel zusammenfassen: M (Mehrwert) ——————––––––––– = P (Profitrate) V (Variables Kapital/Lohn) + C (festes Kapital) Die Profitrate leitet sich aus der wesentlichen Frage her, die oben gestellt wurde: Wie kann man regelmäßig davon ausgehen, dass G - W - G’ angenommen werden kann? Die Lösung des Kapitalisten heißt, den Mehrwert zu nutzen, der durch die Arbeitskraft der Arbeiter entsteht. Die Profitrate lässt sich dann durch das Verhältnis von Produktionskosten und Mehrwert bestimmen. Alle Kosten der Produktion (das heißt die Kosten für variables Kapital (Lohn) und festes Kapital (das heißt die weiteren Produktionsmittel)) werden ins Verhältnis zum Mehrwert, der durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeiter entsteht, gesetzt. Je höher demnach der Mehrwert, desto größer der Profit, der zu erzielen ist, das

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heißt: Je größer wird (voraussichtlich!) auch die Differenz zwischen G und G’, die Kapitalakkumulation, sein. Mit dieser Formel hat Marx einen wesentlichen wissenschaftlichen Schritt gemacht: Im Manifest der Kommunistischen Partei war zwar geschichtlich die Ausbeutung der Arbeiter entwickelt worden, es handelte sich aber nicht um eine wissenschaftliche, empirisch nachvollziehbare Theorie. Mit der Profitrate ändert sich das. Doch die Profitrate hat keine »einfache« Wirkung, sondern sie enthält die Vorstellung einer dialektischen Entwicklung der Kapitalakkumulation und das kommt durch zwei widerstreitende Möglichkeiten für den Kapitalisten zustande, Mehrwert zu produzieren: Absoluter und relativer Mehrwert.

H) Absoluter und relativer Mehrwert Der Kapitalist kann zwei Methoden wählen, den Mehrwert und damit die Differenz zwischen G und G’ weiter zu steigern. Am besten macht man sich das klar, in dem man den Profit an einer Strecke darstellt und sich fragt, wie der Mehrwert (M) verlängert werden kann: Relative Mehrwertsteigerung - Bei der relativen Mehrwertsteigerung wird die Erhöhung des Mehrwerts durch ein für den Kapitalisten positiveres Verhältnis von M zu V+C erreicht. Dazu muss die Ausgangsstrecke A mit der zweiten verglichen werden. Er hat einen Extramehrwert produziert. Wie kann er diesen erreichen: Er kann zum Beispiel in Maschinen oder die Ausbildung / Weiterbildung der Arbeiter

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investieren. Dadurch wird zwar C größer werden. Für die gleiche Anzahl von Waren wird aber damit weniger Arbeit in die einzelne Ware gesteckt werden müssen: Sowohl M als auch V sinken. Dadurch steckt zwar weniger vergegenständlichte Arbeit in der Ware, die Ware ist somit weniger wert, aber der Kapitalist hat einen relativen Vorteil gegenüber einem Kapitalisten, der noch nach Variante A produziert. Der Kapitalist B kann nämlich billiger produzieren und (fast) genauso teuer verkaufen. Er kann sogar, die Ware etwas billiger als Konkurrent A anbieten und damit voraussichtlich insgesamt mehr Waren absetzen. Dadurch hat er einen relativen Mehrwert und einen Wettbewerbsvorteil gegenüber A erzielt.

weniger Arbeitskraft die gleiche oder sogar eine größere Menge einer Ware produziert wird. Die Leistung, also Arbeit pro Zeiteinheit, steigt. Geht man davon aus, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach Produkten nicht unbeschränkt ist - weder den Bedürfnissen nach, noch der Kaufkraft nach, so ergeben sich zwei Gefahren: Die Gefahr der Überproduktion und die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Sowohl Überproduktion als auch Arbeitslosigkeit sind ohne Weiteres in der Geschichte und der Gegenwart nachweisbar und sie sind keine Störfaktoren kapitalistischer Produktion, sondern sie sind Teil der kapitalistischen Wirtschaftsform.

Die relative Mehrwertproduktion lässt sich also zusammenfassen: »Senkung des Werts der Arbeitskraft durch Steigerung der Produktivkraft der Arbeit.« (Heinrich 2004: 149) Die Erzielung von relativem Mehrwert ist die wesentliche Ursache für die gesellschaftliche Produktivkraftentwicklung. Die relative Mehrwertsteigerung birgt aber immense gesellschaftliche Probleme:

3. Wenn die Produktivkraftsteigerung verallgemeinert wird, so wird insgesamt die spezielle Ware weniger Tauschwert erzielen. Damit sinkt verhältnismäßig zum eingesetzten Kapital G das durch den Produktions- und Tauschprozess gewonnene Kapital G’ durchschnittlich. Die Durchschnittsprofitrate müsste demnach tendenziell in der Branche sinken, da zwar in festes Kapital investiert wurde, aber zugleich V und M nicht steigen müssen. Diese Argumentation ist - gerade bei »orthodoxen Marx-Interpreten« der Drehund Angelpunkt für die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus.

1. Problem bei der relativen Mehrwertsteigerung ist, dass sie nur über begrenzte Zeit funktionieren wird. Unternehmer A geht entweder unter oder wird sich ebenfalls neue Maschinen zulegen, um »mitzuhalten«, der Vorteil durch die relative Mehrwertsteigerung für den Kapitalisten ist damit hinfällig. Die Ware ist gesellschaftlich weniger wert. 2. Rationalisierungen oder »Produktivkraftsteigerung« führen dazu, dass mit

Absolute Mehrwertsteigerung - Die absolute Mehrwertsteigerung setzt bei dem Verhältnis zwischen V und M an. Diese Relation drückt sich in der so genannten Mehrwertrate (M geteilt durch V) aus. Dabei wird anhand der Arbeitsstunden verglichen, welcher Anteil der Arbeitszeit

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der Arbeiter für seine Reproduktion (Lohn) arbeitet und wie viele Arbeitsstunden dem Mehrwert des Kapitalisten zuzuschlagen sind. Wird zum Beispiel die wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden gesteigert ohne dass der Lohn erhöht wird, so hat der Kapitalist seine Mehrwertrate für sich günstiger gestaltet, da M steigt, V aber gleich bleibt. Auch die absolute Mehrwertsteigerung birgt immense gesellschaftliche Probleme: 1. Setzt man einmal voraus, dass der Kapitalist nicht automatisch mit einer absoluten Mehrwertsteigerung auch die Produktion ausweiten wird, weil das wesentlich davon abhängt, ob die Ware sich auf dem Warenmarkt entsprechend behaupten kann, führt die Steigerung logischerweise zur höheren Arbeitslosigkeit. Mit weniger Arbeitern kann so der gleiche Mehrwert geschaffen werden. Wirtschaftlich bedeutet das für den einzelnen Kapitalisten einen Vorteil. Andererseits - und das zeigt sich auch in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus - sinkt gesamtgesellschaftlich natürlich auf Dauer auch die Massenkaufkraft in der Bevölkerung. 2. Auch bei der absoluten Mehrwertrate gilt, dass eine Überproduktion oder Überakkumulation auftreten kann, bei der die Waren nicht mehr zu G’ verwertet werden können.

Transportkosten und die Buchhaltung. Dieser Band soll hier nicht näher betrachtet werden. Fakt ist aber, dass er auch heute noch interessante und wesentliche Fragen enthält. Als Beispiel ist die Frage zu benennen, ob Transport und Logistik als Wert in die Ware oder nur als Kostenfaktor eingeht. Der Komplex der Logistik und Transportkosten, aber auch der weltweiten Absatzmärkte hat für eine weltweit vernetzte Produktion der »Global Player« immense Bedeutung.

II. Die marxistische Krisenerklärung A. Die Besonderheit der Marxistischen Wirtschaftstheorie Anders als liberale Wirtschaftstheorien ist die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie eine Theorie, die von der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus als Normalfall ausgeht, gleichwohl es Prosperitätsphasen geben kann. Mit der Marxschen Erklärung von Krisen befinden wir uns in einer der umstrittensten und zugleich spannendsten Diskussionen marxistischer Theoriebildung. Grob gesagt, kann man dabei zwei wesentliche »Lager« in der Diskussion ausmachen:

Bevor Marx allerdings den tendenziellen Fall der Profitrate behandelt, wird im zweiten Band der Zirkulationsprozess, die Realisierung des Profits näher analysiert. Darunter zählen vor allem die Bedeutung der Umlaufzeiten, Zirkulations- und

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1. »Orthodox« argumentierende Marxisten beziehen sich in der Regel auf das »Gesetz zum tendenziellen Fall der Profitrate« als Erklärung für Krisen in der kapitalistischen Wirtschaft. Dieses Gesetz entwickelt Marx im dritten Band des Kapitals und soll demnach der wesentliche Grund sein, weshalb


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der Kapitalismus auf Dauer zusammenbrechen müsse. 2. »Unorthodox« argumentierende Marxisten beziehen sich in der Regel auf einen weiter gefassten Krisenbegriff. Dabei werden - so von Michael Heinrich - einerseits editorische Argumente2 geltend gemacht, wie inhaltlich darauf verwiesen, dass Marx im dritten Band des Kapitals durchaus unterschiedliche Begründungen für Krisen gebe. Vor allem der fünfte Abschnitt, der das zinstragende Kapital betrifft, gerät damit zusätzlich in den Blick. Im Folgenden werde ich zunächst die »klassische Erklärung« und danach die »modernere« Lesart vorstellen. Im zweiten Teil zu den marxistischen Grundlagen wird sich dann zeigen, dass die »modernere«, »unorthodoxere« Variante für die Erklärung der heutigen Tendenzen des Kapitalismus mehr beizutragen hat. B. Der tendenzielle Fall der Profitrate und der »Orthodoxe« Erklärung von Krisen Anders als liberale Wirtschaftstheorien oder aber auch die keynesianische Wirtschaftstheorien baut die marxistische Kritik an der politischen Ökonomie darauf auf, dass Krisen keine Ausnahme im kapitalistischen System sind, sondern logische Konsequenz. Das setzt eine Erklärung voraus, wie Krisen im Kapitalismus entstehen. Marx selbst hat dazu das »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate« entwickelt, das jenseits älterer Erklärungsmodelle begründen soll, warum die Durchschnittsprofitrate tendenziell sinkt und dies die regelmäßig eintretenden Krisen bedinge.

Im Kern geht es Marx dabei darum, dass Konkurrenzverhältnisse zwischen den Kapitalisten die Jagd nach Extraprofiten soweit antreibt, dass die gesellschaftliche Produktivkraftentwicklung angeheizt wird und sich immer aufs Neue verallgemeinert. Dies führt - wie oben bereits angedeutet zu sinkenden Werten, Überproduktion und auch zu einer gesunkenen Durchschnittsprofitrate. Arbeitslosigkeit und Verelendung sind die weiter gehenden Folgen. Zugleich wird es auf Dauer zu einer Überakkumulation und -produktion kommen, weil die produzierten Waren kaum noch verkauft werden können und damit der Tauschprozess GW- G’ noch vor der Realisierung des Profits unterbrochen wird. Die kapitalistische Produktivkraftentwicklung und der tendenzielle Fall der Profitrate sind ohne einander daher nicht zu denken. Allerdings ist Marx weit davon entfernt, ein einfaches Gesetz zu formulieren. Es handelt sich lediglich um einen tendenziellen Fall der Profitrate, dem im gesellschaftlichen Gesamtprozess auch Faktoren entgegen stehen. Überakkumulationskrisen in einzelnen Branchen lassen sich nicht unmittelbar auf die gesamte Wirtschaft übertragen. Die entscheidende Frage ist vielmehr immer, ob der Tausch2 Marx konnte selbst nur den ersten Band des Kapitals selbst herausgegeben. Der zweite und dritte Band wurde nach Marx’ Tod von Friedrich Engels (in ihrem mehr oder weniger ausgearbeiteten Zustand) zusammengestellt und geordnet. Im Bezug auf die Krisentheorie wird dabei deutlich, dass Engels mit der Anordnung und mit den Überschriften zu den Textteilen bereits das »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate« in den Vordergrund stellte, ohne dass das systematisch von Marx so gedacht gewesen sein muss (vgl. Heinrich 2001: 357f.).

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prozess, der Zirkulationsprozess, G-W-G’ gestört wird. Um die sinkende Profitrate zu erklären greift Marx auf ein Beispiel zurück. Dazu setzt er fest, dass der Arbeiter die Hälfte der Arbeitszeit für den Mehrwert und die Hälfte für seine Reproduktion arbeite. Er setzt dann pro Woche 100 Pfd. St. als variables Kapital an. Die entscheidende Frage ist nun, wie sich die Höhe des konstanten Kapitals auswirkt. Unter dieser Voraussetzung (einer Mehrwertrate m/v von 100%) ergibt sich folgende Profitrate: » Wenn c = 50, v = 100, so ist p’= 100/150 = 66 2/3 % Wenn c = 100, v = 100, so ist p’= 100/200 = 50 % Wenn c = 200, v = 100, so ist p’= 100/300 = 33 1/3 % Wenn c = 300, v = 100, so ist p’= 100/400 = 25 % Wenn c = 400, v = 100, so ist p’= 100/500 = 20 % « (MEW 25: 221) Wenn sich diese Profitrate in allen wesentlichen Sparten der Wirtschaft so entwikkelt, könne man dann eben auch von einer insgesamt sinkenden Durchschnittsprofitrate ausgehen: »Die im Eingang hypothetisch aufgestellte Reihe drückt also die wirkliche Tendenz der kapitalistischen Produktion aus. Diese erzeugt mit der fortschreitenden relativen Abnahme des varia-

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blen Kapitals gegen das konstante eine steigend höhere organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, deren unmittelbare Folge ist, daß die Rate des Mehrwerts bei gleichbleibenden und selbst bei steigendem Exploitationsgrad der Arbeit sich in einer beständig sinkenden allgemeinen Profitrate ausdrückt. (Es wird sich weiter zeigen, warum dies Sinken nicht in dieser absoluten Form, sondern mehr in Tendenz zum progressiven Fall hervortritt.) Die progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlicher Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit.« (MEW 25: 222f.) Bezieht man die gewöhnlichen konjunkturellen Wellen mit ein, ergäbe sich bei Marx’ Argumentation also folgendes Bild: Abnehmender Mehrwert, weniger Arbeitsplätze, steigende gesellschaftliche Produktivkraft. Entscheidender ist aber, dass die Mehrwertrate in einer Zusammensetzung noch nichts über den erzielten Profit aussagen muss: »In Ländern von verschiedener Entwicklungsstufe der kapitalistischen Produktion und daher von verschiedener organischer Zusammensetzung des Kapitals kann die Rate des Mehrwerts (der eine Faktor, der die Profitrate bestimmt) höher stehen in dem Lande, wo der normale Arbeitstag kürzer ist, als in dem, wo er länger. Erstens: Wenn der englische Arbeitstag von 10 Stunden seiner höhern Intensität wegen gleich ist einem österreichischen Arbeitstag von 14 Stunden, können bei gleicher Teilung des Arbeitstags 5 Stunden Mehrarbeit [gemeint ist »m«, tg] dort einen höheren Wert auf dem Weltmarkt dar-

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stellen als 7 Stunden hier. Zweitens aber kann dort ein größrer Teil des Arbeitstags Mehrarbeit bilden als hier.« (Marx 2003: MEW 25: 225) Mit anderen Worten: Die billige Polemik der Kapitalisten, die sich gerade heute in unsäglichen Standortdebatten seitens der Unternehmerverbände abbilden, greifen zu kurz: Nicht die Arbeitszeit oder die »Lohnnebenkosten« sind allein entscheidend, sondern die Produktivität, die sich in Lohnstückkosten ausdrücken lässt. Und dieser Stand gesellschaftlicher Produktivität hängt von sehr viel mehr ab, als die Standortdiskussionen behaupten (z. B. vom Bildungs- und Gesundheitssystem, den Absatzmärkten etc.). Allerdings sollte man sich klar machen, dass diesem tendenziellen Fall der Profitrate insgesamt sechs Ursachen entgegen wirken können: 1. Erhöhung des Exploitationsgrades der Arbeit 2. Herunterdrücken des Arbeitslohns unter seinen Wert 3. Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals 4. Die relative Überbevölkerung 5. Der auswärtige Handel 6. Die Zunahme des Aktienkapitals Marx kehrt diesbezüglich die Blickrichtung um: »Wenn man die enorme Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit selbst nur in den letzten 30 Jahren, verglichen mit allen früheren Perioden, betrachtet, wenn man namentlich die enorme Masse von fixem Kapital betrachtet, das außer der eigentlichen Maschinerie in die Gesamtheit des gesell-

schaftlichen Produktionsprozesses eingeht, so tritt an die Stelle der Schwierigkeit, welche bisher die Ökonomen beschäftigt hat, nämlich den Fall der Profitrate zu erklären, die umgekehrte, nämlich zu erklären, warum dieser Fall nicht größer oder rascher ist.« (MEW 25: 242) Die sechs entgegen wirkenden Ursachen, die einen rapiden Fall der Profitrate verhindern, beschreibt Marx näher: Erhöhung des Exploitationsgrades der Arbeit (MEW 25: 242-245) - Die Erhöhung der Mehrarbeit (absolute Mehrwertsteigerung) und Intensivierung der Arbeit (relative Mehrwertsteigerung) kann die Mehrwertrate insgesamt im Verhältnis zum steigenden konstanten Kapital vermehren. Sieht man sich die seit den 1980er Jahren immer wieder geführten Diskussionen um längere Arbeitszeiten an, so kann man die Brisanz unmittelbar erkennen. Herunterdrücken des Arbeitslohnes unter seinen Wert (MEW 25: 245) - Marx führt dieses Argument nicht näher aus, verweist allerdings auf den Konkurrenzaspekt, der nicht nur zwischen den Kapitalisten, sondern auch unter den Arbeitern (Stichwort: Reservearmee) wirkt. Auch hier hat die real seit den 1980er Jahren fallende Lohnentwicklung und die gleichzeitig steigende Arbeitslosenzahl einen empirischen Nachweis geliefert. Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals (MEW 25: 245f.) - Bei dem dritten Aspekt handelt es sich um das Vehältnis der Masse des konstanten Kapitals zu seinem Wert. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine starke Erhöhung der Masse nicht zwangsläufig bedeutet, dass der Wert dieser Masse im gleichen Maß

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steigt. Anhand eines Beispiels: Werden statt 10 CDs 1.000 CDs gepresst, so steigt der Wert des eingehenden Kapitals nicht zwangsläufig um das Hundertfache. Auch die Produktion der 1.000 CD-Rohlinge unterliegt einem Fall der Profitrate und damit der Verbilligung der Ware, so dass der Wert des eingebrachten fixen Kapitals insgesamt in der CD-Pressung geringer wird, zumal die Abnutzung der Maschinen bei höherer Produktion pro CD sinkt. Gerade in der modernen Massenproduktion, wie sie sich mit dem Fordismus durchgesetzt hat, führt dieser Aspekt zu einer günstigeren Konstellation in der Profitrate. Die relative Überbevölkerung (MEW 25: 246f.) - In entwickelten kapitalistischen Gesellschaften werden für die Produktion immer weniger Arbeiter benötigt. Dies wirkt sich nicht nur auf die Konkurrenz der Arbeiter aus (vgl. 2.), sondern auch darauf, dass neue Produktionszweige (mit anfänglich günstigerer Profitrate) aufgebaut werden können. Mit anderen Worten: Der angehäufte Reichtum und die gesellschaftliche Produktivkraft sind so hoch, dass nicht mehr die Arbeit aller notwendig ist, um die Reproduktion der Gesellschaft abzusichern. Arbeitslosigkeit ist insofern ein Anzeichen für (falsch verteilten!!!) Reichtum der Gesellschaft. Diese Arbeitslosigkeit kann aber in anderen gesellschaftlichen Arbeitsbereichen genutzt werden. Die Diskussionen um ein nachhaltiges Wachstum und gesellschaftlichen Innovationen haben in diesem Aspekt ihren theoretischen Ort. In dem Moment, wo die Umwelttechnologien und die Hochtechnologie beispielsweise in Deutschland gefördert werden, können hoch produktive Arbeitsplätze mit hohen Qualifizierungsniveaus geschaffen werden, die zugleich

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verhältnismäßig zu anderen Branchen eine positive Profitrate haben und dadurch insgesamt positiv wirken und zugleich ein gesellschaftlich zunehmend wichtiges Feld abdecken. Der auswärtige Handel (MEW 25: 247250) - Auch der auswärtige Handel kann für Marx ein stabilisierender Faktor sein: »Kapitale, im auswärtigen Handel angelegt, können eine höhere Profitrate abwerfen, weil hier erstens mit Waren konkurriert wird, die von anderen Ländern mit minderen Produktionsleichtigkeiten produziert werden, so daß das fortgeschrittenste Land seine Waren über ihrem Wert verkauft, obgleich wohlfeiler als die Konkurrenzländer. « (MEW 25: 247f.) Auch dieser Aspekt findet sich in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussionen wieder. Einfach gesagt: Der »Exportweltmeister Deutschland« fürchtet um seine Vorherrschaft, die durch eine höhere Produktivität zustande kommt. Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang in den Entwicklungstheorien und Handelsabkommen zu sehen. Dieser Aspekt bleibt aber hinter dem Blickpunkt der internationalen Solidarität ein nach wie vor problematischer Pfad, der hier nicht näher betrachtet werden kann. Die Zunahme des Aktienkapitals (MEW 25: 250) - Wenn Kapitalisten mit Aktienkapital arbeiten, so geht dieses Kapital zwar vollständig in den Produktionsprozess ein und wird dadurch für die Mehrwertproduktion nutzbar. Allerdings wird als Dividende nicht der Anteil des Profits gezahlt, sondern nur ein geringerer Anteil. Dadurch wird das konstante Kapital relativ zum Mehrwert insgesamt für den Kapitalisten gedrückt, ohne dass die Profitrate dies

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vom tatsächlich eingesetzten Kapital hergibt. Dieser - gerade für die heutige Zeit entscheidende Faktor wird bei Marx nicht näher ausgeführt. Ohne näher darauf einzugehen lässt sich aber feststellen, dass gerade das Aktienkapital einen nicht unwesentlichen Unsicherheitsfaktor darstellt, da die Aktienbesitzer ihrerseits durch Anund Verkauf Gewinne steigern wollen. Selbst bei diesen entgegen wirkenden Ursachen für eine lediglich progressiv fallende Profitrate sieht Marx allerdings einen tendenziellen Fall gegeben. Bevor wir eine vorläufige erste Bilanz für die sozialistische Strategie ziehen, müssen wir daher noch kurz auf die Entfaltung der »inneren Widersprüche des Gesetzes«, das fünfzehnte Kapitel des dritten Bandes und die Verteilung des relativen Profits in die Arten des gesellschaftlichen Reichtums eingehen. Die Formel der Profitrate enthält - und an dieser einen Stelle ist der Begriff berechtigt - eine widersprüchliche Entwicklung mit weit reichenden gesellschaftlichen Folgen: Auf der einen Seite wird der Mehrwert über menschliche Arbeit benötigt, der sich in Profiten realisieren kann, andererseits wird - um einen Extraprofit zu realisieren oder um mitzuhalten - die Produktivkraft ständig revolutioniert, womit die Arbeit entwertet wird. So »verlangsamt« der »Fall die Bildung neuer selbständiger Kapitale und erscheint so als bedrohlich für die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses, er befördert Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger Bevölkerung (...) Das wichtige aber in ihrem [der Ökonomen, tg] Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl,

daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktions-weise; bezeugt, daß sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist, vielmehr mit seiner Fortentwicklung auf gewisser Stufe in Konflikt tritt.« (MEW 25: 252) Marx hat damit eine Erklärung für eine offensichtlich paradoxe bzw. zynische gesellschaftliche Situation hergeleitet: Überakkumulation von Kapital, brachliegendes bzw. vernichtetes Kapital, »ungeheure Warensammlung« einerseits, neben extremer Armut und gesellschaftlicher Repression andererseits. Keine andere Wirtschaftstheorie ist in der Lage, die Gegensätze der Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhang so präzise zu beschreiben wie die marxistische. Für den Kapitalisten ergibt sich so das Risiko, zwar den Wert der Arbeitskraft exploitiert (also in der Ware vergegenständlicht zu haben), aber den Wert nicht als Profit realisieren zu können, wenn Waren nicht mehr zu einem vertretbaren Preis zu verkaufen sind, bei gleichzeitig vorangetriebener Produktivkraftentwicklung und erhöhten Produktionskapazitäten, die zur Notwendigkeiten führen, »den Markt beständig« auszudehnen (MEW 25: 253). Dieser Zwang zum Ausdehnen des Marktes hat Rosa Luxemburg später in den treffenden Begriff der »Landnahme des Kapitalismus« gefasst, der vor allem auf den Imperialismus bezogen war. Die imperiali-

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stische Politik im Vorfeld des Ersten Weltkriegs war demnach vor allem eine Auseinandersetzung um Absatzmärkte und Rohstoffe, also Landnahme von vorher nicht-kapitalistischen Milieus und Bereichen durch den Kapitalismus, die sein Überleben sichern. Allerdings reproduzieren sich Krisenzyklen selbst, da die Widersprüche eben auch widerstrebende Faktoren aufweisen. Entscheidend ist dabei letztendlich eine präzise Analyse der jeweiligen Krisenfaktoren, die zu einer Krise geführt haben. Stark verkürzt lassen sich mögliche Krisenzyklen in einem Schaubild darstellen, das allerdings nur die rudimentäre Marxsche Argumentation nachzeichnet. Gerade der volkswirtschaftliche Gesamtprozess lässt sich nur andeutungsweise bei Marx nachvollziehen, daher hat gerade die Krisentheorie und die gesamtwirtschaftliche Perspektive im 20. Jahrhundert in der marxistischen Theoriebildung großen Raum eingenommen. Diese Positionierung ist aber in der marxistischen Forschung durchaus umstritten.

C. Der tendenzielle Fall der Profitrate auf dem Prüfstand – »Unorthodoxe« Erklärung von Krisen Die Profitrate, wie sie von Marx entwickelt wird, ist umstritten, auch was den Stellenwert in Marx’ Kapital angeht. Neben den Versuchen nachzuweisen, dass der tendenzielle Fall der Profitrate genauso zutrifft (wie von ihm beschrieben), gibt es allerdings auch Positionen, die versuchen, eine allgemeinere Perspektive zu finden. Eine gute Argumentation findet sich bei Michael Heinrich (Heinrich 2004: 148-153; Heinrich 2001: 327-341). An dieser Stelle soll nicht in allen Einzelheiten die wissenschaftlich fundierte Kritik von Michael Heinrich nachvollzogen, sondern eine generelle Argumentationslinie skizziert werden. Wenn die relative Mehrwertproduktion, der Kampf um Extraprofite der Grund für den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate sein soll, so lassen sich drei allgemeine Bedenken und eine immanente Kritik gegen diese Schlussweise äußern:

Auf der folgenden Seite ist die »orthodoxe Krisenerklärung« nach Marx in groben Zügen in ein Schaubild gefasst. Dabei wird zwischen der Unternehmens- und Branchenebene einerseits und der gesamtwirtschaftlichen Ebene andererseits unterschieden. Dabei muss man sich klar machen, dass die Marxsche Krisentheorie im Dritten Band von ihm nicht konsistent durchgehend bearbeitet werden konnte, sondern der Text eine nachträgliche Zusammenfassung von Textteilen durch Friedrich Engels darstellt.

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1. Eine Durchschnittsprofitrate setzt an dem Vergleich einer Warenproduktion, quasi einer Branche, an. Marx Argumentation versucht also den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate an einer Kapitalie nachzuweisen und damit ein allgemeines Gesetz zu begründen. Man kann an dieser Stelle fragen, ob diese Verallgemeinerung auf eine Gesetzlichkeit tatsächlich angenommen werden kann. Dabei muss beachtet werden, dass die Krise sich im Kreislauf zwischen G-W-G’ abspielt und eine Unterbrechung zwischen Kapitaleinsatz, Produktion und Kapitalak-


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kumulation durch die Distribution der Ware sein muss. Diese Unterbrechung kann aber - neben brancheninternen Gründen der Konkurrenz - durchaus gerade in der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Branchen liegen. Damit wäre der tendenzielle Fall der Durchschnittsprofitrate eine durchaus logische Folgerung, wenn es um einzelne Branchen und die Konkurrenzverhältnisse zwischen den Kapitalisten geht, nicht aber die einzige Krisenerklärung. Jede Krise müsste dann gesondert untersucht und geklärt werden. 2. Eine Krisenerklärung kann nicht allein aus der Produktionssphäre erklärt werden, das unterschätzt wesentlich die Wechselwirkung zwischen den Branchen, aber auch andere Einflussfaktoren: Die Sphäre der Distribution (Verteilung von Waren), die staatliche Flankierung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Bedeutung des internationalen Finanzkapitals. 3. Eine weitere wesentliche Einschränkung ergibt sich durch die Einbeziehung mehrerer Produktionsbereiche: Gesellschaftliche Basisinnovationen (wie es die informationstechnologische Revolution seit den 1970er Jahren war), können über einen beschränkten Zeitraum eine wirtschaftliche Prosperität erlangen. Das Schaffen neuer Märkte, die »extensive Akkumulation«, kann wirtschaftliche Prosperität auch in anderen Branchen herbeiführen. Das ändert nichts daran, dass die beschriebenen Krisenphänomene Teil kapitalistischer Produktionsweise sind.

4. Michael Heinrich fügt seiner Erklärung allerdings auch noch eine immanente Kritik des tendenziellen Falls der Profitrate an, die hier - in sehr groben Zügen - nachvollzogen werden soll. Betrachtet man sich noch einmal die Formel der Profitrate, so bleibt eine wesentliche Relation bei dem tendenziellen Fall außen vor: Das Verhältnis von festem Kapital (C) zu variablen Kapital (V). Es wird nämlich vorausgesetzt, dass das feste Kapital so stark ansteigt, dass (V) und damit nachfolgend der Mehrwert nicht folgen können und dadurch insgesamt die Profitrate fällt. Das ist aber nur eine mögliche Entwicklung, keine zwangsläufige. Michael Heinrich verdeutlicht das durch eine mathematische Erweiterung: Er erweitert den Bruch der Profitrate um V (vgl. Heinrich 2004: 150): M M/V M/V –––––––– = ––––––––– = ––––––– C+V C/V + V/V C/V + 1 Diese mathematisch erweiterte Formel macht die Bedingung deutlich, unter der man annehmen kann, dass ein Gesetz zum tendenziellen Fall der Profitrate vorliegt. Das Gesetz setzt nämlich voraus, dass das Verhältnis von festem Kapital zum Lohn prinzipiell schneller steigen müsse als die Mehrwertrate und genau das - so meint Michael Heinrich - kann, muss aber nicht der Fall sein. Eine allgemeine Aussage über das Ausmaß des Steigens von c / v könne es nicht geben (Heinrich 2004: 151). Diese Argumentation lässt sich vielleicht an einem praktischen Beispiel besser nachvollziehen:

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In einem Unternehmen werden gleichzeitig neue Maschinen eingesetzt und auch die wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich pro Woche erhöht. Durch beide Maßnahmen wird das Verhältnis c/v und das Verhältnis m/v beeinflusst. Das eingesetzte feste Kapital steigt, während v sinkt. Allerdings steigt zugleich auch m an. Daher hängt es für die Entwicklung der Profitrate davon ab, wie sich das Verhältnis m / v und c / v+1 gestaltet. Das kann für den Einzelfall entwickelt werden, bedeutet aber noch kein allgemeines Gesetz für den tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate, schon gar nicht branchenübergreifend. Mit anderen Worten: Gelingt es dem Kapitalisten, die absolute Mehrwertsteigerung mit einer relativen zu verbinden, so kann die Profitrate trotz Entlassungen wieder steigen. Das ist allerdings eine Variante, die nicht zuletzt kulturell beschränkt ist. Das beste Beispiel für diese Diskussion ist die Wiedereinführung der 40 Stundenwoche: Diese kann zwar - wenn sie ohne oder über einen geringen Lohnausgleich durchgesetzt würde - kurzfristig eine durchschnittliche Profitrate in einer Branche stabilisieren, ändert aber an der Entwicklungsdynamik nur mittelfristig etwas. Da die Ausweitung des absoluten Mehrwerts auf natürliche und kulturelle Grenzen stößt und zudem von immensen sozialen Folgen und noch stärkerer Ausbeutung der ArbeiterInnen erkauft ist, kann es sich bei diesem Weg um keine wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung handeln. Für den weiter gefassten Krisenbegriff wird die Möglichkeit, dass es zu einem tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate kommt, nicht ausgeschlossen, nur, dass das eine nicht-umkehrbare und

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zwangsläufige auftretende Entwicklung sei, wird bestritten. Die Krisenursachen für (nicht-konjunkturelle, langfristige) Krisen müssen dann für jede historische Phase neu geprüft und dargestellt werden - Krisen sind nicht mehr monokausal zu erklären, sondern sind differenziert zu begründen, ohne dass damit die marxistische Argumentation obsolet geworden wäre. Mit dieser »Befreiung« von einer monokausalen Begründung ging auch einher, dass die weiteren Kapitel des dritten Bandes auf seine möglichen Krisenmomente überprüft werden. Eine zusätzliche Krisenquelle macht dann vor allem der fünfte Abschnitt zum» zinstragenden Kapital« deutlich, der vor allem Grundlagen über das Geldkapital und Bankenwesen enthält. Gerade für das 21. Jahrhundert, in dem von einem »finanzgesteuertem Akkumulationsregime « (Aglietta 2000) die Rede ist, beinhaltet dieses Kapitel einiges für die Diskussion. Vergleiche zu den weiteren Ausführungen die sehr gute Zusammenfassung bei Michael Heinrich (Heinrich 2004: 154-168). Der Ausgangspunkt ist dabei simpel und setzt an der bereits bekannten Formel an und erweitert diese: G - G - W - G’ - G« Ein Geldbesitzer leiht einem Produktionskapitalisten Geld, das dieser als Kapital in die Produktion einbringt. Von dem über die Produktion erzielten Mehrwert bzw. dem erzielten Profit wird dieser in einen Zins für den Geldkapitalisten und einen Unternehmergewinn für den Produktionskapitalisten aufgeteilt. Ob das verliehene Kapital danach zurückgezahlt wird oder

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nur der Zins ist zunächst unerheblich. Diese Konstruktion hat wesentliche Folgen auf das Bewusstsein der beiden Kapitalisten: Für den Geldkapitalisten stellt sich der Prozess verkürzt dar als G - G’. Geld wird hierbei direkt als Kapital eingesetzt. Für ihn stellt es sich so dar, als »arbeite« sein Geld. Dies trifft allerdings nicht zu, da sich der Zins nur aus dem Profit speist, der aus dem unbezahlten Mehrwert der Arbeiter stammt. Das Verleihen des Geldes, durch das es erst zum Kapital wird, belässt das Risiko jedoch beim Produktionskapitalisten, denn der Zins kann sich nicht nach dem tatsächlich realisierten Profit richten, sondern nach der vor dem Produktionsprozess abgeschlossenen Vereinbarung. Der Produktionskapitalist wird selbst den Eindruck gewinnen, für den Geldkapitalisten zu arbeiten. Es vollzieht sich also ein Bewusstseinswandel, den Marx drastisch beschreibt: »Es entwickelt sich daher notwendig in seinem Hirnkasten die Vorstellung, daß sein Unternehmergewinn - weit entfernt, irgendeinen Gegensatz zur Lohnarbeit zu bilden und nur um bezahlte fremde Arbeit zu sein - vielmehr selbst Arbeitslohn ist, Aufsichtslohn, wages of superintendence of labour, höherer Lohn als der des gewöhnlichen Lohnarbeiters, 1. Weil sie kompliziertere Arbeit, 2. weil er selbst den Arbeitslohn auszahlt. Das seine Funktion als Kapitalist darin besteht, Mehrwert, d. h., unbezahlte Arbeit zu produzieren, und zwar unter den ökonomischsten Bedingungen, wird vollständig vergessen«. (MEW 25: 393) Und man könnte noch für die heutige Zeit ergänzen: Dem Unternehmer scheint es so, dass der besondere Arbeitslohn schon dadurch gerechtfertigt wird, dass er allein das Risiko trägt.

Diese zunächst rein psychologische Beschreibung ist aber nur eine weniger entscheidende Folge: Viel wichtiger ist es Marx, die Wirkung des Zinskapitals und das Zusammenspiel zwischen ihm und dem Produktionskapital systematisch zu erklären. Dabei geht es vordringlich um die Höhe des Zinsfußes, der - anders als etwa der durch den Wert vorbestimmte, wenn auch nicht letztendlich festgelegte Tauschwert frei gewählt werden kann. Daher ist auch die Entwicklung des Zinsfußes sehr viel mehr an der Frage von Prosperität und Krise orientiert: »Wenn man die Umschlagszeiten betrachtet, worin sich die moderne Industrie bewegt - Zustand der Ruhe, wachsende Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krach, Stagnation, Zustand der Ruhe etc., Zyklen, deren weitere Analyse außerhalb unserer Betrachtung fällt - so wird man finden, daß meist niedriger Stand des Zinses den Perioden der Prosperität oder des Extraprofits entspricht, Steigen des Zinses der Scheide zwischen der Prosperität und ihrem Umschlag, Maximum des Zinses bis zur äußersten Wucherhöhe aber der Krisis. (...) Der Zinsfuß erreicht seine äußerste Höhe während der Krisen, wo geborgt werden muß, um zu zahlen, was es auch koste.« (MEW 25: 372f.) Dies hat - im ersten Zugriff - zur Folge, dass das Verleihgeschäft als eine Art »Durchlauferhitzer « und Krisenverschärfer wirkt, eine These, die man mit der Krise der New Economy und dem Platzen der Spekulationsblase nur unterstützen kann. Allerdings betont Marx zwei Faktoren, die den Zuwachs des Zinsfußes vermindern:

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1. Die Erbschaft von Geld und damit von potenziellem Geldkapital akkumuliert sich auf Dauer. Geldbesitzer und Produktionskapitalisten stützen den Akkumulationsprozess. Die Konkurrenz unter den Geldkapitalisten steigt. Wer sich die sich weiter dramatisch entwickelnde Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums in den Privathaushalten der Bundesrepublik in der heutigen Zeit ansieht, weiß auch, dass die Umverteilungsmechanismen und die Rekrutierung des Geldes als Kapital bestens funktioniert, in den seltensten Fällen zum Vorteil der privaten Haushalte. 2. Die zweite Entwicklung ist der Entwicklung des Kreditsystems geschuldet, das die zunehmende Zentralisierung von privaten Geldern als Geldkapital aus allen Klassen der Gesellschaft organisiert und voran treibt. Auch diese Entwicklung drücke den Zinsfuß. Der zweite Faktor wird in dem wesentlichen Kapitel des Kredit- und Bankenwesens weitergeführt, das heute - in Zeiten eines global agierenden Finanzsektors zentrale Bedeutung erlangt. Auch bezogen auf die Banken führt Marx die Analyse auf einen einfachen Kern zurück: »Mit der Entwicklung des Handels und der kapitalistischen Produktionsweise, die nur mit Rücksicht auf die Zirkulation produziert, wird diese naturwüchsige Grundlage des Kreditsystems erweitert, verallgemeinert, ausgearbeitet. Im großen und ganzen fungiert das Geld hier nur als Zahlungsmittel, d. h., die Ware wird verkauft nicht gegen Geld, sondern gegen ein schriftliches Versprechen der Zahlung

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an einem bestimmten Termin.« (MEW 25: 413). Damit greift ein weiterer Akteur in den Wechsel von Geld(kapital) ein: »Im Anschluß an diesen Geldhandel entwickelt sich die andere Seite des Kreditwesens, die Verwaltung des zinstragenden Kapitals oder Geldkapitals, als besondere Funktion der Geldhändler. Das Borgen und Verleihen des Geldes wird ihr besondres Geschäft. Sie treten als Vermittler zwischen dem wirklichen Verleiher und dem Borger von Geldkapital. (...) Ihr Profit besteht im allgemeinen darin, daß sie zu niedrigen Zinsen borgt, als sie ausleiht.« (MEW 25: 415f.) Dabei gibt es beim Kreditgeld (heute Buchgeld genannt) eine Verdoppelung (vgl. MEW 25: 413ff.): Einerseits wechselt das tatsächliche Geldkapital seinen Besitzer, andererseits gibt es einen Schuldschein, der seinerseits weiter gehandelt werden kann. Damit entsteht Geld »aus dem Nichts« heraus und kann ebenso schnell wieder verschwinden, wenn es beim Borger eingelöst wird: »Zahle ich 100 Euro Bargeld auf mein Konto ein, dann befinden sich die 100 Euro Bargeld in der Kasse der Bank (und können von der Bank z. B. für einen Kredit verwendet werden); zugleich wächst mein Kontoguthaben, über das ich per Scheck oder Überweisung verfügen kann, um 100 Euro. Zusätzlich zu den 100 Euro Bargeld, die aus meiner Tasche in die Kasse der Bank wanderten, sind also 100 Euro Buch- oder Kreditgeld auf meinem Konto neu entstanden.« (Heinrich 2004: 160) Kreditgeld ist vor allem ein Phänomen des Bankenwesens, zumal das Bargeld, das eine Bank halten muss, sehr gering ist. Zudem kann die Zentralbank frei von Beschränkungen von einem materiellen Gegenwert

Die Weiterentwicklung zum Kapital Argumente 3/2011


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Geld produzieren und damit den Banken Kredite verschaffen. Durch den Wegfall der Koppelung an materielle Ressourcen (Goldreserven) haben die Banken an Flexibilität gewonnen, ohne dass dies Krisen verhindern könnte. Diese Flexibilität schafft zugleich einen neuen Machtfaktor der Kreditvergabe. Zugang zu Kapital und die kapitalistische Steuerung funktioniert zunehmend über Kreditgeld. Dabei müssen die Geldvermittler selbst Gewinnzusagen einhalten - das Geschäft stellt sich für sie ebenso als gefährlich heraus. Die Diskussion um die Sicherheit bei der Vergabe von Krediten ist dann auch ein wesentliches Thema für Banken, wie die Verhandlungen von Basel I und II zeigen. Ein zweiter Weg sich Kapital zu schaffen ist das Aktienkapital. Aktien sind Unternehmensanteile, mit denen man einen Anspruch gegen das Unternehmen erwirbt (Stimmrecht auf der Aktionärsversammlung) und ein Anteil am Gewinn (Dividende). Allerdings handelt es sich bei Aktien nicht um einen festen Unternehmensanteil, sondern einen relativen: Verkauft man seinen Anteil, so tut man das zu den aktuellen marktüblichen Preisen der Börse, die mit dem wahren Wert des Unternehmens nichts zu tun haben. Die Börsenkurse richten sich viel mehr nach den Erwartungen an die Gewinne des Unternehmens in der Zukunft. Damit handelt es sich bei Aktien ebenso um eine Verdoppelung des Kapitals (vgl. Heinrich 2004: 163): Das an das Unternehmen fließende tatsächliche Kapital, das in den Produktionsprozess eingebracht wird und andererseits das Zahlungsversprechen an den Aktienbesitzer. Marx fasst die Ansprüche (Kreditgeld, Aktien, fest verzinsliche Wertpapiere) als «fik-

tives Kapital» zusammen. Das fiktive Kapital »beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts« (MEW 25: 457). Gleichzeitig ist es aber auch der »Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel« (MEW 25: 457) und »beschleunigt die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, der Krisen« (MEW 25: 457): »Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.« (MEW 25: 457) Zwar kann dieses Kapital eingelöst werden, es materialisiert sich aber nur, wenn Geld aus dem Zirkulationsprozess herausgenommen wird. In welcher Höhe es sich materialisiert bzw. materialisieren kann, ist dabei nicht festgelegt. Diese Entkoppelung vom tatsächlichen Wertschöpfungsprozess führt dazu, dass fiktives Kapital an der Börse in kürzester Zeit geschaffen, aber auch vernichtet werden kann. Zur Unsicherheit führt das vor allem dann, wenn Unternehmen damit in kurzer Zeit eingeplantes Kapital für die Investition verlieren oder wenn sie Aktienwerte als Sicherheit für Kredite einbringen wollen (vgl. Heinrich 2004: 164). Die Steuerung des fiktiven Kapitals wird so immer mehr zur Steuerung des Kapitalflusses allgemein. Insofern bildet das fiktive Kapital eine weitere Quelle für kapitalistische Krisen, da es die Möglichkeit, die Zirkulation von Kapi-

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tal zu unterbrechen, noch weiter erhöht. Damit wäre in einer weiter gefassten Krisendefinition zunächst festzustellen, dass die Unterbrechung der Kapitalzirkulation als Krise auftritt: Wie allerdings konkret die Gründe der Krise sind, lässt sich nur bei genauerer Analyse der jeweiligen Krise feststellen. Festzuhalten bleibt, dass fiktives Kapital nicht automatisch krisenverschärfend wirken muss: Es ermöglicht auch, dass in neuen innovativen Branchen schneller Kapital zur Verfügung steht. Betrachtet man sich aber andererseits, wie stark Aktienmärkte in die Unternehmenssteuerung eingreifen und Arbeitsplätze vernichten, wird der Unsicherheitsfaktor und die krisenverschärfende Wirkung sehr viel höher zu bewerten sein. So sollte man aus dem Kreditsystem keinen Heilsbringer machen: »Die dem Kreditsystem immanenten doppelseitigen Charaktere; einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeiter, zum reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem zu entwickeln (...); andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden, - diese Doppelseitigkeit ist es, die den Hauptverkündern des Kredits (...) ihren angenehmen Mischcharakter von Schwindler und Prophet gibt.« (MEW 25: 457) Mit einem weiter gefassten Krisenbegriff verbindet sich auch, dass sich eine Zusammenbruchstheorie nicht mehr anbietet: Eine finale Krise, die durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate zustande kommen soll, ein natürlich ablaufender Prozess des Zusammenbruchs ist eben nicht vorhersagbar. Das erhöht den Druck, politisch aktiv zu werden.

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