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Buchvorstellung: Wege zur Wohlfahrtsstadt

Wege zur Wohlfahrtsstadt

Über die bedeutende Rolle der öffentlichen Daseinsvorsorge.

von Renate Brauner und Bernhard Müller

Der Begriff der Wohlfahrtsstadt ist im Gegenzug zu jenem des Wohlfahrtsstaates jung und wenig etabliert – zu Unrecht, wie wir meinen. Das renommierte „Gabler Wirtschaftslexikon“ sieht den Wohlfahrtsstaat (parallel zum Sozialstaat entstanden) als „Grundmodell der Sozialpolitik moderner Wettbewerbsgesellschaften“, in dem „die staatliche Verantwortung für die Gewährleistung grundlegender Menschenrechte (‚sozialer Grundrechte‘) und für die Daseinsvorsorge seiner Einwohner bei der grundsätzlichen Ausgestaltung der Sozialpolitik Vorrang vor der individuellen Eigenvorsorge“ genießt.1

AD PERSONAM

Mag.a Renate Brauner, war von 1996-2018 in verschiedenen Funktionen Mitglied des Stadtsenates der Stadt Wien, u. a. als Vizebürgermeisterin und Finanzstadträtin. Sie leitet das Büro für Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft der Stadt Wien und ist Präsidentin des Verbandes der Öffentlichen Wirtschaft und Gemeinwirtschaft Österreichs (VÖWG).

AD PERSONAM

Bernhard Müller, BA, MPA, war nach Tätigkeiten in der Privatwirtschaft und im Öffentlichen Dienst von 2005-2015 Bürgermeister der Stadt Wiener Neustadt und leitet seitdem in der Funktion Generalsekretär die Geschäfte von Urban Forum – Egon Matzner-Institut für Stadtforschung. Nach Jahrzehnten an Privatisierung, Deregulierung, Outsourcing und reiner Austeritätspolitik hat in den letzten Jahren ein gewisses Umdenken stattgefunden. Nicht zuletzt durch die COVID-19- Pandemie und ihre mannigfaltigen verheerenden Folgen wurden die Vorzüge einer öffentlichen Daseinsvorsorge inklusive stabilem Sozial- und Gesundheitssystem öffentlich wahrgenommen, thematisiert, geschätzt und dadurch mancherorts auch gestärkt. Aber auch schon vor der sogenannten Coronakrise wurden weltweit zahlreiche städtische Wasserwerke, Energieversorger, Kläranlagen oder Verkehrsbetriebe rekommunalisiert, da sich die Privatisierungen als teure Irrwege mit oft dramatischen Folgen für die Qualität und Leistbarkeit der „public services“ erwiesen haben. Womit wir bei der Wohlfahrtsstadt wären.2 Wiewohl es keine allgemein gültige wissenschaftliche Definition dieses Begriffs gibt, geht es dabei zweifellos um ein starkes kommunales Wohlfahrtswesen sowie eine soziale und inklusive Stadtentwicklung, die ein gutes Leben für alle Menschen möglich machen sollen. Letzteres mag trivial klingen, aber genau darum geht es.

Vorbild Wien

Seit der Jahrtausendwende folgen immer mehr europäische Gemeinden und Städte dem Vorbild Wiens und entscheiden sich gegen Privatisierungen oder rekommunalisieren Dienstleistungen. Im April 2019 präsentierte das Büro für Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft der Stadt Wien in

1 https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ wohlfahrtsstaat-50157 2 Wilfried Rudloff bezeichnete seine 1999 erschienene Studie „Kommunale Ernährung, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens, 1910–1930“ mit dem Titel „Die Wohlfahrtsstadt“.

Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung (ÖGPP) die viel beachtete Studie „Rekommunalisierung in Europa – Fakten, Motive, Beispiele“, in der 700 Re kommunalisierungen in 20 Ländern erörtert und beschrieben werden.3

Die HerausgeberInnen des Buches „Wege zur Wohlfahrtsstadt“ waren in ihrer Arbeit sehr oft mit der Tatsache konfrontiert, dass gerade die Menschen an der vordersten Front der Kommunalpolitik - also BürgermeisterInnen, Gemeinde- und BezirksrätInnen, und viele andere AkteurInnen der kommunalen Verwaltung – massiv unter dem Druck von Deregulierungs- und Privatisierungsideologie stehen.

Daraus entstand unsere Idee, sie mit einem Buch bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Jenen oft ehrenamtlich Tätigen, erlaubt es ihre Zeit meist nicht, internationale wissenschaftliche Debatten zu wirtschaftspolitischen Fragen im Detail zu verfolgen. Der Sammelband soll einen kompakten Überblick zur Rolle der öffentlichen Hand und vor allem der Kommunen und ihrer Leistungen der Daseinsvorsorge, aber auch der wirtschaftspolitischen Rolle, die Staat und Kommunen, gerade in Krisenzeiten haben können und müssen, geben. Für diese Gruppe ist es besonders wichtig, über den kritischen Diskurs zu Privatisierungen, der sich mittlerweile jenseits des konservativen Mainstreams entwickelt hat, informiert zu sein. Sie sind es, die über die immer vielfältiger werdenden Erfahrungen mit Rekommunalisierungen informiert sein müssen. Sind doch vor allem sie es, die weiterhin tagtäglich mit Forderungen nach Einsparungen, Steuersenkungen und Privatisierungen konfrontiert werden. Und diese Gruppe ist es auch, die nach den Erfahrungen mit der Coronakrise, die mittlerweile eine Wirtschaftsund Sozialkrise geworden ist, mit Selbstbewusstsein die zentrale, oft rettende Rolle der öffentlichen Hand auch außerhalb von Krisenzeiten vertreten kann und soll. Das Buch soll einen Überblick über die aktuellen Diskussionen und Erfahrungen bieten und gleichzeitig einen Blick in die mögliche Zukunft einer offensiven, kommunalen Wirtschaftspolitik werfen. Als das Konzept zu diesem Projekt entstanden ist, konnten wir noch nicht ahnen, dass bald eine Pandemie die Welt massiv verändern würde. Die Coronakrise und ihre wohl noch gar nicht in vollem Umfang abschätzbaren sozialen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen haben diesem Thema jedenfalls eine neue Dynamik verliehen. <

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