STERN Hilfe unser haus lebt

Page 1

KURZ DIE WELT RETTEN – ABER WIE? DA STREITEN DIE EXPERTEN, SEITE 122

EXTRA ENERGIE 4 Wenn Häuser selber denken Seite 112 4 Aus Wind wird Strom Seite 120 4 Rendite mit reinem Gewissen Seite 130 4Die Wäsche, die Leine und der Trockner Seite 130

FOTO: PICTURE PRESS

Solarzellen auf der Handtasche halten den Grußarm der Gummi-Queen in Bewegung

Wink der Sonne Spätestens als in Fukushima die Reaktoren schmolzen, war klar: Wir brauchen die Energiewende. Nur: Wie geht das in der Praxis? Was kann jeder Einzelne tun? Und was ist mit dem Klimawandel? Ein Blick in die Zukunft – und ein paar Tipps für Geldanlage und Alltag 2.5.2013

111


EXTRA ENERGIE

Hilfe, unser Haus lebt! Einfach rumstehen reicht ihm nicht. Das Gebäude ist voller Technik, die regelt, misst und schaltet. Alles für den Klimaschutz. Eine Familie hat ausprobiert, ob man darin leben kann – und will Fotos: Christian Kerber

112

2.5.2013


„Tatort“ Dachluke Mitten im Sonntagabend-Krimi geht plötzlich das Fenster auf. Keine Angst, es ist nur die Automatik, die für frische Luft sorgt

2.5.2013

113


EXTRA ENERGIE

Z

uerst war da ein Kribbeln in der Magengrube. „Hier sollen wir jetzt zwei Jahre lang wohnen? In diesem todschicken Haus mit all der Technik? Aus dem sehr angesagten Hamburger Stadtteil Ottensen auf die andere Seite der Elbe ins wenig angesagte Wilhelmsburg ziehen? Wollen wir wirklich?“ Irina und Christian Oldendorf standen in einer unscheinbaren Straße mit unscheinbaren Häuschen, aus dem eines krass hervorsticht: das Modellprojekt des Fensterherstellers Velux und der Hamburger Internationalen Bauausstellung. Sollen sie als Testfamilie in diesem Haus leben?, fragten sich beide. Irina Oldendorf: noch skeptisch. Ihr Mann Christian: längst heiß auf das Projekt. „Ein toller Ausflug in die Zukunft, in Luxus und Abenteuer“, fand er. „Außerdem: zwei Jahre keine Miete zahlen!“ Ein paar Wochen später wilde Freude. „Wir haben das Haus gewonnen, wir haben das Haus gewonnen!“ Die Jungs der beiden, Lasse, und Finn, damals 8 und 6, krakeelten und tobten durch die Wohnung, in der sie nun nicht mehr lange wohnen würden. Und dann die bange Frage: „Worauf haben wir uns eingelassen?“ So begann das Experiment.

Die Tester Irina, 38, und Christian Oldendorf, 40, wohnen mit ihren Kindern Lasse (l.) und Finn, 9 und 7, im Versuchshaus

Die Forscher sind immer dabei Wenn ambitionierte Architektur über ein Siedlerviertel im Hamburger Süden kommt, sieht das so aus: ziemlich fremd. Nach dem Krieg boten solche Doppelhäuschen bescheidenen Wohnkomfort und große Grundstücke, auf denen die Leute ihr eigenes Obst und Gemüse ziehen konnten. Wie macht man diese Häuser fit fürs 21. Jahrhundert? Funktioniert das von Wissenschaft und Industrie ausgefeilte Konzept, ein 1954 gebautes Haus in eine CO2-neutrale Zukunft zu katapultieren – und können ganz normale Leute sich darin wohlfühlen? In einem Haus, das aufwendig wärmegedämmt, saniert und um einen Anbau auf 132 Quadratmeter erweitert wurde, aber vollgestopft ist mit modernster Energietechnik? 114

2.5.2013

Das Gerät Irina an der zentralen Steuereinheit der Haustechnik

Die Steuerung dafür befindet sich hinter einem Touchscreen, über den sie bedient wird. Hier sind die Parameter definiert, mit denen sich Oldendorfs wohlfühlen sollen: Raumtemperatur, CO2-Gehalt der Luft und Luftfeuchtigkeit. Und je nachdem, wie warm oder kalt es draußen ist und wie intensiv die Sonne durch die vielen Fenster scheint, ackert die Heizung, werden Fenster geöffnet und wieder geschlossen, fahren Rollläden runter und wieder hoch – alles über die Steuerzentrale voll automatisiert. Das Ziel: optimaler Wohnkomfort bei möglichst niedrigem Energieverbrauch. Und weil es ja ein Modellprojekt ist, hat man an aufwendiger Technik nicht gespart: Es gibt nicht nur eine Wärmepumpe, die ihre Energie aus der Außenluft gewinnt, sondern auch zwei Solaranlagen. Die eine erhitzt mithilfe der Sonnenstrahlen das Wasser im Heizkreislauf, die andere wandelt die Strahlen in Strom um. So soll dank der Ersparnis an Kohlendioxid durch die regenerative Energieversorgung das durchs Wohnen freigesetzte CO2 ausgeglichen werden. Man nennt das Nullenergiehaus. Forscher der TU Braunschweig, der TU Darmstadt und der Berliner Humboldt-Universität begleiten von nun an die Oldendorfs. Ständig können die Wissenschaftler auf alle Verbrauchsdaten online zugreifen, wissen, wann der Stromverbrauch steigt, wie hoch der Wärmebedarf ist, wann die Fenster öffnen, fragen regelmäßig, wie’s denn so geht in dieser Wohnmaschine, wie sich die Technik auf Wohnkomfort und Wohlbefinden auswirkt. Oldendorfs protokollieren mehrmals wöchentlich, was ihnen widerfährt. Wie Versuchskaninchen kämen sich andere vor, für die Testfamilie ist es einfach ein Abenteuer.

Plötzlich öffnen sich die Fenster Die erste Reaktion: reine Begeisterung. „So viel Platz, so viel Licht!“ Ein paar Tage später: ein Schock. „Beim ‚Tatort‘ läuft der Showdown. Auf einmal ein lautes Knacken, fast wie ein Pistolenschuss, dann weht

4



EXTRA ENERGIE

ein kalter Luftzug durch unser Haus. Wir fahren zusammen – Einbrecher? Nein, nur die Klima-Automatik. Der CO2-Sensor fand die Luft nicht mehr frisch genug und hat die Öffnung der zehn Fenster im Wohnzimmer angewiesen.“ Was für den unfreiwilligen Höhepunkt eines aufregenden Fernsehabends gesorgt hat, ist ein zentrales Element des Energie- und Klimakonzepts. Wie bei allen ambitionierten Altbausanierungen wurde auch hier der Wärmebedarf durch umfangreiche Wärmedämmung dramatisch reduziert. Das bedeutet: Das Haus ist praktisch luftdicht. Und was sollen seine Bewohner atmen? Im Unterschied zu anderen Nullenergiehäusern, in denen eine Lüftungsanlage zum Einsatz kommt, setzt man beim Wilhelmsburger Projekt auf 33 Fenster mit 93 Quadratmeter Gesamtfläche. Die sorgen nicht nur für wunderbar helle Räume, sondern auch für frische Luft – und zwar automatisch über die Steuereinheit. Die Steuerung hat von Oldendorfs den Namen „Er“ bekommen, weil „Er“ dafür sorgt, dass Fenster sich öffnen und wieder schließen, sich Jalousien absenken und wieder hochfahren – es wirkt einfach so, als säße da einer drin, der sich kümmert. Ein paar Wochen nach ihrem Einzug werden Oldendorfs in die Technik eingewiesen. „Echt interessant, aber auch kompliziert! Unsere Köpfe rauchen. Jetzt wissen wir, wie sich je nach Luftqualität, CO2-Gehalt in der Raumluft, Temperatur drinnen und draußen, Wetter und Tageszeit die Fenster von selbst öffnen und schließen. Außerdem kann man einstellen, wie weit die Fenster sich öffnen – vor allem nachts echt wichtig! Aber das ist uns zu heikel, darum sollen sich lieber die Techniker kümmern.“ Sich automatisch öffnende Fenster: eine Herausforderung. Bei acht Grad minus müssen die Bewohner ganz schön tapfer sein. Freunde, die zu Besuch kommen, sind geradezu verstört. Und Christian Oldendorf ist hin und wieder nach dem Duschen mit nacktem Oberkörper zu 116

2.5.2013

besichtigen. Der Sensor sorgt bei hoher Luftfeuchtigkeit dafür, dass sich die Fenster öffnen und das Bad durchlüften. Eigentlich weiß er, wie man das verhindert, vergisst es aber gelegentlich. Nachts kann das ungemütlich sein. Die Technik tut, was sie soll: Steigt der CO2-Gehalt in der Luft, öffnen sich die Fenster. Aber welche? Wie weit? Ist der Öffnungswinkel zu klein, reicht es nicht für den Luftaustausch, ist er größer, leidet das Sicherheitsgefühl. Und das spielt bei Eltern, deren Kinder im Erdgeschoss ihre Zimmer haben, nun mal eine Rolle. Und dann schließen die Fenster ja auch wieder, leider nicht geräuschlos. „Ein Uhr in der Nacht, die Fenster schließen so laut, dass alle kurz aufwachen!!“, schreibt Christian Oldendorf am nächsten Morgen, immer noch verärgert, in sein technisches Logbuch.

Alt und neu Familie Oldendorf vor dem sanierten Haus (rechts) und dem modernen Anbau mit Solarzellen

Das Licht verzaubert

Warm und fremd Im Haus gibt es keine Heizkörper, deshalb wärmt sich Irina Oldendorf manchmal am großen Wasserspeicher

Doch dann sind die Oldendorfs ganz schnell wieder versöhnt. „Wie bei Sonnenaufgang das sanfte Licht in die Räume gleitet, ist unbeschreiblich. Wir stehen in der Küche und sind wie verzaubert“, schwärmen beide. „Man muss es einfach erleben, am liebsten jeden Morgen wieder! Wir sind gleich ganz anders drauf. Wie sind wir eigentlich früher ohne all das Licht ausgekommen?“ Äußerungen wie diese sind für die Wissenschaftler, die das Leben der Testfamilie protokollieren, interessant. Denn es geht ihnen eben nicht nur um die Verbrauchswerte, sondern genauso um ihr Wohl- oder Unwohlbefinden. Sie verfolgen einen „Kuschelansatz“. Der das Projekt begleitende Soziologe Percy Scheller von der Humboldt-Universität erzählt: „Wir sitzen alle drei Monate am Küchentisch, die Atmosphäre ist entspannt. Wir lachen, unterhalten uns auch über private Dinge. Die Kinder toben irgendwo herum und kommen ab und zu vorbei.“ Erstes Ergebnis des Monitorings: „Wir sind eine echte Durch-

4



EXTRA ENERGIE

GUT ZU WISSEN Energiesparen, sehr smart

Ein elektronisch vernetztes Haus passt sich den Bedürfnissen seiner Bewohner an, es fährt die Rollläden hoch und runter, schaltet das Licht ein

oder wärmt den Backofen für die Zubereitung eines Kuchens vor. Die vollautomatische Steuerung meldet sogar Einbrüche und Brände und hilft beim Energiesparen. Mithilfe

40 %

12 % Plattformen entstehen

Unternehmensberater von Arthur D. Little schätzen das WachsSmarte Geräte sind Lernende Heizung tumspotenzial der nicht nur praktisch, sie smarten Technologie Zu einem schlauen Haus gehört nicht nur senken auch die Kosin Europa bis 2020 auf eine Heizung, der man ten. Das Fraunhofer zwölf Prozent pro Jahr. die gewünschten Tem- Institut für Bauphysik Neben der Haustechhat untersucht, wie viel nik werden bald auch peraturen für TagesWärmeenergie sich mit private Anwendungen und Nachtzeiten voreiner intelligenten Hei- wie das Management gibt. Ein smarter Thermostat speichert zung einsparen lässt. von Fotos, Videos, MuDas Ergebnis: Familien sik und auch E-Mails die Temperaturen. Er weiß, bei welchen sich verbrauchen 17 Proüber die „Home Cloud“ zent weniger Energie, per Druck auf Sensodie Bewohner am bei Singles sind sogar ren bedient werden wohlsten fühlen, und 40 Prozent möglich. heizt entsprechend. können.

Singles sparen am meisten

FOTOS: FOTOLIA; GENE BLEVINS/POLARIS/STUDIO X; LASSEDESIGNEN-FOTOLIA

Zeitschaltuhren bald überflüssig

eines iPads, AndroidTablets oder eines Smartphones lässt sich die Elektronik über eine grafische Oberfläche steuern. Und das ist von zu Hause aus, dank der Schaltzentrale, möglich und ebenso von unterwegs. Alles ist schon heute Realität. Um auf die entsprechende App aus der Ferne zuzugreifen, benötigt man lediglich das richtige Passwort. Rund 550 Neubauten pro Jahr werden bereits als solche Smart Homes konzipiert und gebaut.


schnittsfamilie“, resümiert Irina Oldendorf. „Sehr interessant, dass wir tatsächlich genau so leben und wohnen wie vorher berechnet. Aber wir sind gläsern, alle Daten werden protokolliert und ausgewertet. Wenn um elf Uhr der Warmwasserbedarf sprunghaft ansteigt, dann können die Wissenschaftler daraus schließen, dass bei uns einer duscht, also wohl ziemlich spät aufgestanden ist. Wir verdrängen es.“ Das muss man als Testfamilie wohl können. Und man braucht einigen Enthusiasmus, wie der Architekt des Projekts Jan Ostermann bekennt. „Die Haustechnik ist stark computergestützt, mit viel Sensorik ausgestattet und muss deshalb sorgfältig justiert werden. Darauf müssen die Bewohner sich einlassen.“ Selbstkritisch sagt er: „Insgesamt ist der technische Input für Normalverbraucher noch recht aufwendig. Aber es ist ein Modellprojekt, ein Experiment, bei dem wir Dinge ausprobiert haben, von denen wir nicht von Anfang an wussten, wie das Ergebnis ausfällt.“

Die Automatik bleibt aus Bei extremen Wetterlagen kommt auch die ausgefeilteste Technik an ihre Grenzen. „Gestern war der heißeste Tag seit neun Jahren“, notiert Christian Oldendorf. „Das Außenthermometer zeigte 38 Grad, und das über mehrere Stunden. Wir haben alles versucht, die Zimmer so angenehm wie möglich zu bekommen. Die Nacht war sehr, sehr anstrengend. Da es windstill war, konnten wir nur schlecht lüften. Wir hatten über Nacht die Automatik wieder an, mussten sie aber gegen vier Uhr wieder abschalten, da sich die Dachfenster zu oft und schnell komplett öffneten und schlossen. Diese Hitze und dann noch die ständigen Geräusche der Fenster. Das war nicht schön.“ „Mit der Zeit sind wir kritischer geworden“, sagt die Bewohnerin. „Christian lag vor Kurzem fast zwei Tage mit Erkältung flach. Er wollte natürlich seine Ruhe, hatte aber keine Chance, weil sich bei wechselhaftem Wetter ständig die Fenster und

die Jalousien öffneten und schlossen. Deshalb bleibt die Automatik nachts auch weiterhin aus. Und: Mir ist immer mal wieder kalt. Wenn ich im Winter zwei Stunden mit den Kindern Schlitten gefahren bin, wurde mir einfach nicht mehr warm. Kein Heizkörper, den ich hochdrehen kann, kein Feuer zum Aufwärmen.“ Bleibt nur der Speicher im Heizungsraum zum Kuscheln. Ihr Wunsch: „Bekomme ich bitte einen Kamin?!“ Der ist in diesem Modellprojekt nicht vorgesehen. Dafür stellen die Wissenschaftler immer wieder interessante Herausforderungen. Im Februar hieß es auf einmal: Automatik aus! „Zwei Tage lang sollten wir wieder auf althergebrachte Weise lüften und die Außenjalousien manuell steuern. Die wollten ermitteln, wie wir ohne Lüftungsautomatik klarkommen. Gibt es Unterschiede in der Luftqualität? Werden wir die Automatik vermissen? Oh ja! Seit sie wieder läuft, ist die Raumluft viel frischer, die Zimmertemperatur angenehmer. Das war in den vergangenen Tagen anders und fiel uns sofort auf.“ Und so ist das Fazit der Testfamilie Oldendorf nach 18 Monaten Wohnexperiment eindeutig: „Wir sind von unserem Haus ganz schön versaut worden. Das haben wir vor allem gemerkt, als wir von unseren Freunden eingeladen waren, denen wir unsere Wohnung während der zwei Jahre untervermietet haben – wow, wir haben überhaupt keinen Bezug mehr zu ihr!“ Sie haben sich an all das gewöhnt: die hellen Räume, das Licht am Morgen und in den Abendstunden, der Komfort, die automatischen Fensterlüftungen, den riesigen Garten. „Die Kinder sind hier viel entspannter, wohl auch, weil wir es sind“, sagt Irina Oldendorf. „Nach unserer Zeit in diesem Haus möchten wir in die alte Wohnung eigentlich nicht mehr zurück. Dürfen wir bitte für immer hierbleiben?“ Sven Rohde

2

Hilft unser Ökobewusstsein dem Klima wirklich? Zwei Experten streiten darüber ab Seite 122 2.5.2013

119


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.