Argumente 3/2012 Wirtschaft

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Oktober 2012

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Argumente 3/2012 Wirtschaft


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ARGUMENTE 3/2012 Wirtschaftspolitik

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


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INHALT

Intro: Wirtschaftspolitik ........................................................................................... 4 von Jan Schwarz, Matthias Ecke und Katharina Oerder, Mitglieder der Redaktion

Magazin Hebt das Niveau! ..................................................................................................... 8 von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender Sammelrezension: Arbeiterfußball zwischen Akzeptanz und Scheitern ............. 14 von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand, Lünen

Schwerpunkt Die Ursachen der gegenwärtigen Krise in Europa .............................................. 18 von Dr. Thomas Sablowski, Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sozialdemokratisches Wirtschaftsverständnis für die Bundestagswahl .............. 24 von Hilde Mattheis, MdB, Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21 Gleichstellung in der Wirtschaft – Das Primat des Ökonomischen überwinden ........................................................ 29 von Helga Schwitzer, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall

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Inhalt Argumente 3/2012


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Sozialpolitik und Wirtschaft .................................................................................. 36 Von Dr. Florian Blank, Referatsleitung „Sozialpolitik“ der Hans-Böckler-Stiftung Soziales Wachstum ................................................................................................ 42 Von Dr. Michael Dauderstädt, Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Perspektiven der Gewerkschaften in europäischen Krisenzeiten ....................... 48 von Kai Burmeister, Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall Stuttgart, Mitglied der SPW-Redaktion Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie ............................................................. 57 von Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Hochschullehrer für Wirtschaftswissenschaft an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Staatliche Handlungsfähigkeit sichern, Binnennachfrage stärken ...................... 66 von Jan Stöß, SPD-Landesvorsitzender Berlin Linke Wirtschaftspolitik.......................................................................................... 71 von Bettina Schulze, Sebastian Roloff und Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

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INTRO: WIRTSCHAFTSPOLITIK Von Jan Schwarz, Matthias Ecke und Katharina Oerder, Mitglieder der Redaktion

„Wir arbeiten für nachhaltigen Fortschritt, der wirtschaftliche Dynamik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Vernunft vereint. Durch qualitatives Wachstum wollen wir Armut und Ausbeutung überwinden, Wohlstand und gute Arbeit für alle ermöglichen und dem bedrohlichen Klimawandel begegnen. Es gilt, die natürlichen Lebensgrundlagen auch für künftige Generationen zu sichern und die Qualität des Lebens zu verbessern. Dafür wollen wir die Möglichkeiten des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts in den Dienst der Menschen stellen.“ So steht es in der Einleitung des Hamburger Grundsatzprogramms der SPD. Was dies genau heißt und wie dies erreicht werden soll, war, ist und bleibt eine der strittigsten Fragen in allen politischen Diskussionen. Auch bei uns Jusos werden diese Themen ständig bearbeitet und weiterentwikkelt. Mit diesem Argumente wollen wir sowohl tagesaktuelle Fragen, als auch Themen behandeln, die über die Alltagspolitik hinausgehen und Perspektiven für eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus eröffnen.

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Intro: Wirtschaftspolitik Argumente 3/2012

Die ökonomische Analyse muss Ausgangspunkt unserer politischen Arbeit sein. Dabei verstehen wir Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft als ein zusammenhängendes System, das sich historisch durch die Produktivkraftentwicklung und die Auseinandersetzung verschiedener Interessen herausgebildet hat. Wertschöpfung und Arbeitsbeziehungen haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Solche Brüche führen zu Kräfteverschiebungen sowohl zwischen Kapital und Arbeit, als auch innerhalb der Kapitalfraktionen. Diese Voraussetzungen bestimmen die notwendigen Ansätze zur Veränderung, aber auch Möglichkeiten Politik zu gestalten. Jede Analyse bleibt wirkungslos, wenn aus ihr nicht eine von Werten geleitete Politik entspringt. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Ziele die wir mit unserer Wirtschaftspolitik verwirklichen wollen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle am Wohlstand und dessen Produktion gerecht und selbstbestimmt beteiligt sind. Dafür ist eine grundsätzliche Transformation unseres Wirtschaftssystems notwendig, nur so kann die Demokratisierung aller Lebensbereiche erreicht werden. Da-


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für muss das Kräfteverhältnis wieder zu Gunsten der ArbeitnehmerInnen verschoben werden und die politischen und betrieblichen Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Hierfür ist die Verankerung von Fortschritts- und Gestaltungswillen erforderlich.Nur durch individuelle Emanzipation und über das Erleben von Fortschritten durch gemeinsame Anstrengungen wird es Mehrheiten für progressive Entwicklungen geben. Erwerbsarbeit nimmt eine Schlüsselstellung innerhalb der Gesellschaft ein. Über sie wird die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft und der Macht- und Reichtumsverteilung vermittelt. Erwerbsarbeit ist zentral für gesellschaftliche Teilhabe und Fortschritt. In allen bisherigen historischen Epochen haben Menschen ihre Reproduktion selbst erarbeiten wollen. Durch die Teilhabe an einem Prozess, der die materiellen Lebensgrundlagen schafft und Verbesserungen der Lebensbedingungen anstrebt, wird soziale Anerkennung vermittelt. Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen spielen gerade in der heutigen Zeit die verschiedenen Krisen eine Hauptrolle. Dies spiegelt sich auch in vielen Beiträgen dieses Heftes wieder. Bei der Eurokrise schlägt nun vor allem die Finanz- und Bankenkrise von 2008 durch. Nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA stand das Weltfinanzsystem vor dem Kollaps. Dieser konnte nur durch massive staatliche Rettungspakete abgewendet werden. Dabei ist nichts anderes passiert, als dass die Staaten die Spekulationsrisiken der Banken und Investoren übernommen haben und so die Belastungen auf die Steuerzahler übertragen wurde. Anstatt danach die Finanzmärkte strenger zu regulieren, wurde das Spiel neu eröffnet und die Spe-

kulation mit billigem Geld noch befeuert. Dann hat vor gut eineinhalb Jahren die Eurokrise mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands begonnen. Da zunächst Hilfe verweigert und nur nach und nach Rettungsmaßnahmen angeschoben wurden, breitete sich die Krise auf immer mehr Länder aus. Noch immer ist kein Ende in Sicht, ja bei den Regierungen noch nicht einmal der ernsthafte Wille erkennbar, den Euro zu verteidigen. Wir brauchen eine Strategie für nachhaltigen Beschäftigungsaufbau in Europa. Dazu benötigt es nachhaltiger Wachstumsimpulse etwa durch europaweite Investitionsprogramme. Dabei reichen kurzfristige Strohfeuer nicht aus. Vielmehr müssen die Staaten ihre Ausgaben auf hohem Niveau angleichen, etwa um damit Investitionen in Bildung, soziale Sicherung oder im Bereich nachhaltiger Energie sicherstellen zu können. Um dies zu ermöglichen bedarf es einer verbindlichen europaweiten Stärkung der Einnahmen der öffentlichen Haushalte. Die Finanztransaktionssteuer reicht aber alleine nicht aus. Wir wollen eine Mindestbesteuerung von Unternehmen sowie hoher Vermögen, um die finanzielle Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Eine neue europäische Währungspolitik muss mit der Zielsetzung verbunden sein, die Beschäftigung zu fördern, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und private Banken und deren Geldschöpfung stärker zu kontrollieren. Zudem sollte es künftig ermöglicht werden, dass die Europäische Zentralbank Kredite direkt an Staaten vergibt.

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Zu den einzelnen Beiträgen Thomas Sablowski betrachtet die Ursachen der Finanz- und Eurokrise. In der gegenwärtigen Krise in Europa verdichten sich konjunkturelle und strukturelle, regionale und globale Krisenmomente. In der bürgerlichen Öffentlichkeit werden die Krisenursachen auf das Problem der staatlichen Überschuldung und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands und anderer Krisenländer reduziert. Diese ideologische Deutung dient vor allem dazu, die herrschende Krisenpolitik zu rechtfertigen. Hilde Mattheis geht in ihrem Beitrag auf die aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten innerhalb der SPD ein. Die Wählerinnen und Wählern müssen der SPD vertrauen können, dass sie die Wirtschaftspolitik im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums und mit dem Ziel einer gerechten Verteilung des erwirtschafteten Reichtums politisch gestaltet. Die SPD muss den Mut haben, sozial ausgewogene Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie den Vermögenden weh tun. Ohne diesen Mut wird es nicht gelingen, die Sozialdemokratie wieder als Partei der sozialen Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und des Fortschritts aufzustellen. Helga Schwitzer beschreibt, wie groß Defizite bei der Gleichstellung der Geschlechter in der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt und insbesondere in der Wirtschaft immer noch sind. Frauen werden in der Arbeitswelt gleich mehrfach diskriminiert. Ihre Berufs- und Aufstiegschancen sind schlechter als die von Männern, ihre Entgelte sind im Schnitt geringer und Frauen sind viel häufiger als

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Intro: Wirtschaftspolitik Argumente 3/2012

Männer prekär stellt sie einen katalog an die Gleichstellung sollte.

beschäftigt. Des Weiteren umfassenden ForderungsPolitik auf, mit dem die vorangetrieben werden

Florian Blanks Artikel erläutert die Zusammenhänge und die Bedeutung eines umfassenden Sozialstaates für das Funktionieren der Wirtschaft. Sozialpolitik hat ihren Kern in der Regulierung der Wirtschaft – insbesondere des Arbeitsmarkts – und in der Verteilung oder Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Sozialpolitik ist ein Eingriff in das „freie“ Spiel der Marktkräfte. Sie zielt auf Verteilungsergebnisse ab, die der Markt alleine nicht erzielt hätte. Michael Dauderstädt fasst die Ergebnisse des FES Projektes „Soziales Wachstum“ zusammen. Dieses Wachstumsmodell grenzt sich im gesellschaftlichen Diskurs gegen viele andere Vorstellungen und Einstellungen zum Wachstum ab. Soziales Wachstum betont den Binnenmarkt, den Ausbau sozialer Dienstleistungen und eine gerechtere Einkommensverteilung. Positive Effekte auf die ökologische Nachhaltigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ergeben sich vor allem durch Produktivitätsgewinne und den Strukturwandel zu weniger ressourcenintensiven Aktivitäten. Kai Burmeister beschreibt die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für Gewerkschaftsarbeit in Deutschland und Europa. Die Funktion der Gewerkschaften liegt in der Durchsetzung verbesserter Einkommens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten. Dies kann nur unter Berücksichtigung der aktuellen Si-


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tuation und Diskurse geschehen. Er wirbt für die Eroberung der Deutungshoheit in der Krise und umfassende Reformen, die die Stellung der ArbeitnehmerInnen überall in Europa verbessern.

ge Projekte, sondern denken auch immer die Systemfrage mit.

Heinz-J. Bontrup entwickelt eine Perspektive der Wirtschaftsdemokratie. In parlamentarischen Demokratien ist die Wirtschaft im Gegensatz zum Staat nicht demokratisch organisiert.Wirtschaftsdemokratie ist die Basis für einen demokratischen Sozialismus. Sie umfasst auch die wirtschaftliche Meso- oder Markt- und Branchenebene als auch die staatliche Makroökonomie, also die gesamtwirtschaftliche Ebene. Jan Stöß legt den Schwerpunkt seines Beitrages auf Notwendigkeit, staatliche Handlungsfähigkeit überall in Europa wieder herzustellen. Während in den vergangenen Jahrendie Wohlhabenden ihren Wohlstand trotz Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Euro-Krise vergrößern konnten, musste die große Masse der Menschen Kaufkraftverluste hinnehmen. Und trotz der nach wie vor prosperierenden Wirtschaft weisen die öffentlichen Haushalte teilweise hohe Defizite aus. Deshalb muss die Bundestagswahl 2013 zu einer echten Richtungsentscheidung werden. Bettina Schulze / Sebastian Roloff / Jan Schwarz stellen in ihrem Beitrag die aktuelle Beschlusslage der Jusos zu wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen vor. Die ökonomische Basis ist entscheidend für die Verhältnisse in denen wir arbeiten und leben. Sie ist der wichtigste Ansatzpunkt zur Umsetzung unserer politischen Vorstellungen. Wir beschränken uns dabei nicht nur auf die Alltagspolitik und mittelfristi-

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HEBT DAS NIVEAU! Von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender

Magazin

In diesem Herbst wird mit der Frage der zukünftigen Ausrichtung der Rentenpolitik in der SPD eine der letzten „großen Baustellen“ für die Aufstellung zur Bundestagswahl im kommenden Jahr bearbeitet. Bereits auf dem Bundesparteitag 2011 hatten wir Jusos dabei einen Antrag gestellt, der es zum Ziel hatte, das Rentenniveau auf dem derzeitigen Stand zu stabilisieren. Dieser wurde an eine Kommission verwiesen, die freilich niemals eingerichtet wurde. Nun soll der Parteivorstand ein Konzept vorlegen und es auf dem Parteikonvent Mitte November einbringen. Mit meinem Beitrag möchte ich zunächst einige Hintergründe und Fakten zur Debatte liefern. Im zweiten Teil werde ich anhand von fünf Thesen aufzeigen, warum wir weiterhin das Ziel verfolgen sollten, das Rentenniveau zumindest nicht weiter absinken zu lassen. Wenn man von einer der letzten „Baustellen“ schreibt, wird klar, dass es sich bei der Ausrichtung in der Rentenpolitik auch um

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Hebt das Niveau! Argumente 3/2012

ein letztes Stück der Aufarbeitung der eigenen Regierungsvergangenheit handelt. Das Stichwort „Rente mit 67“ ist noch immer einer der zentralen Begriffe, die mit der desaströsen Wahlniederlage 2009 in Verbindung gebracht werden. Man kann aber erstens darüber streiten, wie viel diese eine isolierte Entscheidung mit der Wahlniederlage zu tun hatte. Und zweitens hat die SPD zur Regelaltersgrenze bereits einen Kompromiss gefunden. Nein, es geht um eine ganz andere Reform, die bereits relativ zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit beschlossen wurde. Bekannt ist sie unter dem Stichwort „Riester Rente“, was aber ein wenig in die Irre führt, stellt dieser Begriff doch nur auf die Förderung privater Altersvorsorge ab. Letzteres war in der Tat die eine Seite der Medaille. Sie sollte aber nur zur Kompensation einer ganz anderen Entscheidung, nämlich der systematischen Absenkung des Rentenniveaus von knapp 60 bis auf rund 40 Prozent des Bruttoeinkommens im Arbeitsleben im Jahr 2030 in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), dienen. Die Motivation hinter diesem Vorhaben lag in der


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Einschätzung, dass bei unverändertem Rentenniveau und dem sich abzeichnenden demographischen Wandel der Beitragssatz in eine nicht mehr zu tolerierende Höhe steigen würde. Damit wurde ein grundlegender Paradigmenwechsel abgeschlossen. War das primäre Ziel der Rentenpolitik bis zur Mitte der 90er Jahre noch die Gewährleistung einer Lebensstandardsicherung im Alter, lag bzw. liegt das Ziel nunmehr in der Stabilität der Beiträge. Um weiterhin den Lebensstandard im Alter halten zu können, bedarf es nunmehr einer privaten und/oder betrieblichen, ergänzenden Vorsorge (man spricht deshalb auch vom Drei Säulen Modell), die aber staatlich gefördert werden. Das vorher komplett solidarisch abgesicherte „Risiko“ des Alters wurde damit teilweise privatisiert. Heute, rund zehn Jahre nach der Reform zeichnen sich erste Ergebnisse ab. Zunächst: Der Beitragssatz ist stabil geblieben, das Rentenniveau dafür bereits auf rund 50 Prozent gesenkt worden. Das Vorhaben aber, die entstehende Lücke über zusätzliche private und betriebliche Vorsorge zu schließen ist nicht aufgegangen. Zwar ist die Zahl der Personen, die über zumindest eine der beiden zusätzlichen Säulen verfügen, gestiegen: Es können aber längst nicht alle im Alter darauf zurückgreifen. Von Betriebsrenten profitieren eher Menschen, die in größeren Betrieben tätig sind. Viele kleinere und kleinste Unternehmen, insbesondere im Dienstleistungsbereich, können oder wollen ihren Beschäftigten trotz aller steuerlicher Förderung keine entsprechenden Angebote machen. Auch mangelt es in diesen Bereichen oftmals an einer betrieblichen oder tariflichen Mitbestimmung, die aber eigentlich die Voraussetzung dazu ist, in einem Tarifvertrag oder einer Betriebsver-

einbarung entsprechende Leistungen einzufordern. Bei den sogenannten RiesterVerträgen wiederum ist auffällig, dass insbesondere die einkommensschwachen Haushalte keine private Vorsorge abschließen, da sie es sich nicht leisten können oder wollen. Dagegen profitieren die höheren Einkommensgruppen von der staatlichen Förderung, da sie den Betrag, den sie zumeist schon vorher gespart und angelegt haben, nun einfach in einen Riestervertrag verwandelt haben. Das alles ist zumindest zutiefst ineffizient. Diese Faktenlage hat zwei Wirkungen. Erstens wird bei unveränderter Politik das Problem der Altersarmut deutlich zunehmen. Sicherlich, dafür ist nicht nur die GRV zuständig. Wer sein Leben lang zu Niedriglöhnen gearbeitet hat, wird auch im Alter arm sein. Es bedarf zur Bekämpfung von Altersarmut also zuallererst auch einer vernünftigen Arbeitsmarktpolitik, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse eindämmt. Schon heute liegt eine Rente für eine Person, die 40 Jahre mit einem Einkommen in der Höhe des Mindestlohns gearbeitet hat weit unter der Grundsicherung im Alter. Man kann sich ausmalen, was das heißt, wenn das Rentenniveau nur noch 40 Prozent des bisherigen Bruttoeinkommens beträgt und die betroffene Person weder auf eine betriebliche noch auf eine private Altersvorsorge zurückgreifen kann. Frauen, die weitaus häufiger teilzeiterwerbstätig sind als Männer und ihre berufliche Laufbahn häufiger unterbrechen, werden in diesem Einkommensbereich übrigens noch weitaus schlechter dastehen. Und zweitens kann die GRV aus sich heraus nicht mehr den Lebensstandard sichern (das war ja auch das direkte Ziel der Rentenreform), was insbesondere die untere Mittelschicht treffen dürfte. Wer dage-

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gen über ein hohes Einkommen verfügt, kann weitgehend sorglos in die Zukunft blicken, dürfte er oder sie doch über eine betriebliche und/oder private Altersvorsorge verfügen. Wer darüber aus den genannten Gründen nicht verfügt und beispielsweise ein Durchschnittseinkommen von rund 2.100 Euro hat, würde nach 40 Jahren Berufstätigkeit auf rund 660 Euro Rente kommen. Frauen, die in der Regel wegen Kindererziehungs- oder Pflegezeiten auf weniger Beitragsjahre kommen, würden z. B. nach 35 Jahren Erwerbstätigkeit bei gleichem Lohn auf rund 578 Euro kommen. Das alles bedeutet: Mit der gesetzlichen Rentenversicherung allein ist nicht nur von der Lebensstandardsicherung nicht mehr sprechen, nein, sogar die Mittelschicht fällt in Altersarmut, handelt es sich doch in beiden Fällen um eine Rente, die unter der Grundsicherung im Alter liegt. Nun ließe sich einwenden: Die Menschen sollen deswegen ja privat und/oder betrieblich vorsorgen. Das ist richtig. Man kann aber hier die Frage stellen, wie beispielsweise die Alleinerziehende mit zwei Kindern, die über 2.100 Euro brutto im Monat verfügt, neben den Ausgaben für Miete, Nahrung, Kleidung, Energie usw. (vielleicht möchte sie ja auch einmal in den Urlaub fahren) auch noch monatlich 100 Euro zurücklegen soll. Denn das müsste sie, um in den Genuss der Riesterförderung zu kommen. Vor diesem Hintergrund wird die Frage des Rentenniveaus in der SPD derzeit geführt. Um es klar zu machen: Ich spreche mich dezidiert für zumindest eine Beibehaltung des derzeitigen Rentenniveaus von rund 50 Prozent in und durch die GRV aus. Dafür sprechen aus meiner Sicht fünf zentrale Gründe:

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1. Es geht um unserer Grundwerte und den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte der SPD. Vor dem Hintergrund dieser Werte ist die Schaffung eines Sozialstaats, der die großen „Lebensrisiken“ solidarisch absichert, eine historische Errungenschaft, für die SozialdemokratInnen lange Zeit gekämpft haben. Denn neben dem angesprochenen Prinzip der Solidarität sind mit einem solchen Sozialstaat auch die beiden anderen Grundwerte angesprochen: Nur wer über ein gewisses Maß an sozialer Absicherung verfügt, hat auch die Entscheidungsfreiheit zum Beispiel den Arbeitsplatz zu wechseln, wenn es ein schlechter Arbeitsplatz ist. Sofern ich aber auch für die Alterssicherung auf meinen derzeitigen Arbeitsplatz angewiesen bin (weil ich z. B. die Betriebsrente nur erhalte, wenn ich 10 Jahre in meinem Betrieb tätig bin), schränkt das meine Freiheit ein. Die Gesetzliche Rentenversicherung als kollektives Sicherungssystem sorgt also dafür, dass ich die Freiheit habe, meinen Arbeitsplatz zu wechseln oder auch meinen Wohnort. Und dass es bei der Frage der Rente auch immer um die Frage der sozialen Gerechtigkeit geht, gilt gleich in mehreren Dimensionen. Es ist zum Beispiel eine Frage der Gerechtigkeit und sozialdemokratisches Prinzip, allen Menschen ein würdevolles Leben ohne Armut zu gewährleisten. Und die Anforderung, dass eine Person, die 40 Jahre lang (hart) gearbeitet hat nach dem Erwerbsleben mehr haben muss als eine Person, die niemals gearbeitet hat, dürfte auch das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen berühren. Und ist es etwa gerecht, dass wir bei fortgeschriebener Entwicklung


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künftig einige wenige ältere Menschen haben werden, die sehr viel haben (die Vermögenden) und auf der anderen Seite sehr viele, die über sehr wenig bis gar nichts verfügen, wobei man sie nun beim besten Willen nicht als „faul“ bezeichnen kann? Kurz und gut: Wenn wir über die Rente sprechen, sprechen wir auch über unsere Grundwerte und ob wir diese nur im Grundsatzprogramm wie eine Monstranz vor uns hertragen oder sie auch in praktischer Politik anwenden wollen. Sicherlich, man kann darüber streiten, ob das jetzige Rentensystem wirklich das Beste aller möglichen ist. Man kann sich z. B. gut begründet auf den Standpunkt stellen, dass man eine stärkere Steuerfinanzierung haben möchte, um noch bessere Umverteilung organisieren zu können. Oder man kann ebenso plausibel kritisieren, dass das jetzige Rentensystem im Kern auf die Bismarcksche Sozialgesetzgebung zurückzuführen ist und deswegen unter anderem sehr stark an einem konservativen Familienbild orientiert ist. Das alles ändert aber nichts daran, dass erstens unsere Grundwerte und damit auch unsere Zielvorstellungen für ein Alterssicherungssystem wohl keineswegs altmodisch sind sowie zweitens der jetzige Zustand untragbar ist. 2. Es geht nicht um Generationen, sondern um Verteilungsgerechtigkeit. Immer wieder hört man, dass Rentenkürzungen nun mal unausweichlich seien, weil man vor dem Hintergrund des demographischen Wandels der jüngeren oder auch künftigen Generationen die Lasten nicht mehr zumuten könne. Doch das ist aus gleich drei Gründen ein Scheinargument. Erstens ist mit der Kombination aus

Rentenkürzungen in der GRV und einer teilweisen Privatisierung das Problem des demographischen Wandels nicht aus der Welt. In jeder Gesellschaft und jedem Alterssicherungssystem gilt, dass die arbeitende die nicht arbeitende Generation versorgen muss. Das wurde im Mittelalter über die Familien organisiert (Kinder als Versicherung gegen Armut im Alter) und heute eben über den solidarischen Sozialstaat. Und das gilt eben auch bei einer privaten kapitalgedeckten Versicherung. Denn es ist ja nicht so, dass die Ersparnisse fürs Alter in einen Sparstrumpf gesteckt werden, sondern es werden damit Wertpapiere gekauft, die dann im Alter wieder verkauft werden müssen. Und wer kann die kaufen? Naja, Menschen, die über ein Einkommen verfügen. Das Problem ließe sich bestenfalls dann auflösen, wenn zukünftig diese Wertpapiere im Ausland gekauft werden. Aber das ist zum einen auch keine sichere Strategie und verkennt zum anderen, dass es den demographischen Wandel nicht nur in Deutschland gibt. Besonders perfide wird diese Argumentation, wenn man zweitens betrachtet, dass den Menschen hinsichtlich ihrer Belastung Sand in die Augen gestreut wird. Sicherlich, sie haben geringere Rentenversicherungsbeiträge. Dafür müssen sie aber mit 4 Prozent ihres Lohns private Vorsorge leisten, damit sie einen ähnlichen Rentenanspruch haben wie vor den Kürzungen. Entlastet wurden mit den Reformen also eigentlich nur die ArbeitgeberInnen, während die ArbeitnehmerInnen tatsächlich eher belastet wurden. Damit ist drittens klar, dass es sich keineswegs in erster Linie um einen Generationen-, sondern um einen Verteilungskonflikt handelt. Denn es ist ja nicht so, dass unsere Gesellschaft ärmer geworden ist und auch künftig rechnet man mit ei-

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nem – vielleicht auch geringfügigeren – wirtschaftlichen Wachstum und damit mehr Einkommen. Daher wird es auch in Zukunft eher um die Frage gehen, wie dieses Einkommen verteilt wird. Kurz: Wenn diese Gesellschaft in 20 Jahren nur 1,5 mal so reich ist, haben wir kein allgemeines Wohlstandsproblem, vielleicht aber ein Verteilungsproblem.

nes früheren Ausscheidens aus dem Erwerbsleben auch noch weitere Abschläge hinnehmen muss, umso mehr. Und wer bei einem so niedrigen Rentenniveau einige Jahre aus familiären Gründen aussetzt, bekommt auch ein gewaltiges Problem. Um nicht missverstanden zu wenden: Keineswegs wären mit einem höheren Rentenniveau alle Probleme aus der Welt. Sie wären aber gewiss leichter zu lösen.

3. Mit einem höheren Rentenniveau können viele sozialpolitische Herausforderungen gelöst werden.

4. Ein höheres Rentenniveau ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll.

Fast tagtäglich hört man neue Vorschläge, wie einzelnen Teilgruppen in der Gesellschaft bei der Rente geholfen werden kann, da sie bei unveränderter Entwicklung in die Altersarmut rutschen können. Da sind erstens diejenigen, die ein sehr niedriges Einkommen haben (s.o.). Deshalb wird unter anderem über Modelle einer Mindestrente diskutiert – für die viele Steuermittel aufgewendet werden müssten. Da sind zweitens diejenigen, die die gesetzliche Regelaltersgrenze z. B. aus gesundheitlichen Gründen nicht erreichen können und deswegen Abschläge in Kauf nehmen müssen. Deshalb wird über flexible Modelle des Übergangs gesprochen. Und da sind drittens Frauen, die aufgrund von Kindererziehungs- und Pflegezeiten im Schnitt nicht auf so viele Beitragsjahre kommen wie Männer. Deshalb wird über die Höherbewertung dieser Zeiten gesprochen. Nun sind alle diese Vorschläge sicherlich nicht falsch. Ein großer Teil der Probleme ist aber auch auf das sinkende Rentenniveau zurückzuführen. Wer schon ein niedriges Einkommen hat (was eher ein arbeitsmarktpolitisches Problem ist) und dann im Alter auf 40 Prozent fällt, ist in der Tat sehr schnell arm. Wer wegen ei-

Unter 3. bin ich bereits darauf eingegangen, dass mit der Rentenreform 2001 die ArbeitgeberInnen entlastet wurden. Das gehörte damals auch zum Zeitgeist. Die Annahme, mit einer Entlastung von Unternehmen wirtschaftliches Wachstum und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, war weit verbreitet. Das ist heute zu recht nicht mehr ganz so eindimensional der Fall. Denn mal ehrlich: Welches Unternehmen würde in der Praxis eine Einstellung ernsthaft ausschließlich davon abhängig machen, ob der Sozialversicherungsbeitrag zwei Prozentpunkte höher oder niedriger ist? Eher anzunehmen ist, dass das Unternehmen dann eine zusätzliche Arbeitskraft einstellen wird, wenn die wirtschaftlichen Aussichten gut sind und es die begründete Annahme hat, in der Zukunft mehr Produkte abzusetzen. Für diese Sichtweise sprechen eigentlich alle Erfahrungen und Erhebungen. Und ich vertrete sogar eine Gegenthese: Nur mit einem höheren Rentenniveau werden wir weiterhin akzeptable Wachstumsraten haben. Denn die Diskussion über die Rente beschränkt sich meist nur auf die Kosten. Auf der anderen Seite sind Renten aber Einkommen, die maßgeblich für den Konsum ausgege-

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ben werden und damit Nachfrage schaffen und zu Wachstum beitragen. Entsprechende Studien des DIW haben auch ergeben, dass bei weiter sinkenden Renten ein erheblicher Kaufkraftrückgang zur erwarten ist, der sich negativ auf das Wachstum auswirken wird. Gerade im Alter neigen die Menschen dazu, das meiste ihres Einkommens für den Konsum auszugeben, denn für das Alter müssen sie ja nicht mehr vorsorgen. Wenn man nun aber beachtet, dass die Gruppe der Älteren zunehmen wird, handelt es sich hierbei um eine wichtige Konsumentengruppe. Und wenn man deren Einkommen kürzt, wird der Konsum eben zurückgehen und damit das Wachstum negativ beeinflusst. 5. Die Finanzkrise hat die Stärken des umlagefinanzierten Systems unter Beweis gestellt. Ebenfalls zum damaligen Zeitgeist gehörte die Annahme fortwährender Prosperität auf den Finanzmärkten, weswegen ein kapitalgedecktes System so attraktiv erschien. Zwar warnten schon damals die Leute, die sich mit sowas auskannten davor, dass die Rendite auf Finanzanlagen (und nichts anderes ist eine private Altersversicherung) nicht immer so hoch bleiben könne. Spätestens seit der Finanzkrise wissen wir zudem, wie unsicher Geldanlagen auf den Finanzmärkten sein können. Aber statt daraus zu lernen – so ist zu hören – propagieren Teile der SPD weiterhin die Stärken einer Kapitaldeckung. Dabei ist eine der Ursachen der letzten Finanzkrise auch auf die deutliche Zunahme privater Altersvorsorge zurückzuführen. Denn so ist auf der einen Seite enorm viel Kapital entstanden, das gewinnbringend angelegt werden muss, auf der anderen Seite sind

die Konsumausgaben zurückgegangen (weil ja mehr gespart werden sollte). In der Folge ist es zu den berühmten Blasen gekommen: Viel Kapital ist auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten, während die Wirtschaft aufgrund einer schwachen Konsumnachfrage gar nicht so viel investieren kann oder will. Kurz und gut: Auch hier birgt das Umlagesystem der GRV, wo das Geld gleich wieder ausgegeben wird, enorme Vorteile. Dies gilt übrigens umso mehr, wenn man ein weiteres politisches Ziel verfolgt, was sich momentan hoher Popularität erfreut: Die Rückführung der Staatsverschuldung. Es gehört zu den volkswirtschaftlichen Wahrheiten, dass jedem Sparen eine Verschuldung gegenüber stehen muss. Daraus folgt für die gesamte Volkswirtschaft, dass die Salden der drei Sektoren „Staat“, „Private“ und „Ausland“ sich immer zu null addieren müssen. Wenn sich also z. B. der Staat verschuldet, geht das nur, wenn z. B. der private Sektor mehr einnimmt als ausgibt und damit spart. Und genau hier könnte ein weiteres Problem entstehen: Wenn der Staat nun seine Schulden zurückführt, können private Anleger ihre Ersparnis nicht mehr dort anlegen. Und wenn alle Staaten weltweit einen ähnlichen sozialpolitischen Kurs fahren, fällt das Ausland auch aus. Bleibt also nur noch der private Sektor, der unheimlich viel Kapital investieren müsste, um die privaten Ersparnisse anzulegen. Und damit könnten die nächsten Blasen, die zur nächsten Krise führen, unmittelbar folgen. l

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SAMMELREZENSION: ARBEITERFUSSBALL ZWISCHEN AKZEPTANZ UND SCHEITERN Von Thilo Scholle, ehemaliges Mitglied im Juso-Bundesvorstand, Lünen

Nach der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine und dem Beginn der Bundesliga bietet sich eine gute Gelegenheit, sich auch mit der Geschichte des beliebten Sports auseinanderzusetzen. Dies könnte um so mehr lohnen, als der Fußball doch – aller Kommerzialisierung zum Trotz – bis heute als „Arbeitersport“ wahrgenommen wird: Fußball und Maloche sollen zusammengehören. Die Beziehung sowohl der Arbeiter zum Fußball, vor allem aber des organisierten Arbeitersports zum Fußball, ist dabei deutlich komplexer. Konrad Koch und die Einführung des Fußballs in Deutschland Bevor man die Entwicklung des Fußballs in der Arbeiterschaft betrachtet, lohnt sich ein Blick auf die Einführung des Spiels in Deutschland insgesamt. Das

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Buch „Der Fußball-Lehrer“ von Malte Oberschelp befasst sich am Beispiel des Braunschweiger Gymnasiallehrers Konrad Koch damit, wie der Sport in Deutschland eingeführt wurde. Am Ausgangspunkt standen vor allem englische Geschäftsleute und Schüler, die in Deutschland arbeiteten oder lernten. Dabei wurde aus England kein bereits völlig vereinheitlichtes Spiel importiert: Noch lange wurden mehrere Varianten des Fußballs, darunter eine dem heutigen Rugby nähere, in der das Aufnehmen des Balles mit der Hand erlaubt war, gespielt. Auf Grund der politischen Rivalität mit dem Vereinigten Königreich hatten die ersten Fußballer zudem Argumente gegen den Vorwurf, gewissermaßen ein Spiel des Feindes zu kopieren, zu suchen. Noch wirksamer waren allerdings die Vorbehalte der Turner. Neben in der Turnerschaft seit den Befreiungskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts sehr verbreiteten nationalistischen Argumentation trat hier vor allem

Sammelrezension: Arbeiterfußball zwischen Akzeptanz und Scheitern Argumente 3/2012


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ein anderer Begriff des Sports: Während beim Turnen angeblich der gesamte Körper trainiert werden würde, würden beim Fußball nur bestimmte Körperpartien in Anspruch genommen, und damit das Ziel der Leibesertüchtigung verfehlt. Konrad Koch selbst ließ sich jedenfalls für den Fußball begeistern, und leistete dabei bahnbrechendes zur Durchsetzung als Sportart gerade an den Gymnasien. Koch engagierte sich dabei besonders für die Einführung verbindlicher Spielregeln, was dann in mehreren Etappen auch gelang. Akzeptanz als Sport im Bürgertum erhielt das Spiel zunehmend, als auch das Militär den Fußball als Mittel zur Ertüchtigung der Soldaten entdeckte. Insgesamt liefert Malte Oberschelp mit dem vorliegenden Buch einen interessanten Beitrag zu Gründungsgeschichte des Sports. Nicht mit Vorkenntnissen zum Fußball belastete Menschen stolpern vielleicht an der einen oder anderen Stelle über zu viel Regel- und Spielkunde, zumal Oberschelp sehr ausführlich den Weg der institutionellen Einführung und Organisation des Spiels nachzeichnet – Sitzungen, Pläne, Zeitungsartikelserien, Diskussionen über Sinn, Zweck, und Regeln werden ausführlich geschildert. Insgesamt ist das Buch aber trotz allem flüssig geschrieben, und gut lesbar. Im Ergebnis zeigt sich, dass Fußball in Deutschland zu Anfang kein „Straßenfußball“ der unteren sozialen Schichten war, sondern gewissermaßen eine akademische Kopfgeburt, die „von oben“ als Sportart im Land etabliert wurde. Fußball in der Arbeiter-, Turn- und Sportbewegung Im organisierten Arbeitersport führte der Fußball lange Jahre ein absolutes

Schattendasein, und dass obwohl die Arbeitersportbewegung selbst seit den 1890er Jahren einen großen Aufschwung erlebte, und zu diesem Zeitpunkt die Entwicklung des Fußballsports in Deutschland bereits in vollem Gange war. Dabei ist interessant, dass ein Großteil der in bürgerlichen Turnerkreisen gegen den Fußball existierenden Vorurteile auch in der Arbeitersportbewegung auf Resonanz stießen. So hatte sich der Fußball im Arbeitersport erst in der Organisation zu behaupten, wie Lars Geiges in seinem Buch über die Entwicklung des Fußballs im organisierten Arbeitersport zeigt. Laut Geiges hatte der Arbeiter- Turnund Sportbund zu seiner besten Zeit im Jahr 1928 etwa 1,2 Millionen Mitglieder, publizierte insgesamt 60 Zeitungen mit einer Auflage von etwa 800 000 Exemplaren und war damit die mit Abstand größte sozialdemokratische Vorfeldorganisation. Zu beachten ist, dass im Arbeitersport die Spaltung in sozialdemokratische und kommunistische Verbände erst recht spät einsetzte, und lange noch gemeinsame Mannschaften und Vereine existierten. Als großes Problem für die Akzeptanz des Fußballs gerade bei den Arbeitersportfunktionären macht Geiges die Ablehnung des „Wettkampfgedankens“ innerhalb der Arbeitersportbewegung aus. Dies verhinderte lange Zeit den Aufbau eines Ligamäßigen Spielbetriebs, bis es schlussendlich auch hier zu pragmatischen Lösungen und der Einrichtung einer Meisterschaftsrunde gekommen sei. Zudem wurden Spielberichte nur nach und nach in die Zeitungen des Arbeitersports aufgenommen, und die Namen der Spieler sowie ausführliche Nacherzählungen des Spielverlaufs u. a. aus Sorge vor dem Entstehen von Personenkult kaum gebracht. Wesent-

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lich breiteren Raum erhielt nach Geiges Darstellung der Bericht über die politische Bedeutung des Arbeitersports. In der Folge kam es auch im Arbeitersport Geiges zufolge zu den aus dem bürgerlichen Sport bekannten aber eigentlich abgelehnten Phänomenen des Lokalpatriotismus bzw. des „Vereinsfanatismus“ und auch zu einer Vielzahl von Streitigkeiten über Regelauslegung und Spielwertungen. Zudem hatte der Arbeiterfußball immer wieder mit der Abwerbung bekannter Spieler durch bürgerliche Vereine zu kämpfen. Neben der grundsätzlichen Akzeptanz des Fußballs in der Arbeitersportbewegung ging es daneben auch um die Frage der Autonomie der Fußballstrukturen innerhalb der Arbeitersportbewegung. Trotz der zwischenzeitlichen Erfolge und Entwicklungen auch des Fußballs innerhalb der Arbeitersportbewegung sieht Geiges den Arbeiterfußball letztlich als gescheitert an. Zum einen sei die Verbandsführung in der Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen DFB zu schwach und zu wenig zielstrebig dabei gewesen, die tatsächlichen Probleme des DFB zu benennen. Gescheitert sei der Arbeiterfußball damit sowohl im Vergleich zum auch unter Arbeitern ungleich populäreren DFB, zum anderen aber auch am eigenen Anspruch einer politischen Einbettung des Spiels, die den grundsätzlichen Drang des Menschen nach Leistungsvergleich ignoriert hätten. Das vorliegende Buch gibt einen sehr informativen Überblick über die Entwicklung des Fußballs in der Arbeitersportbewegung. Die Schlussfolgerungen des Autors sind durchaus kontrovers und diskutabel: Zwar ist die letztlich fehlende Konsequenz und Hilflosigkeit der Funktionäre der Arbeitersportbewegung im

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Umgang mit dem „bürgerlichen“ Sport auch aus anderen Handlungsfeldern der Arbeiterbewegung bekannt. Von einem „natürlichen Leistungsgedanken des Menschen“, den die Arbeiterfußballer nicht befriedigen konnten auszugehen, erscheint jedoch wenig schlüssig. Interessanter scheint hier der Gedanke, das die Arbeitersportbewegung letztlich mit der Aufgabe, ein Gegenwicht zum bürgerlichen DFB zu schaffen schlicht überfordert war, bedenkt man das von den meisten Aktiven und Funktionären zugleich auch Mitarbeit in der Partei, den Gewerkschaften und möglicherweise auch noch anderen Vorfeldorganisationen der Arbeiterbewegung erwartet wurde – und das zumeist ehrenamtlich neben dem täglichen Broterwerb. Die Bundesauswahl der deutschen Arbeitersportler 1924 – 1932 Beinahe ein Gedenkbuch ist vor diesem Hintergrund der Band von Rolf Frommhagen zur „Bundesauswahl der deutschen Arbeitersportler 1924 – 1932“. Mit sehr viel Liebe zur Detailinformation hat der Autor hier akribisch die Informationen zu jedem Spiel, dass die Auswahlmannschaft überhaupt bestritt, gesammelt. Dass dies aufgrund der Spärlichkeit der Spielberichte in den Arbeitersportzeitungen – wie schon oben beschrieben – schwierig war, ist schnell nachzuvollziehen. Frommhagen liefert zu jedem Spiel eine Einordnung zu den Hintergründen der Spielvereinbarung – ein Spielbetrieb mit regulären Europa- und Weltmeisterschaften wie heute bekannt existierte nicht – und berichtet über Mannschaftsaufstellungen, Taktik und Spielverlauf. Diese Darstellung ist überaus lebendig, und lässt die einzelnen Spiele und die einzelnen

Sammelrezension: Arbeiterfußball zwischen Akzeptanz und Scheitern Argumente 3/2012


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Spieler wenigstens für einen Augenblick wieder lebendig werden. Interessant ist vor allem auch die Beschreibung der politischen Rolle des Fußballs als Mittel auch zur Verständigung und Versöhnung in Europa nach dem Weltkrieg sowie als Zeichen der internationalen Solidarität der Arbeiterbewegung. So war der Charakter der Auswahlspiele betont internationalistisch, Mannschaften und Funktionäre absolvierten in der Regel vor dem Spiel ein gemeinsames Besuchsprogramm, oft wurden die ausländischen Mannschaften auch an den Bahnhöfen mit großen Menschenmengen empfangen und zu ihren Unterkünften begleitet. Einen besonderen Rang innerhalb der Arbeitersportbewegung insgesamt nahmen die Arbeitersportolympiaden ein, bei denen die deutsche Auswahlmannschaft meist sehr gut abschnitt. Auch für die Auswahlspieler selbst bot die Berufung in die Mannschaft die Möglichkeit zur Horizonterweiterung„normale“ Arbeiter dieser Zeit wären sonst wohl kaum nach England, Frankreich oder nach Skandinavien gekommen. Über den reinen Ergebnisdienst hinaus erfährt der/die Lesende aber noch einiges mehr: Ausführlich widmet sich Frommhagen der Spaltung des Arbeiterfußballs und damit in letzter Konsequenz auch der Auswahlmannschaft in sozialdemokratische und kommunistische Vereine. Zu einem wichtigen Thema wurde auch der Wechsel von Arbeitersportlern in bürgerliche Vereine, vor allem vor dem Hintergrund der fehlenden Bezahlung der Arbeitersportler. Dem Autor ist bei seinem Fazit, dass es das Engagement der Fußballer schon für sich genommen wert ist, nicht vergessen zu werden, vollauf zuzustimmen. Darüber hinaus aber sind die Beschreibungen aber auch Beispiele dafür, wie „Länderspiele“

auch ohne chauvinistische oder sonstige nationalistische Anwandlungen absolviert werden können, und wie der Gedanke der Völkerverständigung tatsächlich auch im Sport mit Leben erfüllt werden kann. l

Literatur: Rolf Frommhagen Die andere Fußball-Nationalmannschaft Bundesauswahl der deutschen Arbeitersportler 1924 – 1932 Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011 271 Seiten, 29,90 € Lars Geiges Fußball in der Arbeiter-, Turn und Sportbewegung Ein zum Scheitern verurteiltes Spiel? ibidem-Verlag , Stuttgart 2011 116 Seiten, 24,90 € Malte Oberschelp Der Fußball-Lehrer Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2010 157 Seiten, 16,90 €

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DIE URSACHEN DER GEGENWÄRTIGEN KRISE IN EUROPA Von Dr. Thomas Sablowski, Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Schwerpunkt

In der gegenwärtigen Krise in Europa verdichten sich konjunkturelle und strukturelle, regionale und globale Krisenmomente. In der bürgerlichen Öffentlichkeit werden die Krisenursachen auf das Problem der staatlichen Überschuldung und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands und anderer Krisenländer reduziert. Diese ideologische Deutung dient vor allem dazu, die herrschende Krisenpolitik zu rechtfertigen: Wenn etwa „die“ Griechen „über ihre Verhältnisse gelebt“ haben, dann liegt es nahe, dass sie den Gürtel enger schnallen müssen.

Die staatliche Schuldenkrise: Resultat der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise Dass es gegenwärtig in einer Reihe von Ländern eine Krise der staatlichen Refinanzierung gibt, ist nicht zu leugnen. Die-

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se ist jedoch primär das Resultat der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich seit 2007 ausgehend vom Hypothekenmarkt in den USA entwickelt hat. Nach dem Bankrott der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und einer Reihe weiterer Banken und Versicherungen stand das globale Finanzsystem im Herbst 2008 am Rande des Zusammenbruchs. Bis zum Frühjahr 2009 geriet die Weltwirtschaft in die tiefste Rezession seit der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg schrumpfte das globale Sozialprodukt. Wie in jeder Krise verschlechterte sich die Lage der Staatshaushalte durch die ansteigende Arbeitslosigkeit, die wegbrechenden Steuereinnahmen und den Anstieg der Sozialausgaben. Hinzu kamen die großen Bankenrettungs- und Konjunkturpakete, die viele Regierungen schnürten, um Dominoeffekte aufgrund der Insolvenz einzelner Banken zu vermeiden und den Einbruch der Produktion zu dämpfen. All

Die Ursachen der gegenwärtigen Krise in Europa Argumente 3/2012


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dies hat zu wachsenden Haushaltsdefiziten und zu einem Anstieg der Staatsverschuldung in vielen Ländern geführt. In vielen Ländern, insbesondere auch in Griechenland, werden die konjunkturell bedingten Einbrüche bei den öffentlichen Finanzen noch durch strukturelle Finanzierungsprobleme des Staates verschärft: Die Staatsausgaben können nicht ausreichend durch Steuern finanziert werden. Die Steuererhebung ist nicht zufällig mangelhaft, ihre Unzulänglichkeit ist Resultat eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, das es insbesondere den Kapitalisten, aber auch dem Kleinbürgertum ermöglicht, sich der Besteuerung zu entziehen. Gleichzeitig sind die strukturellen Defizite bei den Steuereinnahmen auch Resultat der jahrelangen neoliberalen Steuersenkungspolitik. Sie beruht einerseits auf der ideologischen Vorstellung, dass die staatliche Besteuerung private Investitionen verdrängt und dass private Investitionen stets effizienter sind als staatliche. Andererseits ist sie Folge der veränderten Handlungsspielräume von Unternehmen und Gebietskörperschaften nach dem Fall des „eisernen Vorhangs“. Die erhöhte Kapitalmobilität in Europa und weltweit geht einher mit dem Umbau des Staates zum „nationalen Wettbewerbsstaat“. Regierungen versuchen durch Subventionen und Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögensbesitzer, diese an den jeweiligen „Standort“ zu binden. Ungleiche Entwicklung und internationale Verschuldung Es wäre jedoch völlig verfehlt, die Ursachen der gegenwärtigen Krise in Europa nur in der Lage der öffentlichen Haushalte zu verorten. Das mangelnde Vertrauen der

Kapitalanleger in die Zahlungsfähigkeit einer Reihe von Staaten ist vielmehr Resultat der negativen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, durch die diese gekennzeichnet sind. Länder wie Griechenland, Portugal oder Spanien weisen nicht nur eine hohe öffentliche Verschuldung, sondern auch eine hohe private Verschuldung auf und sind seit 2008 nicht aus der Krise herausgekommen. Zudem handelt es sich bei der öffentlichen und privaten Verschuldung dieser Länder in hohem Maße um internationale Verschuldung. Die wachsende internationale Verschuldung ist Resultat der hierarchischen Arbeitsteilung und der ungleichen Entwicklung der Arbeitsproduktivität und der Löhne in Europa. Während z. B. Deutschland eine breit gefächerte Industriestruktur vorzuweisen hat und deutsche Unternehmen insbesondere in vielen Bereichen des Maschinen- und Anlagenbaus in Europa kaum Konkurrenten haben, ist Griechenland in vielen Bereichen auf Importe angewiesen, weil die industrielle Basis des Landes schwach entwickelt ist. Aber auch Länder wie Italien oder Frankreich, die über eine stärkere Produktionsstruktur verfügen, sind in den letzten Jahren gegenüber Deutschland ins Hintertreffen geraten, weil die Lohnstückkosten dort stärker gestiegen sind als in Deutschland. Dadurch haben diese Länder an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Kehrseite der wachsenden deutschen Exportüberschüsse sind also die zunehmenden Leistungsbilanzdefizite der meisten anderen Länder in der Eurozone. Um die Exportüberschüsse realisieren zu können, muss Deutschland international notwendig als Kreditgeber auftreten, während die Länder, die mehr importieren als exportieren, sich zunehmend verschulden müssen, um die Importüberschüsse zu fi-

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nanzieren. Die Ungleichgewichte im europäischen Waren- und Kapitalverkehr haben sich durch die Währungsunion noch verschärft. Früher konnten Länder wie Italien oder Spanien ihre Wettbewerbsfähigkeit verteidigen, indem sie ihre Währung abwerteten. Das ist in der Eurozone nicht mehr möglich. Die Länder, in denen die Arbeitsproduktivität niedriger ist, müssen entweder wachsende Leistungsbilanzdefizite in Kauf nehmen und sich immer stärker verschulden (das war bis 2008 der Fall) – oder sie müssen die Löhne senken, was aber zu einem Verlust an Kaufkraft im Binnenmarkt und zu einem Rückgang des Wachstums führt (dies ist seit 2008 der Fall). Die zunehmende Verschuldung der Lohnabhängigen Neben der staatlichen sowie der internationalen Verschuldung hat vor allem die zunehmende Verschuldung der Lohnabhängigen zu der gegenwärtigen Krise beigetragen. Ich hatte bereits darauf hingewiesen: Die Krise ist 2007 im Hypothekenmarkt in den USA ausgebrochen, als eine wachsende Zahl von Hypothekennehmern nicht mehr in der Lage war, die steigenden Zinsen für ihre Kredite zu zahlen. Nicht nur in den USA, auch in Westeuropa und Japan ist die Verschuldung der privaten Haushalte im Verhältnis zu ihrem verfügbaren Einkommen stark angewachsen. Nach der liberal-konservativen Ideologie in den USA oder in Spanien sollten möglichst alle zu Hauseigentümern werden, dafür wurde der Zugang zu Hypothekenkrediten politisch gefördert. Hypothekenkredite ersetzten gewissermaßen den sozialen Wohnungsbau. Da die Nachfrage nach Häusern boomte und die Häuserprei-

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se über viele Jahre stiegen, schienen die wachsenden Hypothekenschulden kein Problem zu sein. Die Hypotheken waren durch die steigenden Häuserpreise abgesichert. Die Hypothekenbanken sicherten sich auch ab, indem sie ihre Forderungen sogleich weiterverkauften. Dadurch erreichten sie einen schnellen Rückfluss ihres Kapitals, während die Kreditrisiken auf die Käufer dieser verbrieften Forderungen übergingen. Die Kreditverhältnisse wurden so internationalisiert: Kommunen in Norwegen oder deutsche Landesbanken erwarben das Recht auf die Zins- und Tilgungszahlungen der amerikanischen Hypothekennehmer, ohne die damit verbundenen Risiken wirklich einschätzen zu können. Die Kredite wurden nicht nur genutzt, um Häuser zu kaufen, sondern auch um andere Konsumausgaben zu finanzieren. Angesichts stagnierender oder sinkender Reallöhne mussten sich viele Lohnabhängige immer mehr verschulden, um einen bestimmten Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Autos werden heute überwiegend per Leasingvertrag bzw. auf Kredit verkauft. Studiengebühren zwingen viele dazu, Studienkredite aufzunehmen. Die Kosten für Krankenhausaufenthalte können in den USA viele Menschen, die keine eigene Krankenversicherung haben, nur durch Kredite aufbringen. Die Verschuldung kann jedoch nicht unbegrenzt ausgedehnt werden, da für die Kredite letztlich aus dem laufenden Einkommen Zinsen zu zahlen sind. Hier stoßen wir nun auf das fundamentale Problem der Verteilung zwischen der Kapitalistenklasse und den Lohnabhängigen: Die Lohnquoten sind in den kapitalistischen Zentren seit Mitte der 1970er Jahre gesunken. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat

Die Ursachen der gegenwärtigen Krise in Europa Argumente 3/2012


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sich also zunehmend zu Ungunsten der Lohnabhängigen entwickelt. Dies hat viele Ursachen: der Produktivitätsfortschritt führt zu wachsender Massenarbeitslosigkeit, die Kapitalmobilität hat sich erhöht, die Unternehmen drohen Produktionsverlagerungen an und setzen so Lohnsenkungen und Verlängerungen der Arbeitszeiten durch, die Gewerkschaften verlieren Mitglieder und scheuen Streiks, die Reichweite von Tarifverträgen nimmt ab. Da der Lohn aber nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Nachfragefaktor ist, verstärkt das Sinken der Lohnquote die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnende Tendenz zur Überproduktion. Die zunehmende Verschuldung der Lohnabhängigen konnte diese Restriktion der effektiven Nachfrage nur begrenzt und temporär kompensieren – durch die gegenwärtige Krise wurde diese Schranke geltend gemacht. Sinkende Investitionsquoten trotz steigender Profite Nun könnte man wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt argumentieren, dass die Profite von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen sind. Die sinkenden Lohnquoten bedeuteten ja zugleich steigende Profitquoten. Tatsächlich zeigt sich aber, dass die Investitionsquoten, d.h. der Anteil der reinvestierten Profite an den gesamten Profiten in den USA, in Westeuropa und in Japan in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist. Die Nachfragelücke, die durch die sinkenden Lohnquoten entstand, konnte also nur mit zunehmenden Schwierigkeiten durch Investitionen kompensiert werden. Die wachsenden Profite der Unternehmen wurden immer weniger investiert, um Arbeitsplätze zu schaffen,

sondern zunehmend an die Kapitaleigner etwa in Form von Dividendenzahlungen oder Aktienrückkäufen ausgeschüttet. Ein immer größerer Teil der realisierten Profite wurde nicht in die Produktion von Waren, sondern in Wertpapiere investiert, die bloß Rechtsansprüche auf zukünftig zu erwirtschaftende Gewinne, d.h. fiktives Kapital darstellen. Die wachsenden Gewinnausschüttungen hängen zum einen mit der Transformation der Eigentumsverhältnisse, d.h. mit dem Aufstieg institutioneller Kapitalanleger zusammen, die ihr Interesse am Shareholder Value gegenüber den Unternehmen durchsetzen konnten. Zum anderen sind die zunehmenden Aktienrückkäufe der Unternehmen der verschärften Konkurrenz auf dem Weltmarkt und der Zentralisation des Kapitals, d.h. den Übernahmeschlachten geschuldet. Um eine feindliche Übernahme abzuwehren und selbst eine aktive Rolle bei Fusionen und Übernahmen spielen zu können, versuchen Aktiengesellschaften, ihren Aktienkurs durch den Rückkauf der eigenen Aktien nach oben zu treiben. Denn Aktien fungieren als Übernahmewährung. Je teurer die eigene Aktie, desto schwieriger ist eine feindliche Übernahme durch ein anderes Unternehmen und desto leichter ist es möglich, Konkurrenten zu kaufen. Im Übrigen haben sich auch die Unternehmen immer stärker verschuldet: Die Erhöhung des Fremdkapitals erlaubt ihnen, die Eigenkapitalrendite zu steigern, was wiederum im Interesse der Shareholder ist. Die Verschärfung der Tendenz zur Überproduktion Zusammenfassend können wir folgendes feststellen: Die Entwicklungsweise des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten

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führt dazu, dass die Tendenz zur Überproduktion immer schärfer hervortritt: Die Lohnquoten sinken und beschränken die Kaufkraft der Lohnabhängigen, die Investitionsquoten sinken, die Staatsausgaben stoßen durch neoliberale Finanzpolitik und wachsende Staatsverschuldung ebenfalls an Schranken und in der verschärften Weltmarktkonkurrenz können nicht alle Gewinner sein. Die erweiterte Reproduktion des Kapitalismus war in den letzten Jahrzehnten überhaupt nur durch eine überproportional wachsende Verschuldung möglich: Damit Kapitalakkumulation stattfinden kann und das Sozialprodukt wächst, musste die Verschuldung der Lohnabhängigen, der Unternehmen und der Staaten umso schneller wachsen. Kehrseite dieser Verschuldung ist im Übrigen eine gigantische Akkumulation von Reichtum bei den Kapitaleignern, denn die Schulden der einen sind logischerweise die Vermögen der anderen. Diese Verschuldungsökonomie ist mit der gegenwärtigen Krise jedoch an Grenzen gestoßen. Gegenwärtig erscheint diese Krise vor allem als Bankenkrise und als staatliche Schuldenkrise in Europa, doch im Grunde handelt es sich um eine strukturelle Krise des globalen Kapitalismus, der durch ein qualitativ verändertes Verhältnis zwischen den Kreisläufen des industriellen Kapitals und des Finanzkapitals gekennzeichnet ist. Ich bezeichne diesen Zusammenhang als finanzdominiertes Akkumulationsregime. Alternativen der Krisenpolitik Krisen des Kapitalismus werden im Allgemeinen durch Kapitalvernichtung gelöst. Doch die Kapitaleigner versuchen verständlicherweise, die Entwertung ihres (fiktiven) Kapitals zu verhindern. Sowohl

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die Vergemeinschaftung der Schulden durch die internationalen Notkredite und Bürgschaften, die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und die Käufe von Staatsanleihen durch die EZB als auch die durch die Austeritätspolitik und den Fiskalpakt abermals forcierte Umverteilung von den Lohnabhängigen zu den Kapitaleignern zielen darauf, eine weitere Kapitalvernichtung zu verhindern, einzudämmen, bzw. hinauszuschieben. Doch damit werden die Widersprüche des finanzdominierten Akkumulationsregimes nur auf erweiterter Stufenleiter reproduziert. Um die Probleme bei der Wurzel zu packen, ist es notwendig die kapitalistische Produktionsweise selbst in Frage zu stellen. Es gilt zu erkennen, dass hinter dem vordergründigen Konflikt zwischen Nationen ein Klassenkonflikt steht. Im Interesse der Lohnabhängigen ist es zunächst, die weitere Umverteilung zu ihren Ungunsten zu bekämpfen. Dies erfordert in der gegenwärtigen Situation, die öffentlichen Dienste zu verteidigen, den Abbau der Sozialleistungen und Lohnsenkungen abzuwehren, den autoritär-neoliberalen Fiskalpakt zurückzuweisen, den Reichtum zu besteuern (Vermögensabgaben, Wiedererhebung der Vermögensteuer, drastische Anhebung der Spitzensteuersätze und Verstärkung der Progression bei der Einkommensteuer, Einführung einer Finanztransaktionssteuer etc.) und die Arbeitszeit zu verkürzen, um die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die unvermeidliche Kapitalvernichtung sollte möglichst demokratisch kontrolliert umgesetzt werden, d.h. in Form von Schuldenaudits und einer umfassenden Schuldenstreichung bei gleichzeitiger Sicherung der Ersparnisse und der Rentenansprüche der Lohnabhängigen. Der

Die Ursachen der gegenwärtigen Krise in Europa Argumente 3/2012


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Euro und die EU sind in ihrer gegenwärtigen, neoliberal geprägten Verfassung nicht haltbar. Notwendig wäre eine Neugründung der EU von unten, die zunächst mit der Internationalisierung der Kämpfe der Lohnabhängigen beginnen müsste: International koordinierte Aktionen gegen die Austeritätspolitik und für Umverteilung von oben nach unten wären ein erster Schritt in diese Richtung. l

Literatur: Alex Demirovic/Thomas Sablowski: Finanzdominierte Akkumulation und die Krise in Europa. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe „Analysen“, Berlin 2012.

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SOZIALDEMOKRATISCHES WIRTSCHAFTSVERSTÄNDNIS FÜR DIE BUNDESTAGSWAHL Von Hilde Mattheis, MdB, Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21

Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen? „Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen.“ Diesem einfachen Satz würde sicher jede und jeder sofort zustimmen. Denn natürlich muss die Wirtschaft dem Menschen dienen. Wir wirtschaften und generieren Wachstum, damit wir einen Wohlstand schaffen, der allen zugute kommt. Doch so simpel und zustimmungsfähig dieser Satz auch sein mag: Viele Menschen haben den Glauben daran verloren. Schlimmer noch. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden an den Gewinnen ihrer Unternehmen auch in wirtschaftlich guten Zeiten nicht oder kaum beteiligt. Zu viele Menschen sind trotz Vollzeitarbeit arm. Riesige Gewinne werden inzwischen nicht mehr in die Realwirtschaft investiert, sondern beim Zocken auf den Finanzmärkten eingesetzt. Den Profit damit macht zum Schaden aller ein aberwitzig kleiner Personenkreis. Mehr noch: die Zockerei muss von den Staaten aufgefangen werden,

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denen in der Folge das Geld für Investitionen in gesellschaftlich zentrale Projekte und in die Wirtschaft fehlt. Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Glauben daran verloren, dass die Wirtschaft eigentlich für sie da ist. Und die Zahlen zeigen, dass sie damit nicht Unrecht haben. Seit Jahren stagnieren die Löhne, nimmt die Prekarisierung zu und auf den Finanzmärkten werden riesige Summen in Sekunden verbrannt. Doch diese Entwicklung fällt nicht vom Himmel. Sie wurde politisch ermöglicht und entsprechend gestaltet. Die Besteuerung von Vermögen und Kapital wurde in den letzten Jahren zurück geschraubt, der Arbeitsmarkt und die Finanzmärkte wurden dereguliert und die Exportorientierung Deutschlands ausgebaut. Das bedeutet aber auch: Die Politik kann und muss diese Entwicklung umkehren. Das zunehmende Auseinanderdriften von Arm und Reich, dass sich auch negativ auf die volkswirtschaftliche Entwicklung auswirkt, kann aufgehalten werden. Hier-

Sozialdemokratisches Wirtschaftsverständnis für die Bundestagswahl Argumente 3/2012


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für muss die Sozialdemokratie vor allem eines leisten: Sie muss die Verteilungsfrage wieder ins Zentrum ihrer Politik rücken und glaubhaft für eine Kehrtwende eintreten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt: das Zeitalter des Neoliberalismus muss vorbei sein. Die Politik einer umfassenden Privatisierung und Deregulierung ist gescheitert. Wir brauchen wieder eine Wirtschaft, von der die Menschen wirklich etwas haben: Eine Wirtschaft, die dem Menschen dient.

Kurze Bestandsaufnahme: Löhne, Arbeitsmarkt und Vermögensverteilung – Indikatoren für Verteilungsgerechtigkeit Die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft, in der die Menschen immer weniger vom Wirtschaftswachstum erhalten, lässt sich insbesondere an folgenden Beispielen zeigen: Der Entwicklung der Reallöhne, der Ausweitung von prekärer Arbeit und der größer werdenden Ungleichverteilung von Vermögen. l

Geringes Realeinkommen reduziert die Binnennachfrage

Verteilungsberichte des DGB und DIW zeigen: selbst in Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs nehmen die Realeinkommen kaum zu. Das bedeutet, dass die Unternehmen ihre Beschäftigten nicht an den Gewinnen beteiligen. Die Löhne hinken der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hinterher. Von 2000 bis 2010 stiegen die nominalen Bruttolöhne im Durchschnitt jährlich nur um 1,2 %. Der Großteil dieser geringen Bruttoverdienstzuwächse wurden je-

doch von den Preissteigerungen vollkommen aufgezehrt. Die realen Bruttolöhne liegen unter dem Niveau des Jahres 2000. Dies zeigt: Auch in Phasen des Aufschwungs, die es zwischen 2000 und 2010 durchaus gab, ziehen die Löhne nicht mit. Dass Deutschland Schlusslicht bei der Erhöhung der Löhne ist, lässt sich vor allem im internationalen Vergleich sehen. Während die preisbereinigten Reallöhne in Deutschland zwischen 2000 und 2010 um 4,5 % zurück gegangen sind, konnten unsere Nachbarländer im selben Zeitraum Gehaltszuwächse von 14 % (Großbritannien) oder 8,6 % (Frankreich) verzeichnen. Diese geringen Lohnzuwächse empfinden die Bürgerinnen und Bürger zurecht als ungerecht. Auch in wirtschaftlich guten Zeiten bekommen sie kaum etwas von dem ab, was sie erwirtschaften. Dies hat weitere und tiefgehende ökonomische Auswirkungen: Die deutsche Wirtschaft krankt an einem viel zu schwachen Binnenmarkt. Während der private Konsum in Deutschland kaum zulegt, steigen die Exporte. Das macht die deutsche Wirtschaft extrem anfällig. Bricht, wie in der Krise, der Absatzmarkt im Ausland ein, führt dies aufgrund der schwachen Binnenmarktnachfrage sofort zu riesigen Einbußen in der deutschen Wirtschaft, ohne dass dies durch die eigene Kaufkraft aufgefangen werden kann. Die starke Exportorientierung Deutschlands führt zudem zu starken Leistungsbilanzungleichgewichten im europäischen Raum, die maßgeblich für die Krise mitverantwortlich sind. Um in Zukunft wirtschaftlichen Krisen vorzubeugen, muss das Ungleichgewicht im europäischen Raum beseitigt werden. Eine Stärkung der Binnennachfrage ist dringend notwendig.

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Prekäre Arbeitsplätze gefährden den sozialen Frieden

Eine besonders problematische Entwicklung haben in den letzten Jahren die Beschäftigungsverhältnisse genommen. Mittlerweile können 30 % der Arbeitsverhältnisse als prekär bezeichnet werden. Dies ist zu einem großen Teil den letzten Arbeitsmarktreformen im Rahmen der Agenda 2010 zuzuschreiben, die den Arbeitsmarkt deregulierten und damit die Voraussetzungen für mehr atypische Arbeitsplätze schufen. Unbefristete Vollzeitstellen mit angemessener Bezahlung gehen immer weiter zurück. Dies hat erhebliche Auswirkungen für das Lohngefüge. Besonders betroffen sind Frauen, junge ArbeitnehmerInnen und Beschäftigte in den Dienstleistungsberufen. Ein Merkmal des Anstiegs der prekären Beschäftigung ist die Zunahme der Leiharbeit. Ende 2010 waren 867.000 Menschen als LeiharbeiterInnen beschäftigt. Im Niedriglohnbereich arbeiteten im Jahr 2008 6,55 Millionen Menschen. 41 % der jungen Menschen sind befristet beschäftigt. Auch die Zahl der Teilzeitstellen steigt. Laut einer Studie der DIW stieg von 2000 bis 2010 die Zahl der Teilzeitstellen um drei Millionen auf insgesamt rund zehn Millionen Stellen. Vor allem junge Menschen als auch Frauen finden sich in der Teilzeitarbeit wieder, was sich negativ auf ihr zur Verfügung stehendes Einkommen und die späteren Rentenansprüche auswirkt. Der Wert und die Anerkennung von Arbeit wird durch schlechte Entlohnung und Arbeitsbedingungen grundsätzlich in Frage gestellt. Es liegt auf der Hand, dass in einem reichen Land wie Deutschland diese Löhne und Arbeitsbedingungen den

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sozialen Frieden erheblich gefährden. Hier muss mit dem Ziel Verteilungsgerechtigkeit und Wohlstand für alle eine Umkehr durchgesetzt werden. l

Ungerechte Vermögensverteilung führt zur Unterfinanzierung des Staates und heizt Finanzspekulationen an

Die Mehrheit der BundesbürgerInnen hält die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland für nicht gerecht (Allensbach-Institut, Februar 2010). Ihr Urteil trifft den Kern einer Entwicklung, die seit Jahrzehnten anhält: Die Armen werden ärmer, die Reichen werden reicher. Anhand der Fakten lässt sich dies gut belegen. Der DGB Verteilungsbericht 2011 zeigt, dass sich das private Vermögen in immer weniger Händen konzentriert. Die reichsten 10 % der Deutschen besaßen 2007 insgesamt 61 % des gesamten Nettovermögens. Die vermögendsten 5 % verfügten dabei über insgesamt 46 % der gesamten Summe. Auffällig ist hierbei, dass die vermögendsten 10 % der Bevölkerung im Vergleich zu 2002 ihr Vermögen relativ zu anderen Gruppen vergrößern konnten. Demgegenüber besitzen die weniger vermögenden 70 % der Erwachsenen gerade einmal 9 % des Gesamtvermögens. Die steigende Ungleichverteilung der Vermögen wurde durch zahlreiche Gesetze begünstigt, die das Vermögen gegenüber Arbeitseinkommen besser stellen. Hier muss auch im Interesse der Staatseinnahmen der politische Hebel angesetzt werden. Die Konzentration der Vermögen heizt zudem die Spekulationen auf dem Finanzmarkt an.

Sozialdemokratisches Wirtschaftsverständnis für die Bundestagswahl Argumente 3/2012


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1. Eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik: Was die SPD tun muss Wir brauchen eine neue Balance von öffentlicher Verantwortung und Verpflichtung des Eigentums auf die Wohlfahrt der Gesamtheit der Gesellschaft und eine grundlegend andere Form des Wirtschaftens. Auch unter den Bedingungen des gemeinsamen Marktes und der internationalen Konkurrenz sind soziale Gerechtigkeit, ein hohes Lohnniveau, eine hohe Staatsquote sowie gute soziale Sicherung einerseits und wirtschaftliche Stärke und niedrige Arbeitslosigkeit andererseits vereinbar. Den Beweis liefert das „Nordische Modell“ in den skandinavischen Staaten. Entscheidend ist ein grundlegendes Umdenken im Bereich der Wirtschaftspolitik. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss nicht nur auf nachhaltiges Wachstum, sondern auf größtmögliche Umverteilung abzielen, um zentrale Effekte zu erreichen. Der Staat muss eine deutlich stärkere Rolle in der Gestaltung von Wirtschaftspolitik einnehmen. Folgende Maßnahmen muss die SPD in Angriff nehmen: l

SPD steht für soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung und Qualifizierung

Kernstück unserer Politik muss es sein, in flexibler werdenden Arbeitsmärkten den Menschen einen verlässlichen Rückhalt für ihre Lebensplanung zu geben. Dazu gehören als Kernelemente neben der Absicherung gegen Arbeitslosigkeit auch das Recht auf Weiterbildung, das Recht auf ein Betriebsumfeld, dass ältere Arbeitnehmer fördert, das Recht auf einen flexiblen Übergang in den Ruhestand, das Recht auf

die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Absicherung von Menschen mit unsteten Erwerbsbiographien. Ziel muss Vollbeschäftigung und die Wiederherstellung eines sozialversicherungspflichtigen „Normalarbeitsverhältnisses“ sein. Notwendig ist, dass die SPD eine sozial gerechte Gestaltung des Arbeitsmarkts durchsetzt. Leiharbeit, Minijobs und Befristungen müssen auf ein Minimum reduziert werden. Der öffentliche Beschäftigungssektor ist auszubauen, um auch Menschen Arbeitsmöglichkeiten und Perspektiven zu bieten, die auf dem freien Arbeitsmarkt nur geringe Chancen haben. Ein umfangreicher öffentlicher Sektor ist in der Lage existenzsichernde bezahlte und qualifizierte Stellen unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Bildung und Betreuung zur Verfügung zu stellen. l

SPD steht für gerechte Einkommensverteilung und ein solidarisches Europa

Die Lohnentwicklung muss an die Gewinne der Realwirtschaft gekoppelt und die Spreizung zwischen Niedrig- und Spitzeneinkommen auf ein leistungsgerechtes und sozial gerechtfertigtes Maß begrenzt werden. Um die Reallöhne langfristig anzuheben, ist nicht zuletzt die Einführung einer regelmäßig anzupassenden Lohnuntergrenze vonnöten. Eine Lohnuntergrenze muss nicht nur deutschlandweit, sondern europaweit eingezogen werden, um Lohndumping zu stoppen. In der Schweiz ist derzeit ein Modell in der Diskussion, dass die Lohneinkommen innerhalb eines Unternehmens aneinander knüpft. Das bedeutet, dass das höchste Einkommen innerhalb eines Unternehmens beispielswei-

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se nur das zehnfache des geringsten Einkommens betragen darf. Damit können die Binnennachfrage gestärkt und die Außenhandelsungleichgewichte in Europa reduziert werden. Langfristig wird damit eine der wichtigsten Ursachen der Krise beseitigt. l

SPD steht für Verteilungsgerechtigkeit und einen handlungsfähigen Staat

Der Hintergrund für die enormen Spekulationen auf dem Finanzmärkten ist nicht nur die in den letzten Jahren erfolgte Deregulierung des Finanzsektors, sondern auch die enormen Massen an Finanzvermögen, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten akkumuliert haben und die auf dem Finanzmarkt in möglichst hohe Renditen umgesetzt werden sollen. Neben der Regulierung des gesamten Banken- und Finanzsektors sollte durch die stärkere Besteuerung von Gewinnen und Vermögen, sowie durch eine einmalige Vermögensabgabe zum Ausgleich der Krisenkosten, die Umverteilung von unten nach oben gestoppt und umgekehrt werden. Die Regulierung des Finanzsektors muss neben der Einführung einer Finanztransaktionssteuer auch die Trennung von Investitions- und Geschäftsbanken beinhalten. Die Besteuerung von Gewinnen und Vermögen sollte nicht nur national, sondern europaweit in Form von Mindeststeuersätzen umgesetzt werden. Die dadurch erlangten Staatseinnahmen sollen dazu eingesetzt werden, in die Bereiche Bildung, Erneuerbare Energien, Infrastruktur und soziale Absicherung zu investieren, um wiederum in diesen Bereichen neue Arbeitsplätze und nachhaltiges Wachstum zu schaffen.

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SPD steht für soziale Gerechtigkeit als Regierungspartei

Die Verteilungsfrage mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum zu verbinden und dies nicht nur zu beschließen, sondern im Wahlkampf 2013 sichtbar zu machen und anschließend in Regierungshandeln umzusetzen, muss die Hauptaufgabe der SPD in den nächsten Monaten sein. Es gilt eine echte linke Alternative zur neoliberalen Bundesregierung deutlich zu machen und auf zu zeigen, dass Politik die Wirtschaft und die Verteilung von Vermögen gezielt steuern kann. Der Widerstand gegen das die Steuerbetrüger begünstigende Abkommen mit der Schweiz auch mittels Ankauf von Steuer-CDs seitens der Landesregierung NRW sind ein gutes Beispiel dafür, wie Gerechtigkeitsdebatten von Seiten der SPD angestoßen und überzeugend in politisches Handeln umgesetzt werden können. Die Wählerinnen und Wählern müssen der SPD vertrauen können, dass sie die Wirtschaftspolitik im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums und mit dem Ziel einer gerechten Verteilung des erwirtschafteten Reichtums politisch gestaltet. Die SPD muss den Mut haben, sozial ausgewogene Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie den Vermögenden weh tun. Ohne diesen Mut wird es nicht gelingen, die Sozialdemokratie wieder als Partei der sozialen Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und des Fortschritts aufzustellen. l

Sozialdemokratisches Wirtschaftsverständnis für die Bundestagswahl Argumente 3/2012


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GLEICHSTELLUNG IN DER WIRTSCHAFT – DAS PRIMAT DES ÖKONOMISCHEN ÜBERWINDEN Von Helga Schwitzer, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall

1. Die Defizite Wie in der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt gibt es auch in der Wirtschaft noch große Defizite bei der Gleichstellung der Geschlechter. Frauen werden in der Arbeitswelt gleich mehrfach diskriminiert. Ihre Berufs- und Aufstiegschancen sind schlechter als die von Männern, ihre Entgelte liegen im Schnitt deutlich (mehr als 23 Prozent) unter denen der Männer, Frauen sind viel häufiger als Männer prekär beschäftigt. Prekäre Beschäftigung insgesamt markiert ein weiteres und ständig größer werdendes Gleichstellungsdefizit in der Wirtschaft. Unternehmen nutzen in zunehmendem Maße Leiharbeit, Werkverträge, Befristungen und andere Formen atypischer Beschäftigung zur Kostensenkung. Sie schaffen so Beschäftigte erster und zweiter Klasse. Auch von dieser Form der Diskriminierung sind wiederum vor allem

Frauen betroffen. Dass Menschen mit Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation schlechtere Berufschancen als Einheimische haben, ist ein weiteres Gleichstellungsdefizit in der Wirtschaft. Hier soll allein die Geschlechtergleichstellung Thema sein. Hinter den Defiziten bei der Gleichstellung von Frauen steckt ein Bündel an Ursachen, die sich großenteils wechselseitig bedingen und auch mehrfach wirken. Zum einen gibt es vor allem aufgrund tradierter Rollenzuweisungen Männer- und Frauendomänen in der Arbeitswelt. Männer üben eher technische, handwerkliche und verwandte Berufe im Produktionsbereich aus. In diesen Bereichen dominiert (noch) das unbefristete Vollzeit-Arbeitsverhältnis. Im Einzelhandel, in der Verwaltung oder in sozialen Berufen sind Frauen deutlich in der Mehrzahl. Hier haben prekäre Formen der Beschäftigung im letzten Jahrzehnt kräftig zugelegt.

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Zu dieser horizontalen Segregation kommt die vertikale: Frauen haben schlechtere Aufstiegschancen als Männer – ihrer Karriere stehen oft informelle, unsichtbare Barrieren im Weg. Sie stoßen häufig an so genannte „gläserne Decken“. Einwesentlicher Grund hierfür sind potenzielle oder tatsächliche Unterbrechungen und/oder Reduzierungen der Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen wie etwa der Kinderbetreuung. Dieses Ursachenbündel aus unterschiedlichen sozialen, beruflichen und – wenn es um das Kinderkriegen geht – auch geschlechtsspezifischen Merkmalen wird oft als strukturelle Benachteiligung der Frauen bezeichnet. Sie ist deshalb aber keineswegs naturgegeben und auch nicht als solche hinzunehmen. Vor allem mag sie nicht zu erklären, dass Frauen oft auch dann schlechter bezahlt werden und schlechtere Aufstiegschancen haben als Männer, wenn sie auf gleicher Hierarchiestufe die gleiche Arbeit machen wie Männer. An diesem Befund der Diskriminierung von Frauen in der Wirtschaft ändert auch die Tatsache wenig, dass in letzter Zeit eine zunehmende Zahl von Unternehmen in Frauenförderung investiert, die Zahl der Frauen in Führungspositionen erhöht und Regelungen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf trifft. Hierbei handelt es sich immer noch um Ausnahmen. Im Vordergrund stehen zudem meist ökonomische und nicht gleichstellungspolitische Gründe. Die Maßnahmen sollen erklärtermaßen dazu dienen, einen Imagegewinn als Wettbewerbsvorteil im Werben um knapper werdende Fachkräfte zu generieren. Und es ist schwer vorstellbar, dass eine derartige Instrumentalisierung der Gleichstellungsidee eine

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nachhaltige Wirkung entfaltet. Eher ist zu erwarten, dass die Instrumente wieder eingepackt werden, sobald der ökonomische Grund wegfällt. Gleichstellung in der Wirtschaft muss aber nachhaltig sein. Denn sie ist eine Schlüsselgröße für gesellschaftliche Gleichstellung. In der Arbeitswelt wird die materielle Grundlage für gleichberechtigte Teilhabechancen in allen Lebensbereichen gelegt. Entgeltgleichheit und gleiche Aufstiegschancen in der Erwerbsphase erhöhen die materielle Selbstständigkeit in dieser Phase. Sie legen darüber hinaus die Grundlage für auskömmliche Altersbezüge – sowohl aus gesetzlicher als auch aus privater Altersvorsorge. So werden Abhängigkeiten verringert, so wird mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht – auch im Alter. Dass Armut und insbesondere Altersarmut weiblich ist, ist der sinnfälligste Ausdruck der Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt wie auch des drängenden gleichstellungspolitischen Handlungsbedarfs in der Wirtschaft. 2. Die Akteure Der Frage, was für Gleichstellung in der Wirtschaft zu tun ist, muss die Antwort auf die Frage nach tatsächlichen und potenziellen Akteuren vorausgehen. Auf unterster Ebene sind die Betriebsparteien zu nennen – also Betriebsräte und Geschäftsleitungen. Sie haben insbesondere das Instrument der Betriebsvereinbarungen zur Verfügung. Positivbeispielen, wie es sie etwa bei Volkswagen, bei der Telekom oder bei Siemens gibt, liegen solche Betriebsvereinbarungen zugrunde. Die nächst höhere Regulierungsebene sind die Tarifparteien. Sie haben es in der

Gleichstellung in der Wirtschaft – das Primat des ökonomischen Überwindens Argumente 3/2012


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Hand, Tarifverträge diskriminierungsfrei zu gestalten. Außerdem können sie in Tarifverträgen Bedingungen vereinbaren, die Gleichstellungsvoraussetzungen wie etwa die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern – und zwar als Ansprüche für alle. Akteur auf der obersten Ebene ist die Politik. Sie kann und sie muss das Gleichstellungsgebot auf den unterschiedlichen Ebenen der Gesetzgebung (Kommunen, Bundesländer, Bund, EU) umsetzen. Sie kann etwa in Fragen der strukturellen Benachteiligung von Frauen oder bezüglich der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben die Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Voraussetzungen für Gleichstellung verbessert werden – auch in der Wirtschaft. Quer dazu stehen die unmittelbar Betroffenen, die sich auf allen Ebenen für Gleichstellung einsetzen können. So gab es auf der betrieblichen Ebene insbesondere in den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts Frauen, die sich mit ihren Gewerkschaften in Höhergruppierungsaktionen erfolgreich gegen eine benachteiligende Eingruppierungspraxis eingesetzt haben. Hinzu kommen weitere Akteure wie Verbände, Frauengruppen oder auch die Medien. Sie sind auf allen Ebenen als mögliche Pressure-Groups wichtig, haben allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf betriebliche, tarifliche oder politische Regulierungsmöglichkeiten. Wünschenswert wäre es, wenn die genannten Akteure alle mit demselben Engagement und Nachdruck das Ziel der Gleichstellung in der Wirtschaft mit den ihnen jeweils gegebenen Mitteln verfolgen würden. Davon sind wir jedoch weit entfernt.

Arbeitgeber haben Gleichstellungsfragen in der Regel nicht auf der Agenda. Aber auch bei Betriebsräten rangiert Gleichstellungspolitik in der Prioritätenliste relativ selten ganz oben. Dass ganze Belegschaften sich gleichstellungspolitisch engagieren und zu Aktionen zusammenfinden, ist heute ebenfalls die Ausnahme. Auf der tarifpolitischen Ebene ist es der IG Metall mit den bis Ende 2009 abgeschlossenen Entgeltrahmen-Tarifverträgen (ERA) nach jahrzehntelangen, harten Auseinandersetzungen gelungen, den Arbeitgebern in der Metall- und Elektroindustrie diskriminierungsfreie Tarifvertragstexte abzuringen. Das in den zuvor geltenden Lohnrahmentarifverträgen zumindest mittelbar Frauen diskriminierende Bewertungskriterium der Belastungen ist beim ERA kein Bewertungskriterium mehr für die Eingruppierung. Belastungen werden separat bewertet und abgegolten. Außerdem stehen nicht mehr die formalen Abschlüsse im Vordergrund, sondern die tatsächlich verrichteten Aufgaben, was die Durchlässigkeit erhöht hat. Das ist gleichstellungspolitisch ebenso bedeutend wie die stärkere Berücksichtigung der Vielseitigkeit von Tätigkeiten. Dass es bei der Eingruppierung dennoch zu Unterschieden kommt, liegt – wie eine Umfrage nach der ERA-Einführung gezeigt hat – nicht am ERA, sondern an der betrieblichen Umsetzung. Bei dieser Umsetzung haben die Arbeitgeber alles daran gesetzt, Kosten einzusparen. Und weil der betriebliche Widerstand hiergegen unterschiedlich groß war, hat es auch Unterschiede bei der betrieblichen Umsetzung gegeben. So führte, was formal galt, nicht überall zur diskriminierungsfreien Praxis. Derselbe klassische Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital, der hier

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gewirkt hat und noch wirkt, kommt auch zur Geltung, wenn Gewerkschaften den Arbeitgeberverbänden mit Forderungen kommen, die eine Förderung der Gleichstellung zum Ziel haben. Das gilt etwa für Arbeitszeitregelungen, die eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Zwar gibt es in einigen IG Metall-Tarifverträgen für die Metall- und Elektroindustrie Regelungen zur Vereinbarkeit, etwa die Freistellung der Eltern bei Krankheit ihrer Kinder oder die Möglichkeit flexibler Beginn- und Endzeiten für Eltern mit Kindern in Betreuungseinrichtungen. Darüber hinausgehenden Regelungsbedarf sehen die Arbeitgeber jedoch nicht. Sie wollen grundsätzlich keine flächendeckende Lösung, keine Anspruchsgrundlage für alle. 3. Der Handlungsbedarf Aus den bisher aufgezeigten Defiziten leitet sich der gleichstellungspolitische Handlungsbedarf in der Wirtschaft ab. 3.1 Betriebliche Ebene Auf der betrieblichen Ebene sind zuallererst die Geschäftsleitungen und Betriebsräte für das Thema Gleichstellung zu sensibilisieren. Hierfür können und müssen auf der einen Seite die Verbände der Arbeitgeber, auf der anderen die Gewerkschaften die nötigen Impulse geben. Dabei fangen insbesondere die Gewerkschaften nicht bei null an. So hat die IG Metall in ihre Satzung (§ 2) unter Aufgaben und Ziele ausdrücklich die Förderung der „Gleichstellung von Frauen und Männern in Gesellschaft, Betrieb und Gewerkschaft“ aufgenommen. Außerdem be-

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stimmt § 13, dass Frauen in den Organen und Gremien der IG Metall mindestens entsprechend ihrem Anteil an der Mitgliedschaft vertreten sein müssen. Der Vorstand hat 2011 zudem eine Zielquote von 30 Prozent für die IG Metall-internen Führungspositionen sowie für die externen, also von Hauptamtlichen der IG Metall besetzten Aufsichtsratsmandate beschlossen. In der Wirtschaft hat vor allem der aktuell vom demografischen Wandel und vom bereits spürbaren Fachkräftemangel auf die Personalentwicklung ausgehende Druck schon einiges in Bewegung gesetzt. Die Zahl der Positivbeispiele erhöht sich in dem Maße, wie das Konkurrieren um knapper werdende Fachkräfte zunimmt. Arbeitgeberverbände werben bei ihren Mitgliedsfirmen für familienfreundliche Arbeitsbedingungen, um Fachkräfte und insbesondere Frauen als Fachkräfte zu binden. Betriebsräte und Gewerkschaften ergreifen Initiativen zur Einrichtung von Gleichstellungsbeauftragten, initiieren Betriebsvereinbarungen etwa über familienfreundliche Arbeitszeiten, Frauenförderpläne, Führungskräfteschulungen sowie Mentoringprogramme für Frauen und andere gleichstellungspolitische Maßnahmen. Hier und da gehen solche Initiativen auch von Geschäftsleitungen aus. In jedem dieser Fälle gestaltet der Betriebsrat mit. Aber, wie bereits gesagt, das ist noch nicht die Regel. Vor allem aus Betrieben, Verwaltungen und aus anderen Einsatzorten, in denen Frauen in angelernten Tätigkeiten dominieren, sind derartige Initiativen kaum bekannt. Und es ist zu fragen: Haben eine alleinerziehende Bandarbeiterin oder eine Büroangestellte mit Familie nicht die gleichen Probleme zu bewältigen wie ihre Geschlechtsgenossinnen im Fach-

Gleichstellung in der Wirtschaft – das Primat des ökonomischen Überwindens Argumente 3/2012


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arbeiterberuf oder als Führungskraft? Haben sie nicht sogar größere Probleme, weil ihr Verdienst weniger als der von Fachund Führungskräften dazu ausreicht, etwa ihre Kinder während der Arbeitszeit adäquat zu versorgen? Die Antwort: Hier ist gleichstellungspolitisch Ungleichbehandlung zu diagnostizieren. Hauptgrund ist wie bei der frauendiskriminierenden Eingruppierung und beim Entgelt das Primat des Ökonomischen, unter das Arbeitgeber und ihre Verbände das Ob und Wie von Gleichstellungsmaßnahmen stellen. Die Akteure, die etwas dagegen machen können, sind auf der betrieblichen Ebene die Betriebsräte und die Beschäftigten. Die Gewerkschaften haben deshalb das Thema Gleichstellung in der Wirtschaft und im Beruf auf der Agenda ihrer Bildungspolitik. Auch in der Betriebs- und Tarifpolitik ist Gleichstellung ein Thema. Die IG Metall hat in ihrer aktuellen Kampagne „Arbeit: sicher und fair“ die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Schwerpunkt gemacht. Betriebsräte und Geschäftsleitungen können im Wege von Betriebsvereinbarungen die Voraussetzungen für mehr Gleichstellung verbessern. Gute Beispiele, vor allem viele gute Beispiele können die Voraussetzungen dafür verbessern, auch tarifpolitisch gleichstellungsfördernde Vereinbarungen durchzusetzen. So hat es sich zum Beispiel als begünstigend für die in diesem Jahr von der IG Metall erzielten tarifpolitischen Erfolge bei der Leiharbeit und bei der unbefristeten Übernahme Auszubildender erwiesen, dass es in vielen Betrieben schon Besservereinbarungen zu beiden Komplexen gegeben hat. Betriebsvereinbarungen können jedoch keinen flächendeckenden Anspruch gene-

rieren, der gleichermaßen für alle gilt. Ein solcher allgemeiner Anspruch ist aber notwendig, um die Ungleichbehandlung von weiblichen Fach- und Führungskräften auf der einen und von angelernten Frauen auf der anderen Seite, um aber vor allem Ungleichbehandlungen von Männern und Frauen zu überwinden. 3.2 Tarifliche Ebene Tarifpolitischer Regelungsbedarf und Regelungsmöglichkeiten sind vor allem dort zu sehen, wo es um eine ausgewogene Balance von Arbeit und Privatleben geht. Ein Schlüssel hierfür sind die Arbeitszeiten. Ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeitszeit und freier Zeit ist dabei für Frauen und Männer gleichermaßen wichtig, insbesondere wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Aber auch wenn es um unmittelbar gleichstellungspolitische Interessen geht, die sich zum Beispiel in Umfragen darin ausdrücken, dass im Schnitt Frauen gern mehr und Männer gern weniger Stunden arbeiten möchten. Für eine bessere Vereinbarkeit ist es zum Beispiel notwendig, dass Elternpaare mit Kleinkindern in dieser Phase kürzer arbeiten können. Alle Beschäftigten brauchen mehr Zeitsouveränität. Denn mit der enormen Zunahme der betrieblichen Flexibilität und von Arbeitszeitkonten zu ihrer Gestaltung geht keineswegs ein Mehr an frei verfügbarer Zeit einher. Flexibilisierung findet in erster Linie als Anpassung der Arbeitszeiten an die Erfordernisse der Produktion und an die Marktschwankungen statt. Erforderlich ist eine kreative Arbeitszeitpolitik, die alle Möglichkeiten nutzt, die Voraussetzungen für Gleichstellung zu verbessern. Dazu gehören:

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1. Arbeitszeiten müssen mit mehr Zeitsouveränität und mehr individuellen Wahlmöglichkeiten für die Beschäftigten verbunden werden. 2. Der Anspruch auf Teilzeit muss verbessert und ein verbessertes Rückkehrrecht auf einen gleichwertigen Vollzeitarbeitsplatz muss abgesichert werden. 3. Beschäftigte brauchen Angebote und Modelle für lebenslauforientierte Arbeitszeiten, die von ihnen zur persönlichen Gestaltung oder in bestimmten Phasen zum Beispiel zur Weiterbildung, zu vorübergehenden Auszeiten (Sabbatical), zur Kinderbetreuung, Pflege von Familienangehörigen oder zum vorzeitigen Altersausstieg genutzt und gewählt werden können. Der Rahmen hierfür ist in Tarifverträgen regelbar. Die Arbeitgeber rufen stattdessen jedoch nach noch mehr Flexibilisierung und meinen damit noch mehr Anpassung an betriebliche Bedürfnisse. Dabei setzen sie auch auf längere Arbeitszeiten. In der letzten Metall-Tarifrunde war das zum Beispiel eine ihrer Gegenforderungen. Das entlarvt ihre Werbung für mehr Familienfreundlichkeit der Betriebe als Sonntagsreden und zeigt einmal mehr, dass bei ihnen im Zweifel das Ökonomische Vorrang vor dem Menschlichen hat. 3.3 Politische Ebene Tarifvertraglich vereinbarte Leistungen setzen in der Regel auf gesetzlichen Bestimmungen auf. Bei der Arbeitszeit zum Beispiel ist es das Arbeitszeitgesetz, beim Urlaub das Bundesurlaubsgesetz. Diese Gesetze stellen Mindestnormen dar, die

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nicht unterschritten werden dürfen. Tarifverträge enthalten durchweg bessere als die gesetzlich garantierten Leistungen. Auch Gleichstellung ist gesetzlich, sogar grundgesetzlich vorgeschrieben. Artikel 3, Absätze 2 und 3, verpflichtet zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen, auch und vor allem beim Entgelt. Dasselbe bestimmen Paragraf 3 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, Artikel 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Artikel 4 der Richtlinie 2006/54/EG. Das Gebot der Gleichstellung ist also gleich mehrfach gesetzlich fundiert. Und man sollte meinen, dies müsste ausreichen, es auch in der Praxis durchzusetzen. Dies ist, wie mehrfach festgestellt, nicht der Fall. Zwischen Norm und Praxis klafft eine große Lücke. Beim Entgelt wird sie als der so genannte Gender-Pay-Gap für Frauen spürbar und für alle sichtbar. Für die SPD-Bundestagsfraktion war diese Diskrepanz zwischen Gebot und Praxis Anlass, im Mai dieses Jahres den „Entwurf eines Gesetzes zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebots für Frauen und Männer (Entgeltgleichheitsgesetz)“ in den Deutschen Bundestag einzubringen. Ein auch aus gewerkschaftlicher Sicht begrüßenswerter Schritt. Einzelheiten dieses Entwurfs stehen hier nicht zur Debatte. Für die Erörterung der Frage, was für die Gleichstellung in der Wirtschaft zu tun ist, ist es wichtiger, die grundlegend unterschiedlichen Positionen der Regierungs- und der Oppositionsfraktionen zu betrachten, wie sie in der ersten parlamentarischen Beratung des Entwurfs im Juni dieses Jahres zutage getreten sind.

Gleichstellung in der Wirtschaft – das Primat des ökonomischen Überwindens Argumente 3/2012


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Während die Oppositionsfraktionen übereinstimmend gesetzgeberischen Handlungsbedarf betonen (wobei der Fraktion der Linken der SPD-Entwurf nicht weit genug geht), sehen die Regierungsfraktionen keinen solchen Bedarf. Sie verweisen vielmehr auf die Tarif- und Betriebsparteien und darauf, dass bereits vorhandene gesetzliche Instrumente wie das Elterngeld, der Anspruch auf Plätze in Kinderkrippen und -tagesstätten sowie von der Bundesregierung initiierte gleichstellungspolitische, auf die Wirtschaft zielende Aktionen etwa zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausreichen würden. Das aber genau tun sie nicht. Sonst sähe die Praxis anders aus. Das von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld ist ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Rollenmuster, ein gleichstellungspolitischer GAU. Das Betreuungsgeld muss verhindert werden. Erforderlich ist dagegen eine gesetzliche Quote für Frauen in Führungspositionen. Denn nur mit einem Appell an Unternehmer zur Selbstverpflichtung werden Frauen weiter an gläserne Decken stoßen. Kurzum: Ohne zusätzliche gesetzliche Regulierung wird Gleichstellung nur ein Gebot bleiben. Der von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachte Entwurf ist ein Versuch, dem Gebot der Gleichstellung bei der Bezahlung zur praktischen Umsetzung zu verhelfen. Würde er Gesetz, würde er sowohl die tarifpolitischen als auch die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten insbesondere der Gewerkschaften und Betriebsräte erweitern. Dann hätten sie eine bessere Basis als jetzt für gleichstellungspolitische tarifliche und betriebliche Forderungen und deren Durchsetzung. Dasselbe gilt für gesetzliche Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Fami-

lie und Beruf, insbesondere für ausreichende Angebote bei der Kinderbetreuung. Sind diese vorhanden, sind zum Beispiel auch mit Öffnungszeiten kompatible Arbeitszeitmodelle leichter zu vereinbaren. Der Politik kommt bei der Gleichstellung also eine Schlüsselfunktion zu. Die gesetzlichen Grundlagen für deren Wahrnehmung sind in Form des mehrfach fundierten Gleichstellungsgebotes vorhanden. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Artikel 3) enthält überdies einen klaren Auftrag an die Politik. In Absatz 2 heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Dieser insbesondere von Elisabeth Selbert in dem mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes beauftragten Parlamentarischen Rat nach mehreren gescheiterten Abstimmungen erkämpfte imperative Auftrag an den Gesetzgeber ist Verpflichtung. Die Politik muss Gleichstellung durchsetzen – auch in der Wirtschaft. Sie muss das dominierende Primat des Ökonomischen und damit die größte Bremse für die Gleichstellung beseitigen – durch eine am Menschen und seinen Bedürfnissen orientierte Gesetzgebung. Dass Gleichstellung sich auch wirtschaftlich lohnt, kann eine fördernde, darf aber keine notwendige Bedingung sein. l

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SOZIALPOLITIK UND WIRTSCHAFT Von Dr. Florian Blank, Referatsleitung „Sozialpolitik“ der Hans-Böckler-Stiftung

Der Sozialstaat war in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt das Ziel von Reformen. Viele davon zielten darauf ab, das Verhältnis von Wirtschaft und Sozialpolitik neu zu bestimmen: Ein wiederkehrendes Argument in der Kritik am Sozialstaat ist die Last, die er vermeintlich für die Wirtschaft bzw. die Leistungsträger darstellt. Diese Last ergibt sich – so argumentieren manche – auch daraus, dass sozialpolitische Programme Menschen ein Leben ohne eigene Leistung, insbesondere ohne Teilnahme am Erwerbsleben, ermöglichen. Aus dieser Kritik folgt, die Kosten für soziale Sicherung zu reduzieren und die Leistungsempfänger von Leistungen unabhängig zu machen, sie zu „aktivieren“. Dass Demokratisierung ein langwieriger und keinesfalls linear verlaufender Prozess ist, und daher auch langfristiger Förderungsstrategien bedarf, findet in Wissenschaft und politischer Praxis weitgehend Anerkennung. Wenngleich der Aufbau repräsentativer Institutionen wie eines Parlamentes relativ schnell geschehen mag, ent-

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scheiden letztlich das Verhalten und die Wertvorstellungen politischer Eliten und Gesellschaftsgruppen über die Qualität und den Fortbestand einer Demokratie. Gerade dieser soziokulturelle Wertewandel einer Gesellschaft bedarf viel Zeit. Andere Reformen versuchten, die für Märkte angenommene Effizienz in die Sozialpolitik zu übertragen und für die BürgerInnen Wahlmöglichkeiten zwischen konkurrierenden Anbietern und ihren Produkten zu schaffen. In diesem Zusammenhang sind auch ökonomische Denkweisen in den Sozialstaat eingezogen: (monetäre) Anreizstrukturen sollen das Verhalten der Menschen beeinflussen, Wahlfreiheit und Eigenverantwortung im Sinne privaten Nutzenkalküls haben einen höheren Stellenwert erhalten. In der Wirtschaftskrise ist dagegen auf die Rolle des Sozialstaats als Stabilisator für die gesamte Wirtschaft hingewiesen worden, der Einkommen und Konsummöglichkeiten unabhängig vom Marktgeschehen gesichert und damit auch für eine Stabilisierung der Nachfrage gesorgt hat. Die Verschränkungen von Sozialpolitik und Ökonomie sind also einigermaßen


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komplex. Ich möchte im Folgenden einigen dieser Verschränkungen und Bezüge von Wirtschaft und Sozialpolitik nachgehen.1 Gegeneinander, miteinander, füreinander? Das Wirtschaft und Sozialpolitik aufeinander bezogen sind, ist unumstritten. Sozialpolitik hat ihren Kern in der Regulierung der Wirtschaft – insbesondere des Arbeitsmarkts – und in der Verteilung oder Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Gleich mit welcher Begründung und durch welche politischen Kräfte sie umgesetzt wird – Sozialpolitik ist ein Eingriff in das „freie“ Spiel der Marktkräfte. Sie zielt auf Verteilungsergebnisse ab, die der Markt alleine nicht erzielt hätte. Entsprechend wird teils auch von „Dekommodifizierung“ als Ergebnis von Sozialpolitik gesprochen (vgl. Esping-Andersen 1990): Da Einkommen und Konsummöglichkeiten neben dem Markt geschaffen werden, wird der Druck auf BürgerInnen, ihre Arbeitskraft als Ware2 zu verkaufen, gemildert. Um in diesem Sinne wirken zu können, setzt öffentliche Sozialpolitik aber zugleich eine leistungsfähige Ökonomie voraus, denn die finanzielle Mittel, Güter und Dienstleistungen, die es umzulenken gilt, müssen erwirtschaftet werden: Jemand muss die Rechnung bezahlen. Dabei kann es politisch durchaus einen Unterschied machen, ob in einer boomenden Ökonomie die Zugewinne verteilt werden (wie in der Nachkriegszeit), oder ob eine Verteilung in Zeiten einer stagnierenden oder nur langsam wachsenden Ökonomie neu verhandelt werden muss. Da Sozialpolitik also eine Korrektur von Marktergebnissen bedeutet, ist das

Verhältnis von Sozialpolitik und Wirtschaft entsprechend häufig als Konflikt verstanden worden. So wird befürchtet, dass das Wirtschaftsgeschehen durch sozialpolitische Eingriffe belastet oder sogar gelähmt wird. Die Grenzen eines sozialpolitischen Eingriffs, also die Belastbarkeit der Wirtschaft, sind jedoch umstritten. In der deutschen Sozialpolitik wurde und wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Beiträge zur durch ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeber finanzierten Sozialversicherung als so genannte „Lohnnebenkosten“ – für den Arbeitgeber sind sie letztlich ein Teil der Lohnkosten – eine Gefahr für den „Standort Deutschland“ darstellen und entsprechend kontrolliert oder gesenkt werden müssten. Allerdings ist etwa die in der deutschen Rentenpolitik gesetzte Zielmarke eines Beitragssatzes von 22 % (getragen von ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebern) letztlich eine politische Setzung mit symbolischem Wert. Sie ist ökonomisch in der exakten Höhe nicht zu begründen und leitet sich auch erst recht nicht aus einer Debatte über die Leistungsfähigkeit des Rentensystems ab (die Leistungsfähigkeit folgt umgekehrt in der aktuellen politischen Logik dem Beitragsziel). Auch der direkte Zusammenhang zwischen Sozialabgaben und Wirtschaftsentwicklung ist keineswegs eindeutig, da die von den Arbeitgebern gezahlte Lohnsumme ins Verhältnis zur Produktivität der 1 Ich möchte betonen, dass die im Folgenden dargestellten Aspekte nicht von mir „entdeckt“ worden sind. Die Zusammenstellung folgt aus einer längeren Beschäftigung mit Sozialpolitik und sozialpolitischer Forschung. Einige Literaturhinweise, in denen die folgenden Aspekte behandelt werden, finden sich am Ende des Textes. Weitere Hinweise gebe ich gerne auf Anfrage. 2 Engl. „commodity“.

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Beschäftigten gesetzt werden muss, um zu einer realistischen Einschätzung zu kommen. Der Annahme eines Konfliktes entsprechend, aber unter umgekehrten Vorzeichen, kann die Aufgabe – und nicht nur Wirkung – der Sozialpolitik auch explizit als Bändigung des Marktgeschehens, als ein Zurückdrängen oder Einhegen der Wirtschaft verstanden werden. Der Eingriff ist dann nicht nur unvermeidbarer Nebeneffekt, sondern Programm: Sozialpolitik als Politik gegen den Markt. Dieser Eingriff lässt sich durch Hinweise auf Gerechtigkeitskonzepte begründen, etwa der Annahme eines Rechts auf allgemeine Teilhabe am materiellen Wohlstand einer Gesellschaft oder auf den Besitz der Mittel, die ein würdiges Leben als akzeptiertes Mitglied der Bürgerschaft ermöglichen. Eine weitere Argumentationslinie könnte weniger auf Fragen der Gerechtigkeit als auf die Notwendigkeit einer Verteidigung von gesellschaftlichen Bereichen gegen den Markt hinweisen: Die Überhandnahme von wirtschaftlicher Macht muss durch öffentliches Eingreifen gekontert werden, damit die Gesellschaft überhaupt funktionieren kann. Grautöne Wie so häufig, ist eine einfache Gegenüberstellung zweier Extreme, von „freiem“ Markt und gegen den Markt gerichteter Sozialpolitik, auch in diesem Fall eine zu grobe Vereinfachung. Diese Zwischentöne machen eine Bewertung schwieriger, das Gestalten der Sozialpolitik vielleicht aber auch einfacher, da Kompromisse und positive Wechselwirkungen ins Spiel kommen. Zunächst ist festzustellen, dass sich Sozialpolitik in ihrer tatsächlichen Ausprä-

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gung nicht einfach gegen den Markt stellt, sondern ihn zumindest im Detail reflektiert. Das deutsche Sicherungssystem etwa trägt nach wie vor Spuren der klassischen ArbeitnehmerInnenversicherung, die erst später für andere Gruppen geöffnet wurde. Die Leistungen der Arbeitslosen- und auch Rentenversicherung orientieren sich bis heute stark am vorherigen Einkommen der Leistungsbezieher, sie reproduzieren damit also in einem gewissen Umfang die Ungleichheiten, die sich auf Grund des Arbeitsmarktes und der Entwicklung von Branchen und Berufen ergeben haben (aus einem geringen Lohn folgt eine geringe Rente). Gleichzeitig trägt die Sozialpolitik zum Funktionieren der Wirtschaft bei. Durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes und der Gesundheitspolitik sorgt sie für den Erhalt und Wiederherstellung der Arbeitskraft der Beschäftigten, sie trägt auch zu einem stabilen gesellschaftlichen Umfeld bei, das Wirtschaften erst möglich macht. Sozialpolitik ist als wirtschaftlicher Faktor direkt von Bedeutung, als Arbeitgeber und Auftraggeber. Die Rolle des Arbeitgebers und Anbieters von Gütern und Dienstleistungen wird nicht nur vom Sozialstaat im engen Sinne – also öffentlich-rechtlichen Institutionen – übernommen, sondern wird in Deutschland traditionell durch einen Mix aus öffentlichen, gemeinnützigen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen ausgefüllt, die öffentlich beauftragt oder finanziert werden. Hier ist durch die vergangenen Reformen eine Verschiebung festzustellen, etwa bei Versicherungen oder Krankenhäusern. Ebenso werden öffentliche Einrichtungen wie die Krankenkassen angehalten, sich vermehrt wie privatwirtschaftliche, konkurrierende Unternehmen zu verhalten. Schließlich lässt ich anneh-


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men, dass die öffentliche (Um-) Verteilung von Einkommen einen positiven Effekt auf das Nachfrageverhalten der Bevölkerung hat und – da Sozialpolitik trotz der direkten Bezüge einen Handlungsspielraum neben der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung hat – auch die Wirtschaft stabilisieren kann. Eine weitere Grauzone zeigt sich in der seit den 1990er Jahren geführten Debatte um „Aktivierung“. Hier geht es darum, Menschen in Beschäftigung zu bringen und teils auch überhaupt beschäftigungsfähig zu machen. Entsprechende Maßnahmen – etwa die Hartz-Gesetze – sind hoch umstritten, nicht zuletzt weil hier Fragen nach individueller Verantwortung für Arbeitslosigkeit, dem Stellenwert von Erwerbsarbeit und schließlich auch nach dem legitimen Handlungsspielraum der Arbeitsverwaltung aufgeworfen werden (welches Verhalten darf von Arbeitssuchenden verlangt werden?). Hier ist aber die schlichte Feststellung von Interesse, dass Sozialpolitik offensichtlich nicht nur die Aufgabe hat, BürgerInnen und besonders ArbeitnehmerInnen einen Schutz gegenüber dem Markt zu gewähren, sondern – positiv formuliert – auch, ihre gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeitsmarktpartizipation und Erwerbstätigkeit zu fördern. In Abgrenzung zu dem oben genannten Konzept der „Dekommodifizierung“ wird hier auch von einer „Rekommodifizierung“ gesprochen. Ein letzter Punkt, der einer klaren Trennung zuwiderläuft: Die Sozialreformen der letzten Jahre haben verstärkt Marktmechanismen in den Sozialstaat integriert (so genannte Wohlfahrtsmärkte). BürgerInnen können hier eigenverantwortlich zwischen Produkten verschiedener Anbieter wählen, sie müssen sich also

wie KundInnen verhalten und das für sie richtige Produkt identifizieren. Beispiele hierfür sind etwa der Markt für „RiesterProdukte“ oder die Wahlmöglichkeiten zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Mit diesen Märkten verbunden ist die Hoffnung, dass Sozialpolitik auf diesem Weg effizienter arbeitet und den BürgerInnen passgenaue Angebote unterbreitet werden. Was ist sozial? Diese Aspekte legen nahe, dass eine analytische Trennung von Wirtschaft und gegen diese gerichtete Sozialpolitik zwar ein hilfreicher Ausgangspunkt ist, aber in der Realität eine ganze Reihe von Bezügen, Wechselwirkungen, Hybriden existiert. Wie lassen sich nun einzelne Maßnahmen und Sozialpolitik allgemein beurteilen? Welche Aspekte können helfen, diesen Komplex des Für-, Mit- und Gegeneinanders zu sortieren? Zentral scheinen mir die folgenden Punkte, die zur Erhellung der Grauzonen dienen können. Es ist wichtig, dass es hier um gesellschaftspolitische Bewertungen und Argumentationszusammenhänge geht, weniger um wissenschaftliche Analysen. Ein erster Punkt betrifft die gestaltende Rolle der Sozialpolitik. Wird Sozialpolitik zuvörderst als eine die Gesellschaft gestaltende Kraft verstanden, die dem Markt seine Grenzen setzt und Lebenslagen gestaltet oder als Kostenfaktor? Es geht hier um eine Betonungsfrage oder eher um den Startpunkt der Beschäftigung mit Sozialpolitik. Sozialpolitik verursacht natürlich Kosten und die sind nicht zu vernachlässigen. Sozialpolitik kann aber bei den Kosten ansetzen (was können wir uns leisten?) oder stattdessen bei den Leistungen (was

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wollen wir erreichen?). In den vergangenen Jahren lag der Schwerpunkt auf den Kosten; in der Wissenschaft wird hier von einer „einnahmenorientierten Ausgabenpolitik“ gesprochen. Die Perspektive, welche Leistungen als fair und notwendig empfunden werden, blieb hinter dem Versuch, die Kosten einzudämmen, zurück. Eine Begründung von Leistungen fällt natürlich leichter, wenn darauf hingewiesen werden kann, dass die Kosten Investitionen sind, die der gesamten Gesellschaft und auch der Wirtschaft zugute kommen. Diese Argumentation birgt aber die Gefahr, dass eine Sozialpolitik, die auf Schutz der Bürgerinnen und Bürger bedacht ist, unter verstärkten Rechtfertigungsdruck gerät, wenn sie nicht als Investition verrechnet werden kann oder die erhofften Gewinne ausbleiben. Ein zweiter Punkt fokussiert die Rollen von Individuum und Kollektiv. Wird der individuellen Wahlfreiheit und auch der individuellen Verfügung über Einkommen ein hoher Wert zugeschrieben und wird generell von einem mündigen, rational handelndem MarktteilnehmerInnen (dem „homo oeconomicus“) ausgegangen, ist eine andere Sozialpolitik die Folge, als wenn Sozialpolitik als ein kollektives Projekt konzipiert wird, dass auf soziale Problemlagen und Schutzbedürfnisse reagiert und dabei Grenzen des Handelns des/der Einzelnen akzeptiert. Eng damit verbunden sind auch Fragen nach Verantwortung: Welche Problemlagen sind selbstverschuldet und müssen entsprechend individuell verarbeitet werden? Welche Probleme qualifizieren sich dagegen als soziale Risiken, die eine individuelle Anpassung übersteigen? Diese Fragen sind nicht nur technischer Natur. Eine Sozialpolitik, die auf individuelles Handeln setzt, kann auch ge-

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Sozialpolitik und Wirtschaft Argumente 3/2012

sellschaftliche Folgewirkungen haben. Diese können in einer unterschiedlichen Absicherung bestehen, aber auch in einem wachsenden Bewusstsein, dass jeder zunächst um sich selbst bemüht ist. Die Kehrseite der Eigenverantwortung wäre dann die kollektive Verantwortungslosigkeit. Eine solche Interpretation von Eigenverantwortung läuft einem Verständnis zuwider, das Verantwortung auch als Verantwortung gleicher BürgerInnen für einander begreift, die sich gegenseitig absichern und unterstützen. Als Kehrseite der Arbeitsteilung von Individuum und Kollektiv muss schließlich auch die Frage nach Demokratie und Herrschaft gestellt werden: Welches Art öffentlichen Eingreifens ist legitim? Diese Frage ist zentral in der demokratietheoretischen Debatte, meist mit der Tendenz, das Individuum gegen einen autoritären Staat oder auch gegen die Tyrannei der Mehrheit zu verteidigen. Diese Argumentation ist wichtig und auch im Kontext des Sozialstaats angemessen, beispielsweise, wenn es um Fragen der Privatsphäre und Selbstbestimmung etwa gegenüber der Sozialverwaltung oder Professionellen geht. Allerdings lässt sich die Frage auch vorsichtig umkehren: Wie viel Eingreifen öffentlicher Einrichtungen in die Wirtschaft ist notwendig, damit sich Demokratie überhaupt (noch) als eine Herrschaftsform qualifiziert? Anders formuliert – ist ein demokratischer Sozialstaat, der keine Herrschaft ausüben will und ökonomische Machtund Verteilungsverhältnisse nicht benennen und gegebenenfalls modifizieren kann, überhaupt noch demokratisch zu nennen? l


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Literatur: Gerhard Bäcker u. a. (2010): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, 2 Bde., Wiesbaden: VS. Gøsta Esping-Andersen (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge: Polity Press Karl Polanyi (1973): The Great Transformation, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Tony Judt: Dem Land geht es schlecht, München: Hanser.

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SOZIALES WACHSTUM Von Dr. Michael Dauderstädt, Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

„Soziales Wachstum“ beschreibt ein Wachstumsmodell für Deutschland, das grundsätzlich aber auch europäisch oder global erweitert werden kann. Dieses Modell grenzt sich im gesellschaftlichen Diskurs einerseits gegen das traditionelle, quantitative, nicht-nachhaltige, primär industrieund exportorientierte Wachstum1 mit seiner ungleichen Wohlstandsverteilung andererseits gegen alternative Konzepte wie „grünes Wachstum“2, „Postwachstum“3 oder gar Schrumpfungs-4 und Konsumverzichtstrategien5 ab. Soziales Wachstum betont dagegen den Binnenmarkt, den Ausbau sozialer Dienstleistungen und eine gerechtere Einkommensverteilung. Positive Effekte auf die ökologische Nachhaltigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ergeben sich vor allem durch Produktivitätsgewinne und den Strukturwandel zu weniger ressourcenintensiven Aktivitäten.6 Die Angebotsseite des sozialen Wachstums Sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik wird gern unterstellt, sie steigere die Nachfrage durch Umverteilung und Staats-

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Soziales Wachstum Argumente 3/2012

verschuldung, ohne zu bedenken, dass ohne Ausdehnung des Angebots dies nur zu Inflation oder Importschüben führen werde. Dagegen setzt das soziale Wachstum auf eine Strategie, die Angebot und Nachfrage erhöht. Betrachten wir zunächst die Angebotsseite (einen Überblick gibt die Grafik 1): Das Angebot einer Wirtschaft wächst, indem entweder der Arbeitseinsatz oder die Arbeitsproduktivität zunimmt.

1 Z. B. Bert Rürup und Dirk Heilmann „Fette Jahre. Warum Deutschland eine glänzende Zukunft hat“ München 2012 2 Z. B. Ralf Fücks Das Wachstum der Grenzen (http://www.boell.de/oekologie/marktwirtschaft/ oekologische-marktwirtschaft-ralf-fuecks-wachstum-grenzen-11772.html) 3 Z. B. Tim Jackson „Wohlstand ohne Wachstum“ München 2011 4 Z. B. Serge Latouche „Minuswachstum“ in Le Monde Diplomatique 2004 (http://www.mondediplomatique.de/pm/2004/11/12/a0055.text.name ,askpL6zTy.n,5) 5 Nicht nur aus kapitalismuskritischer (z. B. Nico Paech „Befreiung vom Überfluss“, München 2012), sondern auch aus bürgerlich-konservativer Sicht (z. B. Meinhard Miegel „Exit: Wohlstand ohne Wachstum“ Berlin 2011) 6 „Soziales Wachstum“ strebtalso weder eine Deindustrialisierung Deutschlands noch einen Rückgang der deutschen Exporte an. Vielmehr geht es im Interesse der Wohlfahrtssteigerung um eine Gestaltung des ohnehin zu erwartenden Strukturwandels und einen Abbau der Exportüberschüsse.


Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 43

Vollbeschäftigung

Mitbestimmung

Wert = gesellschaftlicher Bedarf

Soziales Wachstum

Soziale Produktivität

Gute Arbeit

Soziale Investitionen

Nachhaltigkeit

Qualität (für Verbraucher)

Gesellschaftliche Arbeit: Hausarbeit, Ehrenamt, Schwarzarbeit

Grafik 1: Die Angebotsseite des sozialen Wachstums. Quelle: „Soziales Wachstum. Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik“, Bonn (FES/WISO) 2011 (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08628.pdf )

Das soziale Wachstum setzt auf mehr Erwerbsarbeit mit dem Ziel der Vollbeschäftigung. Denn die Arbeit geht uns nicht aus, solange wichtige gesellschaftliche Bedarfe nicht gedeckt sind. Die Transformation von unbezahlter, unqualifizierter, meist weiblicher Hausarbeit (vor allem Pflege) in ordentlich bezahlte, qualifizierte, professionalisierte, marktbezogene Erwerbsarbeit („Marketization“)7 ist eine wichtige Wachstums- und Wohlstandsquelle. Damit soll nicht der Wert anderer Arbeitsformen (Hausarbeit, Ehrenamt, Schwarzarbeit) geschmälert werden, die auch den Wohlstand, zumindest der Betroffenen, steigern, ohne allerdings Steuern oder Sozialabgaben und damit etwas zur Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen beizutragen. Deutschland ist mit ca. drei Millionen (offiziellen!)

Arbeitslosen und vielen unfreiwillig Teilzeitarbeitenden immer noch weit von Vollbeschäftigung entfernt und hat daher noch freie Kapazitäten. Dabei geht es nicht um Arbeit um jeden Preis nach dem Motto „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Vielmehr geht es um gute Arbeit, die durch angemessene Bezahlung (Mindestlohn!), gesundheitsschonende Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung der Beschäftigten gekennzeichnet ist. Die zweite Quelle des Wachstums ist die Produktivität. Sie ist auch die wichtigere, da der Mehreinsatz von Arbeit grundsätzlich begrenzt und immer mit der Auf7 Vgl. Ronald Schettkat „Dienstleistungen zwischen Kostenkrankheit und Marketization“ Bonn (FES/WISO) 2010 (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07406.pdf )

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Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 44

gabe selbstbestimmter Freizeit verbunden ist.8 Produktivität wird als Output/Arbeitsinput definiert. Der Output kann real (z. B. in Tonnen Weizen oder iPads) gemessen werden; ökonomisch wichtiger ist jedoch der Wert, da sich von Produktivität im volkswirtschaftlichen Sinne (mit mehr als nur einer Art von Output) nur in Werten sprechen lässt und die monetäre Produktivität letztlich die Entlohnung der Arbeit bestimmt. Nun hängt die monetäre Produktivität als Wertschöpfung/Arbeitsinput vom Preis der Vorprodukte und des Endprodukts ab (Wertschöpfung = Wert des Outputs – Wert der Vorleistungen). Reine Preisänderungen können also die monetäre Produktivität steigern (oder senken), bedeuten aber zunächst keinen allgemeinen Wohlstandsgewinn/verlust, sondern nur eine Umverteilung zwischen verschiedenen Produzenten und Konsumenten. Preissteigerungen drücken aber dann einen Wohlstandsgewinnaus, wenn sie einen erhöhten Nutzen bzw. eine gestiegene gesellschaftliche Wertschätzung für einen bestimmten Output signalisieren. So weist Apple dank höherer Preise eine höhere Produktivität als Nokia auf, obwohl die Smartphones beider Anbieter sich in ihrer Funktionalität wenig unterscheiden. Im Kontext des sozialen Wachstums geht es aber auch um die Art und Weise, wie die Produktivität gesteigert wird. Verdichtung von Arbeitsprozessen, Externalisierung von Kosten zulasten der Umwelt oder (verdeckte) Qualitätsminderung zulasten der Verbraucher mögen zwar die Produktivität, aber nicht den gesellschaftlichen Wohlstand erhöhen. Soziale Produktivität resultiert aus „echten“ Effizienz- und Wohlfahrtsgewinnen, die auf einem besseren Kapitalstock, intelligenten Geschäftsmodellen, höherer Qualifizie-

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Soziales Wachstum Argumente 3/2012

rung der Beschäftigten und für den Verbraucher wertvollen Angeboten beruhen. Wie neuere Produktivitätsanalysen ergeben haben, spielen dabei unter den genannten Kapitalkomponenten die immateriellen („intangible assets“) eine zunehmende Rolle9, wie das Beispiel Apple zeigt. Dienstleistungen, vor allem öffentliche und soziale, gelten als Produktivitätsbremsen. Offensichtlich kann der quantitative Output/Arbeitszeit etwa bei Friseuren oder Musikern kaum erhöht werden. Aber die daraus resultierende „Kostenkrankheit“ (Baumol) unterschätzt die Möglichkeiten qualitativer Outputverbesserungen und die Preisanpassungen, die sich daraus ergeben, dass mit zunehmendem Überangebot an Fertigwaren die Nachfrage nach Dienstleistungen überproportional wächst. Das unterschiedliche Produktivitätswachstum von Industrie und Dienstleistungssektor verändert langfristig die relativen Preise und die Zusammensetzung der Haushaltsausgaben.10 Wenn Investitionen einerseits die Produktivität verbessern und andererseits Arbeitsplätze schaffen, kann man sie als „Soziale Investitionen“ (siehe Grafik 1) bezeichnen. Dazu zählen auch Ausgaben für die Bildung, die die Produktivität und Be8 Das Bevölkerungswachstum zählt nicht, da es das Prokopfeinkommen nicht erhöht. Ohne wenig wünschenswerte Erhöhung der Lebensarbeitszeit (d.h. mehr Wochenarbeit; weniger Urlaub; späterer Ruhestand) kann der Arbeitsinput nur durch Abbau der Arbeitslosigkeit und Marketization wachsen. 9 Vgl. Bart van Ark et al. „Productivity, performance, and progress: Germany in international comparative perspective“ Bonn (FES/WISO) 2010 (http://library.fes.de/pdffiles/wiso/06289.pdf ). 10 Vgl. Michael Dauderstädt „Produktivität im Dienstleistungssektor: Eine Grenze des Wachstums?“ in Wirtschaftsdienst 1/2012


Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 45

Haushaltseinkommen aus Löhnen und Gewinnen sowie Sozialleistungen

Steuern und Abgaben

Transfers

Ersparnis

Produktion öffentlicher Güter und Dienstleistung

Konsumausgaben

Kreditangebote aus dem Finanzsektor

Produktion für den Markt

Haushaltseinkommen aus Löhnen und Gewinnen sowie Sozialleistungen plus Neuverschuldung

Grafik 2: Kreislauf der Einkommen. Quelle: „Soziales Wachstum. Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik“, Bonn (FES/WISO) 2011 (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08628.pdf )

schäftigungsfähigkeit der Menschen steigert. Solche Investitionen kann man grundsätzlich auch mit Schulden finanzieren, da sie langfristig das Einkommen erhöhen, aus dem sich dann der Schuldendienst leisten lässt. Damit unterscheiden sie sich von spekulativen Finanzinvestitionen, die keine realwirtschaftlichen Werte schaffen. Die Nachfrageseite des sozialen Wachstums Das soziale Wachstum stößt also auf der Angebotsseite auf keine unüberwindlichen Schranken, sondern eher auf unausgeschöpfte Ressourcen. Aber das Angebot wird nur real entstehen, wenn ihm eine kaufkräftige Nachfrage gegenübersteht. Grundsätzlich entstehen bei der Ange-

botserstellung die Faktoreinkommen, die das Angebot auch kaufen können. Grafik 2 zeigt diesen Kreislaufzusammenhang. Grundsätzlich ist es dabei unerheblich, ob die Kaufkraft von den Haushalten über den Steuer- und Abgabenkanal zu den Anbietern öffentlicher Dienstleistungen oder über den Marktkanal an die privaten Anbieter fließt, um dann von den Anbietern wieder als Löhne oder Gewinne zu den Haushalten zu kommen. Es spräche kreislauftheoretisch auch nichts gegen ein weitgehend privates Angebot an erneuerbarer Energie, Bildung, Gesundheit oder Pflege, wenn Regulierungen sicherstellen, dass der Wettbewerb nicht über Lohnsenkung oder Kostenexternalisierung läuft (s. o. zur Angebotsseite). Die Probleme ergeben sich aus der Ungleichheit der Einkommens- und Vermö-

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Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 46

gensverteilung. Wenn alle Menschen in Deutschland, oder wenigstens alle Bürger/innen, einen gleichen Mindestzugang zu bestimmten Gütern und Dienstleistungen haben sollen, müssen entweder die Haushalte mit entsprechender Kaufkraft ausgestattet und/oder die Angebote verbilligt (im Extremfall kostenfrei) werden. Im letzteren Fall bietet sich eine öffentliche Angebotserstellung durch den Staat an, da er den Preis (Steuern, Abgaben) nach dem Einkommen differenzieren kann. Bei öffentlichen Gütern im engen Sinn (z. B. äußere Sicherheit, innere Sicherheit, Recht) ist eine private, marktmäßige Lösung ohnehin unmöglich, da der Nutzenausschluss versagt. Für die erste Lösung (Ausstattung mit Kaufkraft) kommt zum einen Umverteilung in Frage oder ein Eingriff in die Primärverteilung (z. B. Mindestlöhne). Eine gleichmäßigere Einkommensverteilung (ggf. nach Steuern) würde auch ein weiteres Problem auf der Nachfrageseite entschärfen: die hohe Ersparnis der reichen Haushalte. Diese Ersparnis reduziert die Nachfrage in dem Maße, wie der Finanzsektor sie nicht weiter an verschuldungsbereite Akteure kanalisiert. In einer idealtypisch funktionierenden kapitalistischen Wirtschaft würden die Unternehmen diese Ersparnis nutzen, um Investitionen zu finanzieren. Der dadurch ermöglichte zusätzliche Output würde die Verzinsung alimentieren. Die Struktur des Angebots würde sich in Richtung Investitionsgüter (z. B. Maschinen) verändern. Tatsächlich absorbiert die Kreditnachfrage des Unternehmenssektors aber die Haushaltsersparnis nicht, da – auch wegen der schwachen Nachfrage – die Investitionsneigung gering ist. Im Endergebnis hat Deutschland in den letzten Jahren etwa 5 % des Bruttoin-

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Soziales Wachstum Argumente 3/2012

landsprodukts (BIP) ans Ausland verliehen und damit seinen Exportüberschuss finanziert. Eine alternative Verwendung im Inland hätte hier die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen verbessert. Soziales Wachstum: machbar und gut für Deutschland und Europa Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat mit mehreren Projekten Wachstumspfade empirisch-mathematisch modellieren lassen, um die Realisierbarkeit sozialen Wachstums zu überprüfen. Eine Studie der Prognos-AG11 berechnete die Wachstumsund Beschäftigungseffekte einer Expansion von drei verschiedenen Dienstleistungsbereichen (Pflege, Kinderbetreuung, Haushaltshilfen) mit etwa 667.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen und knapp 22 Mrd.€ BIPWachstum. Aber das bedeutsamere Ergebnis ist die Struktur der Wirkungskette im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf, die zeigt, wie sich ein Ausbau sozialer Dienstleistungen in einem neuen Gleichgewicht (siehe Tabelle 1) selbst finanziert und zu mehr Wachstum und Beschäftigung führt. Da noch viel mehr gesellschaftliche Bedarfe (z. B. im Bildungsbereich oder im Gesundheitswesen) zu decken sind, kann das vorgestellte Wachstumsmodell weiter skaliert werden. Dies zeigt auch eine zweite Studie, die im Auftrag der FES vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI)12 erstellt wurde und die eine Expansion des Ge-

11 Vgl. Kai Gramke, Dr. Reinhard Schüssler, Markus Matuschke (Prognos AG) „Soziales Wachstum durch produktive Kreisläufe“ (http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08886.pdf ) 12 Die Studie ist unter http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08872.pdf verfügbar.


Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 47

Tabelle 1: Zusätzliche Ausgaben und Einnahmen im volkswirtschaftlichen Kreislauf (in Mrd. €) von\an

Haushalte

Haushalte 3 Expansionsbereiche Übrige Wirtschaft Sozialversicherung Fiskus Einnahmen

13,52 2,96 – 1,03 – 1,09 14,36

3 Expansionsbereiche 7,99

Übrige Wirtschaft 5,78

8,30 5,55 21,84

5,78

Sozialversicherung 2,53

Fiskus

Ausgaben

3,85

14,37

2,53 2,20

0,62

7,26

4,47

21,83 5,78 7,27 4,46 53,72

Quelle: Prognos (minimale Differenzen der Spalten- und Zeilensummen ergeben sich aus Rundungsfehlern)

sundheitssektors über das BIP-Wachstum hinaus mit einem makroökonomischen Modell simulierte. Auch hier zeigte sich ein Wachstum von Beschäftigung und Einkommen, das von einem Strukturwandel des Angebots und der Haushaltsausgaben begleitet ist. Nicht zuletzt würde eine solche auf die Binnennachfrage ausgerichtete Expansion in Deutschland dazu beitragen, die Ungleichgewichte in Europa abzubauen. Ähnlich wie die Wiedervereinigung 1990 den deutschen Exportüberschuss schnell eliminierte, könnte ein großes Programm zur Energiewende (Produktion erneuerbarer Energien, Netzausbau, Speichertechnologien, energiesparendes Wohnen und Mobilität) und zum Ausbau wichtiger sozialer Dienstleistungen heute das europäische Wachstum beflügeln. Dabei kann die Staatsverschuldung sogar sinken, wenn mit dem BIP die Steuereinnahmen steigen und der Staat die überschüssige Ersparnis der privaten Haushalte nicht leiht, sondern gezielt wegsteuert (Belastung hoher Einkommen, Vermögen und Erbschaften), um sie in produktive Kreisläufe statt riskante Spekulationen zu kanalisieren. l

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Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 48

PERSPEKTIVEN DER GEWERKSCHAFTEN IN EUROPÄISCHEN KRISENZEITEN Kai Burmeister arbeitet als Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall Stuttgart und ist Mitglied der spw-Redaktion

Die Funktion der Gewerkschaften liegt in der Durchsetzung verbesserter Einkommens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten. Wenn die Perspektiven der Gewerkschaftsarbeit in Deutschland und Europa beschrieben werden sollen, rücken im Herbst 2012 die Wirtschafts- und Finanzkrise, die vorherrschende Form der Krisenbewältigung und die sich über Europa ausbreitende Konjunkturabschwächung in den Blickpunkt. Eingriff in Tarifautonomie im Euroraum zur Krisenbewältigung? Die makroökonomischen Folgen der Krisenbewältigung in Form von europäischer Schuldenbremse und Sparauflagen sind durch die Jusos bereits breit kritisiert worden. Wie sehr die Krisenbewältigung à la Troika aus EZB, IWF und EU Kommission auch gegen Grundpfeiler der Gewerkschaften ausgerichtet ist, zeigte sich bereits im Jahr 2011 am Beispiel Griechenland. So

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bemerkt die FAZ am 09. Oktober letzten Jahres: „Die Troika fordert Griechenlands Regierung auf, die Tarifautonomie aufzuheben, damit die Löhne in der Privatwirtschaft sinken und die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft steigt.“ Krise engt Spielraum für Gewerkschaften ein! Neben diesem Angriff auf das Recht der Gewerkschaften auf freie Tarifverhandlungen treffen die Folgen der Krisenbewältigung im Süden Europas vor allem Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner. Die Mehrheit der Menschen muss mit drastischen Einschnitten ihrer Einkommen zurechtkommen und Arbeitsplätze gehen verloren. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist seit 2008 in die Höhe geschossen. Nach Angaben des DIW sind in Spanien 46 %, in Griechenland 44 % und in Portugal 30 % der Jugendlichen ohne Arbeit. Es droht einer ganzen Generation in Europa, um ihre Zukunft betro-

Perspektiven der Gewerkschaften in europäischen Krisenzeiten Argumente 3/2012


Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 12:23 Seite 49

46,4 46,4

44,4 44,4

Erwerbslosenquote Erwerbslosenquote – - Jugendliche von 2008 bis 2011 – Jugendliche von 2008 bis 2011 inin %% –30,1 30,1

29,3 29,3

29,4 29,4

24,6 24,6 22,1 22,1

21,3 21,3

22,9 22,9 20,2 20,2

22,1 22,1

21,3 21,3

18,6 18,6

16,4 16,4

15,6 15,6 12,7 12,7 10,6 10,6

8,6 8,6

7,6 7,6 5,3 5,3

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Quelle: Zahlen nach DIW-Wochenbericht 30/2012

gen zu werden! Durch die anhaltende Spirale aus Haushaltskürzungen und zurückgehender Wirtschaftsleitung ergibt sich keine erkennbare Hoffnung auf neue Beschäftigung in naher Zukunft. Auf den Punkt gebracht: Eine trudelnde Wirtschaft engt den Spielraum für Gewerkschaften ein. Nicht nur deshalb geht es um Auswege aus der Krise! Öffentliche Stimmung in Deutschland In Deutschland wirkt die „europäische Krise“ bislang vor allem als eine Krise der Anderen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist im europäischen Vergleich eher gering und vor allem die Exportindustrie kann sich bislang (noch) von der Misere in Südeuropa abkoppeln, da die Nachfrage aus den USA

und den BRIC-Staaten weiterhin hoch ist. Zwar wird allabendlich in den Nachrichtensendungen über Sonder-EU-Gipfel und neue Hilfspakete berichtet, aber im Alltag und in der Mehrzahl der Betriebe ist von der Krise wenig zu merken. Diese Tatsache ist für die Politik der Gewerkschaften zu berücksichtigen. Die vorhandene gewerkschaftliche Kritik an den Sparbeschlüssen in Europa ist kein Selbstläufer. In der Öffentlichkeit und auch in der Arbeitnehmerschaft gibt es durchaus eine Zustimmung zur harten Linie von Merkel gegenüber schludrigen Griechen, Italienern und Spaniern. Diese harte Linie findet ihre Verstärker im rechten Populismus der Herren Hans-Werner Sinn und Hans-Olaf Henkel. Damit wird ein Versäumnis aus der Hochzeit der Fi-

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Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 50

nanzmarktkrise deutlich, mit dem sich Gewerkschaften heute auseinandersetzen müssen: Es ist nicht gelungen, die Kritik am Finanzmarkt-Kapitalismus und seinen Exzessen breit zu verankern und Regulierungen zu erreichen. Ökonomische Aufklärung nötig – Finanzmärkte als Krisenursache öffentlich machen! Aus der Finanzmarkt- und Bankenkrise ist im öffentlichen Bewusstsein heute eine Staatsschuldenkrise geworden. Auch wenn es schon oft dargestellt wurde, die Ursachen für die derzeitige Lage in Europa müssen klar benannt werden. Der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers sowie Spekulation und Zockerei waren der Ausgangspunkt der Krise in den Jahren 2007/2008. Dieser Beinahe-Kollaps des Herzstücks des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus konnte im nächsten Schritt nur mit Hilfe massiver staatlicher Rettungsaktionen zu Gunsten des Finanzsektors abgewendet werden. Das hatte den Anstieg der Staatsverschuldung in vielen Ländern zur Folge (siehe Grafik 2), gleichzeitig ist die Krise vom Finanzmarkt auf die Realwirtschaft übergesprungen. Doch diese Zusammenhänge zwischen Finanzmarktkrise und Staatsschulden sind im Alltagsbewusstsein zu wenig verankert. Die Zähmung und die weiterhin nötige Schrumpfung des Finanzmarktes sind nicht geglückt. Zwar sollte laut offizieller Ankündigung des G-20-Gipfel von Pittsburgh im Jahr 2009 „Kein Markt, kein Produkt soll unreguliert bleiben“, aber die getroffenen Maßnahmen der internationalen Politik gegenüber den Finanzmarktakteuren waren völlig unzureichend. Sollen in Europa wieder Beschäftigung und Wachs-

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tum ansteigen, so liegt in der Regulierung der Finanzmärkte eine zu erfüllende Voraussetzung. Ausgehend von dieser Rahmenbedingung werden nun drei Vorschläge dargestellt, mit denen die Gewerkschaften ihre Funktion für die abhängig Beschäftigten wahrnehmen können. Die gewerkschaftlichen Handlungsarenen sind dabei sowohl der Betrieb als auch Politik und die Öffentlichkeit. Dabei gilt: Gewerkschaften müssen im Betrieb, auf der Straße und im politischen und wissenschaftlichen Raum sichtbar sein, keine Arena kann eine andere ersetzen. 1) Europa sozial und demokratisch neu begründen Die ökonomische Aufklärung über die tatsächlichen Krisenursachen ist für die Gewerkschaften nötiger denn je und Ausgangspunkt, wenn der europäische Gedanke mit mehr Demokratie und mehr Sozialstaat neu begründet werden soll. Die Gewerkschaften müssen dem Europa der Solidarität ein Gesicht verleihen. Die in der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft vorhandene Skepsis gegenüber dem heutigen Zustand der Europäischen Union ist vielfach berechtigt und dahingehend Rechnung zu tragen, dass der neoliberale Kern der Wirtschaftspolitik ebenso wie die Demokratiedefizite der europäischen Institutionen klar benannt werden müssen. Es geht demnach um eine schonungslose Kritik an den Konstruktionsmängeln der europäischen Integration und der Form der Krisenbewältigung, die aber in der Substanz pro-europäisch ausgerichtet sein muss. Dazu gehört die Feststellung, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten,

Perspektiven der Gewerkschaften in europäischen Krisenzeiten Argumente 3/2012


Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 51

190 190 170 170

Finanzmarktkrise ss lä tStaatsschulden Staatsschulden steigen Finanzmarktkrise lässt steigen Verschuldung desBP BIP –- Verschuldung inin % %des – -

150 150 130 130 110 110 90

70 50 30

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 EU EU

Deutschland Deutschland

Griechenland Griechenland

Spanien Spanien

Frankreich Frankreich

Quelle: Eurostat

D

Europa zu sehr auf den „Europäischen Markt“ als Kern eines vereinten Europas begrenzt haben. Zu lange sind die unterentwickelte soziale Dimension und die Demokratielücke von EU-Eliten willentlich übersehen worden. Auch hat sich die nationale Politik oft den Umweg über Brüssel zunutze gemacht, um erreichte Sozialstandards über das europäische Wettbewerbsrecht unter Druck zu setzen. Um ein Scheitern Europas zu vermeiden, sollten die Gewerkschaften für ein Europa mit mehr sozialer Sicherheit und Verantwortung – und mehr Beteiligung und Demokratie für seine Bewohnerinnen und Bewohner eintreten. Dazu müssen die europäischen Ungleichgewichte innerhalb der EU durch Wachstums- und Investiti-

onspolitik abgebaut und die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in den Ländern reduziert werden. Der demokratische Einfluss auf unser Europa muss für die Menschen zwischen Finnland und Portugal sichtbar und erlebbar sein. Das eingangs dargestellte dramatische Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa verlangt nach schnellen Lösungen. Die europäische Politik steht ausdrücklich in der Verantwortung für Ausbildung und Arbeitsplätze für die junge Generation. Ein reales Problem in der Währungsunion ist die unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung, die ihren Ausdruck in unterschiedlichen Leistungsbilanzsalden findet. Während exportstarke Länder wie Deutschland Überschüsse angehäuft ha-

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Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 52

ben, sind im Süden Europas Defizite entstanden. Neben neuen fiskalischen Ausgleichsmechanismen geht es im Kern darum, wie eine Kohäsion der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der europäischen Ökonomien realisiert werden kann.1 Dabei geht es nicht darum, die Exportkraft Deutschlands zurückzufahren. Das wäre ein Irrweg mit negativen Konsequenzen für die Beschäftigten. Die Frage muss anders gestellt werden und ehrlich beantwortet werden: Welchen Beitrag können die südeuropäischen Länder in der internationalen Arbeitsteilung einnehmen! Am Beispiel Griechenland ist es wirtschaftspolitisch recht leicht, die fehlende Perspektive von Kürzungsrunden für eine neue wirtschaftliche Dynamisierung herauszuarbeiten. Schwerer ist es hingegen, reale Perspektiven für Wachstum und Beschäftigung aufzuzeigen. Makroökonomisch geht es um eine Art Marshallplan für Griechenland, der in seinen Details durchbuchstabiert werden muss. Dabei rückt die Ebene der Branchen in den Blickpunkt. Nicht zielführend wäre es, eine griechische Automobilindustrie aus dem Boden zu stampfen. Vielmehr muss an vorhandene Kerne und traditionelle Stärken angeknüpft werden und diese durch aktive Wirtschafts- und Strukturpolitik gefördert werden. Auch neue Wirtschaftszweige rund um den ökologischen Umbau müssen mit diesem europäischen Investitionsprogramm entwickelt werden. Im Überschussland Deutschland geht es darum, den über Jahre hinweg stagnierenden Binnenmarkt in Fahrt zu bringen. In diesem Jahr ist es den Gewerkschaften in vielen Industriebranchen und im Öffentlichen Dienst gelungen, ordentliche Einkommensverbesserungen von über vier Prozent durchzusetzen.2 Um die private

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Nachfrage in Deutschland zu stärken, muss diese Lohnentwicklung ihre Fortsetzung in den nächsten Jahren finden. Die Mitglieder der Gewerkschaften waren in der diesjährigen Tarifrunde bereit dazu, dieser volkswirtschaftlichen Notwendigkeit zur Durchsetzung zu verhelfen. Wachstum in Zeiten des Klimawandels – Rolle der Industriegewerkschaften Wachstum ist und bleibt eine wichtige Voraussetzung, um steigende Wohlfahrt zu ermöglichen. Allerdings geht es nicht um ein blindes Wachstum. Die Gewerkschaften müssen das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit auszuloten, um die drohende Klimakatastrophe durch einen klimaverträglichen Wachstumspfad zu verhindern. Die Aufgabenstellung des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft ist für die IG Metall als Industriegewerkschaft nicht frei von Widersprüchen und vor allem in den schon bestehenden Wertschöpfungsketten alles andere als leicht zu bewältigen Die Herausforderung wird anhand folgenden Satzes deutlich: „Die Umweltkrise verlangt eine radikale Änderung unserer Vorstellung dessen, was wirtschaftlich gerechtfertigt ist; sie verlangt weitreichende Modifikationen unserer Wirtschaftsrechnung, sie wirft auf Schritt und 1 Vgl. hierzu die Idee von Sebastian Dullien für eine europäische Arbeitslosenversicherung: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/studien/2008_S01_dullien_ks.pdf 2 Reinhard Bispinck git in den WSI-Mitteilungen 06/2012 einen ausführlichen Bericht über die Tarifentwicklung im ersten Halbjahr 2012. Vgl. hierzu WSI-Mitteilungen 6/2012, Seiten 435 – 446.

Perspektiven der Gewerkschaften in europäischen Krisenzeiten Argumente 3/2012


Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 53

Tritt die Frage nach neuen Institutionen sowie neuen Methoden der wirtschaftspolitischen Eingriffe auf, die den Erfordernissen der Umwelt und der Aufrechterhaltung der Qualität der Lebensbedingungen angepasst sind.“ (Kapp:34) Diese Einschätzung ist aktueller denn je, auch wenn der Nationalökonom Karl William Kapp diesen Satz bereits vor knapp 40 Jahren an die Teilnehmer der vierten internationalen Arbeitstagung der IG Metall richtete. Auf dieser Oberhausener Tagung verdeutlichte Kapp zudem die weitreichende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Dimension: „In diesem Sinne trägt die heutige Umweltkrise zumindest die Keime einer radikalen Umwälzung der bisherigen wirtschaftlichen Organisationsformen in sich“. (Kapp:34) Auch wenn die damals präsentierten Gedanken nicht prägend für die gewerkschaftliche Theorie und Praxis gewesen sind, so zeigen sie jedoch: Die gewerkschaftliche Diskussion um Lebensqualität, Wachstum und Ökologie verfügt über interessante historische Fundstücke. Diese sind genauso wie die Diskussion der späten 1980er Jahre um „Auto, Umwelt und Verkehr – umsteuern, bevor es zu spät ist!“ neu aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Es geht im Jahr 2012 darum, dass Gewerkschaften sich aktiv für ökologisch und sozial verträgliche Produkte im Betrieb, in Aufsichtsräten, in den Branchen und gegenüber der Politik einsetzen. Dies kann in Zeiten des Klimawandels keine rein nationale Aufgabe mehr sein. Ein neues Europa verlangt auch von den Gewerkschaften, näher zusammen zu rükken. Auf europäischer Ebene wurden jüngst die institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen, in dem sich die europäischen Metall-, Chemie-, Textilgewerk-

schaften zu einer europäischen Industriegewerkschaft zusammengeschlossen haben.3 Diese Gründung beinhaltet das Potential, um den vorhandenen Rückstand in Sachen Europäisierung in den Gewerkschaften aufzuholen und die Diskussion um Ökologie und Ökonomie zu verbinden. Eine weitere positive Erfahrung, die noch stärker zu nutzen ist, bieten Europäische Betriebsräte. Diese Form der europäischen Zusammenarbeit muss bereits in konjunkturell guten Zeiten aufgebaut werden. Sie erst zu etablieren, wenn das Management internationaler Unternehmen eine neue Runde des Standortwettbewerbs ausruft, ist ungleich schwieriger. Die Vernetzung von Belegschaften über nationale Grenzen hinweg ist die gewerkschaftliche Antwort, um eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsbedingungen im Standortwettbewerb zu verhindern. 2) Veränderte Wertschöpfungsketten erfordern umfassendes Mandat der Gewerkschaften Die Beschäftigten der Metallindustrie konnten in diesem Jahr hohe Lohnzuwächse durchsetzen. Von strategischer Bedeutung für die nächsten Tarifrunden wird es sein, wie viele Kolleginnen und Kollegen von den durchgesetzten Tarifzuwächsen tatsächlich profitieren werden. Die Unterscheidung von Kern- und Randbelegschaften ist nicht neu, neu hingegen ist die Radikalität, mit der die Wertschöpfungsketten neustrukturiert werden. Heute ist zu beobachten, dass immer mehr 3 Mehr Informationen über den europäischen Industriegewerkschaftsbund unter www.industrieall-europe.eu

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Argumente_3_2012_Inhalt 26.10.12 11:26 Seite 54

Beispiel: Struktur der Wertschöpfungskette in der Automobilindustrie

Quelle: IG Metall 2012

Bereiche inner- und außerhalb von Werksgeländen an Zulieferer und Dienstleister ausgelagert werden. Immer mehr Beschäftigte, die durch ein Werkstor gehen, sind bei Dienstleistern, Leiharbeitsfirmen und Unternehmenstöchtern beschäftigt. Die Stammbeschäftigung wird von Unternehmensleitungen dabei immer enger definiert; die Randbereiche werden größer und zunehmend ausdifferenzierter. Nicht jeder, der beispielsweise als Werkverträgler tätig ist, wird für die Arbeit schlecht bezahlt. Andersherum sind aber an den Randbereichen der Unternehmen viele Arbeitsplätze mit niedrigen Löhnen und geringen Sozialleistungen (keine Betriebsrente, längere Arbeitszeiten etc.) entstanden. Diese Entwicklung lässt sich nicht nur in der Industrie beobachten, sondern kann genauso in großen Krankenhäusern, bei Banken und Versicherungen nachgezeichnet werden. Für Gewerkschaften und Be-

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triebsräte stellt sich damit Aufgabe, den Regelungsbereich über Löhne, Arbeitszeiten und -bedingungen entlang den tatsächlichen Produktionsbedingungen zu gestalten. Die Zonen der Prekarität wachsen auch in der Industrie, so dass der gewerkschaftlichen Kampfkraft die Gefahr droht, von innen heraus untergraben zu werden. Das Problem wird anhand von zwei Pressemeldungen deutlich, die mit Abstand von wenigen Monaten in diesem Jahr erschienen sind. Im März vermeldete Audi, dass die Tarifbeschäftigten angesichts des Rekordgewinns des Unternehmens eine Rekordprämie erhalten würden. Im Juli hieß es dann: „Die Audi AG trennt sich von mehreren Hundert Leiharbeitern. Rund 1.400 Leiharbeiter sind derzeit in Neckarsulm beschäftigt. Sie wurden vor allem während der Anlaufphase neuer Modelle gebraucht. Da diese Phase nun vorbei sei, kann auch

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der Umfang der Leiharbeit sukzessive reduziert werden.“ Angesichts der Rekordgewinne der Unternehmen besteht kein Zweifel daran, dass die Beschäftigten ihren Anteil erhalten müssen. Gleichzeitig besteht die gewerkschaftliche Herausforderung darin, nicht nur exklusiv Ansprüche für Wenige durchzusetzen. Diese Gefahr der zunehmenden Spaltung kann durch die Gewerkschaften nur dahingehend beantwortet werden, in dem die Grundsätze der Einheit und der Solidarität gestärkt werden. Übersetzt heißt das, dass die Gewerkschaften ein umfassendes Mandat für alle Beschäftigten haben und dies in der Praxis durchsetzen müssen. Einen Anfang hat die IG Metall in der diesjährigen Tarifrunde mit der Forderung nach mehr Geld und mehr Mitbestimmung bei der Leiharbeit gemacht. So richtete sich die Tarifforderung gegen die Leiharbeit, nicht jedoch gegen die dort beschäftigten Arbeitnehmer. Ausdrückliches Ziel war es, diese Beschäftigtengruppe aktiv in die Tarifauseinandersetzung einzubeziehen. In vielen Betrieben haben sich erstmalig Stammbeschäftigte und Leiharbeiter gemeinsam für ihre Interessen engagiert. In den Betrieben und in der Öffentlichkeit ist es gelungen, Leiharbeit mit dem Begriff der „prekären Arbeit“ zu besetzen und Regulierungen zu erreichen. 3) Gewerkschaften, Parteien und Bündnisse Damit die gewerkschaftlichen Anforderungen im Parlament eine Mehrheit finden können, sind die Gewerkschaften auf Arbeitsbeziehungen mit den Parteien angewiesen. Über die Entstehung und die Erschütterung der privilegierten Partner-

schaft zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie ist in den letzten zehn Jahren viel geschrieben worden. Eine bruchlose Neuauflage erscheint weder möglich, noch ist sie angesichts der sich zersplitternden Parteienlandschaft strategisch sinnvoll. Gewerkschaften sollten mit allen politischen Parteien zusammenarbeiten, mit denen sich Arbeitnehmerinteressen durchsetzen lassen. Konkret sollte sich die Zusammenarbeit anhand konkreter politischer Initiativen entwickeln. Tragfähige Allianzen entstehen dabei vor allem durch Taten und nicht durch Ankündigungen. Für die Jusos könnte dies bedeuten, sich innerhalb der Sozialdemokratie im Vorfeld der Bundestagswahl und danach für eine arbeitnehmerorientierte Politik der SPD stark zu machen. Vier konkrete Vorschläge könnten dafür Leitplanken bilden. Gegen prekäre Arbeit! Der Wert der Erwerbsarbeit darf nicht weiter durch Niedriglohnbeschäftigung und permanente Unsicherheit mit Füßen getreten werden, es geht um eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes. Dazu gehört zunächst eine allgemeine Lohnuntergrenze und die Eindämmung von prekärer Arbeit. Gerade von Leiharbeit und Werkverträgen, ist heute im starken Maße die junge Generation betroffen. Die angeführte tarifliche Regulierung der Leiharbeit kann Gesetze nicht ersetzen! Nein zur Rente mit 67 – Für flexible Ausstiege aus dem Arbeitsleben! Darüber hinaus muss es darum gehen, akzeptable Ausstiege aus dem Arbeitsleben zu organisieren. Die Rente mit 67 ist und bleibt das Symbol für die sozialpolitischen

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Fehlleistungen der Agenda-SPD. Soll verlorengegangenes Vertrauen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zurück gewonnen werden, muss es um flexible Ausstiege gehen. Maßstab dafür müssen reale Optionen sein, die nicht zur Rentenkürzung durch die Hintertür verkommen dürfen. Die IG Metall hat eine entsprechende Initiative unter dem Motto „Gute Arbeit – gut in Rente“ gestartet, die Resonanz im politischen Raum braucht.4 Arbeitshetze und Stress, Politik steht in der Verantwortung Über Stress, permanente Erreichbarkeit, fehlende Work-Life-Balance und Burnout ist viel gesprochen worden, ein Handeln der Politik ist jedoch noch nicht erkennbar. Permanente Arbeitsüberlastung und überlange Arbeitszeiten sind nicht bloß Ausdruck persönlicher Vorlieben, sondern Ergebnis von entsprechenden Managementstrategien. Beschäftigte müssen vor diesen Belastungen geschützt werden. Die IG Metall schlägt deshalb eine Anti-Streß-Verordnung vor. Ähnlich wie bei gesundheitsgefährdenden Gefahrstoffen, Lärm etc. geht es darum, dass Arbeitgeber in die Verantwortung für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen genommen werden. Diese Anti-Stress-Verordnung ist ein wichtiger und symbolischer Baustein für die Auseinandersetzung um die Kultur unserer heutigen Arbeitsgesellschaft.

deshalb die höhere Besteuerung großer Einkommen und Vermögen anzugehen. Kurzum: es braucht ein Bekenntnis der politischen Parteien zur Umverteilung, weil nur mit einer ausreichenden finanzpolitischen Basis Politik Spielräume für Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner hin zu einem guten Leben eröffnen kann. l

Literatur: FAZ, Troika fordert Aufhebung der Tarifautonomie, 09.10.2011 IG Metall, Gestaltungsmächtig bleiben! Betriebs- und organisationspolitische Neubestimmung des Organisationsbereich der IG Metall, Frankfurt 2012 Karl William Kapp, Ökonomie der Umweltgefährdung und des Umweltschutzes, Beiträge zur 4. internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft Metall, April 1972.

Sozialstaat durch Umverteilung stärken! Sozialer Fortschritt und ein erneuerter Sozialstaat (Erneuerung und Erweiterung statt Abbau) sind auf eine erweiterte Finanzierungsbasis angewiesen. Zentral ist

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4 Mehr Informationen über „Gute Arbeit – gut in Rente“ unter www.gut-in-rente.de

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PERSPEKTIVEN DER WIRTSCHAFTSDEMOKRATIE Von Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Hochschullehrer für Wirtschaftswissenschaft an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

In parlamentarischen Demokratien ist die Wirtschaft im Gegensatz zum Staat nicht demokratisch organisiert. Insofern liegt hier eine gesellschaftliche Dichotomie vor, die nur durch eine umfassende Wirtschaftsdemokratie aufgehoben werden kann. Wirtschaftsdemokratie ist dabei ein umfassender und holistischer Begriff, der zum ersten Mal in den 1920er Jahren durch Fritz Naphtali mit Inhalt ausgestattet.1 und im Berliner Grundsatzprogramm der SPD von 1989 explizite Erwähnung fand und deren Umsetzung als ordnungspolitische Alternative in der Wirtschaft eingefordert wurde.2 Wirtschaftsdemokratie umschreibt heute nach Fritz Vilmar alle „ökonomischen Strukturen und Verfahren, durch die an die Stelle autokratischer Entscheidungen demokratische treten, die durch Partizipation der ökonomisch Betroffenen und/oder des demokratischen Staates legitimiert sind.“3 Wirtschaftsdemokratie ist die Basis für einen demokratischen Sozialismus. Sie beschränken sich

dabei nicht nur auf die einzelwirtschaftliche (betriebswirtschaftliche) Ebene der Mitbestimmung, die übrigens bis heute allenfalls unvollständig im Betriebsverfassungsgesetz und den unternehmensbezogenen Mitbestimmungsgesetzen4 geregelt ist. Nein: Wirtschaftsdemokratie und demokratischer Sozialismus umfassen auch die wirtschaftliche Meso- oder Markt- und Branchenebene als auch die staatliche Makroökonomie, also die gesamtwirtschaftliche Ebene.

1 Vgl. Naphtali, Fritz, Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 1928. 2 Vgl. von Oertzen, Peter, Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Hannover 2004, S. 402ff. 3 Vilmar, Fritz, Wirtschaftsdemokratie – Zielbegriff einer alternativen Wirtschaftspolitik. Kritische Bilanz und Aktualität nach 40 Jahren, in: Reuter, Norbert/Helmedag, Fritz, Der Wohlstand der Personen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl Georg Zinn, Marburg 1999, S. 189. 4 Dazu zählen das Montanmitbestimmungsgesetz, das Mitbestimmungsgesetz von 1976 und das Drittelbeteiligungsgesetz.

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Der entscheidende Nenner für Wirtschaftsdemokratie, so könnte man sagen, ist bei allen Überlegungen immer der Mensch und seine Umwelt. Sie stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Hier muss mit Otto Brenner uneingeschränkt gelten, das „die Wirtschaft für den Menschen da ist, und nicht umgekehrt“, und das wir Menschen bei allem Wirtschaften die Umwelt zu schonen haben. Beides lässt sich aber in einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnung, die fast ausschließlich kapitalund nicht arbeits- und umweltfixiert ist, nicht umsetzen. Im Gegenteil: In einer kapitalzentrierten Wirtschaft, die unter neoliberalen Bedingungen mittlerweile die ganze Gesellschaft endsolidarisiert und damit pervertiert sowie einen Unternehmerstaat errichtet hat, stehen weder der Mensch noch die Umwelt im Mittelpunkt, sondern der einzelwirtschaftliche Mehrwert für eine kleine gesellschaftliche Klasse, den Eigentümern der sächlichen Produktionsmittel und den Geldmächtigen, die von Gewinnen, Zinsen, Mieten und Pachten leben, ohne dafür überhaupt noch selbst Arbeit zu leisten. Vergessen werden dürfen hier aber auch nicht die vielen Helfer der Kapitaleigentümer im Management, die mit hohen Arbeitseinkommen das System der Profitmaximierung erst möglich machen und hiervon vom Kapital mit entsprechend hohen Einkommen belohnt werden. Der neoliberale Shareholder-Kapitalismus bzw. seine geldgierigen Protagonisten, die nur noch auf Privatisierung und gesellschaftliche Individualisierung und eine Umverteilung des arbeitsteilig geschaffenen Einkommens von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen (Gewinn, Zinsen, Miete und Pacht) setzen, haben dabei sogar den Kapitalismus an den Rand des Abgrunds geführt. 2007 bis 2009 wurde fast die „ka-

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pitalistische Kernschmelze“ ausgelöst, die nur durch eine im Kapitalismus noch nie zuvor ausgelöste Staatsintervention in die völlig versagenden Märkte durch ein deficit spending symptomatisch kurzfristig bekämpft werden konnte. Um den privaten Reichtum zu schützen, wurde dabei im Ergebnis aber die öffentliche Armut in Form von Staatsverschuldung weiter kräftig erhöht. Die noch immer an der Macht sich befindenden Neoliberalen in Politik, Wirtschaft und Medien verkaufen jetzt die keynesianische Intervention der ökonomisch unwissenden Bevölkerungsmehrheit als eine Staatsschuldenkrise. Dabei schützen die Neoliberalen weiter uneingeschränkt die Vermögenden, die sich unter dem neoliberalen Regime immer mehr bereichert und viele Menschen in die Armut gestürzt haben. Sie „ersticken“ aber so geradezu an ihrem Geld, an ihrer Überschussliquidität, für die sie zur weiteren Verwertung und Akkumulation keine solventen Schuldner mehr finden; wozu die Geldmächtigen heute selbst ganze Staaten zählen. Um die Reichen daher vor dem „Erstickungstot“ an ihrem Geld zwangsweise vor sich selbst zu schützen, muss man sie an den Krisenlasten durch eine Vermögensabgabe oder einen Vermögensschnitt beteiligen.5 Wirtschaftsdemokratie und staatlicher Überbau Das wird aber nicht reichen. Zukünftig muss die gesellschaftliche Dichotomie durch eine Wirtschaftsdemokratie aufge5 Vgl. dazu ausführlich Bontrup, Heinz-J., Aus der weltweiten Wirtschaftskrise so gut wie nichts gelernt. Wir brauchen eine Völlig andere EU-Wirtschaftspolitik, in: Perspektivends, Heft 1/2012, S. 14ff.

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hoben werden, wobei die Überlegungen beim Staat beginnen müssen. Wirtschaftsdemokratie ist nämlich uneingeschränkt in einer demokratisch verfassten Gesellschaft an das Primat der Politik geknüpft. Nur die gewählte Politik ist bei Vorliegen eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts, einem Mehrparteiensystem und der Auswechselbarkeit der Regierung nach dem Willen der Wählermehrheit im Volk demokratisch legitimiert. Der demokratisch konstituierte Staat muss dabei einer strikten Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative unterliegen. Er hat gegenüber der Wirtschaft durch Gesetze den Handlungsrahmen zu setzen und muss die Wirtschaft kontrollieren und durch Wirtschaftspolitik aussteuern. Einen politisch neutralen Staat gibt es dabei aber in parlamentarischen Parteien-Demokratien nicht. Die unterschiedlichen Parteien verfolgen unterschiedliche Interessen ihrer Wählerschaft. Außerdem versucht die Wirtschaft ständig durch einen extensiven, teilweise korrupten Lobbyismusapparat Einfluss auf die Politik, den Staat, zur Realisierung von Partialinteressen und damit zum Schaden der ganzen Gesellschaftzu nehmen.6 Wirtschaftsdemokratie bedeutet im staatlichen Überbau, dass auch die politischen Parteien selbst über innerparteiliche demokratische Strukturen verfügen müssen. Hier darf es nicht zu oligarchen Führungszirkel und Verselbständigungen von sogenannten „Führungseliten“ kommen. Parteien, dies ist ganz wichtig, dürfen ebenso nicht von Spenden aus der Wirtschaft oder von geldmächtigen Privatpersonen abhängig sein. Um eine optimale Arbeitsfähigkeit von Parteien zu sichern, ist die Parteienfinanzierung ausschließlich durch Mitgliederbeiträge und staatliche Gelder sicherzustellen. Allenfalls ergänzend könn-

ten private Spenden in einen „neutralen Topf“ eingezahlt und nach einer Wahl die Spenden gemäß der errungenen Stimmen von den jeweiligen Parteien entnommen werden. Zu einem demokratisch (parlamentarisch) verfassten Staat und einem demokratischen Sozialismus gehören auch basisdemokratische Volksentscheide (Referenden) und die wahrhafte Aufklärung des Volks durch die Herstellung von Transparenz bei politischen Entscheidungsprozessen. Dies impliziert zur Schaffung eines Urteilsvermögens eine breite gesellschaftliche Bildung („Alphabetisierung“) des Volkes, vor allen Dingen in polit-ökonomischen Fragestellungen. Umsetzungsprobleme liegen im Politischen Von all dem sind wir weit entfernt. Genauso wie von einer interdependenten Demokratisierung der Wirtschaft auf der Mikro-, Meso- und Makroebene,7 wozu Oskar Negt zu Recht bemerkt: „Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie in einem Lande, in dem man gerade mit Entschiedenheit einen Weg in umgekehrter Richtung beschreitet, nämlich möglichst viel basisorientierte Mitbestimmungsrechte als Hindernisse betriebswirtschaftlicher Rationalisierungen beiseite zu schaffen versucht, mag einigermaßen unzeitgemäß, ja utopisch erscheinen. Trotz aller aufbre6 Vgl. Tillack, Hans-Martin, Die korrupte Republik. Über die einträgliche Kungelei von Politik, Bürokratie und Wirtschaft, Hamburg 2009, Roth, Jürgen, Der Deutschland Clan, Das skrupellose Netzwerk aus Politikern, Top-Managern und Justiz, Frankfurt a.M. 2006. 7 Vgl. dazu ausführlich Bontrup, Heinz-J., Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratisierte Wirtschaft, 4. Aufl., Köln 2011.

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chenden Krisen, welche die Unfähigkeit des Kapitalismus zur menschenwürdigen Organisation des gesellschaftlichen Ganzen alltäglich unter Beweis stellen, scheint der Zeitgeist immer noch auf Seiten dieses autoritären Wirtschaftsystems zu stehen, das seine Humanreserven und seine Produktionsantriebe wesentlich aus Konkurrenz und Motiven des Besitzindividualismus bezieht.“8 Hierbei liegen in der Tat die größten Umsetzungsprobleme einer Wirtschaftsdemokratie. Die Konkurrenz jeder gegen jeden und die Macht des Stärkeren sowie die sich daraus ergebenen Verteilungsund individuellen Besitzverhältnisse haben sich trotz ihrer negativen gesamtwirtschaftlichen Ergebnisse tief in das gesellschaftliche kollektive Bewusstsein eingefressen. Selbst der vom Markt- und Konkurrenzsystem ausgeschlossene Arbeitslose wird in seinem Leid so mystifiziert, dass er glaubt, er sei an seinem arbeitslosen Zustand selbst schuld und nicht das kapitalistische Systemversagen. Und die noch Arbeitsplatzbesitzer werden unter der seit Langem systemimmanent bestehenden Massenarbeitslosigkeit, die leicht durch Arbeitszeitverkürzungen beseitigt werden könnte,9 für weitere Profitaneignungen gefügig gemacht und als sogenannte „Arbeitskraftunternehmer“, eine „Ausgeburt der Fieberphantasien eines betriebswirtschaftlich zurechtgestutzten Liberalismus“ (Oskar Negt10), ins ökonomische Nirwana geschickt. Die nicht einseitig dem Kapital zugewandte Politik ist hier gefordert. Dazu zähle ich die LINKE, die SPD nach Schröder, die sich allerdings noch genauso finden muss wie Bündnis 90/Die Grünen nach Fischer. Die PIRATEN haben noch kein Profil. Transparenz als politische Forderung reicht hier nicht.11 Jedenfalls kann

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nur die demokratisch legitimierte Politik durch eine entsprechende Alternative Wirtschaftspolitik bzw. durch die Umsetzung einer Wirtschaftsdemokratie nicht nur für eine notwendige gesellschaftliche Aufklärung, sondern auch für Abhilfe sorgen. Was ist hierbei aber unter Wirtschaftsdemokratie konkret zu verstehen? Sie umfasst drei Ebenen. Wirtschaftsdemokratie auf der Makroebene Auf der Makroebene, der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung, darf nicht von einem vermeintlichen Gegensatz von „Markt und Staat“ ausgegangen werden, sondern von einer „Mixed-Economy“ auf Basis unterschiedlicher Eigentumsformen (privat, öffentlich, genossenschaftlich) und einer gesamtstaatlichen Rahmenplanung. Eine antizyklische Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist dazu mit einer links-keynesianischen Finanzpolitik zu verbinden, die neben einer kurzfristigen antizyklischen Konjunkturpolitik auch auf eine höhere Staatsquote durch eine entsprechende Steuer- und Abgabenpolitik zur Umverteilung von oben nach unten setzt. Diesbezüglich hat gerade noch einmal das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-

8 Negt, Oskar, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, S. 509f. 9 Vgl. Bontrup, Heinz-J., Massarrat, Mohssen, Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, in: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, Sonderdruck Mai 2011. 10 Negt, Oskar, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, a.a.O., S. 499. 11 Vgl. Leisegang, Daniel, Piratenpartei: Vom Betriebssystem zum Parteiprogramm, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2012, S. 17ff.

Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie Argumente 3/2012


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schung (DIW) gezeigt, dass die Verteilung der Wertschöpfung auf Lohn und Gewinn einen entscheidenden Einfluss auf das Wirtschaftswachstum hat. Die Umverteilung zu den Gewinneinkommen hat durch die hier gegebenen höheren Sparquoten Wachstum gekostet. „Eine gleichmäßigere Entwicklung von Lohn- und Gewinneinkommen hätte zusätzlichen Konsum in Höhe von bis zu zehn Milliarden Euro im Jahr freigesetzt und das Wachstum in Deutschland so auf ein breiteres Fundament gestellt.“12 So würden auch kontraproduktive nationalstaatliche und europäische „Schuldenbremsen“ überflüssig. Zur Makroebene gehört auch die Bestimmung öffentlicher Güter mit einem Nichtausschluss- und Nichtrivalisierungsprinzip im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und -fürsorge, die nicht nach dem Wettbewerbs- und Profitprinzip ausgesteuert werden dürfen. Die soziale Frage, das gesellschaftliche Sozialstaatsprinzip, ist nicht durch Wettbewerb zu lösen. Im Gegenteil: Die an den Märkten durch Konkurrenz zustande gekommene primäre Verteilung der Wertschöpfungen auf Löhne, Zinsen, Grundrenten und Gewinnen muss durch eine entsprechende Sozialpolitik (Gesundheits-, Renten- und Familienpolitik, Soziale Dienste) berichtigt werden. Zu welchen Fehlallokationen es kommt, wenn dies nicht passiert zeigt u. a. der Gesundheitssektor, der in einem neoliberalen Wettbewerbswahn immer mehr privatisiert und dem Profitprinzip unterzogen wird, wie auch andere soziale Bereiche. Hier ist ein völliges Umdenken überfällig. Michael Dauderstädt beschreibt dies und fordert zu Recht den „vorsorgenden Sozialstaat als Wachstumsmotor“ endlich zu erkennen.13 Auch die Arbeitsmarktpolitik muss auf der Makroebene ausgesteuert und mit der

Sozialpolitik verbunden werden. Menschliche Arbeit ist eine besondere Ware. Dies gilt auch für die Arbeitsmärkte auf denen für die Arbeitskraftanbieter u. a. ein Arbeitszwang besteht. Arbeitsmarktpolitik umfasst neben einer passiven Politik in Form von Lohnersatzzahlungen bei vorliegender Arbeitslosigkeit insbesondere eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die auf eine quantitative und qualitative Beeinflussung des Arbeitsangebots setzt. Dazu gehört auch i. w. S. die Bildungspolitik (im dualen System sowie im tertiären Bereich (Hochschulpolitik)). Ergänzt werden muss die Arbeitsmarktpolitik durch eine staatliche Beschäftigungspolitik in Form einer antizyklischen Konjunkturpolitik (Finanz- und Geldpolitik) und/oder durch eine Beschäftigung im öffentlichen Sektor. Das Wettbewerbsprinzip versagt grundsätzlich ebenso bei der Internalisierung der Natur in die Ökonomie. Das marktwirtschaftlich-kapitalistische System garantiert über den Markt- und Wettbewerbsmechanismus keine ökologisch ausgerichtete Wirtschaft. „Die Unternehmungen eignen sich alles, was ihren Zwecken dient und keine Kosten verursacht, in pragmatischer Selbstverständlichkeit und systemkonformer Zwangsläufigkeit ohne Rücksicht auf die Folgen als bloßes Mittel an.“14 Der größte Hemmschuh sind daher die privatwirtschaftlich aufgestellten Unternehmen, 12 Fichtner, Ferdinand, Junker, Simon, Schwäbe, Carsten, Die Einkommensverteilung – eine wichtige Größe für die Konjunkturprognose, in: DIWWochenbericht Nr. 22/2012, S. 10. 13 Vgl. Dauderstädt, Michael, der vorsorgende Sozialstaat als Wachstumsmotor, in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 186, Ausgabe 5/2011, S. 325-31. 14 Steiner, Helmut, Der Kurzschluß der Marktwirtschaft, Berlin 1999, S. 54.

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die systematisch optimale Ergebnisse im Sinne eines ökologie-wirtschaftlichen Dreiecks aus Versorgungssicherheit, ökologischer Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Effizienz verhindern um einzelwirtschaftlich maximale Profite für wenige Shareholder zu realisieren. Deshalb muss auch hier der Staat durch eine entsprechende Umweltpolitik in die Märkte und Unternehmen intervenieren. Daher muss im Rahmen einer Wirtschaftsdemokratie u. a. im gesamten Energiebereich die Marktform eines „natürlichen Monopols“ in Verbindung mit einer Verstaatlichung der Energieversorger unter Berücksichtigung von demokratisierten internen Unternehmensstrukturen als die bessere gesellschaftliche Alternative umgesetzt werden.15 Wirtschaftsdemokratie und Mesoebene Auf der Mesoebene einer Wirtschaftsdemokratie ist neben der Wettbewerbspolitik auch die Tarifpolitik zu verordnen. Die in der Produktion von Gütern und Diensten in den Unternehmen entstehende Wertschöpfung muss an den Märkten realisiert werden. Hier spielen die Produktions- und Wettbewerbsverhältnisse eine entscheidende Rolle. Es wäre dabei naiv, Märkte oder das Wettbewerbsprinzip als ökonomische Steuerungsgröße abschaffen zu wollen. Genauso naiv ist es allerdings, Märkte und den Wettbewerb sich selbst zu überlassen, wie dies im neoliberalen Dogma angelegt ist. Auf die wettbewerbsimmanenten Probleme und Gefahren von Marktmacht ist deshalb – auch im Kontext eines internationalen Wettbewerbs – an dieser Stelle zu verweisen. Damit das Wettbewerbsprinzip an den Märkten nicht kontraproduktiv wird, muss es zu einer strengen staatlichen

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Wettbewerbs- und Regulierungspolitik kommen – nicht zuletzt an den Kapitalmärkten. So wichtig auf der Mesoebene zur Stabilisierung und Neuordnung der Finanzmärkte gerade hier eine staatliche Kontrolle ist, so sollte dennoch ihre Grenze, wie Jörg Huffschmid betonte, nicht außer Acht bleiben. Sie ist darin begründet, dass die Triebkräfte für den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus weder in der unersättlichen Gier und Spekulationssucht der Menschen noch in der exzessiven Kreditvergabe der Banken liegen. Sie liegen vielmehr zum einen in der jahrzehntelangen Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben. Diese hat an der Spitze der Gesellschaft eine ständig wachsende Ansammlung von Finanzvermögen geschaffen, das nicht in den reproduktiven Kreislauf zurückgeschleust wird, weil es unten an Kaufkraft fehlt. Diese Ansammlung wird zum anderen zusätzlich durch die Privatisierung der Rentensysteme vorangetrieben: Rentenversicherungsbeiträge, die im solidarischen Umlagesystem direkt an Rentnerinnen und Rentner ausgezahlt wurden, wandern in der Folge der Umstellung auf kapitalgedeckte Systeme langfristig in private Pensionsfonds und damit kontraproduktiv auf die Kapitalmärkte.16 Zur Gegenmachtbildung gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen auf der Mesoebene gehört auch im Sinne einer demokratisierten Wirtschaft der Ausbau von öffentlichen Unternehmen und eines Genos15 Vgl. Bontrup, Heinz-J., Marquardt, Ralf-M., Chancen und Risiken der Energiewende, in: Arbeitspapier 252 der Hans Böckler Stiftung, Düsseldorf 2012. 16 Vgl. dazu ausführlich Huffschmid, Jörg, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, 2. Aufl., Hamburg 2002.

Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie Argumente 3/2012


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senschaftssektors17 sowie nicht zuletzt zur Vermeidung von Überproduktionskrisen eine staatliche Struktur- und Regionalpolitik mit einer branchenbezogenen Investitionslenkung in vergesellschafteten und demokratisch bestimmten Schlüsselindustrien. Neben der Wettbewerbspolitik ist auf der marktbezogenen Mesoebene die Tarifpolitik entscheidend. Im Rahmen der verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie sind zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden Flächentarifverträge auszuhandeln, die zu einer branchenbezogenen vollen Ausschöpfung des verteilungsneutralen Spielraums führen müssen. Der Produktivitäts- und Preissteigerungszuwachs ist hier sowohl für Lohnerhöhungen als auch für Arbeitszeitverkürzungen zu nutzen. Letzteres gilt insbesondere beim Vorliegen von Arbeitslosigkeit. Hier muss durch kollektive Arbeitszeitverkürzungen die Produktions-Produktivitätslücke geschlossen werden. Sollten dies die Gewerkschaften nicht gegen die einseitigen Profitinteressen des Kapitals in den Tarifverhandlungen auf der Mesoebene durchsetzen können, so muss auch hier der Staat, wie bei der Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, einschreiten bzw. intervenieren. Beispielsweise durch eine Pflichtmitgliedschaft der abhängig Beschäftigten in einer Gewerkschaft und der Unternehmer in Unternehmerverbänden. Nur so kann in Anbetracht der durch das neoliberale Regime herbeigeführten Verhältnisse auf Seiten der abhängig Beschäftigten die „Trittbrettfahrermentalität“ und auf der Unternehmerseite die „Verbandsflucht“ gestoppt werden. Auf der monetären Seite sollten außerdem unternehmensbezogene Gewinn- und/oder Kapitalbeteiligungen im Sinne einer expansiven Einkommenspolitik (Umverteilung

von oben nach unten) als „On-Top-Modelle“ zum Einsatz kommen.18 Hierdurch würde ein Teil des Mehrwerts von den Beschäftigten abgeschöpft. Dies führt zu einer wesentlich größeren Nivellierung der Wertschöpfungen mit Wachstums- und Beschäftigungsimpulsen und gleichzeitig zur Möglichkeit einer Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Wirtschaftsdemokratie und Mikroebene Die Mikroebene ist die unternehmensbezogene Ebene. Sie stellt sozusagen den Unterbau in der wirtschaftlichen Sphäre dar. Hier spielt das Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit in den Unternehmen bei der Schaffung und Realisierung der arbeitsteilig generierten Wertschöpfung die entscheidende Rolle. Dabei ist klar, dass nur die menschliche Arbeit in Verbindung mit Naturgebrauch als Neuwert schaffend gilt. Die Arbeit (Arbeitskraft) ist hier als Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten zu begreifen, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art herstellt. Dabei produziert die Arbeitskraft mehr an Wert, als zu ihrem Unterhalt, zu ihrer Reproduktion, erforderlich ist. Der Wert der Arbeit (= Wert des Arbeitsproduktes) übersteigt somit den Wert der Arbeitskraft (= Arbeitslohn als jeweiliger Marktpreis der Arbeitskraft). Ka17 Vgl. Altvater, Elmar, Genossenschaft und gutes Leben. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2012, S. 53ff. 18 Vgl. Bontrup, Heinz-J., Springob, Kai, Gewinnund Kapitalbeteiligung. Eine mikro- und makroökonomische Analyse, Wiesbaden 2002.

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pital entsteht hier aus der Differenz der beiden Arbeitswerte, dass den Eigentümern der Produktionsmittel Kraft Gesetz zufließt. Kapital und Boden geben als Produktionsfaktoren zwar während des Produktionsprozesses einen Wert im Rahmen ihrer jeweiligen Nutzung in Form von Abschreibungen ab, sie schaffen aber nur durch den Einsatz von lebendiger Arbeit einen entsprechenden Neuwert oder Mehrwert (Zins, Miete, Pacht und einen Gewinn). Denn Geld oder in Kapital umgewandeltes Geld „arbeiten“ nicht, sie erwirtschaften auch keine Rendite. Vielmehr stellen diese vermeintlich selbständigen Dinge nur unterschiedliche Erscheinungsformen des Mehrwerts, also menschliche Mehrarbeit, dar. Mit der subjektiven Wertlehre innerhalb der neoklassischen Theorie wurde dagegen jedem Produktionsfaktor (Arbeit, Boden und Kapital) ein eigener Wert in Form der jeweiligen Grenzproduktivität zugeordnet. Um in Anbetracht des Privateigentums an Produktionsmitteln den Unternehmergewinn theoretisch und gesellschaftlich zu rechtfertigen, wurden Unternehmerfunktionen definiert, die gleichzeitig der Zerlegung und Zuordnung des Überschussproduktes aus Arbeit dienen sollten. Für das eigene Einbringen der unternehmerischen Arbeitskraft steht hier der kalkulatorische Unternehmerlohn, für das ins Unternehmen eingebrachte Fremdkapital der Zins und für gemietete und gepachtete Gegenstände die Grundrente. Der Haftung für das eingesetzte Eigenkapital wurde eine Risikoprämie (kalkulatorische Wagnisse) gegenübergestellt und außerdem für die alternative Verwendungsmöglichkeit des Eigenkapitals als Opportunitätskosten die kalkulatorischen Eigenkapitalzinsen. Vor dem Hintergrund dieser ökonomischen Mystifikation

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kommt es im Ergebnis zu einer ständigen ungleichen Verteilung des Überschussproduktes zwischen Kapital und Arbeit. Ohne ein völlig verändertes Verteilungsmodell der Wertschöpfung ist dabei eine demokratisierte Wirtschaft nicht denkbar. Hier reicht es nicht, die abhängig Beschäftigten weiter auf einen gezahlten Lohn zu reduzieren und diesen womöglich noch ständig zu drücken. Dann bleiben die Beschäftigten, wie es Oswald von Nell Breuning formulierte, für immer „Habenichtse“ und die Unternehmer werden reicher und reicher.19 Die Beschäftigten müssen unter wirtschaftsdemokratischen Bedingungen viel mehr als heute an den von ihnen geschaffenen Wertschöpfungen partizipieren. Dies auch deshalb, weil selbst die neoklassische Produktionsfunktion zeigt, dass nur jeweils mit einem Produktionsfaktor, also entweder nur mit Arbeit oder nur mit Kapital, kein Produktionsoutput möglich ist. Und trotzdem gilt das kapitalzentrierte „Investitionsmonopol“ (Erich Preiser). Nur das Kapital entscheidet letztlich final, wann, wie und wo investiert wird. Diese einseitige Entscheidungsmacht gilt es durch eine gleichberechtigte Stellung und Rolle der Beschäftigten in den Unternehmen – gesellschaftsrechtlich abgesichert – zu beseitigen. Dazu gehört die Einführung einer demokratisch-partizipativen Unternehmenskultur.20 Die Basis ist dabei eine paritätische Mitbestimmung zwischen Kapital und Arbeit zur Aufhebung des auf der Mikroebene entscheidenden „Investitionsmonopols“. Neben der Mitbestimmung, die das jeweils kollektive (funktionale) Ver19 Vgl. von Nell Breuning, Oswald, Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg 1960. 20 Vgl. dazu ausführlich Bontrup, Heinz-J., Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft, 4. Aufl., Köln 2011.

Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie Argumente 3/2012


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hältnis zwischen Kapital und Arbeit aussteuert, müssen aber ebenso in den vielfältigen individuellen und gruppenbezogenen personellen Austauschprozessen verbesserte demokratische und partizipative Strukturen in Form einer Kommunikationsdialektik und einer holistischen Informationspolitik, vermittelt durch einen partizipativen Führungsstil, zum Tragen kommen. Zur Hebung von Innovationspotenzialen ist es darüber hinaus notwendig, ein mitarbeiterzentriertes Ideenmanagement und zur Personalentwicklung in den Unternehmen auf eine intensive Weiterbildung und in der Gesellschaft als Ganzes verstärkt auf allgemeine Bildung zu setzen. l

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STAATLICHE HANDLUNGSFÄHIGKEIT SICHERN, BINNENNACHFRAGE STÄRKEN Von Jan Stöß, SPD-Landesvorsitzender Berlin

Über Jahre gab es in der deutschen Wirtschaftspolitik nur eine Richtung und die hieß: Weniger Staat, mehr Privatwirtschaft. Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen galt als modern und effizient, ohne dass dies begründet werden musste, die Reduzierung der Staatsquote wurde fast zum Selbstzweck, Wettbewerb und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zum Dogma. Die Wirtschaft wurde in erster Linie auf Export orientiert, die Binnennachfrage völlig vernachlässigt. Wirtschaftspolitik hieß in erster Linie Deregulierungen, Steuersenkungen insbesondere für Spitzenverdiener und Kapitalgewinne, Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, Abbau der sozialen Sicherung und Deregulierung des Arbeitsmarkts. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wurde geschwächt, der Staat zog sich aus immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zurück. So verkauften Kommunen ihre Wohnungsgesellschaften und ihre Stadtwerke, der

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Bund trieb die Privatisierung der Altersvorsorge voran und verkaufte Staatsbetriebe im großen Umfang. Die soziale Absicherung wurde zu immer größeren Teilen zur Privatsache. Die Wirtschaft ist für den Menschen da – und nicht umgekehrt! Für einen Großteil der Menschen führte diese Politik allerdings nicht zu mehr Wohlstand. Die meisten Reformen und Maßnahmen gingen zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie mussten bei den Reallöhnen Verluste in Kauf nehmen. Die Deregulierungen des Arbeitsmarkts – insbesondere bei den Leistungen für Arbeitslose, der Leiharbeit oder den Minijobs – nahm den Beschäftigten die soziale Sicherheit. Die Rolle der Sozialdemokratie war dabei nicht immer ruhmreich. Viele Sozialkürzungen nach der Jahrtausendwende wurden in der Bundesregierung von der SPD angestoßen und durchgesetzt. Das ist sicherlich eine der wesentlichen Ursachen für den Vertrauens-

Staatliche Handlungsfähigkeit sichern, Binnennachfrage stärken Argumente 3/2012


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verlust und die Wahlniederlage im Bund im Jahr 2009. Mit der Finanzmarktkrise ab 2008 schien es so, dass dieser Trend gebrochen sei. Der Staat intervenierte mit umfangreichen Wachstumspaketen in die Wirtschaft und verhinderte zum Beispiel durch das Kurzarbeitergeld massenhafte Entlassungen. Die Forderung nach einem Mindestlohn ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens. Selbst in der CDU wird seither über gesetzliche Lohnuntergrenzen gesprochen. Viele Kommunen rekommunalisieren ihre Stadtwerke. Doch ein Blick auf die europäische Politik zeigt: Von einer echten Trendwende kann leider noch immer nicht die Rede sein. In Europa droht ein neues Jahrzehnt der Entstaatlichung Seit gut zwei Jahren kämpft die europäische Politik nun gegen die Euro-Krise an – mit immer neuen Instrumenten und neuen Rettungspaketen – doch bisher ohne wirklich nachhaltigen Erfolg. Die Folgen dieser maßgeblich von Angela Merkel verantworteten Politik werden wir noch Jahrzehnte lang spüren. Nicht nur, dass sich immer größere Bürgschaften auftürmen, Vereinbarungen wie der Fiskalpakt werden zukünftig auch die staatliche Handlungsfähigkeit massiv einschränken. Und schon heute wird den sogenannten Krisenländern wie Griechenland oder Spanien durch Sparauflagen die Luft zum Atmen genommen. Die Länder werden während eines Einbruchs des Wirtschaftswachstums zu gravierenden Sparpaketen gedrängt, die das Wachstum noch stärker bremsen. Bei meinem Besuch während des Wahlkampfs in Paris wurde mir schnell klar, wie heftig die politische Debatte über

die längerfristigen Folgen des Fiskalpakts in Frankreich geführt wird.Im französischen Wahlkampf ging es um klare Alternativen. Am deutlichsten wurde dies, als François Hollande eine Nachverhandlung des Fiskalpakts forderte. Bei uns geht es leider sehr viel leiser zu. Die Debatte ist eher was für Feinschmekker. Differenzen zwischen Regierung und Opposition sind nur selten deutlich erkennbar. Der Austeritätskurs, der von der Bundesregierung als Rezept zur Euro-Rettung ganz Europa verordnet wird, wird im Bundestag im Grundsatz breit mitgetragen. Die SPD fordert stets darüber hinaus nur ergänzende Maßnahmen wie den Ausbau der Wachstumspolitik und Instrumente gegen die steigende Jugendarbeitslosigkeit.Doch der Fiskalpakt setzt der Politik enge Grenzen. Die Auswirkungen des Fiskalpakts treffen die Kommunen und den Bund noch härter als die im deutschen Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Doch anstatt dass dieser Umstand in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird, wird geschwiegen. Nach gut 25 erfolglosen Euro-Rettungsgipfeln, immer neuen Auflagen, die u. a. fast zum Bankrott des europäischen Mitgliedstaates Griechenland führten, müssen endlich Alternativen aufgezeigt werden. Der ideenlose neoliberale Kurs hat bisher keine Änderungen zum Positiven hin bewirkt. Dieser Kurs und diese sozialfeindliche Politik haben Auswirkungen. Ein Viertel der Beschäftigten muss zu Niedriglöhnen arbeiten, ist dadurch auf staatliche Unterstützung angewiesen und wird im Alter kaum von dem leben können, was es sich hart erarbeitet hat. Top-Manager, die Millionen verdienen und ihre Vermögen zum Teil im Ausland anlegen, werden nicht für eine gerechte Beteiligung an der staatlichen Finan-

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zierung herangezogen. Dies gehört jetzt alles ganz dringend nach oben auf die politische Tagesordnung. Wir müssen also endlich offen darüber reden, was Schuldenbremse und Schuldenabbau ganz konkret für uns bedeuten. Viele staatliche Ausgaben sind Investitionen in die Zukunft des Landes. Diese Investitionen sind wichtig zur Stabilisierung der Binnennachfrage und zur Arbeitsplatzsicherung. Investitionen in das Bildungssystem und die Infrastruktur ermöglichen aber vor allem auch zukünftigen Generationen, Wohlstand zu erwirtschaften – Kürzungen in diesen Bereichen bringen meist nur kurzfristig eine Ersparnis, mittelfristig entstehen deutlich höhere Kosten. Es muss uns deshalb vor allem darum gehen, die öffentliche Einnahmebasis deutlich zu verbessern, um eine weitere Entstaatlichung zu vermeiden. Schon jetzt kann sich der Staat viele dringend notwendige Ausgaben nicht mehr leisten. Alleine aufgrund der Steuersenkungen seit der Jahrtausendwende fehlen ihm jährlich mindestens 55 Milliarden Euro an Einnahmen. Ich fordere daher eine Kehrtwende von der Politik der vergangenen Jahrzehnte. Es muss Schluss sein damit, dass die Wirtschaft immer weiter entlastet und der Staat zeitgleich immer ärmer wird. Auch die Unternehmen müssen ihrer Mitverantwortung für das Gemeinwesen gerecht werden. Das gilt auch für die Berufsausbildung. Ich mahne dazu an, endlich die Verursacher der Finanz- und Wirtschaftskrise zur Kasse zu bitten: Neben der dringend nötigen Finanztransaktionssteuer müssen künftig die Kapitaleinkünfte genauso besteuert werden wie andere Einkommen. Erste SPD-Parteitagsbeschlüsse in diese Richtung gibt es bereits.

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Vermögen müssen wieder zur Staatsfinanzierung beitragen. Es wird Zeit, dass wir Steuerschlupflöcher effektiv stopfen und alle Steuervergünstigungen auf den Prüfstand stellen.Eine Anhebung von Verbrauchssteuern oder die Kürzung der Zuschüsse zur den Sozialkassen kommt für mich jedenfalls nicht in Frage. Auch vor Eingriffen in die Infrastruktur kann ich nur warnen. Es darf weder weitere Privatisierungen geben noch neue fragwürdige ÖPP-Finanzierungsprojekte. Das gilt für Verkehrswege (Autobahnen, Schifffahrtswege) oder für Bildungseinrichtungen, das gilt aber auch für die Deutsche Bahn AG und ihre Tochterunternehmen wie die Berliner S-Bahn. Einen Börsengang lehnen wir Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach wie vor ab. Staatliche Handlungsfähigkeit sichern All dies macht klar: Wir müssen intensiv und offen darüber debattieren, was der Staat auf allen Ebenen, vom Bund über die Länder bis zu den Kommunen, künftig tun kann und tun muss. Welche öffentlichen Leistungen sind für eine demokratische und menschenwürdige Gesellschaft notwendig? Was gehört für uns zur Daseinsvorsorge? Muss sie für jeden diskriminierungsfrei zugänglich und deshalb demokratisch legitimiert sein und darf nicht allein dem Markt überlassen werden? Was soll unser Bildungssystem leisten und gebührenfrei anbieten? Welche Infrastruktur brauchen wir? Und wie können wir dafür eine gerechte, gesellschaftlich akzeptierte Finanzierung sicherstellen? Gefordert wird damit aber auch die Einsicht aller in die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft unseres Gemein-

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wesens. Das gilt auch und vor allem für die – selbst ernannten – Eliten des Landes. Wer sich hemmungslos bedient und demokratisch festgelegte Regeln nur bei Gefallen respektiert, zerstört den Zusammenhalt der Gesellschaft. Demokratie aber ist in Gefahr, wenn einseitig Wirtschaftsinteressen bedient werden und die Masse der Menschen das Gefühl hat, die Folgen von Fehlspekulation allein tragen zu müssen. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde. Niemand müsste in Armut leben. Wir könnten uns für jedes Kind die beste Bildung leisten. Wir müssendafür streiten, dass der Staat genau das auch künftig sicherstellen kann. Binnennachfrage stärken In Deutschland setzt man noch immer auf ein sehr einseitiges, rein auf den Export orientiertes Wachstumsmodell. Die Bundesrepublik wird in diesem Jahr voraussichtlich den weltweit größten Handelsbilanzüberschuss erwirtschaften, selbst China erzielt einen geringeren Überschuss. Was in den Nachrichten zunächst gut klingt, hat bei genauerer Betrachtungsweise gravierende negative Auswirkungen. Die fast ausschließliche Orientierung auf den Export macht die deutsche Volkswirtschaft anfällig für weltweite Konjunkturschwankungen. Eine wirtschaftliche Schwäche in anderen Staaten kann sehr schnell zu einem starken Konjunktureinbruch in Deutschland führen. Der deutsche Überschuss beim Außenhandel ist vor allem Folge einer viel zu schwachen Binnennachfrage. Die deutsche Wirtschaft ist weltweit auch deshalb so wettbewerbsstark, weil die Löhne und Gehälter zu niedrig sind. Zugespitzt kann

man sagen: Der Exportüberschuss ist ein Indiz für die Verteilungsprobleme, ist ein Indiz dafür, dass der erwirtschaftete Wohlstand falsch verteilt wird. Die Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland ist auch eine Verteilungsfrage. In Europa führt der deutsche Handelsbilanzüberschuss aber vor allem zu großen wirtschaftlichen Ungleichgewichten, denn die deutschen Überschüsse bewirken Defizite in anderen Ländern. Um die Binnennachfrage in Deutschland zu stärken, müssen die Löhne und Gehälter im unteren und mittleren Einkommensbereich steigen. Ein allgemeinverbindlicher gesetzlicher Mindestlohn, das Zurückdrängen von Leiharbeit und Minijobs sind dazu erste wichtige Schritte. Gerade Haushalte mit einem eher geringeren Haushaltseinkommen geben einen weit überproportionalen Anteil für Konsum aus und stärken so die Binnennachfrage. Und der Staat muss wieder mehr finanzielle Mittel für Staatsausgaben, soziale Leistungen und Investitionen haben. Staatliche Ausgaben führen immer unmittelbar zur Stärkung der Binnennachfrage und regen oft weitere Investitionen an. Frankreich zeigt Alternativen auf Manchmal ist ein Blick zu unseren Nachbarn in Frankreich ganz hilfreich. Zwar lässt sich die Politik des neuen Präsidenten François Hollande nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Doch seine Politik zeigt, dass es auch im Jahr 2012 in Europa Alternativen zur wirtschaftsliberalen Politik von Angela Merkel gibt. François Hollandes Politik steht im deutlichen Gegensatz zum Programm der schwarz-gelben Bundesregierung. Ziel sei-

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ner Politik ist es, dass es den Menschen besser geht, dass Wirtschaft und Staat für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger arbeiten. Er möchte die finanziellen Spielräume zur politischen Gestaltung durch Umverteilung schaffen. Zur Sanierung des Staatshaushalts sollen vor allem die Einnahmen erhöht werden. Erste Eckpunkte seines Wirtschaftsprogramms setzte er bereits vor der Sommerpause in Frankreich mit dem Nachtragshaushalt 2012 um. Die beschlossenen Maßnahmen sehen im Kampf gegen das hohe Defizit deutliche Steuererhöhungen für Spitzenverdiener und Großunternehmen vor, die insgesamt 7,2 Milliarden Euro mehr an Staatseinnahmen ergeben sollen. Eine Sonderabgabe zur Vermögenssteuer soll schon allein bis zum Jahresende 2,3 Milliarden Euro einbringen. Überstunden sind nicht mehr steuerfrei, beschlossene Entlastungen für Unternehmen bei den Sozialabgaben wurden zurückgenommen. Die bereits von Sarkozy eingebrachte nationale Finanztransaktionssteuer wurde verdoppelt. Die neue französische Regierung hat sich mit den verabschiedeten Beschlüssen also klar von der Politik Sarkozys abgegrenzt. Trotzdem ist François Hollande kein radikaler Linker. Aber er zeigt, dass Reformen auch für eine Umverteilung von oben nach unten genutzt werden können.

und Euro-Krise vergrößern konnten, musste die große Masse der Menschen Kaufkraftverluste hinnehmen. Und trotz der nach wie vor prosperierenden Wirtschaft weisen die öffentlichen Haushalte teilweise hohe Defizite aus. Deshalb muss die Bundestagswahl 2013 zu einer echten Richtungsentscheidung werden. l

2013 für eine echte Alternative kämpfen Auch in Deutschland brauchen wir eine echte Korrektur des politischen Kurses. Die Politik der letzten Jahre hat die soziale Lage in Deutschland verschärft. Während die Wohlhabenden ihren Wohlstand trotz Finanzmarkt-, Wirtschafts-

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LINKE WIRTSCHAFTSPOLITIK1 Von Bettina Schulze, Sebastian Roloff und Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende

Die ökonomische Basis ist die eine der zwei entscheidenden Grundlagen für die Verhältnisse in denen wir arbeiten und leben. Sie ist der wichtigste Ansatzpunkt zur Umsetzung unserer politischen Vorstellungen. Wir beschränken uns dabei nicht nur auf die Alltagspolitik und mittelfristige Projekte, sondern denken auch immer die Systemfrage mit. Dabei verstehen wir Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft als ein zusammenhängendes System, das sich historisch durch die Produktivkraftentwicklung und die Auseinandersetzung verschiedener Interessen herausgebildet hat. Man kann den gegenwärtigen Kapitalismus nicht ohne die Rolle des Staates verstehen und ebenso kann nicht durch einfache Entscheidungen unser Wirtschaftssystem verändert werden. Gerade die vergangenen Jahre mit den zugespitzten Krisen haben gezeigt, wie abhängig das derzeitige Wirtschaftssystem vom staatlichen Eingreifen ist. Die Bewältigung der Krisen ist die aktuell größte Herausforderung. Unser Anspruch ist

es aber nicht, zu den Verhältnissen vor der Finanzkrise 2008 zurückzukommen, sondern das Potential des Wandels in der Krise zu nutzen, um auch grundsätzliche Veränderungen herbeizuführen, wieder ein Primat der Politik durchzusetzen und die Kräfteverhältnisse zu Lasten der Kapitalseite und zu Gunsten der Teilhabe der Menschenzu verschieben. Die zentralen Ziele sind die Verbesserung des Wohlstands der Menschen, gesellschaftlicher Fortschritt und eine gerechte und somit gleiche Verteilung dieses Wohlstands, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu vernichten. Es geht darum, Ökonomie sozial, demokratisch und nachhaltig umzugestalten. Daraus leiten sich die Ansatzpunkte unserer Strategie ab, die voneinander abhängen und sich gegenseitig bedingen – Vollbeschäftigung, ökologische Ausrichtung der Industrie, Umverteilung und Demokratisierung. 1 Dies ist die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung des Antrages K1 vom Bundeskongress 2011.

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Die ökonomische Basis ist die eine der zwei entscheidenden Grundlagen für die Verhältnisse in denen wir arbeiten und leben. Sie ist der wichtigste Ansatzpunkt zur Umsetzung unserer politischen Vorstellungen. Wir beschränken uns dabei nicht nur auf die Alltagspolitik und mittelfristige Projekte, sondern denken auch immer die Systemfrage mit. Dabei verstehen wir Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft als ein zusammenhängendes System, das sich historisch durch die Produktivkraftentwicklung und die Auseinandersetzung verschiedener Interessen herausgebildet hat. Man kann den gegenwärtigen Kapitalismus nicht ohne die Rolle des Staates verstehen und ebenso kann nicht durch einfache Entscheidungen unser Wirtschaftssystem verändert werden. Gerade die vergangenen Jahre mit den zugespitzten Krisen haben gezeigt, wie abhängig das derzeitige Wirtschaftssystem vom staatlichen Eingreifen ist. Die Bewältigung der Krisen ist die aktuell größte Herausforderung. Unser Anspruch ist es aber nicht, zu den Verhältnissen vor der Finanzkrise 2008 zurückzukommen, sondern das Potential des Wandels in der Krise zu nutzen, um auch grundsätzliche Veränderungen herbeizuführen, wieder ein Primat der Politik durchzusetzen und die Kräfteverhältnisse zu Lasten der Kapitalseite und zu Gunsten der Teilhabe der Menschenzu verschieben. Die zentralen Ziele sind die Verbesserung des Wohlstands der Menschen, gesellschaftlicher Fortschritt und eine gerechte und somit gleiche Verteilung dieses Wohlstands, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu vernichten. Es geht darum, Ökonomie sozial, demokratisch und nachhaltig umzugestalten. Daraus leiten sich die Ansatzpunkte unserer Strategie ab, die voneinander ab-

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hängen und sich gegenseitig bedingen – Vollbeschäftigung, ökologische Ausrichtung der Industrie, Umverteilung und Demokratisierung. Die Erwerbsarbeit steht bei unserem Ansatz im Zentrum, nur durch menschliche Arbeit werden Werte geschaffen, sie ist die Grundlage für Versorgungssicherheit und Wohlstand. Arbeit ist die treibende Kraft um Fortschritt zu erreichen. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital das zentrale Auseinandersetzungsfeld zur Veränderung der Gesellschaft. Wird das Kräfteverhältnis in der Arbeitswelt verschoben, hat dies Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Hier müssen unsere Vorschläge ansetzen, ansonsten kümmern wir uns oftmals um die Symptome und nicht um die Ursachen. So läuft eine Diskussion über Altersarmut, die sich nur auf das Rentensystem fokussiert und die Arbeitsmarktpolitik vernachlässigt ins Leere. Die Hauptauseinandersetzung ist allerdings die Frage, wie der Wert den die Arbeit schafft verteilt wird. Hier geht es nicht nur um Tarifpolitik, sondern zum Beispiel auch um die Frage wer zahlt Steuern und wofür werden sie verwendet. Die Erwerbsarbeit nur auf Arbeitsmarktpolitik zu beschränken ist falsch. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der unseren, wird über die Erwerbsarbeit nicht nur die Stellung des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft die Macht- und Reichtumsverteilung vermittelt, sondern sie ist auch zentral für gesellschaftliche Teilhabe und Fortschritt. Durch die Teilhabe an einem Prozess, der die natürlichen Lebensgrundlagen schafft und Verbesserungen der Lebensbedingungen anstrebt, wird soziale Anerkennung vermittelt. Teilhabe am Arbeitsmarkt schafft deshalb auch


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gesellschaftliche Teilhabe, Erwerbslosigkeit bedeutet dagegen Ausgrenzung. Diskussionen um die Abwertung von Erwerbsarbeit stehen den Bedürfnissen von Menschen entgegen und hebeln weder kapitalistische Ausbeutungsmechanismen aus, noch haben sie gesellschaftlich emanzipatorisches Potential. Daher lehnen wir jedes, wie auch immer geartetes Bedingungsloses Grundeinkommen ab. Wir wollen, dass sich jeder Mensch im Rahmen seiner Fähigkeitenproduktiv daran beteiligt, die gesellschaftlich notwendige Arbeit zu erbringen. Vollbeschäftigung ist damit Ziel solidarischer und progressiver Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Vollbeschäftigung ist aber auch die beste Voraussetzung, um den Einfluss der ArbeitnehmerInnen zu stärken. Dies gilt es durch Sozialpolitik und Ausbau der Mitbestimmung zu begleiten. Es wird die Aufgabe der Jusos sein, die konkreten Projekte für das Erreichen dieses Zieles zu erarbeiten und unsere Positionen zu einem geschlossenen Projekt zusammenzuführen. Um dies zielgerichtet voranzutreiben, brauchen wir eine klare Richtline unserer Politik. Nicht nur in den Diskussionen mit einigen unserer BündnispartnerInnen wird immer wieder deutlich, dass zwar grundsätzliche Einigkeit über das abstrakte Ziel, die Überwindung des Kapitalismus besteht, dem aber sehr unterschiedliche Grundannahmen, Politikverständnisse und Strategieansätze zu Grunde liegen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Ziele die wir mit unserer Wirtschaftspolitik verwirklichen wollen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle am Wohlstand und dessen Produktion gerecht und selbstbestimmt beteiligt sind. Die Herausforderungen unserer Zeit kann

nicht mit Stückwerk begegnet werden. Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise, zunehmende Verteilungsungerechtigkeit innerhalb einzelner Länder, aber auch global, Prekarisierung der Arbeitswelt und der Klimawandel können nur bewältigt werden, wenn bei den Lösungsansätzen alle Ebenen, von der Kommune bis hin zu den internationalen Institutionen, einbezogen werden. Wenn wir wirklich etwas bewegen wollen, hilft uns allein das Ausmalen einer Wunschgesellschaft nicht weiter. Wir müssen unsere Ansätze aus dem Bestehenden heraus entwickeln und über Erfolge und Überzeugung Mehrheiten für ein anderes Wirtschaften gewinnen. Wir setzen auf kollektive Lösungen und ein solidarisches Miteinander bei der Bewältigung der Probleme, Individuen können alleine die Gesellschaft nicht verändern, uns geht es gerade um die gemeinsame Lösung der Problem, um damit die Voraussetzung für eine solidarischere Gesellschaft zu schaffen. Die Bedingungen dafür sind ein Bekenntnis zur Zentralität der Erwerbsarbeit, dem Primat der Politik und der staatlichen Handlungsfähigkeit, sowie der Wille, alle Lebensbereiche und damit auch die Wirtschaft zu demokratisieren und umzuverteilen. Wirtschaft progressiv entwickeln Die Herausforderung einer progressiven Wirtschaftspolitik liegt in der Verbindung einer auf materiellen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Wirtschaftspolitik mit den Herausforderungen, die sich aus knappen Ressourcen ergeben, sowie mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Prämissen sind dabei für uns, dass technologische und wis-

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senschaftliche Fortschritte für alle Menschen und nicht nur für einen (besonders begüterten) Teil zur Verfügung stehen müssen. Keine Perspektive ist es daher für uns, dass zur Schonung der Ressourcen ein Teil der Bevölkerung von Fortschritt und Teilhabe abgekoppelt wird. Ziel muss es daher sein, dass die Wirtschaft materiellen Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe für Alle ermöglicht, ohne dass die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. In einigen Debattenbeiträgen, die sich ebenfalls mit dem Ziel einer (vermeintlich) progressiven Wirtschaftspolitik befassen, wird der Blick für die Vielfältigkeit dieser Ziele aus den Augen verloren und der Blick stark auf die Schonung der Ressourcen verengt. Daraus wird dann teilweise die (verkürzte) Schlussfolgerung gezogen, die Menschen müssten schlicht auf die Erhöhung des materiellen Wohlstands und auf weitere Bedürfnisbefriedigung verzichten. Argumentiert wird, dass insbesondere in Industrienationen bereits ein ausreichendes Wohlstandsniveau erreicht sei. Dementsprechend könne bei knappen Ressourcen die Güterproduktion reduziert werden. Eine solche Herangehensweise impliziert jedoch, dass der Staat festschreibt, wann ein befriedigendes Maß an Wohlstand erreicht ist. Diese Forderung ist erstens unrealistisch, weil es nicht vorstellbar ist, wie der Staat einen generellen Verzicht auf bestimmte materielle Güter effektiv und umfassend für alle Wirtschaftsbereiche regulieren soll. Sie ist zweitens bevormundend und anmaßend insofern, dass sie allgemein definieren will, welche Bedürfnisse ein Mensch legitimer weise haben darf. Sie ist drittens zynisch, weil sie gesellschaftlichen und menschlichen Fortschritt behindert. Auch in Industrienationen kann nämlich von einem

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befriedigenden Niveau an Wohlstand nicht gesprochen werden. Es ist falsch, dass nur, weil es auch schädliches Wachstum gibt, Wachstum insgesamt abzulehnen sei. Im Gegenteil: Gerade Maßnahmen, die dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen dienen, werden in hohem Maße Wirtschaftswachstum produzieren. Beispielhaft genannt sei hier nur die Energiewende, die in den nächsten Jahren Infrastrukturprojekte in einem erheblichen Ausmaß erfordert. Ressourcen- und Umweltschutz muss also durch Regulierung stattfinden. Wir Jusos treten dagegen für die umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen ein. Dies bedeutet auch eine Erhöhung des materiellen Wohlstands. Dabei müssen alle Menschen das Recht haben, selbst über ihre Bedürfnisse zu entscheiden. Arbeitslosigkeit und ein insgesamt zu geringes Lohnniveau führen aber dazu, dass die meisten Menschen nicht adäquat am Wohlstand, den die Wirtschaft insgesamt produziert, beteiligt werden. Der Reichtum der Gesellschaft ist äußerst ungleich verteilt. Hier bedarf es politischer Steuerung zur Umverteilung des Reichtums. Das Einkommen der Masse der Menschen muss stärker wachsen als Unternehmensgewinne, um eine Angleichung bzw. zumindest eine Annäherung der Lebensverhältnisse zu erreichen. Umverteilung bedeutet dann aber auch, dass den Reichen etwas weggenommen wird. Dabei ist dann mit massiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu rechnen. Eine wachsende Wirtschaft schafft dabei Umverteilungsspielräume. Wirtschaftswachstum kann uns deshalb strategisch dabei helfen unsere Ziele durchzusetzen.


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Handlungsfähiger Staat und Markt Die Krise hat die neoliberale Deregulierungs- und Privatisierungspolitik der letzten zwei Jahrzehnte delegitimiert und zu einer massiven Vertrauens- und Akzeptanzkrise des gegenwärtigen Wirtschaftsund Sozialmodells in Deutschland geführt. Die Logik der Rendite und Shareholder orientierten Kurzfristigkeit und der neoliberalen Hegemonie gilt es dauerhaft zu durchbrechen. Der Staat hat sich selbst entmachtet und handelte als Agent des Finanzkapitals und nicht des Gemeinwohls. Marktversagen ist von Politikversagen im Sinne fehlender Regulierung und falscher Prioritätensetzung nicht zu trennen, auch deswegen brauchen wir eine aufgeklärte politische Debatte um Staat und Markt, die diese im Zusammenhang und nicht getrennt betrachtet. Die Lehre aus der Vergangenheit muss sein, dass das Setzen auf Marktlogiken und Selbstheilungskräfte des Marktes nicht zu mehr Gemeinwohl und gesellschaftlichen Fortschritt geführt hat. Vielmehr wurde die Krisenhaftigkeit des Marktes noch verstärkt und die gesellschaftliche Ungleichheit nahm eklatant zu. Widerlegte Marktgläubigkeit und die Ideologie der Entstaatlichung müssen durch ein Staatsverständnis ersetzt werden, das diesen als aktiven, steuerenden Akteur begreift. Die Privatisierung zahlreicher Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Sicherung muss beendet werden. Stattdessen brauchen wir frei zugängliche kollektive Güter wie Wasser oder Bildung und gleichheitsorientierte Sozialstaatsreformprojekten wie der Bürgerversicherung, einer diskriminierungsfreien Grundsicherung oder der Erwerbstätigenversicherung. Darüber hinaus ist der Staat

selbst aufgrund seiner Infrastrukturorientierung und seiner hohen Beschäftigungswirkung ein Wirtschaftsfaktor. Der Markt produziert Krisen und Ungleichheit; er ist ökologisch blind. Dennoch kann es nicht um die bloße Überwindung oder Abschaffung des Marktes als solchen gehen. Vielmehr gilt es, seine dynamische Anpassungs- und Innovationsfähigkeit sowie vor allem sein Potential als effizientes Instrument zur Verteilung von Gütern nutzbar zu machen. Dies kann durch einen entsprechend aktiven Staat, umfassende Regulierungs- und Sanktionsmechanismen und wirtschaftsdemokratische Steuerung geschehen. Außerdem wird es Aufgabe des Staates sein, in einer Pionierrolle nachhaltigkeitsorientierte Wachstumssektoren mit Förderprogrammen, öffentlichen Beschaffungspolitiken und regulativer Bevorzugung zum Erfolg zu verhelfen. Es gilt Strukturwandel sozialpolitisch zu begleiten und gestaltend einzugreifen. Dafür setzen wir auch weiterhin auf einen starken industriellen Sektor, statt nur die Potentiale von neuen Dienstleistungen auszubauen. Um dies zu erreichen, brauchen wir einen handlungsfähigen Staat. Dafür wiederum ist die fiskalpolitische Freiheit eine Grundvoraussetzung. Dies setzt ausreichende verlässliche Einnahmen voraus. Schuldenabbau und ausgeglichene Haushalte sind im Grundsatz erstrebenswerte Ziele, aber wenn man sie bedingungslos durchsetzen will, ohne die Einnahmen zu erhöhen, bleibt nur der Weg über die Ausgabenkürzung. Wenn der Staat eine aktivere Rolle übernehmen soll, ist dies nicht gleichzusetzen mit Zentralisierung. Im Gegenteil: Die Kommunalpolitik ist die Ebene, auf der politische Entscheidungen am schnellsten

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wirken und die Bürgerinnen unmittelbar betreffen. Kommunen müssen so ausgestattet werden, dass sie nicht nur zur Erfüllung ihrer Pflichtaufgaben in der Lage sind, sondern auch weitere soziale Leistungen und die Gestaltung eines lebendigen Lebensumfeldes gewährleisten können. Auch die zunehmende Debatte um Rekommunalisierung stößt auf das Hindernis der klammen Haushalte. Damit Kommunen gestalten können müssen sie mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestattet sein. Eine Stärkung der Kommunen hat ebenfalls den Vorteil, dass hierüber eine stärkere demokratische Gestaltung von wirtschaftlichen Entwicklungen erreicht werden kann. Dabei sind kommunale Wirtschaftsbetriebe ein aktueller Ansatzpunkt. Noch heute ist trotz der umfangreichen Privatisierungen – der Großteil der Unternehmen in öffentlicher Hand kommunal. Durch diese können sowohl Einnahmen erzielt, als auch die Angebote für Verbraucher besser und günstiger erbracht werden. Dabei kommt es nicht auf die Stellung der öffentlichen Hand als Eigentümer an, sondern auf die Ausrichtung der Unternehmensstrategie am Gemeinwohl. Dies gilt insbesondere für die Energieerzeugung. Der anstehende Umbau zu regenerativen Energien muss vor allem dezentral und kommunal organisiert werden, ohne dass ärmere Menschen zu stark belastet werden. Dabei geht es um öffentliche Stadtwerke, Vernetzung der privaten Kleinanlagen und in Zusammenarbeit mit dem Bund die Übernahme der Netze. Dadurch kann die Monopolstellung der Energiekonzerne verdrängt werden.

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Stärkung der Gewerkschaften Zu aller erst kommt es in der Lohnfrage darauf an, in welcher Lage sich die Gewerkschaften unsere natürlichen Partner befinden, Lohnanstiege durchzusetzen. Es muss uns Jusos immer bewusst sein, dass die Lohnfrage die erste Verteilungsfrage ist. Entscheidend dafür sind Organisationsgrade und die Flexibilität von Beschäftigungsverhältnissen. Es ist nicht neu, dass Leiharbeit und befristete Beschäftigung das Potential für Gewerkschaften Mitglieder zu organisieren, massiv verschlechtern. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse müssen durch neue Regulierung zurückgedrängt und der Sozialstaat auf die neuen Lebensrealitäten angepasst werden. Flexibilität muss erheblich teurer sein als ein Normalarbeitsverhältnis. Das gilt auch für neu aufgekommene atypische Beschäftigung wie Werksverträge. Viele Unternehmen verfügen über keine betriebliche Mitbestimmung, was die Organisation von Beschäftigten für die Gewerkschaften vor Ort nahezu unmöglich macht. Versuche von Beschäftigten in Betrieben, in welchen kein Betriebsrat existiert, einen solchen zu gründen hat schon vielfach zu Kündigung der Betroffenen geführt und gleichzeitig den Druck auf den Rest der Belegschaft erhöht, sich zu emanzipieren. Solchen skandalösen Vorgängen soll Einhalt geboten werden, indem ab der Initiative für eine Betriebsratsgründung bis zur Existenz eines Betriebsrats eine die Kündigung von allen MitarbeiterInnen für diesen Zeitraum nicht möglich ist. Darüber hinaus sollen Gewerkschaftsangestellte unangekündigtes Zutrittrecht zu Betrieben bekommen, um so den Kontakt zu Beschäftigten herstellen zu können, die in


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Unternehmen arbeiten, in welchen es keinen Betriebsrat gibt. Dies sind zwei Beispiele, um durch politische Maßnahmen die Rolle der Gewerkschaften wieder zu stärken. Dies alleine wird nicht ausreichen, eine Umkehrung der Kräfteverhältnisse kann nur im Zusammenspiel von Politik und Gewerkschaften gelingen. Demokratisierung der Wirtschaft Es ist unser Anspruch alle Lebensbereiche zu demokratisieren, dazu gehört auch das Wirtschaftssystem. Dafür ist das oft genannte, aber selten ausgeführte Schlagwort Wirtschaftsdemokratie zentral. Meistens erschöpfen sich Diskussionen darüber in Ansätzen der makroökonomischen Steuerung, der Regulierung der Finanzmärkte und der Ausweitung der Mitbestimmung. Sicherlich sind dies alles unverzichtbare Elemente zur Demokratisierung unseres Wirtschaftssystems, allerdings wird dies zum einen nicht genügen, und zum anderen haben derzeit diese Ansätze sehr wenig Aussicht auf Durchsetzung. Um einen Richtungswandel hin zu mehr Wirtschaftsdemokratie zu schaffen muss in vielen Bereichen gehandelt werden. Neben den oben beschriebenen Ansätzen, der Marktsteuerung, Stärkung des öffentlichen Sektors mit einer starken Rolle der kommunalen und regionalen Ebene und der Stärkung der ArbeitnehmerInnenrechte gehört zur Demokratisierung der Wirtschaft auch die Einführung und Stärkung alternativer Unternehmensformen. Gerade der Ansatz arbeitnehmergeführter Unternehmen im Genossenschaftsmodell wieder für weitere Bereiche zu etablieren, sollte Ziel von Förderpolitik

sein. Heute gibt es Genossenschaften de facto nur noch im Banken- und Wohnungsbereich. Besonders der „Exklusivvorteil der Mitglieder“ im Gegensatz zu prekären Arbeitsverhältnissen, ob als Beschäftigte oder in der Selbstständigkeit, macht dieses Modell interessant. Im Sektor der sozialen Dienstleistungen, aber auch bei Teilen des Handwerks oder bei sozialen, kulturellen oder ökologischen Projekten können genossenschaftliche Kooperationen eine Alternative in sicherer Beschäftigung bilden. Dies alles bewirkt zwar noch keinen grundsätzlichen Wandel und kann alleine nicht genügen, weshalb für uns als Jusos klar ist, dass diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen nur eine mittelfristige Lösung darstellen können. Langfristig bleibt unser Ziel eine sozialistische Wirtschaftsordnung, in der sich der Markt an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet. Die notwendige Demokratisierung aller Lebensbereiche kann es im Kapitalismus nicht geben, weswegen wir für ein demokratisches und sozialistisches Wirtschaftssystem kämpfen. Demokratie als gesellschaftliche Notwendigkeit – Sozialismus als konsequente Demokratie! l

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Argumente 3/2012 Wirtschaft Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Oktober 2012

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

Argumente 3/2012 Wirtschaft


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