kinki
nr. 22 feb/mär 2010 chf 6.–
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‹editorial› move your brain and not your body Liebe Leser. Das Motto der Endsechziger mag noch gewesen sein, eher das Bewusstsein wandern zu lassen, anstatt sich einem physischen Lokalitätswechsel zu unterziehen. Wo noch die Generation davor gewisse Stiefel zum Laufen prädestiniert sah, war im Jahrzehnt danach die Parole unmissverständlich: ‹Walk this way!› Die 90er manifestierten sich selbst im hedonistischen ‹Fly away› unter anschwellendem Fluglärm, während in den Nullern kaum mehr ein Fortkommen möglich schien. Im neuen Jahrzehnt mögen Aufbrüche wieder en vogue sein – was schliesslich eines beweist: Zeitgenossen mit beschränktem Horizont erheben in den seltensten Fällen den Anspruch, Raum- und Zeitkontinuum mitbestimmen zu wollen. Im Gegenteil: wer was auf sich hält, den hält nichts am Fleck. Kosmopolitisch, aber auch -sozial sind wir, verstehen uns und werden weltweit verstanden. Man muss sich nicht mehr räumlich binden, um unterwegs sein zu können. Act global, think local. Per App oder Klick sind wir dem Moment und dementsprechenden Ort bereits um Bytes voraus. Was uns nicht davon entbindet, im Hier und Jetzt Verantwortung für uns selbst und das Unmittelbare zu übernehmen. Aber hey, lasst uns von hier wegkommen. Weiter geht’s. Ortswechsel. Eure ungebundene und fernwehleidige kinki Redaktion kinki
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SPRING / SUMMER 2010 www.fenchurch.com
[ L I F E AFTER SKATE ]
2010
We A c t i v i s t s M .E.G.A, ALEX PRAGER, CHRIS PASTRAS, FRANKIE SHIN & SAGE VAUGHN SHOT BY CHERYL DUNN www.wesc.com
‹content› Ortswechsel
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Editorial Content Gossip Klagemauer ‹Desert Rose› von Andrew Kuykendall ORDOS100 Zehn Minuten mit Chany Jeanguenin Selig ‹Wolves, Giraffes and Tourists› von Daniel Tischler Aurora Rubia Marcello Mariana: Panorama Album des Monats: Marsmobil Interview: Musée Mécanique Soundcheck Ibiza liegt am Ganges Interview: Chris Garneau ‹Americana› von Raphael Just und Jonas Leuenberger Vertreter: Trekkingsandale Kunst gegen die Krise Top Notch Gallery: artacks, Bern Bury the Jumbo Jackson Eaton Was Never Married Abo / Impressum Media Backpack Henry & Paul Ausblick
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‹contributors›
Fabienne Schmuki
Andrew Kuykendall
Nach längeren Aufenthalten an der Côte d’Azur und in San Francisco wurde die freischaffende Autorin Fabienne von andauerndem Fernweh gepeinigt. Irgendwann musste sie allerdings feststellen, dass es sich dabei um Phantomschmerzen han delte: Fabienne kann nämlich doch nicht ganz auf Zürich verzichten. Hier kann sie ihr Leben so leben, wie es ihr gefällt: Mit Schreiben, hau fenweise guter Musik und andeu tungsweise lateinamerikanischer Lebensfreude, die in den 11 587 Sekunden herrscht, an denen es so richtig heiss wird an der Limmat. Bei so viel Abwechslung ist auch das Fernweh kaum spürbar. – S. 68
Wer wie Andrew in Los Angeles lebt, der muss nach der perfekten Kulisse für einen fotografischen Roadtrip auf staubigen Strassen nicht weit suchen. Mitgebracht von seiner kurzweiligen Reise hat uns Andrew eine unglaublich schöne Foto strecke. Andrews Arbeiten wurden bereits in zahlreichen Galerien in Hamburg, Barcelona, Los Angeles und London ausgestellt und waren in diversen Magazinen wie Oys ter, Mirage, Celeste, Zoot und vielen mehr zu bewundern. Fürs kinki magazine wült Andrew tief in seinem Bildarchiv und zeigt uns die verträumten Impressionen aus der Stadt der Engel. – S. 22
Xymna Engel
Marcello Mariana
‹Menschen, die so weit entfernt von mir leben, können ja nicht dieselben Sorgen haben wie ich›, dachte sich Xymna Engel vor ihrer Abreise nach Lettland. Doch bald nach ihrer Ankunft musste sie feststellen, dass nicht nur freie Journalistinnen aus Bern, sondern auch Künstler aus Riga die Frage bedrückt, wie es weiter ge hen soll und ob man mit seiner Arbeit wirklich etwas verändert. Sollte Xymna nach ihrem Studium der Medien- und Kommunikationswissen schaft den Sinn ihrer Arbeit irgend wann allerdings mal ganz aus den Augen verlieren, so könnte sie sich auch eine Karriere als Hotelbesitzerin, Ornithologin oder aber als steinreiche Erfinderin einer neuartigen Müsli mischung vorstellen. – S. 90
Den italienischen Fotografen Mar cello Mariana faszinieren zeitgenös sische Landschaften. In seinem Fotoprojekt, in welches er uns in die sem Heft einen kleinen Einblick gewährt, nimmt Marcello uns mit auf eine Reise in künstliche und natür liche Landschaften und lässt uns die Orte über die Schulter des Betrachters hinweg begutachten. Dabei mag einem das auf den ersten Blick Unpassende und Hässliche bei genauerem Betrachten häufig plötzlich wie ein imposantes Kunst werk vorkommen, was sicher an den wunderschönen Fotos und der aussergewöhnlichen Auswahl der Locations liegt. – S. 58
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‹gossip›
get friends – or a map
‹agenda›
02 19.01. – 13.03.
graphic west 2: sensory boxes
ddd Gallery, Osaka 05.02. – 25.04.
new vision: new colours Museum of Art, Hong Kong 16.02.
Tausend Tipps für alle, die sich in ihren Ferien gerne abseits der vorgetrampelten Pfade bewegen: ‹My City à la Carte›-Maps.
Billige Flüge und das tiefe Pfund sind genügend überzeugende Argumente: 2010 geht es auf Städtereise. Neben London warten aber auch Kopenhagen, Wien, Barcelona und viele weitere Metropolen darauf, von uns ausgekundschaftet zu werden. Und wer weiss, vielleicht reicht es dem ein oder anderen sogar bis nach New York, ihr wisst ja, der tiefe Dollar… Aber kommen wir zu den Essenzen eines gelungenen Städtebesuchs zurück: Man muss wissen, wo es hingeht, wo die schönen Ecken, die tollen Läden, die idyllischen und hippen Cafés sind. Am liebsten hätte man deshalb in jeder Stadt einen guten Freund, der einen herumführt, in die lokalen Gepflo-
genheiten einweiht und einen die besten Orte entdecken lässt, ohne dass man sich den ganzen Tag auf der Suche nach Insiderplätzen die Füsse auf Irrwegen wund läuft. Wer sich nicht auf Facebook nach solchen pragmatischen Stadtfreundschaften umsehen möchte, kann einfach die ‹My City à la Carte›-Maps von Yuan Yao und Jan Gerber als Begleiter auf die Reise mitnehmen. Die lieblich gestalteten Führer zu bislang insgesamt zehn Städten verraten nämlich die besten Orte und sind gespickt mit Informationen, die einen nicht wie einen Touristen, sondern fast wie einen Local durch die Gassen flanieren lassen. (fr) alacartemaps.com
adam green (usa) Loppen, Copenhagen 20.02.
get well soon (d) Weekender, Innsbruck
chicks on speed dj set (usa /d) H2O Club, Bari 22.02.
fu manchu (aus) Debaser, Stockholm 23.02.
for love: tanz- und schauspielabend für courtney love Kammerspiele, München 24.02. – 06.03.
fec – short film festival Cambrils, Reus 27.02.
songs: album release (aus) Mighty Mighty, Auckland
03 01.03.
shout out louds (swe)
globalize it ! Wie erzeugt man die grösstmögliche Kreativität, Abwechslung und Dynamik? Sicher nicht durch Einheit und Kontinuität. Das dachten sich wohl auch die Macher von ‹What’s more alive than you›, als sie ihr Projekt ins Leben riefen. Wie der Name es schon vermuten lässt, appellieren sie weltweit an junge Künstler, Designer, Architekten und jeden, der einen Sinn für Ästhetik und Kunst hat, für sie zu designen. Die meist noch unentdeckten Talente können das italienische Projekt und seine Partner – unter anderem die Universität Florenz, die Tache14
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lesstiftung in Berlin und internationale Fashion-Magazine – so als Sprungbrett für ihre Karriere nutzen. Hochwertig produzierte Schuhe, Taschen und Accessoires, deren Macher aus Schweden, Thailand, Japan oder Israel kommen, avancieren auf diese Weise von blossen Nutz- oder Modeartikeln zu wahren Kunstwerken. Mal erkennt man die Farben einer dänischen Polarnacht, mal Formen von Wolkenkratzern in Singapur. Das nennt man Globalisierung! (js) wmaty.com
Music Hall of Williamsburg, New York 04.03. – 06.06.
armando andrade tudela. ahir, demà MACBA, Barcelona 05.03. – 06.06.
changing channels kunst und fernsehen 1963 – 1987
Museum Moderner Kunst, Wien 06.03.
in flagranti (usa)
Museum Night Fever at Bozar, Brüssel 08.03.
the black box revelation (b) Sound Control, Manchester 10.03.
local natives (usa) Academy 2, Dublin 13.03. – 05.09.
rewind: 1970s to 1990s – works from the mca collection Museum of Contemporary Art, Chicago 15.03.
vampire weekend (usa) MacEwan Hall, Calgary
unidade. trabalho. vigilância.
Der Fotograf Malte Wandel dokumentiert, wo die Völkerfreundschaft zwischen der DDR und Mosambik ihre Spuren hinterlassen hat.
Als Ende der 70er-Jahre ein Vertrag zur Völkerfreundschaft zwischen der Volksrepublik Mosambik und der DDR abgeschlossen wurde, reifte die Idee, nicht nur nette Worte, sondern auch Facharbeits-
kräfte auszutauschen. Als jedoch rund zehn Jahre später der Eiserne Vorhang fiel, wurden fast alle der 16 000 in der DDR beschäftigten Vertragsarbeiter wieder nach Mosambik zurückgebracht. Auf
den Spuren dieser alten ‹Völkerfreundschaft› befindet sich zur Zeit der junge deutsche Fotograf Malte Wandel. Drei Monate lang durchreist er Mosambik auf der Suche nach ehemaligen Gastarbeitern, welche er für seine Diplomarbeit porträtiert. Die daraus entstehende Dokumentation ‹Unidade. Trabalho. Vigilância.› umfasst eine Vielzahl verschiedener fotografischer Innovationen wie etwa die Kombination von SchwarzWeiss-Bildern mit farbigen Einzelportraits, Landschafts- oder Innenaufnahmen. Obwohl die Aufnahmen still oder manchmal sogar stumm wirken, sprechen sie Bände. Die Bildsprache von ‹Einheit. Arbeit. Wachsamkeit.›, wie die deutsche Übersetzung des Titels lautet, lässt quasi die Zeit gefrieren und spiegelt sowohl eine gewisse Niedergeschlagenheit
do you speak style? Es mag schon fast ungerecht erscheinen, wie viele Modetalente derzeit in Berlin heranwachsen und im Anschluss ihre Mode und ihre Genialität in die restlichen europäischen Städte überschwappen lassen. Als hätte der liebe Herrgott bei seiner Welterschaffung alles Talent in die deutsche Hauptstadt katapultiert, schlicht aus Unlust, dieses Gut gerecht über die ganze Welt zu verteilen. Derart hohe Töne spucken wir nicht zuletzt über die NachwuchsModedesigner des Labels Perret Schaad, hinter dem sich zwei Absolventinnen der Kunsthochschule Berlin Weissensee verbergen. Und nicht nur uns konnten Johanna Perret und Tutia Schaad mit ihrer ersten Kollektion bereits überzeugen, so dass die zwei innerhalb kürzester Zeil zur Riege internationaler Talente aufgestiegen sind, was sich etwa an der Präsentation ihrer allerersten Kollektion auf der Berlin Fashion Week im Januar ablesen lässt. In den Entwürfen von Perret Schaad, die an die frühe Mode von Jil Sander denken lassen, überwiegt das Wechselspiel aus Kontrasten wie Schlichtheit vs. Verspieltheit,
Klassik vs. Innovation. Weich fliessende Drapierungen stehen neben skulpturalen, festen Formen. Der dabei entstehende Stil wirkt somit elegant und experimentell Skulpturale Mode aus der deutschen (Mode-)Hauptstadt: das NachwuchsLabel Perret Schaad.
als auch einen eisernen Willen wider. Alles andere als still sind jedoch die wöchentlichen Demonstrationen, bei denen die ‹Madgermans›, wie die ehemaligen Mosambiker Vertragsarbeiter genannt werden, ihre Regierung auffordern, ihnen ihre Schulden auszuzahlen. Doch die Politiker scheinen sich taub zu stellen und warten. In einem Land, wo fast jeder Vierte HIV-positiv ist und die durchschnittliche Lebenserwartung bei ungefähr 43 Jahren liegt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis nur noch die Nachfahren der Madgermans für ihre Rechte kämpfen können. Umso gespannter sind wir auf den geplanten Bildband von Wandel und wünschen ihm viel Glück auf seiner Reise auf den Spuren dieser einst so starken Völkerfreundschaft. (ak) maltewandel.de
wellengang
zugleich. Wir sind gespannt, welches Talent aus Berlin uns das nächste Mal verzaubern wird. (am) perretschaad.com
Welches Mädchen hat damals nicht mit leuchtenden Augen die Abenteuer der kleinen Meerjungfrau verfolgt oder über das cellophanierte Wasser in der Augsburger Puppenkiste gestaunt? Ähnlich verzaubert sind wir von den Unterwasserwelten, die die italienische, in London sesshafte Designerin Maria Francesca Pepe zu ihrer neuen Kollektion ‹Bathing Beauties› inspirierten. Förderte sie bis vor einem Jahr noch ausschliesslich wunderbare Schmuckkollektionen zutage, ist sie nun auch verantwortlich für eine umfassende Damenkollektion. Im Esprit der Unterwasserwelt wallen hier seidene Jaquardstoffe im imaginären Wellengang. Und auch der Schmuck, dessen signifikante schlauchartige Ketten seit jeher für Pepes Design stehen, erstrahlt in dem Glanz vergoldeter Angelhaken und in Edelmetallen erstarrter Wellen. Ach, wie schön wäre es, an so einem goldenen Haken einmal hängen zu dürfen! (am) mfpepe.com
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reise auf tasche Dass Eastpak bei weitem nicht nur ein beliebter Hersteller für Schulrucksäcke ist, dürfte spätestens seit den zahlreichen Kollaborationen des amerikanischen Taschenherstellers mit renommierten Modedesignern kein Geheimnis mehr sein. So waren es unter anderem die Entwürfe von Eley Kishimoto und Raf Simons, die die Backpacks aus ihrem stiefmütterlichen Dasein herauskatapultierten und selbst bis dato überzeugte Handtaschenträgerinnen zum Rucksack-Glauben überlaufen liessen. Nach der eher enttäuschend
banalen Linie, die Rick Owen für Eastpak designt hat, können wir uns nun ob des fulminanten Zusammenspiels mit Christopher Shannon begeistert in die Hände klatschen. Der Londoner Designer hat die Klassiker aus dem Hause Eastpak in Grau-Weiss, in Aqua-Tönen und in Lackleder zu sportlichen Accessoires mutieren lassen. Vielen Dank für diesen Augenschmaus! (am) eastpak.com
under the sea Wirft man einen Blick auf die breite Masse der Snowboard- und Streetwear-Labels, die sich in den letzten zwanzig Jahren in diesem Wintersportsegment angesiedelt haben, so bietet sich ein buntes, aber irgendwie auch sehr einheitliches Bild. Zwar präsentieren sie sich praktisch allesamt in farbüberfluteten Fullprints, Nadelstreifen und wirren Boardgraphics, doch wahre Perlen sind leider immer weniger dabei. Genau dieser Problematik nahmen sich die Jungs von Hakuin Airlines an und besonnen sich bei ihrer ersten Kollektion, die nächsten Winter zu haben sein wird, auf die Freiheit und Diversität, die das Snowboardbusiness doch einst so einzigartig gemacht hatten. Angenehm anders, reduziert und humorvoll kommen denn auch die Designs der Snowboard- und Streetwear-Kollektion daher, die hoffentlich nächsten Winter für etwas mehr Abwechslung auf den Pisten sorgen wird. Modell gestanden hat für die ‹Whalecollection› 10 / 11 übrigens die Tierwelt. So dreht sich das ‹Whalerider›-Board grafisch um das leergefischte Meer, und auch auf den textilen Teilen treiben ausgestorbene und bedrohte Tierarten ihr Unwesen, ohne dabei mit erhobener Schwanzflosse für ihre Rechte zu plädieren. Ha16
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kuin kombiniert Humor und cleane Designs mit qualitativ hochwertiger Ware – die Boards etwa sind made in Switzerland. Eine Philosophie, die einst das Snowboar-
en face de toi
ding ausmachte und die mit Hakuin hoffentlich auch bald wieder eine tragende Rolle spielen wird. (rb) hakuin-airlines.com
Überfischung mal anders. Hakuin Airlines überzeugen mit cleanen Designs und einer ordentlichen Portion Humor.
‹Die Strasse als Catwalk› – der Untertitel des ersten FacehunterLookbook ist der Slogan einer ganzen Generation von Fashionistas, die während der letzten fünf Jahre die Strasse als ihren Laufsteg eingenommen und das Internet, genauer gesagt Streetstyle-Blogs, als ihr Medium entdeckt haben. Zu den Streetstyle-Fotografen und Bloggern der ersten Stunde gehört Yvan Rodic, der sich als Facehunter an die Spitze dieser internationalen Hipstergemeinde setzte. Immerwährend knipst Rodic die Schönsten mit den ausgefallensten Kleidern, aussergewöhnlichsten Tattoos, dem individuellsten Style… ihr kennt die Geschichte bestimmt. Nachdem ‹The Satorialist› und ‹Stil in Berlin› es vorgemacht haben, kommt nun auch Yvan Rodics visuelles Gedächtnis der besten Looks der Strasse in Buchform raus. Erhältlich ist der Band mit vier unterschiedlichen Covers, eines davon ziert übrigens das Schweizer Model Affa. Wer sich selbst auf der Strasse gerne nach speziellen Outfits umdreht, dem können wir die nächste Halskehre gerne ersparen: kinki magazine verlost nämlich drei FacehunterBücher. Um an der Verlosung teilzunehmen, schickt ihr eine Mail mit Betreff ‹Facehunter› und mit einem Foto eures eigenen LieblingsStreetstyle-Outfits an wettbewerb@kinkimag.ch. (fr)
klagemauer Dein Meerschweinchen hat dich heute gebissen? Deine Freundin steht auf DJ Bobo? Die Welt ist böse? Zürich geht dir auf den Sack? Dein Lover hat deinen Geburtstag vergessen? Egal was dich gerade stresst oder nervt: auf kinkimag.com unter ‹Klagemauer› kannst du Dampf ablassen. Die besten Einträge werden hier veröffentlicht.
ich will will will will und krieg was mein geist auskotzen wollen würde. wwwwwwillibanna | es gibt menschen die sind mit ihrem wissen und ihrer konservativen einstellung so stehengeblieben wie eine zu fett geratene fliege die sich durch ein strohhalm drücken möchte. punktfragezeichen | Mängisch bini eifach nume no müed… Anonymous | die komplizierte unkompliziertheit ist mein ständiger begleiter. dabei sind wir nicht einmal gute freunde oder sowas… olive im glas | der nebel da draussen. mag ich nicht. nacktesonne | kater war zu besuch. meow | uh, entschuldigung Anonymous | verdammter zahnarzt schrägstrich viehschlachter! merrymelvin | wer zum teufel hat das gewisse etwas erfunden??? und wo hat er’s hin getan!!! something stupid | Das ich mich mit meinen 30 fühle wie 20 und trotzdem schon graue Haare bekomme! Coiffeur | Das verdammte VBS soll doch pleite gehen! und bitte bevor ich dann verfluchtnochmal einrücken muss... wenn ihr mich schon vergessen habt warum nicht ganz?!!! Ihr versaut mir jetzt schon die ganze Openairsaison und den Frühling und jeden einzelnen Tag von März bis August. Stirb VBS! leiderbaldrekrut | fuuuuuuuuuuuuuuuuuuck!!! (und scheiss auf – ich bin zu anständig für solche wörter) fuck fuck fuck! fuc hteline | jeder strebt nach ruhm, dabei möcht’ ich doch nur ein glas rum. monalisaweint | Warum lassen wir Freidenker uns eigentlich von diesen verfluchten Algebra-Formlen einengen. Freihheit der Kreativität!!! Anonymous | algebra ist ein werk des teufels Anonymous | Immer wieder die gliche wo ade kasse eini fahre lah müend & den unschuldig drilueged. punkrockskateordie | freitag eeeendlich mal ein date - und ich hab meine tage bekommen!!!! what the fuck?!!! hangover | wer zum teufel hat eigentlich die kalorien erfunden? madeimspeck | ohhhh, soll es doch schneien, stundenlang, tagelang, sogar monatelang und das meterhoch, bis das der tod uns scheidet!… bitte leon | lesben gehen mir auf den saack!!! immer nur sex im kopf blub | die kunst, die nicht annerkannt wird.. hart ist aller anfang street artige | das ewige ins-bürostüehli-reinpupsen. dingdong | Ich habe das Bullerbü-Syndrom. Anonymous | dieser von der klimaerwämung angeschossene winter ist fast schon zu bemitleiden. winter, so wie er früher war, mit 2 m hohen schneemauern find ich aber schon geil! guter winter ist ne gute sache | ‹deine wurzeln sind hier und du willst sie einfach gewaltsam rausreissen?!› mais je suis désolée, ich konnte hier keine schlagen. polarbear | sentimentale Schnitzel Schattenriss | es hat zu viele schöne männer. zu viele romeos! feline | leute ohne fachkompetenz feline | dass die alte ära zwar vorbei ist, aber eine neue ära nicht in sicht ist. schön. doch. bitch haferflocke kinki
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kuscheltour
Wer dem lieben Mr. Teddy mal etwas Gutes tun will, schickt ihn auf Erkundungstour in den Urlaub.
Heutzutage, wo die Zeit uns ständig davonrennt und wir kaum all unseren Pflichten und Launen nachgehen können, kommt der Urlaub gerne mal zu kurz. Aber auch diese Aufgabe kann nun mit gutem Gewissen delegiert werden. Und wer stünde uns da näher als unser langjähriger Begleiter, der seit der Kindheit in unserm Bett schlafen darf? Für Kuscheltiere boomt der Ferienmarkt schon seit einiger Zeit und lockt mit verschiedensten Angeboten. Tapfer posieren unsere Lieblinge vor Sehenswürdigkeiten, schreiben Postkarten und kommen mit Mitbringsel und Fotoalbum im Gepäck wieder nach Hause zurück. Gönnt man seinem Plüschtier gar eine Luxusreise, dann steht nicht nur Sightseeing auf dem Programm, sondern es kann sich auch bei Massagen entspannen und gar seine Koch- und Golfkünste verfeinern. Wer also lieber das nächste Mal seinen kleinen kuscheligen Stellvertreter ans Oktoberfest nach München schicken möchte, kann seinen Teddy auf kuscheltier-auf-reisen.de ruhigen Gewissens zu den Pflegeeltern in die Ferien schicken. (ak) 18
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stupid has the balls Es gibt sicherlich mindestens hundert verrückte Dinge, die du schon immer mal machen wolltest, oder? Sei es eine Ballettvorführung im Hörsaal deiner Universität, ein kleiner Einblick in deine Qualitäten als Stuntman oder der dumme Didi-Hallervorden-Sketch, den du schon lange mal in der Tram zum Besten geben wolltest… Wahrscheinlich scheiterten all diese Pläne an deiner guten Kinderstube oder aber daran, dass dir bisher einfach die Eier dazu fehlten. Im Rahmen von Diesels ‹Be stupid›Kampagne bieten kinkimag.com und Diesel euch nun die Möglichkeit zu beweisen, dass eure stupiden Ideen durchaus lohnenswert sind: Schickt uns bis zum 15.03. eure verrücktesten Fotos und Videos zu und tretet somit öffentlich der ‹Stupid Community› bei! Wir zeigen wöchentlich die drei besten Einsendungen aus beiden Kategorien und lassen unsere kinki-
mag.com-Leser darüber abstimmen, wer denn nun wirklich mit der ‹Most Stupid Idea› brilliert. Die zehn meistbewerteten Videos und Fotos werden mit einem ‹Be Stupid›Shirt von Diesel belohnt und dürfen somit auch öffentlich mit ihren Schandtaten protzen. Der Hauptgewinner wird dann auf kin-
kimag.com gebührend gefeiert, darf sich hochoffiziell mit dem Titel des Generals der ‹Stupid Army› schmücken und sahnt natürlich den ersten Preis ab. Weitere Info zum Wettbewerb findet ihr auf kinkimag.com/magazin. Und nicht vergessen: ‹Smart may have the brains, but stupid has the balls!› (rb)
der ruf der berge
Skiferien ganz einfach: die ‹Gipfelstürmer›-Angebote von Helvetic bieten alles, was man sich von einer Auszeit über der Nebelgrenze wünscht.
Für einen Film geht man schnell zur Videothek. Für deine Lieblingsmusik musst du nur deinen MP3-Spieler anschalten. Aber wie sieht es aus, wenn die Berge
mal wieder rufen? Lästige Preisschlachten und verwirrende Angebote erschweren nämlich immer mehr spontane Kurztrips ins Reich der Alpen. Doch mit Helvetic Tours ist nun endlich eine Abhilfe gefunden. Die besten Angebote an über 20 Wintersportorten in der Schweiz und Österreich finden sich dort ganz einfach und bequem via Internet und lassen sich auch gleich online buchen. Und das Beste daran: die Helvetic Tours ‹Gipfelstürmer›-Angebote beinhalten viele Extras. Somit müsst ihr euch keine Gedanken mehr über Skipässe, Unterkunft und Verpflegung machen. Und für Wellness ist auch gesorgt. Damit steht den Winterferien dank Helvetic Tours also nichts mehr im Wege. Nur Powder und Sonne müsst ihr selber suchen… (js) helvetictours.ch
Willkommen in der Welt von Red Bull.
Photo: Agustin Munoz
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‹kinkimag.com›
shen plum Wenn die in Toronto ansässige Kanadierin Shen Plum sich an eine Illustration setzt, dann begibt sie sich stets auf eine kleine Wanderung. Den Rucksack geschultert, das Pausenbrot gestrichen und die Zauberbonbons in der Tasche, schreitet sie in vermutlich gelben Gummistiefeln in die mystische Natur hinaus. Auf ihrem Weg durch farbenfrohe Wälder, Flüsse und Gebirge begegnet sie Tieren und Frauenfiguren, oder einer fabelhaften Mischung aus beidem. Besonders Füchse, Hasen und Eulen kreuzen gerne ihren Weg und locken sie in unentdeckte Winkel ihrer Fantasiewelt. Wenn es dunkel wird, kehrt Shen Plum nach der Traumphase an ihren Schreibtisch zurück, wo sie ihre Reisen verbildlicht oder sich auch Objekten wie Sneakers, Kameras und Skateboards hingibt, die sie mit ihren Reiseimpressionen verbindet. Ihr gesamtes Werk ist laut der Illustratorin, die am Ontario College of Art and Design studiert hat, von der westlichen wie auch der asiatischen Popkultur inspiriert. Da nehmen wir gerne unseren Wanderstock hervor und schlüpfen in rot getupfte Wanderschuhe, um Shen Plum auf ihrem Ausflug zu begleiten. Treffpunkt für alle, die mitkommen wollen, ist kinkimag.com/art.
Interkulturelle Reisen mit Pinsel und Stift. Die Kanadierin Shen Plum verbindet verschiedene kulturelle Einflüsse in ihren Kunstwerken.
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ok go
Auf musikalischer Ebene bereiten wir diesen Monat auf kinkimag. com/magazin ein exklusives Musikinterview für euch vor. Erinnert ihr euch an die vier Herren mit dem grossartigen Laufband-Videoclip? Zur Erinnerung: der Song hiess ‹Here it goes again› und die Interpreten, die sich dort athletisch und musikalisch profilierten, waren die Mitglieder der amerikanischen Band OK GO. Auch im Interview mit kinki Redaktor Julian Stoss bewiesen sie Ausdauer und zeigten, dass sie es immer noch drauf haben: ‹here they go again›.
ride the sky Schwarz, Weiss und Rot sind die farblichen Ingredienzen der fotografischen Himmelsfahrt, die im italienischen Frühling startet und uns im Sommer der Dolce Vita absetzt. Kurze Overalls, mal frech übers T-Shirt gestreift, mal sexy schulterfrei, gehören auch diese Saison zur Geheimrezeptur eines stilsicheren Sommeroutfits. So sieht es zumindest die italienische Stylistin Giulia Rebora, und die von der Modefotografin Cristina Capucci abgelichtete Strecke ‹Ride the sky› gibt ihr augenscheinlich Recht. Leider müssen wir uns noch etwas gedulden, bis wir in unsere Einteiler schlüpfen oder unsere Bluse über dem hochgetragenen Jupe oder dem gefächerten, ebenfalls hochgetragenen Rock zuknöpfen können. Die hübsche Fotostrecke auf kinkimag.com/magazin wird euch das Warten auf die wärmeren Temperaturen aber sicher etwas verkürzen. Den Strohhut könnt ihr auf jeden Fall schon bereit legen und den gekühlten Martini anrühren: der nächste Frühling kommt bestimmt!
on the road Sie stellen die Kulisse jedes RoadMovies und passen auch bestens als bildliche Untermalung eines Romans von Jack Kerouac: Motels, Amerikaflaggen, verlassene Parkplätze und farbige, verschwommene Lichtspuren von Autos, die im Dunkel der Nacht über endlose Strassen heizen. Der deutsche Fotograf Ansgar Sollmann hat sich in L.A. auf die Suche nach ebendiesen Kulissen gemacht, die meistens nur einen Moment auf der Reise von A nach B ausmachen. Die Bilder von Stränden, Märkten, Skatern und Boulevards zeigen denn auch, dass Ansgar die dokumentarische Reise nicht bloss auf der Überholspur verbrachte. Die Fotoimpressionen der Stadt der Engel bedienen nämlich das Ideal einer ganzen vagabundierenden, vielleicht etwas verlorenen – kurz: einer Beat-Generation. In unserer Rubrik ‹magazin› könnt ihr diesen Monat in dieser Aufbruchsstimmung schwelgen und euch auf der warmen Haube eines Mustangs reckend eine kühle Diet Coke gönnen.
weiter, weiter! Natürlich steht unsere Website diesen Monat nebst der oben erwähnten Highlights auch sonst ganz im Zeichen des Leitmotivs dieser Ausgabe. Dabei findet ihr nicht nur allerlei ergänzendes Material zu unseren Fotostrecken, Interviews und Reportagen, sondern auch täglich aktuelle Blogs, Künstlerporträts und Musikvideos. Des Weiteren hält kinkimag.com mit den allseits beliebten kinki charts, den unvergleichlichen Gesprächen unserer Helden Henry & Paul, der Wochenschau sowie zahlreichen Gewinnspielen einiges an Zugaben und Exklusivitäten für euch bereit. Also: hit the road to kinkimag.com!
Warum eigentlich nicht mal
einen Schweizer
vernaschen? it! Mach m innen: w e G & Fragen rone.ch e l b o t . www
Einzig. Nicht artig.
DESERT ROSE
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photography Andrew Kuykendall, andrewkuykendall.com WARDROBE Ton Y Van Van make up and hair Chelsea Allen model Kelly Ash@Q Models page 22 Sequin Vest: Ton Y Van Van High Waist Skirt: Versace Heels: Miu Miu page 24 & 25 Dress: MyPetSquare Dress: Vintage Gunne Sax Hat: Model’s own Heels: BCBG page 26 Sunglasses: Christian Dior Shorts Jumper: Ton Y Van Van Shoes: Vintage Van Eli Boots page 28 & 29 Top: Vintage ‹Alaska› T-Shirt Gold High Waist Pants: Grey Ant Shoes: Chloe Platforms Top: Marc Jacobs Blouse Leggins: American Apparel Shoes: Salvatore Ferragamo page 30 Corset: Agent Provocateur Belt: Oscar de la Renta Pants: Ton Aguilar Ring Watch: Model’s own
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Ordos100
Während wir in Europa über Architektur sinnieren und diskutieren, wird in China einfach gebaut, sogar dann, wenn noch gar keine Nachfrage besteht. Die Regierung stampft eine Stadt aus dem Boden und ein Milchmogul lässt sich 100 Villen von 100 internationalen Architekten entwerfen – willkommen im Land der möglichen Unmöglichkeiten. Text und Interview: Florence Ritter, Illustration: Lina Müller
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E
s weht ein eisiger Wind, der die Durchschnittstemperatur von -13 Grad im Januar locker wie -30 Grad erscheinen lässt und einem unaufhaltsam Wüstensand und Schnee um die Ohren peitscht. Die Landschaft ist karg und trocken, eine Steppe mit Wüstengräsern, die im feucht-warmen Sommer ebenfalls von starken Winden heimgesucht wird. Wir befinden uns im Norden Chinas, genauer gesagt auf dem Ordos-Plateau in der Inneren Mongolei, wo vor Jahrhunderten mongolische Nomaden in ihren Jurten hausten und heute – mitten im Niemandsland – eine neue Metropole und ein Architekturpark entstehen sollen.
Die Stadt Ordos
In der Inneren Mongolei plant ein Milchmogul, hundert Villenmodelle unterschiedlichster Form und Ausprägung in einem Wohnquartier für Reiche zu vereinen.
In Ordos und um die Stadt herum, die sich 80 Flugminuten westlich von Peking befindet, leben derzeit geschätzt 1,5 Millionen Menschen. Die Gegend zählt aufgrund ihrer beträchtlichen Rohstoffe – insbesondere Kohle- und Erdgasvorkommen – sowie einer florierenden Kaschmir- und Milchindustrie zu den reichsten Chinas. Ordos gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten Chinas und das Pro-Kopf-Einkommen übersteigt den nationalen Durchschnitt deutlich. Das hohe Wirtschaftswachstum der Region, das auf unglaubliche 40 Prozent geschätzt wird, erklärt sich teilweise auch durch die riesigen Staatsinvestitionen, die seit des ersten Spatenstichs vor ungefähr fünf Jahren in den Bau der Stadt Ordos geflossen sind. Das ambitionierte Projekt der chinesischen Regierung versprach schon in einem frühen Stadium eine Konzeptstadt mit beeindruckenden Bauten zu werden. Wie in Las Vegas oder Dubai wurde mitten in der Wüste eine neue Stadt aus dem Boden gestampft, deren architektonisches Prinzip sich als Copy and Paste anderer Bauten beschreiben lässt. Laut der Zentralregierung wurde Neu Ordos gebaut, um der chinesischen Landflucht zu begegnen und somit den überbordenden Grossstädten Entlastung zu verschaffen. Dass nicht um das alte Ordos herum gebaut, sondern 25 Kilometer davon entfernt eine neue Stadt errichtet wurde, kann indessen niemand so richtig verstehen, vermutet werden dahinter aber wirtschaftliche Gründe. Denn Neu Ordos soll mit einer perfekt abgestimmten Infrastruktur zu einer führenden Wirtschaftsmetropole heranwachsen und so insgesamt das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik steigern. Die ‹Stadt der Zukunft› soll daher neben der Bevölkerung des alten Ordos auch viele Fachkräfte aus dem ganzen Land anziehen, um den am Reissbrett entworfenen Wirtschaftsstandort aufzubauen. Neben der ländlichen und einfachen Bevölkerung leben im Ordos-Plateau auch einige sehr reiche Bürger, die aus den Bodenschätzen der nur scheinbar kargen Gegend Profit schlagen konnten. Einer davon ist Cai Jiang, ein Selfmade-Millionär, der in der Milch- und Kohleindustrie ein Vermögen machte und sich heute gerne als Investor und Kunstsammler gibt. Auch er trägt seinen Teil dazu bei, das neue Ordos attraktiver erscheinen zu lassen, nämlich indem er
der Stadt einen ‹Cultural Creative Industry Park› hinzufügt, der mit Konzertsälen, einem Kunstmuseum, einer Universität und einem Theater für ein Kultur-Upgrade in der Inneren Mongolei sorgen soll. Einen elementaren Teil des Parks macht neben diesen kulturellen Attraktionen jedoch auch eine Wohnsiedlung für Reiche aus, die Cai mit seinen Unternehmen ‹Jian Yuan Cultural & Creative Industrial Development Ltd.› und ‹Jiang Yuan Water Engineering Ltd.› plant, und die ihm und seinen Freunden als Wohnoder Ferienresidenz dienen soll. Für die Planung und den Entwurf dieses in eine reichhaltige Kulturlandschaft eingebetteten Villenviertels engagierte Cai Jiang den chinesischen Künstler Ai Weiwei, der schon am Bau des ‹Vogelnests›, des Olympiastadions von Peking, beteiligt war. Er erweiterte das Projekt um eine neue Komponente und suchte für die Umsetzung seiner Vision eines Schmelzpunktes von Architektur und Kunst bald schon in der Schweiz Unterstützung. Ai Weiwei liess nämlich die bereits beim Vogelnest erprobte Zusammenarbeit mit den Basler Architekten ‹Herzog & de Meuron› wieder aufleben. Anstatt das Villenviertel aber von diesen Stararchitekten entwerfen zu lassen, entschieden sie gemeinsam, jungen internationalen Baukünstlern den Vortritt zu lassen und ihnen eine vollkommen einzigartige Plattform für ihre Ideen zu bieten. Herzog & de Meuron stellten eine Liste von 100 internationalen Architekten aus 29 Ländern und fünf Kontinenten zusammen – darunter auch 19 Büros aus der Schweiz – die je eine der hundert Privatvillen entwerfen und planen sollten. Dazu konzipierte Ai Weiweis Architekturbüro ‹FAKE Design› einen Masterplan, der das Grundstück in 100 Parzellen aufteilte und Gassen und Strassen sowie einen See aus gestautem Grundwasser vorsah, der die Wasserversorgung der Siedlung sicherstellen soll. Oberstes Ziel war es dabei, die Architekten möglichst wenig einzuschränken, weshalb sie sich nur an diese Vorgaben halten mussten: ein 1000 m² umfassendes Grundstück, zwei bis drei Stockwerke mit einer bestimmten Zimmeranzahl, einem separaten Wohnbereich für das Dienstpersonal sowie Fitnessräumen und einem Swimmingpool. Bereits als der Masterplan stand, war allen Beteiligten klar, dass es sich bei ‹ORDOS100›, so der Titel des Projekts, um die wohl einmalige Gelegenheit handelte, ein unvergleichbares architektonisches Experiment umzusetzen.
Villenprojekt im Wüstensand Anfang 2008 pilgerten daher die ersten Architekten in Begleitung zahlreicher Medienleute auf die Einladung des Bauherrn Cai, des Kurators Ai Weiwei sowie seines Unternehmens ‹FAKE Design› in die Wüste. Bei diesem ersten Treffen wurde ein Symposium mit Informationsveranstaltungen und Diskussionen gehalten. Verträge wurden abgeschlossen und die Lose für die Grundstückszuteilung gezogen. Danach wurde das 197 Hektar grosse Gelände besichtigt und zahlreiche Architekten irrten kinki 33
ziellos über Sanddünen und suchten nach ihrem Grundstück, machten Fotos und begutachteten die Umgebung. Bei einem zweiten Treffen präsentierten die Architekturbüros dann nach einer eifrigen Arbeitsphase ihre Modelle und Baupläne und diskutierten sie mit Ai Weiwei und einer chinesischen Kommission. Auch zahlreiche internationale Medien waren eingeladen, dem Entstehungsprozess in Ordos beizuwohnen. Unter anderem berichteten Arte, das ZDF, das Schweizer Fernsehen, die Internetzeitschrift ‹Movingcities› und das Schweizer Architekturmagazin ‹Hochparterre› ausführlich und mit ergänzendem Blog über das extraordinäre und gewagte Architekturexperiment, das mitten in der kargen Inneren Mongolei gedieh. Im Juni 2008 wurde das dritte Treffen abgehalten, bei dem die letzten Villenmodelle in den Masterplan eingefügt wurden. Dieser liess bereits eine riesige Bandbreite an ungewöhnlichen, extravaganten und ausgeklügelten Bauformen erkennen, die ein wildes, heterogenes Gesamtkunstwerk skizzierten. Nach dem letzten Treffen hatten alle Büros einige Wochen Zeit, um ihren Entwurf und ihre Pläne zu überarbeiten und die endgültigen Konstruktionspläne einzureichen. Diese sollten dann bald ‹an einen chinesischen Ingenieur übergeben werden, der die Ausführungsplanung und Bauleitung übernehmen würde›, so zumindest wurde es den Medien kommuniziert.
Wüstenland gleich Bauland 2008 wurde in Neu Ordos wie im Rausch gebaut. Den Horziont prägten Baukräne, die eindrückliche Gebäude sowie einheitliche Villensiedlungen fertigstellten. Und obwohl noch nicht mal der Bau des Regierungsgebäudes abgeschlossen war, ragten bereits vor seinen Toren das mächtige bronzene Denkmal zweier mongolischer Pferde sowie eine Statue von Dschingis Khan in die Höhe. Besonders beeindruckt waren alle von den weitläufigen, breiten Strassen, die scheinbar ins Nichts führten. Stadt und Strasse waren menschenleer und doch standen stets einsame Verkehrspolizisten auf den Kreuzungen. Auch auf dem Gelände des Creative Industry Parks empfing bereits ein imposanter, moderner Bau die ersten Architekten im Januar 2008. Das ‹Ordos Art Museum›, das Cai Jiangs private Kunstsammlung umfasst, thronte am Eingang der Siedlung. Ebenso waren schon Atelierhäuser und eine Bibliothek unter Ai Weiweis Leitung gebaut worden. Bis zum letzten Treffen waren dann noch mehr Strassen im Viertel verlegt und von Bäumen gesäumt worden. Als befremdendes, irgendwie surreales Szenario in der Wüste, das dank der Weitläufigkeit und der angepriesenen Freiheiten manch ein Architektenherz höher schlagen liess, beschrieben Beteiligte ihre Impressionen. Versucht man jedoch, sich über den aktuellen Stand des Ordos-Projekts zu informieren, verlieren sich die Spuren in den Weiten des Internets. Zu finden sind zahlreiche Berichte und Blogs, die jüngsten datieren jedoch auf Juni 2008, also auf die Zeit des letzten Architekten34 kinki
treffens in Ordos. Seit damals scheint die Berichterstattung auf mysteriöse Weise abgebrochen zu sein. Erst nach einer langen Pause von über einem Jahr widmen sich nun seit kurzem einige Medien – wie etwa Al Jazeera English oder Arte – wieder dem Thema. Diese aktuelleren Reportagen zeichnen jedoch ein kaum mehr euphorisches Bild: Neu Ordos sei eine ausgestorbene Geisterstadt, der trotz mehrheitlicher Fertigstellung die Bewohner ausblieben. Für die Bewohner des alten Ordos sei der Umzug in die neue Stadt zu teuer, ausserdem würden die Einkaufsmöglichkeiten fehlen. Die Geschäfte blieben wiederum fern, weil sie schlicht keine Kunden dort erwarten können. Da die Regierung angibt, viele der Immobilien bereits verkauft zu haben, schliesst Al Jazeera, dass viele der Wohnungen und Villen von reichen Chinesen als Geldanlage und nicht zur Benutzung gekauft wurden.
In den Sand gesetzt? Was ist dann wohl aus ORDOS100 geworden, das so plötzlich von den Medienbildschirmen verschwunden ist? Könnten die Umstände von Neu Ordos Auswirkungen auf das Projekt haben? Oder hat vielleicht die Wirtschaftskrise zur Verzögerung der Umsetzung geführt? Ratsuchend wandten wir uns an zwei Schweizer Architekten, Simon Hartmann und André Murer, die am Projekt massgeblich beteiligt waren. Simon betreute als projektverantwortlicher Partner den Beitrag von ‹HHF Architekten›, die eine der 100 Villen von ORDOS100 entwarfen, und reiste in diesem Zusammenhang viermal nach Ordos. HHF haben ihre Ausführungsplanung bereits vor einem Jahr abgeschlossen und abgegeben. André arbeitete hingegen für Ai Weiwei und sein Architekturbüro ‹FAKE Design›. Mit vier weiteren internationalen Architekten war er für die Erstellung des Masterplans und für die Organisation und Leitung von ORDOS100 verantwortlich. Im Interview stellten sich die beiden Diplomarchitekten unseren Fragen. kinki magazine: Wisst ihr, wie es mit ORDOS100 weitergehen wird? Werden die Villen noch gebaut? Simon Hartmann: Das weiss ich auch nicht, aber ich gehe davon aus, dass die Villen mehr oder weniger so gebaut werden, wie sie von den hundert Architekten gezeichnet wurden, wenn auch vermutlich mit vielen Projektvereinfachungen. Ausserdem denke ich, dass der Standort Ordos aufgrund der sagenhaften Rohstoffvorkommen in der Region wohl ziemlich krisenresistent ist. André Murer: Da einige Projekte rund um ORDOS100 bereits verwirklicht worden sind, wird auch das Unternehmen insgesamt sicher weitgehend fortgeführt werden. Vielleicht braucht es noch etwas Zeit, aber ich denke, es liegt auch im Interesse von Herrn Cai, dass das Projekt ORDOS100 schlussendlich realisiert wird. Wie genau und wann die 100 Entwürfe endgültig umgesetzt werden, ist mir aber auch nicht bekannt.
Könnte das Ausbleiben der Bevölkerung im neuen Ordos einen Einfluss auf das Projekt ORDOS100 und dessen Realisierung haben? Oder hat die Wirtschaftskrise einen Einfluss? André Murer: Vielleicht wird dieser Sachverhalt in gewissen Bereichen seine Auswirkungen auf die Ausführung des Projektes haben. Wo genau und wie stark dies sich zeigen wird, kann ich nicht sagen. Wir waren nur für den Teilbereich ORDOS100 verantwortlich. Was für Ämter und Unternehmen in die gesamte Stadtplanung involviert waren und wie das Problem dort gehandhabt wird, ist für uns nicht ersichtlich. Mit dem letzten Meeting im Sommer 2008 ging für uns zudem die Mitleitung und Verantwortung für das Projekt ORDOS100 zu Ende. Somit verloren wir die Kontrolle und die Übersicht über den weiteren Entwicklungsprozess dieser Villensiedlung. China ist eben kein Land, in dem es einfach wäre, während des laufenden Prozesses dahinter- oder durchzublicken. Simon Hartmann: Der Bericht von Al Jazeera zeigt ein Bild von Ordos, das auch wir gesehen haben. Mit der Wirtschaftskrise hat das alles aus meiner Sicht herzlich wenig zu tun, da die Situation schon vor zwei Jahren so war. Wahrscheinlich verzögern Wirtschaftskrise und Spekulanten das normale Funktionieren der Stadt, doch dies scheint mir alles irrelevant, wenn es um die Gründung einer Stadt geht. Wen interessiert es, ob in den ersten zwei, fünf oder zehn Jahren viele Wohnungen leer stehen? ORDOS100 ist ein kleiner Villenhügel im sehr interessanten Gesamtplan einer neuen Stadt. Natürlich ist die Entwicklung von ORDOS100 dennoch sehr direkt an die Gesamtentwicklung der Stadt geknüpft. Simon, kannst du dir erklären, weshalb das Projekt nach der grossen medialen Begleitung während der Planung nun plötzlich untergetaucht ist? Simon Hartmann: Dies ist ein ganz normales Phänomen in der Medienberichterstattung über Architektur: News-Wert hat eigentlich nur der Startschuss und dann wieder die Eröffnung. Solange die Dinge einigermassen nach Plan laufen, interessiert sich in der Zwischenzeit eigentlich kein Medium für ein Projekt. Ich denke aber, dass sich mit der inzwischen offensichtlichen Projektverzögerung auch immer mehr Medien mit der Frage, was aus Neu Ordos und ORDOS100 wurde, ins Geschehen einschalten werden. Der Hoffnung von Simon und André, dass es mit ORDOS100 weitergehen wird, können wir uns nur anschliessen. Was genau aus dem faszinierenden Architekturexperiment wird, scheint aber noch in den Sternen zu stehen. Alle fleissigen Bausparer sollten auf jeden Fall weiter am Ball bleiben. Es lockt eine sehr ruhige Lage… Auf unserer Website findet ihr unter kinkimag.com/magazin die exklusiven Interviews mit den beiden Architekten in voller Länge. Ebenso weiteres Hintergrundwissen zum Projekt ORDOS100 sowie alle Quellen, die für diesen Artikel verwendet wurden.
Die Planung des aussergew旦hn足 lichen Architekturprojekts ORDOS100 wurde erfolgreich durchgef端hrt, nun m端sste der experimentelle Villenpark nur noch gebaut werden.
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‹zehn minuten mit› Zeitgenossen und Weltbürgern. Chany Jeanguenin: ‹Tut, wozu ihr euch berufen fühlt.› kinki magazine: Du bist gerade von einem Besuch in der Schweiz zurückgekehrt. Siehst du die Schweiz nach all den Jahren in Kalifornien noch immer als deine Heimat an, oder fühlst du dich mittlerweile eher als Amerikaner? Chany Jeanguenin: Es ist toll, zurück in die Schweiz zu kommen, meine alten Freunde und meine Familie zu besuchen. Die Schweiz wird immer meine Heimat bleiben. Hier sind meine Wurzeln, das wird sich niemals ändern.
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ie werde ich den Moment vergessen, als meine Mutter mir zum Geburtstag mein erstes Skateboard schenkte. Dieses mit Totenköpfen verzierte Stück Holz verkörperte für mich nicht nur die absolute Hingabe an einen Sport, dessen einzige Regeln jene der Schwerkraft sind, sondern auch all die Träume, die mich für die nächsten Jahre begleiten sollten. Etwa zur gleichen Zeit, als ich mir dann schweren Herzens eingestehen musste, dass es mit meiner Karriere als Skater wohl nichts werden würde, sass ein junger, talentierter Bieler Skater namens Chany Jeanguenin in einem Flieger gen Kalifornien, um sein Glück im ‹Sunny State› zu versuchen und als einer der ersten Eu-
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ropäer den amerikanischen Traum vom Skateboard-Pro-Dasein zu leben. Doch bald nach seiner Ankunft musste Chany erkennen, dass niemand mehr an einem Halfpipe-Skater interessiert war und man sich mit Französisch in den Vereinigten Staaten noch nicht mal einen Bagel bestellen konnte. Trotzdem eiferte Chany seinen Träumen unbeirrt nach und schaffte es so, seinen schwierig auszusprechenden Namen 1994 gar auf einem Brett der Firma Rhythm Skateboards zu platzieren. Und auch wenn sich Chany in den letzten Jahren nicht nur als Skateboarder, sondern auch als Geschäftsmann und Mensch weiterentwickelt hat, ist er seinem Traum treu geblieben. Und das Problem mit seinem Nachnamen scheint er auch in den Griff bekommen zu haben: ‹Chiza› versteht nämlich jeder.
Auf einem deiner Boards bist du als Borat verkleidet mit einer amerikanischen Flagge in der Hand abgebildet. Wirst du in den USA noch immer als Ausländer wahrgenommen? Ich denke, man wird schon anders wahrgenommen, auch wenn die meisten Leute nicht merken oder sehen, dass ich Schweizer bin. Meine Freunde haben immer eine Menge EuropäerWitze auf Lager, mit denen sie mich ärgern. Aber daran bin ich gewohnt und lache meistens mit. Denkst du, dass dein ‹Swiss Precision›-Image dir in deiner Karriere als Pro geholfen hat? Keine Ahnung. Ich denke, das war nicht wirklich massgebend für meine Karriere, die meisten Leute denken sowieso, ich komme aus Schweden. Aber ich glaube, dass die Schweiz und ihre Geschichte hier schon einen recht guten Ruf geniessen. Viele Kids träumen sicherlich von einem Leben wie deinem und würden alles für eine Karriere als Pro-Skater geben. Was rätst du ihnen, um ihren Traum zu verwirklichen? Tut genau das, wozu ihr euch berufen fühlt, aber seid euch bewusst, dass ihr dafür vielleicht eine Menge werdet opfern müssen. Man muss sich an sehr
vieles gewöhnen und immer dankbar und respektvoll bleiben. Wer des Skatens willen und nicht wegen des Geldes und des Erfolgs Pro werden möchte, der hat auf jeden Fall gute Chancen. Viel Glück! Du bist durch deinen Beruf weit herumgekommen. Welche Länder haben dich besonders beeindruckt? Ich war in etwa 30 Ländern. Am meisten beeindruckt haben mich wohl die ärmeren Nationen wie Venezuela, Mexiko und Teile Afrikas und Chinas. Man lernt, sein Leben viel mehr zu schätzen, wenn man sieht, dass die Menschen dort mit ganz anderen Herausforderungen fertig werden müssen. Gefallen haben mir natürlich auch Australien und verschiedene europäische Länder, aber ich glaube, die Schweiz wird immer mein Favorit bleiben. Sie ist ein unglaublich schönes Land, doch das begreift man wahrscheinlich erst, wenn man sie verlässt. Chany fährt für Expedition One Skateboards, Red Dragon Aparell, Venture Trucks und lebt in Encinitas, Kalifornien. Weitere Informationen, Bilder und Videos findet ihr unter chanyjeanguenin.net. Text und Interview: Rainer Brenner Foto: Andi Speck
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SE LIG Eigentlich waren wir losgezogen, um herauszufinden, was genau es mit dem religiösen Völkchen im Appenzeller Halbkanton Ausserrhoden auf sich hat. Bei unserem geistlichen Roadtrip durch die hügelige Landschaft trafen wir auf Karma und Krafttiere, verbrannten Kuhmist und zogen Tarotkarten. Kurzum: wir sammelten Erfahrungen, ohne die eigentliche Antwort auf unsere Frage zu finden. So wie sich das für spirituelle Reisen eben gehört… Text: Rainer Brenner, Fotos: Julian Salinas
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Zen-Meister kann man auch im Appenzell werden, wie Marcel Geisser beweist.Â
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ls sich im Laufe der Reformation gegen Ende des 16. Jahrhunderts im Appenzell nicht nur die Geister, sondern schliesslich auch die Kantone spalteten, zeigte sich vielleicht zum ersten Mal, dass die Appenzeller in Glaubensfragen keine halben Sachen machen. Über vierhundert Jahre später hat sich – zumindest auf religiöser Ebene – am Image des abtrünnigen Halbkantons Ausserrhoden nicht allzu viel geändert. Hier tummeln sich Freidenker, Sekten, Alternativmediziner und Wunderheiler, über 300 Heilpraktiker bieten ihre Dienste an und Freikirchen und Sektengurus predigen auf Vereinsbasis neue, alte und längst überholte Werte. Doch wie kam der Kanton Ausserrhoden zu seiner Rolle als Auffangbecken für spirituelle Sonderheiten und Einheiten? Hängt es vielleicht mit dem einstigen loyalen Heilmittelgesetz zusammen, das erst durch eine Reform im Jahre 2002 quirlende Hexer in ihre Schranken verwies? Oder mit der fast schon traditionell gewordenen revolutionären Ader der kämpferischen ‹Ausserrhödler›, die es partout nicht ausstehen können, wenn man die Nase in ihre Angelegenheiten steckt? Oder sind die 53 000 Einwohner des Halbkantons vielleicht einfach offener und toleranter als die übrige Schweiz? ‹Sicher nicht›, attestiert uns eine Telefonstimme, die lieber ungenannt bleiben möchte, gleich zu Anfang der Recherche. ‹Hier oben› fände sich zwar eine Vielzahl verschiedener Geisteshaltungen und Religionen, doch die Toleranz sei mindestens genauso gering wie in den restlichen Gebieten der Schweiz, meint die Dame, die uns für weitere Fragen und Fotos lieber nicht zur Verfügung stehen möchte. Allgemein scheint die Skepsis gegenüber der Presse gross zu sein. Mal werden schlechte Erfahrungen als Grund genannt, mal ist man verhindert. Doch durch die unglaubliche Vielzahl verschiedenster Religionen, Freikirchen und die schier unerschöpfliche Quelle an Heilern und Esoterikern fällt es nicht allzu schwer, Ersatz für die schweigsamen Gläubigen zu finden.
Das Appenzell als Heiliges Land? Um unserer Grundfrage, was es mit dem mystischen Landstrich zwischen Sankt Gallen und Säntis auf sich hat, nachzugehen, versetzen wir uns also kurzerhand in die Rolle des Suchenden, der sich in Ausserrhoden wahrlich schwer tun muss, zu seinem Glauben zu finden. Denn in jedem Tobel, in jedem Taltrog und auf jedem Hügel haust ein anderer Gott. Andererseits: Wer seinen persönlichen Gott hier oben nicht findet, der findet ihn wohl auch nicht im Rest der Schweiz. So lernten wir auf unserer mystischen Reise nebst fünf Personen, wie sie verschiedener nicht sein könnten, auch fünf komplett verschiedene Lebensentwürfe und Glaubensrichtungen 40 kinki
kennen. Sie alle verfügen über eine geistige Verbindung zu irgendetwas, sprechen über Götter, energetische Quellen oder spirituelle Erfahrungen. Doch das heilige Appenzellerland scheint dabei keine zentrale Rolle zu spielen. Zumindest keine, die man mit rationalen Mitteln erklären könnte.
Marcel Geisser, Wolfhalden Als wir von Heiden aus runter in Richtung Bodensee fahren, lassen wir nicht nur die Schneefallgrenze, sondern auch die Orientierung hinter uns. Welcher Weg denn nun die ‹Kiesstrasse› sein könnte, auf welcher man ‹bitte langsam fahren› möge, und welche uns zum Haus Tao führen wird, das mit der vielsagenden Adresse ‹Hinterlochen› sein Versteck schon fast preisgibt, wird uns erst nach der vierten Sackgasse bewusst. Vor 23 Jahren gründete der ZenMeister Marcel Geisser dort in märchenhafter Kulisse ein Meditationszentrum, und gibt seither in- und ausserhalb dieser Gemäuer weiter, was er auf etlichen Reisen von seinen Meistern in Asien, Europa und den USA erlernt hat. In seiner Faserpelzjacke und mit seinem schlanken, fitten Auftreten wirkt Geisser auf uns eher wie ein Extremsportler, nur seine entspannte und durchwegs ruhige Art lassen seine Besonnenheit durchscheinen. Und obwohl der ZenMeister anscheinend wirklich weniger friert als andere Menschen, mag er es dennoch lieber warm, verrät er mit einem breiten Grinsen und geleitet uns in die karg, aber geschmackvoll eingerichtete Stube, wo in der Ecke ein Feuer im Kamin schwelt. An einem hellen Holztisch klärt uns Geisser über buddhistische Schulen und Strömungen auf, die anscheinend längst nicht so friedlich nebeneinander existieren, wie dies hierzulande gerne vermutet wird. Er selbst praktiziert eine Kombination aus Zen- und Vipassana-Buddhismus, die der Gemeinde eine möglichst breite Auslegung der Buddha-Lehre erlauben soll. ‹Eine der grossen Gefahren in vielen Religionen – den Buddhismus mit eingeschlossen – ist, dass sie schnell probieren, sektiererisch zu werden. Eine typisch menschliche Eigenschaft vielleicht. Zen ist für uns aber eher eine Lebenseinstellung, die nicht auf einer einzigen Lehre basiert.› Den weiten Weg ins Appenzell fand der buddhistische Glaube wahrscheinlich durch Marcel Geisser persönlich, auch wenn er uns das nicht mit Sicherheit bestätigen will. Doch wie genau kann oder muss eine westliche Gesellschaft diesen Glauben, der stets mit der Kultur zusammenzufliessen scheint, überhaupt leben? In seinem Buch ‹Die Buddhas der Zukunft› versuchte Geisser der westlichen Gesellschaft darzulegen, was genau man übernehmen kann von diesem Glauben, ohne sich von seiner eigenen Kultur zu verabschieden. ‹Mich interessiert die asiatische Kultur lediglich als Reisender, nicht aber im Zusammenhang mit dem Buddhismus. Ich fände es eine Katastrophe, wenn teilweise mittelalterliche Werte unter dem scheinheiligen Zeichen des Buddhismus hierzulande wieder
eingeführt würden. Die Gleichsetzung der Frau beispielsweise ist meiner Meinung nach eine grosse westliche Errungenschaft, die auf keinen Fall verloren gehen darf.› Vor dem Haus liegen Steine in irrwitzigen Arrangements aufeinandergestapelt. Leise schleicht ein hinkendes Kätzchen vorbei am kleinen Teich und durch die fein säuberlich angeordneten Beete des Zen-Gärtchens hindurch, ehrfürchtig die Skulpturen und gefrorenen Gewächse umgehend. ‹In seiner Essenz ist der Buddhismus vielleicht fast mehr eine Heilkunst oder eine Psychologie als eine Religion. Er befasst sich damit, wie der Mensch glücklich sein kann, und durch welche Dinge er dieses Glück teilweise verfehlt›, erklärt Geisser die Einsichten und Vorstellungen, die er selbst als ‹teilweise etwas ungreifbare Phänomene› beschreibt.
Verdächtige Ruhe Doch wie genau wird ein gebürtiger Appenzeller wie Geisser zum Zen-Meister, der in Japan bei seinen Besuchen in Luxuslimousinen herumkutschiert wird, weil er sich seine Sporen bei den berühmtesten Lehrmeistern verdiente? Und was uns noch viel mehr interessiert: Warum kehrte er immer wieder in seinen Geburtskanton zurück? ‹Mit 16 Jahren verspürte ich den Wunsch zu meditieren, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich dieses Wort aufgeschnappt hatte, geschweige denn davon, wie so etwas gehen sollte.› Mit einem Lächeln auf den Lippen meint Geisser, das sei wohl Karma gewesen. ‹Buddhisten sagen das immer, wenn sie den genauen Grund nicht wissen.› Mit 19 Jahren versuchte er einen Winter lang, sich selbst die Geheimnisse der Meditation beizubringen, doch bald schon wurde ihm bewusst, dass er dazu wohl einen Lehrmeister benötigen würde. So zog es den jungen Mann nach Indien. Allerdings gründete er bei einem seiner Besuche im heimischen Appenzell eine Familie, die ihn fortan immer wieder zurückkehren liess. Glücklich sei er hier ‹im Allgemeinen sehr›, meint Geisser. ‹Ich fühle mich hier gut aufgehoben, habe es gut mit den Nachbarn. Wir sind ja hier schliesslich auch sehr leise. Fast schon verdächtig leise›, lächelt der Meister und führt uns durchs Haus Tao. Es verfügt über mehrere urchige und dennoch östlich angehauchte Meditations- und Schlafräume, die in ihrer Einheit wie ein sehr gepflegtes, gut aufgeräumtes Lagerhaus erscheinen. ‹Probleme in der Umgebung gibt es lustigerweise nur mit Leuten, die selbst sehr religiös sind und aufgrund der Glaubensdifferenzen nicht gutheissen, was wir hier tun.› Im Vergleich zu den von Vorurteilen geprägten Skeptikern, denen das stille Haus in Wolfhalden ein Dorn im Auge sein mag, weiss Geisser gut Beschied über andere Religionen. Und manchmal erschrecke es ihn, wie sehr diese Lehren auf der Abgrenzung zu anderen Glaubensrichtungen und Nichtgläubigen beruhen: ‹Ich halte Toleranz für eine der wichtigsten Eigenschaften. Sie ist direkter Quell und einzige Voraussetzung für gemeinsamen Frieden.› Geisser führt uns in den grossen Meditationsraum im Obergeschoss des Hauses, und
Schicksalsschlag als Chance? Monika Gubler 체berl채sst die Arbeit an sich selbst lieber ihren Klienten selbst.
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Hat mehr als 16 Krafttiere: der Schamane Reto Brasi.
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schlägt dort mit einem Stock gegen eine grosse Metallschüssel. Der Vorgang wirkt ungewohnt unspirituell. Und vielleicht gerade deshalb hallt der tiefe und entspannende Gong dieser monströsen Schüssel angenehm in unseren Ohren nach, als wir durch die verfrühte Abenddämmerung wieder in Richtung Schneegrenze fahren.
Monika Gubler, Speicher Das schlangenlinienartige Strässchen, das uns von Sankt Gallen immer tiefer ins winterlich verschneite Appenzell leitet, führt entlang niederer Hügel, Weiler und kleiner bis mittelgros ser Familienbetriebe. Und alles kommt einem irgendwie vor, als stünde es hier schon seit ewigen Zeiten. Als wir jedoch das 4000-SeelenDorf Speicher erreichen, das aufgrund seiner Nähe zu Sankt Gallen, dem Alpstein, dem Bodensee und Vorarlberg viele Pendler beherbergt, werden wir gleich nach der Ortstafel von Wohnsiedlungen und Plattenbauten empfangen, die jäh ins verschlafene Bild des Aussenrhodener Halbkantons geklotzt wurden. Vom Balkon einer solchen Wohnsiedlung winkt uns Monika Gubler zu. In ihrem Wohnzimmer bietet sie Astrologie- und Tarotkurse sowie spirituelle Führungsgestaltung, Körperarbeit mit Kristallen und therapeutische Begleitungen anhand von Psychosynthese an. Nachdem wir uns im Kreis in ihrem Praxisraum niedergelassen haben, erzählt uns Frau Gubler zwischen Tarotkarten, Büchern, Kristallen und Kerzen von ihrem Leben und Schaffen. Aufgewachsen ist sie unweit von hier im Kanton Sankt Gallen. ‹Streng religiös›, wie sie mit einem sanften Lächeln betont. ‹Als ich mich immer mehr mit der psychologischen und spirituellen Sicht des Lebens beschäftigte, fing ich an, mich immer mehr von der katholischen Kirche loszulösen, die Schwarz-Weiss-Auffassung stimmte nicht mehr für mich. Allerdings lernte ich immer wieder Leute kennen, die mir dennoch Hoffnung machten, dass die Kirche vielleicht doch mehr zu bieten hätte. Ich schwankte, und entschloss mich schliesslich, mich «Mittä in Chuächä» zu wagen und so arbeitete ich vier Jahre lang als Sekretärin des Katholischen Frauenbundes. Man muss die Dinge von innen betrachten, anstatt sie immer nur von aussen zu kritisieren, dachte ich mir.› Nach diesen vier Jahren verliess Frau Gubler allerdings nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern trat desillusioniert aus der Kirche aus. Dass sich ihr Glaube dadurch allerdings auch nur im Geringsten verändert hätte, verneint die Therapeutin entschlossen: ‹Mein Glaube ist immer noch der gleiche wie damals, vielleicht bin ich sogar noch gläubiger geworden. Glaube ist meiner Meinung nach das Gefühl, von etwas gehalten zu werden, und hat mit der eigentlichen Lehre, nämlich der Religion, nichts zu tun.› Dementsprechend offen steht die ältere Dame mit den verschmitzten Augen auch anderen Religionen und Lebensentwürfen gegenüber: ‹Jeder entscheidet selbst, wie er leben will. Ich respektiere das vorbehaltlos. Wenn ich zum
Beispiel merke, dass ein Patient etwas in seinem Leben eigentlich gar nicht ändern möchte, so lasse ich ihn machen, was er will; das ist schliesslich seine eigene Entscheidung.› Wer durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder eines der in Buchhandlungen ausliegenden Faltblättchen auf Monika Gublers Therapieangebot mit dem Titel ‹Erkennen, Verstehen und Entfalten der Persönlichkeit› aufmerksam wird, den begleitet Frau Gubler anhand von Entspannungsund Atemübungen sowie Analysen. ‹Das kann eine sehr intensive Erfahrung sein›, meint Monika Gubler. ‹In der Entspannung entstehen Bilder und Empfindungen, auf welche ich mich einlasse. Ich versuche, den Gefühlen des Klienten zu folgen, mich darauf einzulassen.› Sowohl die Tarotkarten als auch die Astrologie dienen ihr dabei laut eigenen Aussagen nur als ‹Einstieg›, nie würde sie sich zutrauen, die Zukunft eines Menschen voraussagen zu können. ‹Ich bin schliesslich nicht der liebe Gott.› Mit Karten und Sternbildern möchte Gubler lediglich dahin gelangen, wo sie den Menschen helfen kann, dort wo die ‹Energieblockade eines Menschen beeinträchtigt wird›. Der wichtigste Punkt ist es laut Gubler, ‹den Menschen beizubringen, dass sie selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen müssen. Eigenverantwortung ist der erste Schritt zur Lösung eines Problems›, ist sich Gubler sicher. So hält sie auch nichts von nicht enden wollenden Therapien, sondern entlässt ihre Kunden nach fünf bis acht Sitzungen in ihre – hoffentlich errungene – Eigenverantwortung. ‹Ein Schicksalsschlag kann auch eine Chance sein, wir müssen immer wieder ein bisschen «gschupft» werden, damit wir unseren Komfortbereich verlassen und uns weiterentwickeln können.› Auch wenn das Praxiszimmer mit den Airbrush-Tierkreiszeichen an der Wand und den bunten Tarotkarten auf dem Tischdeckchen etwas esoterisch wirkt, ist es gemütlich und warm im Hause Gubler, und klängen diese Worte nicht so leer und sinnlos, so hätte ich diesem Ort gar so etwas wie eine positive Energie zugesprochen.
Die Prinzessin der Kelche Als wir Monika Gubler auf das Wesen der Appenzeller ansprechen, schenkt sie uns erneut ein sanftes Lächeln: ‹Das Appenzell ist energetisch sicherlich ein spezieller Ort. Ich denke, dass er nicht nur aus historischen Gründen derart viele heilerisch tätige Leute anzieht.› Wie Frau Gubler uns später zeigen wird, werden allein schon in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft praktisch in jedem Haus Heiltherapien angeboten. Vor allem dem Appenzeller Vorder- und Mittelland attestiert Gubler eine entsprechend positive Energie, das Hinterland hingegen sei ihr ‹zu hügelig›. Doch toleranter seien die Appenzeller bestimmt nicht, lacht sie, und bietet mir eine Tarotkarte zum Ziehen an. ‹Vielleicht verwurzelter und archaischer. Das hat sein Gutes, kann aber auch eine gewisse Sturheit und Enge mit sich bringen.› Ich ziehe die ‹Prinzessin der Kelche›, eine sanfte Figur, wie Gubler er-
klärt, die meine weibliche Seite betone. Dabei bin ich mir sicher, dass Frau Gubler nun der zweite Satz des Computerausdrucks, welcher wenige Meter neben meinem roten Kopf an der Wand hängt, durch den Kopf spukt: ‹Ich will wissen, wonach du dich sehnst, und ob du es wagst, davon zu träumen, der Sehnsucht deines Herzens zu begegnen›, behauptet dort eine Indianerin mit dem klingenden Namen Oriah Mountain Dreamer. Später im Auto meint der Fotograf mit einer verstohlenen Geste, eine gewisse sanfte, feminine Ader könne man bei mir auch ohne Karten vermuten. Ich blicke herab auf meine etwas zu weite Jacke und zu enge Hose und starre dann mit rotem Kopf aus dem Fenster. Dabei versuche ich, so sanft zu lächeln, wie Frau Gubler.
Reto Brasi, Heiden Wie genau muss man sich einen Schamanen vorstellen, fragen wir uns, als wir vormittags am Busbahnhof Heiden auf Reto Brasi warten, mit dem wir uns um 10 Uhr hier verabredet haben. Als erstes sprechen wir einen älteren Herrn mit Bart an, der uns in breitem Appenzellerisch zu verstehen gibt, dass er mit solcherlei Dingen nichts am Hut habe. Als wenig später ein lila Kleinwagen vorfährt, aus dem ein dunkel gekleideter Teenager aussteigt, trauen wir unseren Augen nicht: Reto Brasi ist ein gross gewachsener, breit gebauter Jugendlicher, der gerade die Sporttasche mit seinen Utensilien aus dem Kofferraum hievt. Einzig das etwas seltsame Vogelmotiv auf seinem T-Shirt lässt seine spirituelle Ader vermuten. Aufgewachsen ist Reto im Kanton Zürich, doch wie viele andere übernahm auch er schnell den hiesigen Dialekt, als er im Schulalter mit seinen Eltern und seiner Schwester ins ehemalige Ferienhaus im Appenzellerland umzog. Als wir ihm bei einem Kaffee unsere Verwunderung über sein Alter kundtun, nickt Reto verständnisvoll. Das Papier mit meinen Fragen lege ich bald schon zur Seite, als Reto das Angebot macht, ‹eifach mal chli z verzelä›, denn was uns der 18-Jährige in unserem eineinhalbstündigen Kaffeekränzchen aus seinem noch kurzen Leben und seinem Werdegang zum Schamanen erzählt, ist weitaus spannender als meine ursprünglichen Fragen. ‹Letzten November brach meine schamanische Krankheit aus. Ich war damals an der Kantonsschule und stand ein Jahr vor meinem Abschluss. Man muss sich die schamanische Krankheit wie eine Depression vorstellen: eines Tages wachte ich auf und eine unglaubliche Trauer überfiel mich aus heiterem Himmel. Es gab keinen Anlass für diese Gefühle, trotzdem blieb über zwei Wochen hinweg dieser Zustand bestehen. Eines Nachts träumte ich dann, mir würden von einer unsichtbaren Hand alle Knochen im Leibe gebrochen. Ich schrie laut und wachte schweissgebadet auf. Bald schon beschränkten sich diese Alpträume nicht nur auf die Nächte, sondern ich erlebte sie auch tagsüber. Ich fühlte diese Schmerzen auch im kinki 43
Wachzustand und dachte, ich werde langsam verrückt. Ich war total am Ende, bis eines Tages meine Hündin zu mir ans Bett kam und mich ableckte. Da hörte ich sie sagen: «Schön, dass du endlich aufgewacht bist. Erkennst du mich schon?» Nach diesem Erlebnis wollte ich nur noch schlafen. Am nächsten Tag waren dann auf einen Schlag alle Schmerzen verflogen, und mein Hund sprach wieder zu mir.› Bald redeten auch weitere Tiere zu Reto und durch die Konversationen mit seinem Haustier gelang es ihm nicht nur, die Hündin von ihren Bauchschmerzen zu befreien, sondern erstmals fand er durch diese Tat auch einen Beweis dafür, dass er vielleicht doch nicht verrückt ist. Doch die Gabe, die Tierwelt zu verstehen, wurde bald schon eine grosse Belastung in Retos Alltag. ‹Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch betonen, dass ich zuvor nicht an Übersinnliches geglaubt hatte, geschweige denn religiös gewesen wäre. Meine Mutter nahm aber immer schon die Hilfe von Naturheilern in Anspruch und schickte mich, nachdem ich ihr von meiner Gabe erzählt hatte, zu einer befreundeten Schamanin. Diese riet mir, meine Kräfte mit Hilfe von Ritualen einzuteilen, was auch funktionierte. Allerdings hörte ich bald darauf nicht nur die Gedanken der Tiere, sondern auch jene meiner Mitmenschen. Ihre Probleme, Charakterzüge und sogar Lösungsvorschläge für die Missstände in ihrem Leben. Bei einem Besuch in der Schulaula wurden diese Stimmen unerträglich, der Lärm brachte mich beinahe um den Verstand. Ausserdem vertrug ich kein ungesundes Essen mehr, kein Fleisch, ich übergab mich ständig. Meine Hündin machte mir Mut und verriet mir, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, das gehöre dazu. Des Weiteren verriet sie mir, wie ich auch diese Gabe durch ein Ritual «abschalten» kann. So lernte ich meine Kräfte zu beherrschen und nicht von ihnen beherrscht zu werden.› Fortan beschäftigte sich der Teenager intensiv mit schamanischer Literatur, die ihm seine Mutter nahelegte und begann, seine ersten Reisen in Parallelwelten zu unternehmen. Zuerst zog es ihn in die ‹Untere Welt›, die Heimat der Krafttiere: ‹Jeder Mensch hat eines oder mehrere Krafttiere, die dazu dienen, uns auf Umstände hinzuweisen, die wir selber im Alltag nicht erkennen.› Und ausgerechnet das Appenzeller Wappentier war es denn auch, mit welchem Reto durch die präriehafte Untere Welt spazierte und von dem er sich Fragen beantworten liess. Mittlerweile verfügt er über 16 Krafttiere, unter anderem finden sich dort ein fröhlicher Pinguin, der gerne Witze erzählt, ein Wolf und ein Mäuschen. Ausserdem hat er erfahren, dass er als Transportmittel zwischen den verschiedenen Welten nicht mehr den imaginären Lift, sondern lieber einen Baumstamm benutzen sollte. So sah er sich schon bald auch in der Mittleren Welt, die sich von der Unteren nur darin unterscheidet, dass man sich komplett frei darin bewegen kann. Daher unternahm Reto Flugreisen durch sein Heimatdorf, zum Mond (wo es so langweilig sei, wie man es sich eben vorstellt) und zur Sonne (auch nicht viel spannender). In der sogenannten Oberen Welt empfing Reto nach seinem spirituellen Klettergang eine ältere Dame im Schaukelstuhl, die ihm ebenfalls nützliche Tipps gab: ‹Die Obere Welt ist durch 44 kinki
und durch weiss, dort sind die geistigen Führer zu Hause, verstorbene Personen. Je nachdem, was für eine Frage ich habe, begebe ich mich entweder zu den Krafttieren oder zu den geistigen Führern.› Immer weniger vertrugen sich Retos schamanische Reisen mit seiner schulischen Laufbahn, weshalb er nach längeren Grundsatzdiskussionen mit seinen Eltern entschloss, fortan seine berufliche Karriere auf sein Schamanentum zu beschränken. Auch in der eigenen Familie hatte er schon bei körperlichen Schmerzen geholfen, die Eltern zweifelten also in keinster Form an seiner Begabung, anderen Menschen ‹ihre Seelenanteile› zurückzubringen. In einer Gemeinschaftspraxis wenige Meter vom Café lasse er sich auf Menschen ein, die ein Problem haben. Er dringt in ihre Seele, ohne sie zu durchwühlen und sucht nach Antworten auf die Fragen, die ihm die Menschen stellen. ‹Und nur auf diese›, wie Reto betont, denn seine Fähigkeiten für private Zwecke zu nutzen, wie zum Beispiel dafür, in der Disco ein Mädchen aufzureissen, widerspricht seinem Ehrenkodex. Nebst seiner schamanischen Gabe und der Besonderheit, dass er trotz seiner erst 18 Lenze schon seine Autobiographie verfasst hat, welche er nun an verschiedenste Verlage verschickt, sieht sich Reto allerdings als ganz normalen Teenager: er hört Musik, geht aus und freut sich auf seine Ferien in Brissago, die er zusammen mit Freunden verbringen wird. Das Ferienhaus gehört einer Freundin seiner Mutter.
Thomas Hirt, Schwellbrunn Ob wir die steile Strasse, die zu Thomas Hirts Agnihotra-Bauernhof führt, ohne Ketten bewältigen werden, wagen wir zu bezweifeln. Der schmale Weg erinnert an diesem sonnigen Wintertag eher an eine Rodelbahn denn an eine Zufahrt und lässt uns vermuten, wie abgeschieden Thomas Hirt im Rippistal in Schwellbrunn mit seiner Mutter zusammen haust. Aufgewachsen ist der überraschend gut gekleidete junge Mann in einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Kanton Aargau. Nach seiner Lehre zum Landschaftsgärtner reiste er viel, lebte und arbeitete in Zürich, und hätte sich wohl nicht erträumt, dass er schon bald im Appenzell Kuhmist verbrennen und Resonanzsäulen aufstellen würde. Der 33-Jährige geleitet uns in die Küche des modern umgebauten Bauernhauses, wo uns eine hübsche englischsprachige Dame mit einer leichten Verneigung begrüsst, bald schon aber wie ein Geist aus dem Zimmer verschwindet und nicht mehr auftaucht. Rund um den Tisch sitzen nun Thomas und seine Mutter, die sich sowohl am Hofleben beteiligt als auch das Haus als ‹Time-out-Stätte› für Jugendliche anbietet, die eine schwierige Phase durchmachen und durch das ruhige Leben hier oben Abstand zu ihrer üblichen Umgebung gewinnen sollen. Auf dem Stuhl neben ihr hat sich Marcel eingefunden, der finanzielle Gönner dieses Betriebs. Auch er scheint die Ruhe, die so ganz im Gegensatz zu seinem umtriebigen Leben als Fotograf in Zürich steht, zu schätzen. Die fun-
kelnde Uhr an seinem Handgelenk, der schwarze Kaschmirpulli und der saubere Haarschnitt lassen nicht erahnen, dass dieser Mann, um Kraft zu tanken, auf seinem Balkon am liebsten mit Fett beschmierte Kuhfladen entzündet. Ausschlaggebend für die Idee eines AgnihotraBetriebes war die Indienbegeisterung von Rita Hirt, die gerne ‹für Hexentreffs und solche Sachen nach Indien reist›, scherzt Marcel. Vor einigen Jahren wurde dann auch Marcel bei einer beruflichen Reise durch Indien auf die AgnihotraFeuertechnik aufmerksam und war im wahrsten Sinne des Wortes sofort Feuer und Flamme für diese Tradition: ‹Inmitten der grössten Einöde spriessten auf Agnihotra-Farmen Früchte und Pflanzen. Ich musste mir eingestehen: es funktioniert einfach.› Nachdem auch Thomas gen Osten gereist war und sich selbst von dieser Methode überzeugte, stiess Rita Hirt auf dieses Grundstück im Appenzell, wo Rita und Thomas seit nunmehr drei Jahren nach den Regeln des Agnihotra wirtschaften. Praktisch gesehen handelt es sich bei Agnihotra um eine vedische Feuertechnik, die dazu dient, die Atmosphäre mit dem Entzünden von Kuhexkrementen und Butterfett zu reinigen. An verschiedenen Eckpfeilern rund um das zu bewirtende Gebiet werden Posten aufgestellt, sogenannte Resonanzsäulen. Die erste Zeremonie geschieht bei Sonnenaufgang, wobei das Abpassen des haargenauen Zeitpunkts ausschlaggebend für das Gelingen sei, wie Thomas Hirt verrät. Dazu singt er meditative Mantras, verharrt vor dem Feuer, bis es erlischt und gibt Reiskörner in die Flamme. Diesen Vorgang wiederholt er zu exakt berechneten Zeitpunkten mehrmals täglich. ‹Sicherlich ist das kein Modell, das für jeden Betrieb machbar ist. Wir sehen es eher als eine Art Versuch›, entgegnet Hirt, als wir ihn darauf ansprechen, dass diese Methode sicherlich enorm zeitraubend sei und ihm und seiner Mutter keinen einzigen freien Tag erlauben wird.
Mantras und Mondkalender Auf einer computergenerierten Skizze versucht Thomas, uns in die Agnihotra-Geheimnisse einzuweihen, doch auch wenn ich während seiner Erklärungen eifrig nicke, kann ich seinen Ausführungen nur zum Teil folgen. Eine weitaus deutlichere Sprache sprechen hingegen die Fotos, die er von seinen übergross spriessenden Samen und Keimen geschossen hat. ‹Es funktioniert einfach. Was wir hier machen, ist keine Hexerei, es hat nichts Esoterisches oder Religiöses. Durch die chemische Reaktion und die akustischen Schwingungen bildet sich ein Energiefeld rund um den Resonanzpunkt.› Dass sein Alltag extrem viel Disziplin und wenig Freizeit von Thomas verlangt, scheint ihn nicht zu stören. Marcel, Thomas und seine Mutter erscheinen allesamt entspannt, sympathisch und zufrieden. Dementsprechend leicht fällt es, ihnen Glauben zu schenken, wenn sie von der guten Beziehung zu den nachbarschaftlichen Betrieben erzählen. Klar möge sich der eine oder andere wundern, was genau sie denn da tun, doch wirk-
Vedische Feuertechniken im Familienbetrieb? Hauptsache es funktioniert, meint Thomas Hirt.Â
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Die Einheit der Menschen ist das Ziel. Zumindest das nächste, das laut Silvia FrÜhlich erreicht werden sollte.
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lich negativ seien die Reaktionen nie gewesen. Schliesslich schwören viele umliegende Bauern auf den Mondkalender und pflegen andere, teils ebenso unerklärliche Traditionen. ‹Sie nutzen die Energie des Mondes, wir zusätzlich die Kraft der Sonne. Funktionieren tut beides›, weiss Rita Hirt. Zum Schluss bieten uns Marcel, Thomas und Rita eine kleine Demonstration ihres Rituals: in einer Schüssel werden die getrockneten Kuhfladen, die in Form und Farbe irgendwie an Schoko-Cookies erinnern, mit einer butterartigen Substanz – ‹Ghee› genannt – bestrichen, die Rita mit einem Löffelchen aus einem Einmachglas kratzt. Während das Feuer brennt und seinen leicht bissigen, nicht aber unangenehmen Geruch verbreitet, sitzen wir bedächtig um die Schale. Nur ab und an lächelt jemand über den laut schnarchenden Hund Lex, der mit seinen wohligen und lauten Geräuschen keinerlei Rücksicht auf die besinnliche Ruhe nimmt. Nach gefühlten zwanzig Minuten und einem gebetartigen indischen Mantra, das die drei wie auf Kommando zeitgleich anstimmen, ist der Spuk vorbei. Wann er denn das nächste Feuer anzünde, fragen wir Thomas, nachdem wir uns von Rita, Marcel und der knuddeligen Riesendogge verabschiedet haben. ‹So etwa um 16:24 Uhr›, antwortet Thomas und schmunzelt verständnisvoll über unsere Verwunderung.
Silvia Fröhlich, Heiden In einem Wohnblock, wenn auch diesmal in einem weitaus moderneren Exemplar, treffen wir Silvia Fröhlich. Sie ist gläubige Bahá’í und somit Mitglied einer Religion, die von ihrem geistigen Führer Bahá’u’lláh in Persien vor noch nicht einmal 200 Jahren ins Leben gerufen wurde. Inhalt und Ziel der Lehre Bahá’u’lláhs ist die totale Toleranz zwischen Menschen und Religionen. Mehr noch gehe es darum, ‹alle anderen Weltreligionen anzuerkennen. Das gehört dazu, wenn man Bahá’í werden will›, erklärt uns die hübsche ältere Frau, als sie uns in ihre geschmackvoll eingerichtete Stube bittet. Die Bücher, Bildbände, Reiseführer und Möbelstücke aus allen Ecken der Welt erzählen von den unzähligen Reisen, die Frau Fröhlich in ihrem Leben unternommen hat. ‹Zuletzt nach Vietnam, das war schon lange ein Traum von mir, dorthin zurückzukehren. Ich war bereits in den 80er-Jahren dort, damals war es nicht ungefährlich, die Bahá’í zu treffen. Heute besteht mit Einwilligung der Regierung wieder eine blühende Gemeinde. Und wenn es meine Gesundheit zulässt, möchte ich auf jeden Fall gerne noch die Seidenstrasse besuchen›, verrät Fröhlich. Trotz ihres höheren Alters wirkt sie aufgeschlossen und modern und ihre fast jugendlichen Hände, mit denen sie uns eine Tasse Tee serviert, liessen nicht vermuten, dass sie zu einer Dame über 70 gehören. Erfahren hat die junge Engadinerin vom Bahá’í- Glauben durch ihren Zahnarzt, dessen Ausführungen zu Ziel und Lehre des Propheten sie nicht nur während der Behandlungstermine mit offenem Mund lauschte. Wirklich übergetre-
ten sei sie jedoch erst mit Mitte dreissig, als sie während einer Sinnkrise die alten Bücher vom Dachstock hervorkramte und noch am selben Tag mit den Worten ‹Gibt’s euch noch?› beim Bahá’í-Zentrum in Bern anrief. Das war vor 41 Jahren. Doch wie genau soll die Verschmelzung der Religionen, die totale Anerkennung denn von Stande gehen? ‹Bahá’u’lláh unterscheidet zwischen zwei Teilen, die allen Religionen innewohnen: dem ewig gültigen, mystischen Teil des Glaubens und dem sozialen Part. Was uns voneinander trennt, sind die sozialen Gesetze und Visionen, die je nach Alter und Herkunft der Religion unterschiedlich sind. Daher kann keine Religion in ihrer Ganzheit absolut sein, sondern sie muss fortschreiten, sich den jeweiligen Bedürfnissen und Nöten der aktuellen Gesellschaft anpassen›, zitiert Fröhlich das geistliche Gut des 1844 verstorbenen Iraners. Nach ihrer Scheidung in den 70ern reiste Fröhlich viel: ‹Das war eine gute Zeit damals, denn man musste sich keine Sorgen machen, ob man nach der Rückkehr wieder einen Job finden würde.› Nach etlichen verschiedenen Berufen war sie zuletzt als Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit der Schweizer Bahá’íGemeinschaft zuständig. Was ihre Religion nebst der totalen Akzeptanz gegenüber anderen Glaubensrichtungen noch charakterisiert, ist, dass sie für ihr (nächstes) geistliches Ziel, nämlich die Einheit der Menschen, nicht nur spirituelle, sondern sehr weltliche Anweisungen bereithält. Der Prophet dachte nicht nur in gros sen Worten, sondern vor allem auch in sozialen Strukturen, die diesen Wandel herbeiführen könnten. So steht Silvia Fröhlich im Rahmen des Projektes ‹Runder Tisch der Religionen› mit verschiedenen Vertretern anderer Religionen im Dialog; die Bahá’í haben sich gar Plätze in UNO-Gremien gesichert. Trotzdem verzieht Susanne Fröhlich ihr Gesicht, als ich die Bahá’í als eine Art spirituelle Kommunisten bezeichne: ‹Wäre ich nicht Bahá’í geworden, wäre ich vielleicht Kommunistin. Ich war damals voll drin in der 68er-Bewegung. Doch was dem Kommunismus fehlte, war die Religion›, sagt Fröhlich und sieht mich mit ihren grossen Augen an. Doch die sehr durchplante Administration der Verbreitung des Bahá’í- Gedankenguts kann sie nicht verneinen und ebenso wenig zweifelt sie daran, dass das Ziel der geistlichen Einheit keine blosse Utopie darstellt: ‹Die Entwicklung geht tatsächlich in diese Richtung, noch vor 150 Jahren hätten wir uns Vereinigungen wie die UNO oder die EU, Worte wie Globalisierung nicht annährend vorstellen können.› Doch wie jede andere junge Religion müssen auch die Bahá’í mit Verfolgungen, Missgunst und Skepsis fertig werden. Im Iran sitzen die geistigen Führer der dortigen Gemeinde – im Geburtsland des Propheten – im Gefängnis und in ihren jüngeren Jahren wurde Susanne Fröhlichs Glaube von Medien und Umgebung kritisch beäugt. Wirkliche Probleme mit Anfeindungen habe sie allerdings nie gehabt, meint sie. ‹Das mag einerseits an der Toleranz liegen, die wie anderen Leuten entgegenbringen, andererseits vielleicht auch daran, dass die Welt in den letzten Jahren immer interkultureller und auch ein wenig offener geworden ist. Sogar hier oben im Appenzell›, bemerkt sie lächelnd.
Bis vor kurzem noch hatte Silvia Fröhlich in Glattbrugg gewohnt. Dass die Menschen hier oben irgendwie spiritueller oder gläubiger seien, glaubt sie nicht, doch ‹ländliche Regionen bieten schon mehr Platz für die Seele, vielleicht liegt es daran, dass sich hier oben so viele verschiedene Glaubensrichtungen finden. Es fällt mir leichter, mich hier mit religiösen Themen auseinanderzusetzen als unterhalb der Südanflugsschneise in Glattbrugg›, gibt sie zu. Aber den umliegenden Hügeln irgendeine Form von Heiligkeit zuzusprechen, wie dies Bekannte von ihr tun, liegt ihr fern. Dennoch kritisiert die Bahá’í diese Glaubensarten nicht, ‹schliesslich macht Glauben selig. Seit jeher schon.› Als ich mit Julian, dem Fotografen, auf der Rückfahrt ins zwinglianische Zürich über die Erfahrungen unserer Reise diskutiere, ist für uns beide klar, dass unserer Meinung nach das Bahá’í’sche Ziel einer religiösen Einheit nicht funktionieren wird. Weder im Appenzell noch sonst wo. Ausserdem fragen wir uns, ob dieser humanistische Einheits- und Gleichheitsge danke uns nicht vielleicht mal ebenso fernliegen wird wie die teils überholten Gesetze altein gesessener Religionen.
My way or the highway Während wir das verschneite Appenzellerland hinter uns lassen und Teil des dahinwalzenden, einheitlichen Lichtermeers der nächtlichen A1 werden, sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich glaube, Religion ist Privatsache. Alles andere ist missionarisch. Da ich glaube, dass auch Julian so denkt, spreche ich ihn darauf an und ertappe mich dabei, wie ich zu missionieren beginne. Wir haben vieles kennengelernt auf unserem kleinen Roadtrip durch Ausserrhoden; Sichtweisen, Denkarten, Religionen und Freidenker, allesamt geballt in einem winzigen Halbkanton auf nur 53 Quadratkilometern. Doch herausgefunden haben wir lediglich, dass das Appenzell weder spiritueller noch aufgeschlossener, geschweige denn fortschrittlicher ist, wenn es um Glaubensfragen geht, und dass alle unsere Interviewpartner sich hier oben zwar wohl fühlen, sich aber nach eigenen Angaben eher zufällig dort eingefunden haben. Es sei denn, man glaubt diesbezüglich an eine göttliche Fügung. Oder Karma. Glauben macht schliesslich selig. Und zwar immer schon und überall. Ein weiteres Porträt von Stefan Böhler von der Freien Evangelischen Gemeinde Heiden findet ihr auf kinkimag.com.
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Wolves, Giraffes and Tourists In Luzern karren die Reisebusse praktisch im Minutentakt neue Touristenscharen von Sehenswürdigkeiten zu Fonduerestaurants. Dabei hinterlassen sie selten viel mehr als ihr Erspartes. Der Fotograf Daniel Tischler forderte sie nun dazu auf, wenigstens eines ihrer tausend Fotos hier zu lassen, und gewährt uns damit einen Einblick in die Gesichter all jener, die längst schon weitergezogen sind. Text: Rainer Brenner, Fotos: Daniel Tischler
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aum eine andere Schweizer Stadt kümmert sich derart umtriebig um das Wohl seiner Touristen wie Luzern. Hier treffen sich vor dem Nobelhotel Schweizerhof all jene, die im ‹City Train› – einem kleinen Zug, wie er auch in Disneyland, im Europapark und überall sonst auf dieser Welt zu finden ist, wo’s was zu sehen und zu viel zu laufen gibt – auf Fotosafari gehen. Oder aber sie werden in den heiligen Mauern der Schokoladenfabrik Schönenberger in die süssen Geheimnisse der Herstellung eingeweiht, posieren vor dem Löwendenkmal mit nachdenklicher Mine, fahren mit der Pferdekutsche durchs wilde Fasnachtstreiben und beenden ihren Gletschergartenbesuch mit einem ‹Filmerlebnis der Extraklasse› im IMAX-Kino. Und natürlich lässt die bunt durchmischte Gästeschar aus aller Herren Länder dabei keine Gelegenheit aus, sich mit allerlei käuflichen Erwerbungen später von zu Hause aus an diesen streng organisierten und erlebnisreichen Tag zwischen Vierwaldstättersee und Pilatus zu erinnern. Seien es die zeitlosen Zeitmesser in Schweizer Qualität aus dem Hause Bucherer, bunt bemalte Teller, sommerliche Berglandschaften als Tellerunterlage, Löffel mit Schweizerkreuzen, Käse oder eben
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Schoggi: Luzern weiss, wie eilig es seine Besucher haben, den Car nicht zu verpassen, und gibt sich alle Mühe, seiner konsumfreudigen internationalen Touristenschar einen gut strukturierten Eindruck zu vermitteln. Dieses bunte Treiben zwischen Bahnhofplatz und Rigi nahm sich unser Luzerner Querschläger-Fotograf Dani Tischler zum Ausgangspunkt für seine Fotoreportage ‹Wolves, Giraffes and Tourists›. Mehrere Tage lang bot Dani an verschiedensten Ballungszentren wie dem Bahnhofplatz oder auf dem Pilatus seine Dienste als Fotograf an und lud so die bunte Gästeschar aus Japan, den USA, Russland, Südafrika und Australien ein, nicht nur Dinge mitzunehmen, sondern auch etwas dazulassen – nämlich ein Porträt ihrer lang ersehnten Reise in die märchenhafte Schweiz. Ein selbst gebasteltes Schild mit der Aufschrift ‹Wolves, Giraffes and Tourists› sollte dabei die Gäste aus aller Welt anlocken, ihm im vermeintlichen Auftrag des touristischen Jubliäums und des ‹Bullnposten Museums Luzern› Modell zu stehen. Und genauso wie vielleicht eben in diesem Moment irgendwo auf dieser Welt jemand seinen Diaprojektor anschmeisst, um seinen Liebsten die Impressionen seiner Schweizreise in Bild und Wort näherzubringen, wollen wir euch an dieser Stelle zeigen, welche Gäste ihr verpasst habt.
‹Besichtigung des Löwendenkmals und des Gletschergartens› Dauer: 3 Stunden Kosten: CHF 20
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‹Kneippen – Wellness made in Entlebuch› Dauer: 2 Stunden Kosten: CHF 172
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‹Kutschenfahrt für Gourmets (inkl. Fuhrmannsapéro, Hauptgang, Verdauungsschnäpsli, Dessert, Kaffee und Tee)› Dauer: ca. 2,5 Stunden Kosten: CHF 88
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The Time Of YOur Life, KepT CLOse TO YOur hearT. The spree pendanT.
nixonnow.com
Aurora Rubia
Während in unseren Breitengraden blonde Menschen durch ihren Haarschopf nicht unbedingt aus der Masse hervorstechen oder gar bevorzugt werden, gilt in Chile ein hellerer Teint fast schon als gesellschaftliches Privileg. kinki Autorin Stefanie Bracher ging dem Blondheitswahn in ihrem Heimatland auf den Grund und sprach mit einer überzeugten – wenn auch nicht echten – Blondine.
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st die Schweiz ein braun-, rot-, schwarzhaariger oder blonder Staat? Oder doch eher ein Land voller gefärbter Haarsträhnen? Die kunterbunte Palette der Haarfarben bringt Diversität. Und durch den multikulturellen Menschenmix gibt es fast keinen Haartyp, der dominiert oder den Träger gar entscheidend privilegiert. In anderen Teilen der Welt spielt sich jedoch eine andere Realität ab. Das überwiegend dunkelhaarige Volk ist fasziniert vom typisch nordischen Look. Chile, ein Land in der Ferne, das man vielleicht wegen der Pinochet-Dikatur oder den international exportierten Weinen kennt, eifert einem europäischen Ideal nach. Blond zu sein, einen europäischen Nachnamen oder westlichen Look zu tragen, kann überaus hilfreich sein, wenn man Teil einer Klassengesellschaft ist.
Zwischen Sein und Schein Es ist Mittagszeit, heiss und trocken. Die Sonne brennt auf der Haut und der Smog verfärbt den eigentlich stahlblauen Himmel in ein blasses Graublau. Mittagszeit bedeutet in Santiago 13:30 Uhr. In den Restaurants im Zentrum sitzen die Geschäftsmänner eingepackt in Anzügen dicht aneinander gedrängt. Schweissperlen glänzen auf ihrer Stirn. Viele huschen nach der schnellen Mittagsverpflegung rasch mit der Sekretärin in eine billige Pension um die Ecke. Die Nachfrage nach diesen schmuddeligen Vergnügungsmöglichkeiten ist gross, woher auch soll die Ehefrau davon erfahren? Am Kiosk kaufe ich mir einen gekühlten Fruchtsaft und suche ein Plätzchen im Schatten. Während ich auf meine Verabredung warte, beobachte ich die Strassenverkäufer, die laut umherschreien und fuchteln, um die Passanten auf ihre Ware aufmerksam zu machen. Dabei immer vor der Polizei auf der Hut, da der ambulante Verkauf auf der Strasse verboten ist. Für viele der sechs Millionen Einwohner ist heute ein normaler Arbeitstag in Santiago, Chiles lauter und chaotischer Hauptstadt. Eine moderne Metropole geht hier Hand in Hand mit der lateinamerikanischen Bilderbuch-Armut, gefangen zwischen der schneebedeckten Andenkette und der 54 kinki
Irgendwo zwischen europäischem Vorbild und lateinamerikanischer Verankerung: Chile versucht den multikulturellen Spagat.Â
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Doppelmoral dieser Gesellschaft. Sein und Schein, zwei Paar Schuhe, die hierzulande gerne von derselben Person getragen werden. Auch in Chile wird man zunächst nach seinem Äusseren beurteilt, das eigene Erscheinungsbild ist entscheidend für das Verhalten des Gegenübers. Zum Äusseren zählt hier als erstes die Hautfarbe und die Kleidung. Des Weiteren sind auch der Name und der Wohnort von Relevanz. Nach diesen Kriterien wird in den meisten sozialen Kreisen klassifiziert und dementsprechend auch diskriminiert. Chile hat sich in den letzten Jahren zwar rasch weiterentwickelt und gehört mittlerweile zu den wirtschaftlich stabilsten und stärksten lateinamerikanischen Nationen, doch die ethnische und soziale Diskriminierung hat sich nur kaum verringert. Chile ist eine Klassengesellschaft mit einer kleinen, überwiegend weissen Oberschicht, einer für südamerikanische Verhältnisse relativ grossen Mittelschicht sowie einer breiten Unterschicht. Der Statistik zufolge bilden Weisse und Mestizen – das heisst Personen weisser und indigener Herkunft – ca. 95 Prozent der Bevölkerung, während die übrigen fünf Prozent der sogenannten indigenen Minderheit angehören. Die Zusammensetzung der Völker ist also relativ homogen.
Von Reaggeton, TV-Stars und gefärbten Haaren Mein Durst ist gelöscht und die Wartezeit beläuft sich schon auf eine Stunde, als endlich die junge Frau, an deren Gesicht ich mich gleich erinnern kann, in hohen Absätzen dahergelaufen kommt. Sofort drehen sich einige Männer um und lassen Sprüche fahren. Ich habe die Frau an einer Party im Ausgangsviertel Bellavista kennengelernt. In der schwarzhaarigen Menge ist sie mir durch ihren blond gefärbten Haarschopf sofort aufgefallen. Sie hatte zu Reaggetonbeats heftig mit ihrem Tanzpartner getanzt, die Blicke der Männer, die ihr zugeworfen wurden, lächelnd aufgefangen und verführerisch und aufreizend ihren Körper bewegt. Schon fast ein bisschen kitschig, dass sie Rubi heisst. Jedenfalls ist das der Name, mit welchem sie sich mir vorstellte. Rubis Blond ist gefärbt, wie mir der dunkle Haaransatz, die schwarzen Augenbrauen und nicht zuletzt auch der unnatürliche Farbton verraten. Überzeugt beteuert sie mir dennoch, sie sei Blondine. Mit echten blauen Augen, wie sie ergänzt, während ich in ihre Kontaktlinsen blicke. Warum schämt sie sich dafür, dunkelhaarig zu sein, frage ich mich innerlich. Rubi findet sich einzigartig, was auch ihr peppiger und leichter Kleiderstil ausdrücken soll. Darauf angesprochen, erzählt die Chilenin selbstbewusst, dass sie sich ihren Look ihren eigenen Ideen entsprechend kreiere. Und fügt hinzu, dass sie halt anders wirken möchte und nicht so langweilig wie die meisten Mädchen. So anders, denke ich, wie es ihr schon viele nationale Idole vorgemacht haben. Die einzige Miss Universe in der Geschichte Chiles, Cecilia Bolocco, gleicht heute vielmehr 56 kinki
einer schwedischen Talkshow-Moderatorin als einer Chilenin. Ursprünglich ist aber auch sie dunkelhaarig. Ein nordeuropäischer Look erregt jedoch weitaus mehr Aufmerksamkeit als eine dunkelhaarige Mähne, sicherlich aus dem einfachen Grund, dass helle Haartypen als eher rar und deshalb exotisch gelten. Modelagenturen können einem diese Feststellung sofort bestätigen: die Nachfrage und das Interesse nach hellen Typen ist bei ihnen eindeutig grösser. Spaziert man allerdings durch die Strassen Santiagos, erkennt man recht schnell, dass der Grossteil der chilenischen Frauen nicht wirklich dem an die Wand geklatschten Schönheitsideal der Werbeplakate entspricht. Helle Models halten Einzug in die Reklame. Mit goldenem Haar geniessen sie im Fernsehen einen kalorienarmen Brotaufstrich oder blinzeln einen blauäugig von den Titelseiten trendiger Frauenzeitschriften an.
Kulturmix mit Folgen Einerseits gilt dieses Muster, dem Selteneren und Individuelleren einen höheren Wert zuzusprechen, sicherlich für die meisten Gesellschaften. Andererseits hängt dies in Chile wie auch überhaupt in ganz Lateinamerika zudem mit historischen und sozialen Gründen zusammen. Nirgends auf der Welt lässt die Schere zwischen Arm und Reich so tiefe Gräben zwischen den unterschiedlichen Klassen aufklaffen wie in Lateinamerika. Hinzu kam ausserdem die Vermischung der ursprünglichen Bevölkerung mit verschiedensten Ethnien im Zuge der europäischen Kolonialisierung. Die weisse Oberschicht nahm das Zepter in die Hand und Ureinwohner wurden von ihren Grundstücken vertrieben, umgebracht oder versklavt. Dazu kam die Einfuhr der afrikanischen Sklaven. Über die Jahrzehnte hinweg konnte sich die Klassengesellschaft so immer weiter festigen.
Blondes have more fun Während des Gespräches hört Rubi nie auf zu lachen, klopft mir ein paar Mal auf die Schultern und baut in kürzester Zeit ein gewisses Vertrauen zu mir auf. Sie öffnet eine kleine Schatzkiste mit persönlichen Erlebnissen aus ihrer Zeit als Teenager. Dabei schätze ich sie heute auf etwa 25. Um ihr wahres Alter in Erfahrung zu bringen, benötige ich eine ganze Weile und muss mehrmals nachhaken. Rubi ist 19. Während ich noch verdutzt über diese Zahl staune, zeigt sie mir plötzlich eine grosse Narbe oberhalb ihrer Hüfte. Ihr Exfreund habe hier mit einer Schusswaffe seine Spuren hinterlassen. Momentan sitze er wegen der Ermordung eines Mädchens im Gefängnis. Und wieder kommt mir das ganze ein bisschen zu kitschig vor, um es zu glauben: das arme Mädchen von der Unterschicht, welches als Tänzerin arbeitete und so bald wie möglich Recht oder Medizin studieren möchte, wurde von ihrem Exfreund brutal misshandelt und möchte sich deshalb nie mehr verlieben. Natürlich haben sich schon viele in sie verliebt,
betont sie selbstsicher, doch ihr selbst werde das nicht mehr passieren. Momentan möchte sie einfach Spass haben, Montag bis Sonntag unerschöpflich durch die Diskotheken von Santiago tanzen, bis die Sonne aufgeht. Von was sie denn lebe, möchte ich daraufhin von ihr wissen. Doch eine präzise Antwort auf diese Frage bekomme ich nicht. Das Bierglas ist leer, die Temperatur ist weitaus angenehmer, jetzt, da ein lauer Wind geht. Das Gespräch neigt sich dem Ende zu, ein letztes Mal hake ich nach, ob sie ihre Haarfarbe nicht vielleicht doch etwas aufhellen würde. Wieder beteuert sie mir, dass sie eine natürliche Blondine sei. Warum verneint sie, was sie wirklich ist, frage ich mich innerlich. Warum möchte sie jemand sein, der sie nicht ist? Vielleicht um etwas Besonderes zu sein, denke ich, während wir uns beide schweigend anlächeln. Illustration: Patric Sandri
Wer blond trägt, hat zwar auch in Chile nicht unbedingt KÜpfchen, sicher aber Klasse.
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Marcello Mariana: PANORAMA
San Marco, Italien
46° 02' 49,3" N 09° 37' 21,7" O 1973 m ü. M. kinki 59
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Bayil, Aserbaidschan
40° 20' 50,6" N 49° 49' 54,4" O 86 m ü. M. kinki 61
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Vazisubani, Georgien
41° 43' 04,7" N 44° 50' 38,1" O 645 m ü. M. kinki 63
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Die Fotografien der Serie ‹Panorama› werden mit der freundlichen Genehmigung des Künstlers sowie des Studios Guenzani aus Mailand veröffentlicht.
Cambrena, Schweiz
46° 25' 29,8" N 10° 00' 55,2" O 2647 m ü. M. kinki 65
‹album des monats› Von der Redaktion gekürt. Marsmobil: (Why Don’t You Take) The Other Side
1.
Cry For A Day:
‹Patience› formt den Rahmen des Albums, da es mit ihm beginnt und auch endet. Der Song wurde sehr reduziert aufgenommen. Bestehend aus zwei Spuren des RhodesChroma-Synthesizer, einer durchgehenden Bassdrum und einem Chor, besticht er vor allem durch unglaubliche Transparenz und Schnörkellosigkeit.
Der Song ist sehr lyrisch, fast schon hymnisch. Traurig, aber nach oben blickend. Es ist mein Lieblingssong. Und es ist der vielleicht typischste Marsmobil-Song des Albums.
2.
Monday Tuesday:
Crazy Coloured Light: Eines der Kernstücke des Albums. Ein leicht angehauchter 60s-Beat, der aber durch markant-schräge Drumsounds und Drumfills einen zwingenden Groove erzeugt, der wiederum durch die treibende Orgel ergänzt wird.
3.
Ordinary Boy: Ein bowiesker, slower Popsong mit Glockenspiel, fettem Beat und eingängiger Melodie. Hier wird ein leicht unterdurchschnittlicher Frauenheld und Taugenichts knallhart, aber dennoch charmant beschrieben. Ein super positiver Song!
4.
Moon Of Dust: Hammerdrums mit wahnsinnigen Offbeats schwirren um ein extrem ruhiges, flächiges Synthi-Zentrum. Gegensätzlicher geht es kaum; dennoch bilden Stimme, Fläche und Drums eine elektrisierende Einheit. Der komplexe Text handelt von aberwitzigen Tagträumen und fantastischen Visionen.
5.
Gonna Be My Day: Hymne. Feuerzeug. My day!
D
ie Liste der internationalen Musiker, mit denen Roberto di Gioia bereits gearbeitet hat, ist lang und beeindruckend. Der gebürtige Italiener spielte als Jazzpianist regelmässig mit musikalischen Grössen wie Udo Lindenberg oder Helge Schneider. Als ihm das Jazz-Universum zu eng wurde, gründete er Ende der 90er-Jahre die Band Marsmobil, die sich mit jedem Album etwas weiter vom Jazz entfernte, um sich dem Rock und Pop der 60erund 70er-Jahre anzunähern. Der Multiinstrumentalist und Analogfetischist di Gioia findet aber nicht nur am Musikstil dieser vergangenen Zeiten Gefallen. Auch die Instrumente, die auf dem neuen Album ‹(Why Don’t You Take) The Other Side› vertreten sind, zeu-
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6.
Jane:
gen von seiner Begeisterung für alte Werte. Da rumort schon mal ein ausrangierter Drumcomputer zu den schrägen Klängen einer fast schon antiken Antonelli-Orgel, und Bläser zelebrieren einen Abgesang auf längst vergessene Klänge. Dennoch schlagen Marsmobil mit ihren Texten und dem Einsatz von Synthesizern geschickt eine Brücke zur Gegenwart. Gerne werden die vielschichtigen, loungigen Songs nämlich auch mit den Klängen von Air verglichen. Roberto di Gioia stimmt dem teilweise zu, wenn er von den gemeinsamen Wurzeln spricht, die er mit der französischen Band teilt. Mit Max Herre und Wigald Boning gehen Marsmobil auch auf dem neuen Album spannende Kollaborationen ein und reissen den Hörer mit in eine ausserirdische Welt voller spannender Harmonien und Tagträume.
9.
Patience:
Der Song ist eine Ode an Jane Birkin. Bemerkenswert: der Bass wurde mit der linken Hand auf dem Rhodes Chroma gespielt. Gleichzeitig spielt die rechte Hand die Akkorde.
7.
Never Forget: Mantrisch bewegen sich die halluzinierendekstatischen Stimmen um ein dickes Rhythmusgeflecht mit dickstem Fender Bass und dem tiefsten Snaresound des Albums in eine Wonder-Kravitz’sche Richtung, um dann in der Bridge eine abartige Sloppyness mit krassen Harmoniewechseln zu entfachen.
8.
Lolly: Hier wird ein perverser Basslauf zu programmierten Drums improvisiert, die wie zehn Feuerwerke in die Lüfte schiessen und knallen. Dazu kommt ein KaugummiSermon-mässiger Vorwärts-RückwärtsGesang.
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Wieder geht es um einen Nichtsnutz und Taugenichts, der bei einem bevorstehenden Date die Tage verwechselt und es deswegen verpennt. Beginnend mit einer hookigen Melodie, die förmlich zum Mitschreien einlädt, entwickelt sich der Song parallel zur ‹Handlung› immer schräger und nimmt immer unbequemere Wendungen an, um dann mit einer Fanfare-artigen Trompete wieder im Hauptteil zu münden.
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Insane5: ‹Insane5› kommt im 7/8-Takt und ebenso mantrischem Gesang daher. Es ist kein Stück zum Spazierengehen, da man sonst stolpert.
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Berchidda: Der Song ist wunderbar gesungen von der Gast-Solistin Martine Rojina. Gewidmet ist er einem geheimnisvollen, gleichnamigen Ort auf Sardinien.
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Spirit Of The Dark: In diesem Stück ist ein melancholisches Gebläse aus Oboe und Fagott, gespielt von Wigald Boning, zu hören. Der Song an sich ist eine schräg-lyrische Ballade.
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Revolution Girl: Mystisch beginnend entsteht ein sympathischer Popsong, der sich selbst eine Überraschung gönnt: nämlich sich zum Schluss in ein vollkommen anderes Lied zu verwandeln.
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Helix Pomatia: Behäbig wie die gleichnamige Weinbergschnecke bläst die rote Antonelli-Orgel zum ersten Mal seit 41 Jahren wieder auf einer Aufnahme. Ich habe diese eineinhalb Oktaven umfassende Kinderorgel mit vier Jahren erhalten und lernte darauf das ‹Klavierspiel›.
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Patience Reprise: Das ist der zweite und letzte Teil der Hymne. Er ist klanglich sehr futuristisch angelegt. Ein Verzerrer bewegt sich langsam steigernd auf das Ziel zu: dem textlichen und inhaltlichen Abschluss des Albums. ‹(Why Don’t You Take) The Other Side› (Compost Records) erscheint im April. Text: Martina Messerli Foto: Florian Seidel
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Bridgetown
Die Musik von Musée Méchanique ruft eine nie dagewesene Nostalgie in einem hervor. Eine Sehnsucht nach etwas, das wir nicht benennen können, das aber irgendwo in unserer Geschichte oder der Geschichte unserer Heimat zu liegen scheint. Zeit, dieser Geschichte etwas auf den Grund zu gehen. Text und Interview: Fabienne Schmuki
A
m wohl hässlichsten Fleck der atemberaubenden Stadt San Francisco, dem Fisherman’s Wharf, gibt es ein echtes Bijou zu entdecken. Hinter den Touristenfallen, wo die zahlreichen baseballbemützten Besucher wie Blütenstaub auf Wollpullovern kleben bleiben, befindet sich das ‹Musée Mécanique›: eine Art Schuppen, der wahrlich Zauberhaftes beherbergt. Der neugierige Be sucher trifft dort auf über 300 Schmuckstücke: Antike Spielautomaten stehen neben münzbetriebenen (Musik-)Maschinen, Orchestrione neben tanzenden Puppen und altertümlichen Vogelhäuschen. Wahrlich ein Rückwärts-Spaziergang auf der ‹memory lane›, der Strasse der Erinnerung. Dieses Museum, das Technik und Menschlichkeit miteinander verschmelzen lässt, hat es auch Sean Ogilvie und seinem Freund Micah Rabwin aus Portland schon in frühen Jahren angetan. Die gemeinsame Faszination für Antikes, dieses unbändige Interesse für die Geschichte und die Bedeutung der Dinge floss bereits in die ersten Songs ein, welche die beiden in ihrer zarten Jugend schrieben. Über diese Geschichten, die hinter der zauberhaften Musik von Musée Mécanique stecken, welche unsere Seele streichelt und lauwarm einpackt, gibt es einiges zu erfahren. Zeit also für eine Geschichtsstunde mit Sean, dem Sänger und Multiinstrumentalisten der Band. kinki magazine: Sean, jede Stadt hat ihre Geschichte, ihre Sagen, ihre Geheimnisse. Du selbst kommst aus Portland… Sean Ogilvie: Auch Portland lebt von einer äusserst bewegenden Geschichte, die von viel Freud und Leid erzählt, das in den letzten Jahrhunderten über die Einwohner gekommen ist. Nicht selten treffen wir in der Vergangenheit auf rätselhafte Fratzen, Geister, Gräueltaten. Genau das mag ich an diesen Legenden, dass sie häufig so grausig sind. Das macht sie ja so interessant. Apropos grausig: In Zürich erzählt man sich die Legende von Felix und Regula, zwei Zürcher Stadtpatronen und Heiligen der ka68 kinki
tholischen Kirche. Die beiden wurden während der Christenverfolgung als Märtyrer bei der Wasserkirche in Zürich enthauptet. Daraufhin hätten Engel die Leiber der Hingerichteten den Berg hinaufgetragen. Die Leiber trugen ihre Köpfe unter dem Arm, heisst es weiter. Auf dem Berg wurden sie anschliessend begraben. Wenn ich diese Geschichte höre, denke ich sofort an eine nette Legende aus Portland. Sie stammt aus der Zeit des kalifornischen ‹Gold Rush›. Da denkt man instinktiv an den ‹Wilden Westen›. So ist es. Nicht nur die beiden reissenden Flüsse, der Willamette River und der mächtige Columbia River, sondern auch die beiden Vulkane Mt. Hood und Mt. Saint Helens machen dieses Stückchen Erde zu einer ge fährlichen Gegend. Zudem war dies schon immer ein Platz für ‹Flüchtende und Flüchtlinge›, wie Chuck Palahniuk seinen Reisebericht über Portland betitelt hat.
‹Die Leute springen, fallen oder werden von diesen Brücken gestossen. Öfter als man denkt.› Also, von welcher Geschichte wolltest du mir nun erzählen? Es geht ums Saufen in Bars, Portlands Funktion als Hafenstadt und um das gute alte Blutgeld. Also nichts für schwache Gemüter. Schiess los! In Portland lebten früher sogenannte ‹Crimpers›. Diese versuchten, möglichst viele Leute für die Arbeit an Bord der grossen Seefahrzeuge anzuheuern. Für jeden Arbeiter erhielten sie Geld. Aber die Crimpers verstanden darunter keine ehrliche Arbeit. Sie zwangen Leute dazu, an Bord zu arbeiten: Entweder mit kaltblütiger, selbst ausgeübter Gewalt oder aber indem sie Cowboys oder
Bergarbeiter dafür bezahlten, eine Person nach ein paar Drinks in der Bar k.o. zu schlagen. Teilweise machten sie ihre Opfer auch mittels Drogen gefügig, den Arbeitsvertrag zu un terschreiben. Am nächsten Tag wachte der Betroffene dann an Bord eines Schiffes auf, unterwegs nach Shanghai beispielsweise. Daher wohl auch der Ausdruck ‹to shanghai so.›, jemanden gegen seinen Willen zum Kriegsdienst zu zwingen. So ist es. Einmal an Bord gekommen, war es dem frisch rekrutierten Matrosen untersagt, das Schiff vor Ende der Reise zu verlassen. Gibt es nicht auch die sogenannten ‹Shanghai tunnels› in Portland? Ganz genau. Es handelt sich dabei um ein ziemlich kompliziertes, aber streng geheimes Tunnelsystem, das unter Portlands Stadt zentrum durchführt. Über mehrere Kilometer hinweg sind dadurch Theater, Speakeasies (sogenannte Flüsterkneipen), Hotels, Restaurants und Nachtclubs miteinander verbunden. Die Tunnel führen zum Fluss. Was war der ursprüngliche Sinn dieser Tunnel? Man wollte die Auslieferung der Güter vereinfachen, der Strassenverkehr konnte so vermieden werden. Aber gerade für den Schwarzhandel der Crimpers waren die Shanghai Tunnel wie geschaffen! Dank ihnen konnten sie ihre ‹Beute› vom Gesetz und der Öffentlichkeit ungesehen bis ans Meer bringen. Und diese Tunnel existieren bis heute? Ja, und sie sind noch immer ein Mysterium für uns alle! Man fand darin uralte, kunstvolle Opiumpfeifen aus Elfenbein. In manchen Pfeifen befanden sich sogar noch Glassplitter… Warum Glassplitter? Die Crimpers streuten diese in den Tunneln aus. Sie stahlen ihren Opfern die Schuhe, so dass sie nicht mehr über die Scherben zurückgehen konnten. Grauenhaft! Oh ja. Man erzählt sich aber auch von Geistern in den Tunneln: Etwa von Frauen, welche
ihre Männer an die Crimpers verloren haben. Auch verlorene Seelen, die noch immer einen Ausweg aus den Tunneln suchen, sollen dort herumspuken. Man munkelt sogar, der Ku-Klux-Klan habe sich früher dort getroffen – genauso wie die Immigranten, die von ihm verfolgt wurden! Wahrlich ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte. Eines der dunkelsten! Wenden wir uns lieber wieder angenehmeren Themen zu: du hast zu Beginn die beiden Flüsse in Portland erwähnt. Auch durch Zürich fliessen zwei Flüsse, die Sihl und die Limmat. Unsere Städte weisen tatsächlich Parallelen auf. Der Willamette und der Columbia River fliessen im Nordwesten von Portland zu sammen und die enorme gemeinsame Wassermasse strömt in den Pazifik. Beide Gewässer sind aufgrund ihrer natürlichen Kraft sowie ihrer gesellschaftlichen Bedeutung unauflöslich mit der Geschichte der Stadt verbunden. Zürich wird auch heute noch als ‹Limmatstadt› bezeichnet. Seit 1648 kannte man Zürich übrigens als ‹Rom an der Limmat›, da sich die Züricher wie ihre italienischen Nachbarn als Bürger einer souveränen Stadtrepublik betrachteten. Später, als immer mehr Gelehrte in der Stadt Einzug hielten und Zürich ihre wichtige Position als Handelsstadt festigte, wechselte diese Bezeichnung in ‹Athen an der Limmat›.
Auch Portland hat einige Spitznamen, so zum Beispiel ‹The City of Roses›, ‹Stumptown› oder ‹Bridgetown›. Gerade letzterer ist äusserst treffend. Die vielen Brücken in Portland sind von einer Art wunderschöner Ironie begleitet: Sie verbinden nicht nur den Westen mit dem Osten der Stadt, sondern bilden auch eine Plattform für die Entmutigten, Frustrierten, unglücklich Verliebten oder psychisch Kranken, die ihrem Leben ein Ende machen möchten. Auch bei uns ist die Selbstmordrate alarmierend hoch… Ja, vielleicht ist es der Regen oder der mehrheitlich bedeckte Himmel, vielleicht auch etwas, das wir nie werden verstehen können – aber die Leute springen, fallen oder werden von diesen Brücken geworfen. Öfter, als man denkt. Werden von den Brücken geworfen? Erst kürzlich warf eine Mutter ihre 7-jährige Tochter und ihren 4-jährigen Sohn von der Sellwood Bridge. Ein Pärchen, das die Schreie hörte, fuhr mit dem Boot hinaus, um die Kinder zu finden. Sie konnten das Mädchen retten, der Junge liess sein Leben dem Fluss… Später wurde bekannt, dass die Mutter das Sorgerecht für ihre Kinder verloren hatte. Aus Rache gegenüber ihrem Exmann warf sie ihre Kinder von der Brücke. Schon wieder so eine traurige Geschichte! Ja, vor allem für Micah und mich: wir sehen die Brücke jeden Tag von unserem Haus aus. Wir werden sie aber nie mehr mit denselben Augen sehen wie vor diesem Unglück! Und doch lieben wir Portland. Ihren Name verdankt die Stadt übrigens einem Münzwurf! Wie das? Francis Pettygrove aus Portland sowie Maine und Asa Lovejoy aus Boston, Massachusetts, wollten das Stück Land, auf dem heute Portland steht, beide nach ihren ursprünglichen Heimatstädten benennen. Asa hatte damals übrigens für 2,6 km² Land noch 25 Cent bezahlt. Um den Disput schliesslich zu regeln, warfen sie jedenfalls eine Münze. Pettygrove gewann. Wir sind glücklich darüber – Boston war sowieso nie ein guter Name für eine Stadt! Das Album ‹Hold This Ghost› wurde in dem alten, kleinen viktorianischen Häuschen nahe des Willamette River aufgenommen, in welchem Sean und Micah wohnen, und von wo aus sie auf die Sellwood Bridge sehen. ‹Hold This Ghost› wurde vom selben Produzent abgemischt wie zuvor schon die Alben von Laura Veirs und The Decemberists. Live werden Sean und Micah von den drei Multiinstrumentalisten Brian Perez, Jeff Boyd und Matthew Berger unterstützt. Das Gespräch mit Sean (im Bild derjenige mit Vollbart) findet ihr in voller Länge auf kinkimag.com. ‹Hold This Ghost› (Irascible) von Musée Méchanique ist seit dem 25. Januar erhältlich. Foto: Souterrain Transmissions
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‹soundcheck› Nach diesen Scheiben wirst du süchtig. Was wäre eine Zugreise ohne iPod, ein Roadtrip ohne Mixtapes oder der lange Nachhauseweg ohne die geliebten Kopfhörer? Wie ein Film ohne Ton wahrscheinlich. Deshalb sorgt unser Reviewnator auch diesen Monat dafür, dass der Soundtrack zu euren kurzen und weiten Reisen gewährleistet ist, und präsentiert euch an dieser Stelle eine Auswahl der neusten musikalischen Weggefährten.
kurz vor dem erwachen
BEACH HOUSE – TEEN DREAM
Ein einsames Haus an einem noch viel einsameren Strand, das wär’s doch. Aber wäre es wirklich das Paradies schlechthin? Was nämlich machen, wenn der Zahn pocht, das Nikotin ruft und man Heisshunger auf einen saftigen Burger bekommt? Schwimmen fällt da meistens aus und wer mal die Lieferzeiten bei FedEx und Co verinnerlicht hat, weiss, dass die Pizza mit Sicherheit kalt ist, bevor man sie in den Händen hält, und dass zudem noch nicht einmal Marlon Brando zu seinen besten Zeiten 350 Franken für ein bisschen belegten Teig auf den Tisch gelegt hätte. Doch hier kommt nun endlich die Alternative für kettenrauchende Amalgamträger 70
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mit Vakuumkonto: ein Kurztrip ins ‹Beach House›. Das Duo aus Baltimore ist nämlich ganz und gar gastfreundlich. Erholung pur – bei dem Pärchen geht es ganz gemächlich zu Gange. Wie ein schöner Traum, der langsam wie Nebelschwaden an einem feuchten Tropenmorgen vor sich hinzieht, hüllt ‹Teen Dream› seine Besucher langsam ein. Doch genau wie die schönen Momente kurz vor dem Erwachen kann man die weichen Melodien von Alex und Victoria dennoch nie ganz greifen. Beach House inszenieren flüchtige Schönheiten, akustische Fata Morganen, die man zwar deutlich vor sich zu sehen glaubt, die mit dem nächsten Atemzug aber schon wieder verschwunden sein können. Zum Nachträllern und Mitsingen eignen sich Post-RockHarmonien wie ‹10 Mile Stereo› und Discostücke wie ‹Lover of Mine› nämlich weniger. Doch die wabernden Beats, die schwelgenden Orgeln und die verhallten Gitarren wissen zu bezirzen. Das klingt zwar nicht so stark wie auf dem Debütalbum, aber immer noch stark genug, um zu überzeugen. Beach House flüchten sich mit ‹Teen Dream› in ihren eigenen
kleinen Traum und lassen ihre Hörer daran teilhaben. Und wenn der nebelige Schleier das Haus am Strand erneut einnimmt, die drückende Hitze der Nacht der kühlen Feuchtigkeit des Morgens weicht, dann weiss man, dass es nun wieder Zeit ist, die Augen zu schliessen und sich an die exotischsten Ziele zu flüchten. Und dafür könnte man tatsächlich schon mal 350 Franken ausgeben.
das glück in der ferne
GOOD SHOES – NO HOPE, NO FUTURE
Wer kennt diese Momente nicht: Man möchte am liebsten sofort mit Sack und Pack abhauen und irgendwo in Übersee einen Neu-
anfang wagen. Bis auf die Frage ‹Warum eigentlich nicht?› und vielleicht noch das nötige Kleingeld fehlt dem spontanen Auswanderer meist nur noch eins zum Glück in der Ferne: ein Paar richtig guter Schuhe. Eines für alle Lagen: für die kalten, die heissen, die bergigen, die feuchten und die unwegigen. Und damit wäre auch schon erklärt, warum Good Shoes ausgerechnet diesen Namen ihre Alben zieren lassen. Die Burschen sind nämlich eine Band für alle Fälle, besonders aber für die feuchtfröhlichen, die überraschenden, die anstrengenden, die einsamen und die zweisamen Momente. Irgendwo zwischen den Futureheads, Kate Bush und Maximo Park laden Good Shoes zum Davonlaufen ein. Weg vom Alltag, weg von den Posern, weg vom Konsumwahn, weg von all dem Fake, der uns umgibt und alles andere spendet als den Trost, den wir manchmal so bitter nötig hätten. Denn ob es uns immer noch in das weite Unbekannte ziehen würde, wenn der Tag ginge und Johnnie Walker nicht käme oder das ‹Noggern› letztendlich doch nicht Befriedigung spenden würde, werden wir wohl nie erfahren.
Es scheint eben, als wäre eines der letzten ehrlichen Güter die Musik und Bands wie Good Shoes das Gütesiegel auf einem verheissungsvollen Einband. Da wundert es kaum, das ein Titel wie ‹No Hope, No Future› wie ein Aufruf zur Veränderung daherkommt – sei es nun an einem anderen Ort oder lediglich in uns selbst. Der britische Vierer verspricht jedoch eines: mit knackigen Beats und verspielten Licks den perfekten Begleiter für all die unwegsamen Strecken des Lebens zu spielen. Und dabei liefert die Musik der Shoes immer noch die beste Weisheit von allen: nicht alles, was nicht neu ist, muss auch schlecht sein. Denn, wenn schon das Quartett aus London mit neuinterpretiertem Altbewährtem zu gefallen weiss, schaffen wir das vielleicht auch mit uns selbst. Keine Hoffnung, keine Zukunft!
suche nach neuland
MPHO – POP ART
Veränderung. Das ist das Schlagwort, das die Musikindustrie bis dato prägte. Neue Styles, neue Sounds, neue Typen – ohne diese Neuerungen hätte die Musikbranche ihre Rolle als Trendsetter längst verloren und wäre wahrscheinlich an sich selbst erstickt oder in der auditiven Langeweile untergegangen. Denn sind wir mal ehrlich, es ist nicht nur die Qualität der Musik, sondern auch ein wenig der Innovationswert. Wer will schliesslich Tag ein Tag aus auf diesselben Röhrenjeans tragenden Gitarrenfreaks zurückgreifen, wenn es darum geht, der Melancholie ein Gewand zu verpassen – und mit allen anderen Stimmungen verhält es sich ebenso. Wir suchen das Unbekannte, neue Pfade in die Tiefe unserer Emotionen, und sei es auch nur für einen einzigen Song. Da kamen Künstlerinnen wie Santigold gerade recht. Doch selbst die exotische Ausnahmekünstlerin hat sich mittlerweile schon wieder ab-
gehört. Gut nur, dass ihre musikalische Zwillingsschwester in den Startlöchern steht und tatsächlich nicht den einzigen Fehler begeht, der uns ein neuartiges Hörvergnügen kosten könnte: zu kopieren. In Grossbritannien wird MPHO bereits in einem Atemzug mit anderen jungen Künstlerinnen wie Santigold und Ebony Bones genannt. Und auch deren Erfolg lässt sich auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein zurückführen, mit dem sich diese Newbies so locker über Erwartungshaltungen und Genregrenzen hinwegsetzen. Eine neue Garde aus dem kulturellen Schmelztiegel London, bei der man endlich wieder das Unerwartete erwarten darf: eine Melange des Neuen und bester Popgeschichte. Und das schafft auch MPHO mit ‹Pop Art›. Dessen ungeachtet, ob sie nun ‹bloss› die Zwillingsschwester von Santigold ist oder nicht, bietet MPHOs Debütalbum schon rein musikalisch alles, was das Herz begehrt. Die reichhaltige Palette reicht von sommerlichem Electropop mit schwelgerischen Melodien bis hin zu nachdenklichen Balladen – und das klingt so herrlich unverbraucht, dass man fast schon mutmassen könnte, welcher Act in nächster Zeit wohl die Boxen der Clubs und Bars belagern wird. Bis eben wieder ein neuer Sprössling an die Tore klopft.
reise ans ende der welt
THE POSTMARKS – MEMOIRS AT THE END OF THE WORLD
Erinnerungen sind mehr als komprimiertes Wissen des sequenziellen Langzeitgedächtnisses. Erinnerungen sind Paradiese, aus denen wir nicht vertrieben werden können. Erinnerungen sind Fluchtwege aus der Kälte des Alltags. Und Erinnerungen an zerronnenes Glück sind die Narben unserer Seele. Doch was macht man, wenn die Erinnerungen schwächer werden, wenn all die kleinen Wun-
der, die man erlebt hat, langsam aber sicher verblassen? Man schreibt sie nieder in seinen Memoiren. Wie zerbrechlich der Gedanke an das Vergangene klingen kann, verraten uns The Postmarks mit ihren ‹Memoirs at the End of the World›. Und wenn auch ich erst bis ans Ende dieser Welt reisen muss, um all mein Erlebtes derart offenherzig niederbringen zu können, dann ist der Non-StopFlug längst gebucht. Nur, wohin muss ich fliegen? Doch vielleicht liegt genau bei dieser Frage der Kern dieser zerbrechlichen Indieplatte, vielleicht entspringen hier all diese zarten Melodien und die niederschmetternde Zurückhaltung: Muss der Mensch erst ans Ende der Welt und zum Ausklang aller Tage gelangen, um schliesslich zu erkennen, dass doch nicht alles so schlecht war, wie es im ersten Moment erschien? Dies wäre wahrlich ein Neubeginn der schmerzlichen Sorte, ein Ortswechsel, der einen letztendlich wieder an den Ausgangspunkt zurücktreiben würde. Und genau diese Philosophie findet sich auf ‹Memoirs at the End of the World›. Denn wie die Truppe aus Florida in einem ihrer Tracks so passend sagt, hat keiner gesagt, es würde einfach sein, aber auch niemand, es werde besonders schwer. Und somit ist dieses melancholische Album mit all seiner Schwermütigkeit und all seinem Weltschmerz dennoch ein Hoffnungsspender. Ein guter Freund, der uns die Hand auf die Schulter legt und leise flüstert: ‹Glück ist, was du daraus machst.› Manche müssen eben erst bis ans Ende der Welt schippern, um zu kapieren, dass das Glück manchmal direkt vor der Tür wartet. Da ist es doch so viel einfacher den Postmarks zu lauschen und sich einfach erzählen zu lassen, wie es an der Endhaltestelle zugeht. Und glaubt es oder nicht: zu Hause ist es immer noch am schönsten! Spätestens seit seiner letzten Reise weiss unser Reviewnator Florian Hennefarth, wie wichtig auf einem langen Trip der richtige Sound ist. Vor allem dann, wenn man auf dem Rückweg Stunden auf verschiedenen Flughäfen zubringt, weil der Flieger nicht starten kann. Für den Soundcheck hat’s zum Glück in letzter Minute noch gereicht.
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Ibiza liegt am Ganges
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In einem Land mit über einer Milliarde Einwohnern ist Jugendkultur eine Massenveranstaltung. Trotzdem haben in Indien längst nicht alle ein Ticket für die Clubrestaurants und Cocktailbars, in denen die junge Elite sich so gern vergnügt. Der House-Produzent Andy Vaz hatte Gelegenheit, sich auf einer Tour genauer umzusehen. Ein schiefer Blick auf Indiens Jugend. Text und Fotos: Arno Raffeiner, Fotos: Ronni Shendar, Felix Kolbitz
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an kann in den Kopf von Andy Vaz nicht wirklich hineinsehen. Nur er aus ihm heraus, aber auch das nicht so richtig. ‹Auge komisch›, sagt er, als er aus Europa kommend in Mumbai landet. Mitten im hitzigen Chaos aus Farben, Geräuschen und Gerüchen, zwischen den endlos sich hinziehenden Strassenmärkten im Süden der Stadt, am Rande der ewig knatternden Blechlawine auf den Strassen, vorbei an bettelnden, spielenden, nackten Kleinkindern, am Strassenrand schlafenden Männern, streunenden Kötern und Müll fressenden Kühen – immer wieder: ‹Auge komisch!› Vom ersten Moment an geht das so, und bis zu seiner Abreise aus Indien wird Andy diese zwei Worte noch unzählige Male wiederholen. Dabei ist er nicht zum ersten Mal hier. Sein Vater stammt aus Indien, genauer: aus Mangalore an der Südwestküste. Mit knapp einer halben Million Einwohnern für indische Begriffe eher eine gemütliche Kleinstadt. Papa Vaz kam mit Anfang zwanzig indirekt über Kanada nach Europa. Er arbeitete für eine indische Airline, lernte eine Schweizerin kennen, gründete eine Familie und sein eigenes Reisebüro. Sohn Andy bekam einen Schweizer Pass, jobbte nach Schulabschluss beim Vater im Büro und organisierte Reisen in den Subkontinent, hauptsächlich für indische Migranten: Urlaub zu Hause. Seit einigen Jahren fährt Andy nun selbst ziemlich regelmässig nach Indien, vor allem in den Süden des Landes und hauptsächlich im Winter: Da ist es dauerheiss, inspirierend und nicht zuletzt preiswert. Aber im November 2009 ist er zum ersten Mal beruflich in indischen Metropolen unterwegs. Andy ist House-Produzent und Betreiber des Labels ‹Yore Records›. Zusammen mit den befreundeten Acts Glitterbug & Ronni Shendar sowie Murat Tepeli tritt er auf Einladung des Goethe-Instituts in den grössten Städten des Landes auf – in der vollklimatisierten Welt luxuriöser Clubrestaurants, Cocktailbars und 5-Sterne-Hotels. Sein ‹Auge komisch› mag damit zu tun haben, dass er bei einem Auf-
tritt in der Nacht direkt vor der Abreise einen Ellbogen etwas unsanft ins Gesicht bekam. Aber nicht nur. Denn auch wenn Andy schon öfter in Mumbai und in anderen indischen Städten unterwegs war und aufgrund seiner Erfahrungen auf einiges gefasst ist, kommt er angesichts der widersprüchlichen Realitäten in diesem Land immer wieder in Versuchung, sich ungläubig die Pupillen zu reiben. Farbenpracht, Hitzeflimmern, extreme Gegensätze zwischen Arm und Reich.
Jugendkultur betrifft in Indien längst nicht alle Die indische Gesellschaft ist hochgradig segregiert, und doch erscheint alles chaotisch ineinander verquickt. An europäischen Lebenswelten trainiertes Sensorium kann da schon mal schwächeln. Indien ist ein junges Land. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25. Die Wirtschaft wächst nach wie vor rasant, im Krisenjahr 2009 mit einer geschätzten Rate von mehr als sechs Prozent. Die Alphabetisierungsrate ist rund doppelt so hoch, trotzdem sind über 30 Prozent der Bevölkerung noch Analphabeten. Gleichzeitig gewinnt eine gehobene junge Mittelschicht mit hervorragender Ausbildung, mit Auslandsaufenthalten, guten Jobs und dem entsprechenden Kleingeld in der Tasche immer mehr an gesellschaftlicher Relevanz. Jugendkultur betrifft in Indien längst nicht alle, ist bei über einer Milliarde Einwohnern aber natürlich trotzdem eine Massenveranstaltung. Parallel zum Wachstum der Mittelschicht wird sie zunehmend grösser, ausdifferenzierter und – wie bei uns – langsam auch älter. Zumindest in gehobenen Kreisen gibt es ihn inzwischen auch in Mumbai, Delhi und Kalkutta: den Berufsjugendlichen. Für den weniger privilegierten Rest der jungen Bevölkerung gilt eher das Gegenteil: Kinderarbeit. Ein ‹White Tiger›-Aufstand, wie ihn der in Mangalore aufgewachsene Schriftsteller
Aravind Adiga in seinem Booker-Prize-gekrönten Buch beschrieb – als solitäres, gewalttätiges und schliesslich sehr erfolgreiches Aufbegehren eines jungen Dieners gegen seinen Herrn –, eine solche Revolution scheint auf breiter Ebene nicht in Sicht. Nicht ohne Grund wird dem Leben in Indien eine deterministische, ja fatalistische Dimension zugeschrieben: Karma, Wiedergeburt, Kastenwesen. Adiga macht die starren sozialen Normen in seinem Roman aber an einer anderen übermächtigen Instanz fest: der Familie. Wenn die Rickshaw-Fahrer auf ihren Fahrradtaxis im dichten Verkehr von New Delhi und die in Teestuben am Strassenrand arbeitenden Chai-Wallahs Generation für Generation ihren Beruf an ihre Kinder vererben, dann scheint analog dazu auch die High Society zu ihrem Schicksal verdammt, das heisst im Normalfall zur Karriere.
Banker, Ingenieur oder DJ Ash hat lange versucht, diesem Determinismus zu entkommen, aber es hat nicht so recht geklappt. Wie er so in Shorts, einem NintendoT-Shirt und mit einem auf den Unterarm tätowierten Chinch-Kabel in einem kühl designten Café in New Delhi sitzt, gibt er das perfekte Bild eines Slackers ab. Seit seinem 16. Lebensjahr hat er fast nur Musik gemacht und Platten aufgelegt. Heute ist er 33 und Produzent, Sänger und Percussionist von Jalebee Cartel, einem der erfolgreichsten indischen Elektronik-Acts. Der Karriere war also nicht zu entkommen, auch wenn er dem Druck seiner Familie lange widerstanden hat. Als Ash von einem Auslandsaufenthalt in Dubai zurückkam, wollten seine Eltern das Rumgammeln nicht mehr akzeptieren. ‹Ich musste eine Zeit lang mit dem Auflegen aufhören. Meine Familie fragte mich, was ich mit meinem Leben anstellen wolle›, erzählt er. ‹In Indien ist es normalerweise so, dass man Banker oder Ingenieur oder etwas in der Art werden muss. Ich habe zunächst versucht, meine Eltern von kinki 73
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Mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung ist unter 25.
Den Berufsjugendlichen gibt es mittlerweile auch in Delhi, Mumbai und Kalkutta.
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meinen Ideen zu überzeugen, aber sie haben das nicht kapiert. Also habe ich zwei Jahre lang im Schifffahrtsunternehmen meines Vaters gearbeitet. Aber irgendwann sagte ich: «Das ist nicht mein Ding, ich kann das auf Dauer nicht machen.» Und meine Eltern meinten: «Na gut, dann mach, was du willst!» Seither mache ich nur noch Musik.› Mittlerweile sind Ashs Eltern richtig stolz auf ihren Sohn. Keine Bareröffnung in Indiens Partymetropolen scheint derzeit ohne mindestens eines der vier Mitglieder von Jalebee Cartel hinter dem Mischpult auszukommen. Noch vor fünf Jahren interessierte sich niemand für sie, heute spielen sie rund hundertmal im Jahr, vor bis zu viertausend Leuten.
Auch eine kleine Subkultur muss man sich erst mal leisten können Man darf nicht vergessen: In Indien formt selbst eine Minderheit noch eine Masse. Wenn westlicher Pop in der indischen Jugendkultur die Alternative zum Bollywood-Mainstream ist, Rock und vor allem Heavy Metal kulturelles Kapital für junge Distinktionsgewinner abgeben, dann sind House und Techno seit kurzem eine Option für alle, die noch eine Spur cooler als der Rest sein wollen – und die nötigen Rupees für einen Drink in der Lounge eines 5-Sterne-Hotels in der Tasche haben. In genau solchen Lounges tritt Andy mit Murat Tepeli, Glitterbug und Ronni Shendar auf. Die Clubs in Mumbai, Kalkutta oder Bangalore erscheinen als unwirkliche und abgeschottete Parallelwelten: Slums in unmittelbarer Nachbarschaft, der Eingang zum Teil nur zehn Meter von einem Sweatshop entfernt, davor Metalldetektoren, die bei der Gesichtskontrolle am Eingang helfen, auf der Karte Getränkepreise, für die man sich draussen auf den Strassenküchen monatelang mit frisch gebrutzelten Vadai und Samosas versorgen könnte. Aber drinnen klimpert das Silberbesteck zum Klang der Bass drum auf den Tellern mit französischem Hühnchen in Senfkruste, die Sektgläser klirren. Was man in Europa ganz gerne vergisst, wird hier eindringlich vorgeführt: Auch eine kleine Subkultur muss man sich erst mal leisten können. Wenn man Gaurav glaubt, gibt es sehr viele, die das können. ‹Indien ist die perfekte Plattform›, erzählt er, kurz bevor er auf einer OpenAir-Party in New Delhi Musik auflegt. ‹Hier steckt das fette Geld, ganz im Gegenteil zu dem, was die Leute im Westen oft denken. Die Betreiber hier sind bereit, alle erdenklichen Summen auszugeben, um ihren Club interessanter aussehen zu lassen und ein grösseres Publikum anzuziehen. Und daraus schlagen wir letztlich Kapital.› Gaurav ist 24, eigentlich ausgebildeter Jurist, aber weil er Gesetze langweilig findet, hat er seinen Job an den Nagel gehängt und beschlossen, zu tun, was immer ihm Spass macht. Er nennt das ‹B.L.O.T.›: The Basic Love of Things. So heisst die Plattform, die er vor zwei76
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einhalb Jahren mit dem 30-jährigen Designer Avinash gegründet hat. Gaurav macht die Musik, Avinash die Visuals dazu, und gemeinsam schmieden sie immer neue Business-Pläne: Sie betreiben ein Musik- und ein DVD-Label, wollen einen Laden für elektronische Instrumente eröffnen, möchten gemeinsam mit Avinashs Mutter, einer klassischen indischen Tänzerin, Theater und Kinos multimedial bespielen und arbeiten seit neuestem als Kuratoren für eine Galerie in Delhis teuerster Shopping Mall. Die Clubkultur in seiner Heimatstadt sei sehr dynamisch, sagt Gaurav in seinem immer ein wenig nach Finanzexperte klingenden Englisch. ‹Die Szene hier ist ziemlich gross. Freitag und Samstag wollen alle unter 35 feiern gehen. Die Leute arbeiten hart, die ganze Woche lang, die meisten haben eine gute Anstellung und daher viel Kaufkraft. Es ist ähnlich wie in London oder auch in Bombay. Delhi ist sehr kosmopolitisch und urban. Die jungen Leute haben viel Geld, und sie wissen, wie man damit eine gute Zeit hat.› Kapil will dem gar nicht widersprechen, zumindest nicht grundsätzlich. Aber inmitten von all dem Optimismus setzt er dann doch mal ein etwas nachdenklicheres Gesicht auf; der weit verbreiteten Skepsis und Zukunftsangst in unseren Breitengraden gar nicht unähnlich. Den ganzen Tag lang hat er Andys Reisegruppe durch Delhi geführt, alle mit Anekdoten über seine Heimatstadt versorgt und mit Scherzen unterhalten. Nach seiner Jobsituation gefragt, wird er aber etwas wortkarg. Kapil hat beim Fernsehen gearbeitet, zuerst für einen Jugendsender, dann für einen Sportkanal. Vor einer Weile gönnte er sich eine Auszeit, besuchte seinen Bruder in Kalifornien, reiste durch Europa. Zurück in Indien, gab es plötzlich nichts mehr zu tun für ihn. Seit fast einem Jahr ist er inzwischen ohne feste Arbeit, und langsam geht seine Geduld zu Ende. ‹Vielleicht muss ich doch noch nach Mumbai gehen›, sagt er resigniert. ‹Ich weiss genau, ich werde in dieser hektischen Stadt niemals zur Ruhe kommen. Aber was bleibt mir anderes übrig?› Auch hier in seinem geliebten Delhi ist der Ruf von Bollywood nicht zu überhören. Wie auch? Von jeder zweiten Plakatwand leuchten in grellen Farben die Verlockungen der Filmstadt Mumbai – und das Grinsen von Shahrukh Khan.
Tabla und Turntable Ein paar Tage später. Andy sitzt am Pool und blinzelt in die Sonne. Die Tour ist zu Ende, sein Auge ist immer noch komisch. Zum Ausklang der Reise ist Entspannung angesagt, in einem ruhigen Vorort des Städtchens Mangalore. Andy unterhält sich mit Manohar, dem 50-jährigen Manager des kleinen Hotels direkt an der Küste des Arabischen Meers. Der fragt gleich mehrmals ungläubig nach, als Andy von den Getränkepreisen in jenem Clubrestaurant in Mumbai erzählt, in dem er einige Tage zuvor aufgetreten ist. Jugendkultur findet in diesem Land der extremen Gegensätze teilweise in einem Ausmasse statt, das sich die Mehrzahl der Einwohner noch nicht mal vorstellen kann. Manohar ist praktizierender Hindu, rührt kein Fleisch und keinen Alkohol an und gibt generell viel auf
religiöse Werte. So wie Abermillionen anderer Inder auch. Seine grossen schwarzen Augen weiten sich immer mehr, bekommen gar einen feuchten Glanz, wenn er solche Dinge über die Dekadenz in der fernen Finanzmetropole zu hören bekommt und mit unglaublichen Zahlen konfrontiert wird. Sein Sohn ist Anfang zwanzig und ein talentierter Sprinter. Manohar kümmert sich um seine Karriere als Sportler, wo er nur kann, etwa indem er einen genauen Ernährungsplan für ihn aufstellt und dessen Einhaltung streng überwacht. Nach Mumbai wird er seinen Sohn so bald wohl nicht reisen lassen. Der Pool, an dem Andy faulenzt und blinzelt, ist inzwischen sauber gemacht, die Palmen und Büsche rundum sind mit Wasser versorgt. Sarathi, ein Mittzwanziger, der nebenan wohnt und sich im Hotel täglich um solche Arbeiten kümmert, kann sich eine Ruhepause gönnen. Sein Englisch ist von der eher gebrochenen Sorte. Aber es reicht, um sich bei Andy nach den Gepflogenheiten des Zwischengeschlechtlichen in Europa zu erkundigen. Ob das wirklich so locker sei, will er wissen. Ob es stimmt, dass man einfach mit einem Mädchen zusammen sein könne, danach mit dem nächsten und so weiter? Andy nickt fast belustigt mit dem Kopf. Und fragt, wie die Situation bei Sarathi selbst aussehe. Jetzt ist eine Spur von Fatalismus im breiten Lächeln unter Sarathis Schnurrbart. ‹Arranged›, sagt er. Es ist in Indien immer noch gang und gäbe, dass Hochzeiten vom Familienrat beschlossen und junge Menschen mit einem Lebenspartner zwangsbeglückt werden. Eine Tradition, die selbst in der High Society noch eine wichtige Rolle spielt. Manche können es sich auch gar nicht anders vorstellen, viele andere haben wiederum auf ihre Weise ihren Frieden mit den Traditionen gemacht. Ash von Jalebee Cartel zum Beispiel: ‹Mein Vater hat mir immer schon gesagt: «Warum spielst du nicht mit der Tabla zu deiner DJ-Musik?» Und ich dachte nur: «Wie stellt der sich das vor? Ich spiele doch nicht mit der Tabla zu House-Beats!» Aber heutzutage machen das plötzlich alle. Da habe ich mich an all die Dinge erinnert, die er mir schon vor Ewigkeiten gesagt hat. Vielleicht hätte ich damals auf ihn hören sollen!›
Leben nach fatalistischen Regeln:Â Die High Society ist ebenso zu ihrem Schicksal verdammt wie der Rikshaw-Fahrer.Â
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Tourist im eigenen Leben
Auswandern in einen anderen Kontinent, Neubeginn in einer fremden Sprache, das Leben auf Tour: ist von Ortswechseln die Rede, weiss der US - amerikanische SingerSongwriter Chris Garneau genau, wovon er spricht. Text und Interview: Martina Messerli
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eboren in Boston, zog Chris Garneau als Kind mit seinen Eltern nach Frankreich und verbrachte dort den grössten Teil seiner Jugend. Zurück in New York ergatterte sich der talentierte Schauspieler eine heiss begehrte Hauptrolle in der BroadwayProduktion ‹Frühlings Erwachen› von Duncan Sheik. Doch Garneau hatte eine andere Vorstellung vom Leben als Künstler und verzichtete zugunsten seiner Solokarriere auf das Ruhm versprechende Engagement. Als Singer-Songwriter tingelte er durch die kleinen Pianobars im East Village und in Manhattans Lower East Side, später mit seiner Band durch die halbe Welt. Drei Alben danach und das vierte bereits in Aussicht, scheint sich der sensible Musiker, dessen melancholischen, mit fragiler Stimme vorgetragenen Songs schon längst nicht mehr nur Insider begeistern, noch immer nicht wirklich an den Rummel um seine Person gewöhnt zu haben. Ungläubig, fast schon schüchtern erzählt er im Interview von seinen Erlebnissen auf Tour und von seinen Fans. Garneau, der erklärte Tierfreund und reichlich schräge Hüter kleiner Schätze, kombiniert Elemente aus Folk und Americana geschickt mit ruhiger Popmusik und spickt die kleinen, feinen, vom Piano getragenen Songs gerne mit einer Prise Troubadour-Romantik. Seine Musik, besonders auch seine Stimme werden gerne mit der von Rufus Wainwright verglichen. Garneau selbst zählt zu seinen Vorbildern die Perlen des Singer-Songwriter-Genres – Jeff Buckley, Nina Simone, Elliott Smith oder auch Chan Marshall von Cat Power – die, wie er selbst, ihr Publikum mit zauberhaft zerbrechlichen Songs umgarnen. kinki sprach mit Chris Garneau über sein Leben auf Tour, sein Zuhause sowie eine Epiphanie, die er bei einem Auftritt in China erlebte. kinki magazine: Wo fühlst du dich so richtig zu Hause, Chris? Chris Garneau: Schwierig zu sagen, aber im Moment ist New York mein Zuhause. Als Kind hat sich das Leben unterwegs sehr natürlich angefühlt. Nach Frankreich zu ziehen und dort zu leben, war für mich etwas Spezielles. Ich fand sehr viel Ruhe dort, und als jüngstes Familienmitglied konnte ich mich noch am besten an das Leben fern der USA anpassen. Wenn ich jetzt nach Frankreich zurück-
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gehe, fühlt es sich an, als hätte ich einen Teil von mir dort zurückgelassen. Was ist für dich der markanteste Unterschied zwischen den USA und Europa? Als ich in Europa gelebt habe, gab es eine grosse interkulturelle Akzeptanz. Oder zumindest waren die Leute sehr daran gewöhnt, mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen umzugehen. Ich habe die Europäer als sehr tolerant und pluralistisch erlebt. Während es in den USA doch vor allem den einen Weg zu denken und zu fühlen gibt. Die Amerikaner kümmern sich in erster Linie um Amerika, sie sehen weniger das globale Bild.
‹Einen Teil von mir hab ich in Europa zurückgelassen.› Du bist eben von deiner Europatour zurückgekehrt. Magst du es, auf Tour zu sein? Ja und nein. Diese letzte Tour war gut, weil sie lediglich eine Woche gedauert hat. Das Touren macht mich mittlerweile etwas müde. Es ist anstrengend. Geht es allein um den Auftritt, so geniesse ich es sehr zu performen. Es ist ein erfüllender Job und der Auftritt ist wirklich der beste Teil meines Lebens als Musiker. Aber alles andere, was mit dem Touren zusammenhängt, ist sehr ermattend. Dieses Jahr waren wir oft unterwegs und es fühlte sich ein bisschen so an, als ob ich immer weg war. Ich mochte das Touren früher mehr. Was ist denn das mühsamste am Touren? Am meisten nerven mich die langen Fahrten. Du sitzt im Bus und schaust nur aus dem Fenster. Dann kehrt an Tagen, an denen du auf Tour bist, auch nie Normalität ein. Na türlich ist es sehr schön, so viele unterschiedliche Leute und Fans kennenzulernen. Gleichzeitig ist es aber auch sehr anstrengend, sich immer wieder auf neue Leute einstellen zu müssen, die man nicht so gut kennt. Jeden Tag hängst du in einer anderen Bar rum, manchmal fühle ich mich wie ein Noma-
de. Doch man gewöhnt sich dran. Aber kurze Touren mag ich generell am liebsten. Alles, das kürzer als einen Monat ist, geht. Dauert es länger, beginn ich, die negativen Seiten zu sehen. Ab Januar bist du trotzdem wieder auf Tour durch China, Japan und Korea – ungewöhnliche Länder für einen amerikanischen Musiker. Weshalb gerade Asien? Die Leute, die uns an das asiatische Label vermittelt haben, sahen uns vor ein paar Jahren in Paris spielen. Sie schlugen vor, eine China-Tour zu organisieren und das klang sehr aufregend. Wir waren nicht wirklich sicher, was uns erwartet, aber ein Jahr später landeten wir dann für ein paar Wochen in China. Vor Kurzem wurden meine Alben dort veröffentlicht, weswegen wir unbedingt zurück wollten, um ein paar Shows zu spielen. Im Moment ist in den asiatischen Ländern sehr viel los. Es ist eine ganz andere Musikwelt. Auch dieses Mal gehen wir einfach drauflos und schauen, was passieren wird. Wie unterscheiden sich denn die chinesischen Fans von den Leuten, die in Europa oder in den USA zu euren Konzerten kommen? Jede Show ist anders. Es kommt immer auf die Stadt an, aber ich erinnere mich besonders an eine Show in Shanghai. Wir spielten den ersten Song unseres Sets. Es war der Opener des neuen Albums, und als wir den Song fertig gespielt hatten, erlebten wir einen extrem intensiven Moment. Niemand klatschte oder rührte sich. Die Leute standen einfach dort und starrten uns an. Wir wussten nicht recht, was wir tun sollten, schauten uns an und begannen dann mit dem nächsten Song. Nach dem zweiten Stück applaudierte das Publikum leise, und bei jedem weiteren Song gingen sie ein bisschen mehr aus sich raus. Die Leute, die das Konzert organisiert hatten, sagten uns später, das Publikum sei nach dem ersten Song einfach so erstaunt gewesen, dass sie fast erstarrt seien. Verglichen mit dem Westen touren in China nur sehr wenige Bands. Die Leute lassen sich daher viel mehr auf ein Konzert ein. Man empfindet bei ihnen eine sehr grosse Leidenschaft und irgendwie auch eine gewisse Dankbarkeit, die sie einem als Künstler entgegenbringen.
Dein erstes Album hiess ‹Music For Tourists›. Was hat es mit diesem Titel auf sich? Das hängt mit meiner allerersten Show in L.A. zusammen. Ich war gerade mal 21 Jahre jung und hatte noch keine Erfahrung mit Live Auftritten. Ich spielte also in dieser winzig kleinen Bar in North Hollywood, mitten im Touristenviertel, in dem die Themenparks, Filmsets und all dieser Kram zu finden ist. Dort kommen unvermeidlich auch eine Menge Touristen an deine Konzerte in den Bars und Clubs. Ein paar Leute, die am Konzert waren, kamen nach der Show zu mir und meinten: ‹Hey, ich mag deine Musik wirklich, aber ich versteh nicht ganz, weshalb du in diesem Teil der Stadt spielst. Du gehörst an Orte, an denen die Leute wirklich leben und die Stadt kennen.› Ich antwortete damals scherzhaft, dass ich eben ‹Music For Tourists› spielen würde, und taufte dann mein Album so. Später wurde der Albumtitel immer mehr zum Sinnbild für Menschen, die nicht unbedingt nur Touristen im eigentlichen Sinn des Wortes sind, sondern viel mehr Touristen in ihrem eigenen Leben. Leute, die durch ihre eigene Welt reisen, Dinge zum ersten Mal entdecken, Abenteuer erleben, also ziemlich genau das, was ich mit diesem ersten Album durchgemacht habe. Es war meine erste Auswahl an Songs. Songs, die ich schrieb während sich meine Persönlichkeit gerade entwickelte, während ich vom Teenager zu einem jungen Kerl heranwuchs. Plötzlich hatte der Titel, der zu Beginn bloss ein Joke war, an Be deutung gewonnen. Ein kleines Stück Heimat ist beim ewigen Touristen Chris Garneau auf Tour dennoch immer mit dabei. Der leidenschaftliche Lampenschirmsammler stellt, wo auch immer ihn seine Konzerte hinführen, als erstes seine Nachttischlampe aufs Elektropiano. Auch in diesem Jahr wird Chris Garneau trotz aller Widrigkeiten, die das Tourleben so mit sich bringt, erneut ‹on the road› sein, um sein aktuelles Album ‹El Radio› sowie frisches Material, an dem er zur Zeit arbeitet, in der Schweiz und in Deutschland vorzustellen. Foto: Kyle und Joff Das Interview in voller Länge findet ihr auf kinkimag.com/magazin. Mehr Informationen zu Chris Garneau gibt es auf: chrisgarneau.com myspace.com/chrisgarneau
Melancholisch und verträumt wie seine kleinen, feinen Songs: Chris Garneau.
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AMERICANA FASHION FotograFie Raphael Just styling Nadja Putzi Haare und Make Up Steffen Zoll modelS Martin R. und Inken B. @ Place Fotoassistenz Nadja Tempest RETOUCH Alex Herzog, reddepartment.com LANDSCHAFTSFOTOGRAFIE Jonas Leuenberger, kwest.ch Speziellen Dank AN Jonas, Iris, Emilie, Fabian, Blow-Up Studio, Alfonso, Tara und Bruna
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SEITE 81: Levi’s 501 1966, Levi’s Student Bomber SEITE 82: SIE: Levi’s Shorts, Levi’s Workshirt, ER: Levi’s 501, Levi’s Check Shirt SEITE 83: Levi’s 501 For Woman, Levi’s Blouse SEITE 84: SIE: Levi’s Chino, Levi’s Trucker Jacket, ER: Levi’s Modern Chino, Levi’s Trucker Jacket
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SEITE 85: Levi’s Trucker Jacket, Levi’s 501 SEITE 86: 613 Shorts, Vacation Tank, Levi’s Biker Jacket SEITE 87: Levi’s 511, Levi’s Denim Shirt
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‹vertreter› Über die wichtigsten Schuhe von damals bis heute. Name: Trekkingsandale Geburtsjahr: frühe 90er Typ: Wanderpartner Funktion: Frischluft für die Füsse
Wer nur alle zwei Wochen mit einer Dusche rechnen kann, der sollte Schweissfüsse tunlichst vermeiden. Die Trekkingsandale ist daher ein absolutes Muss für Globetrotter und Tramper.
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m Schluss ihrer 60er-Jahre-Hymne ‹These Boots Are Made for Walking› zwitschert Nancy Sinatra unschuldig und unbekümmert: ‹Are you ready boots? Start walking!› Wenn man die blonde Nancy dann in ihren schwarzen Lederstiefeln sieht, weiss man, dass die Wanderung nicht von langer Dauer sein kann. Auch Jessica Simpson war es anzusehen, dass mit Cowboystiefeln nicht gut wandern ist. Für eine durchschnittliche Autowäsche plus öffentlicher Zurschaustellung des eigenen Körpers hat es dann aber doch gereicht. Dabei müsste die gute Frau Simpson doch wissen, dass es eine bequemere Alternative zu roten Cowboystiefeln gibt. Denn eigentlich stammen Trekkingsandalen aus Amerika, wo man sie vor allem in warmen Regionen zum Wandern gebraucht. Ausserdem sind Sandalen die älteste Form des Schuhs. Schon unsere steinzeitlichen Vorfahren hatten ein Faible für die Wandersandale. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass selbst der Ötzi mit Sandalen auf
Gletschertour war, bevor er Opfer eines mysteriösen, bislang ungeklärten Verbrechens wurde. Das Geflecht aus Schnüren mit einer Isolation und Polsterung aus Gras und Leder eignete sich ideal für den Sommer. Doch wie die Funde auf dem Ötztaler Gletscher zeigen, kann man mit Wandersandalen ebenso in kältere Zonen vordringen, was etwa die Römer bewiesen haben. Sie eroberten nämlich vor rund 2 000 Jahren Schritt für Schritt selbst jenseits der Alpen ein Land nach dem anderen.
Ab an die frische Luft Heutzutage wird das Fussbett auf einer dicken, meist rundum überstehenden Sohle getragen. Zwei bis drei Klettverstellungen und in der Regel ein Schnallenverschluss am Rist bieten eine individuelle Befestigung. Derart ausgestattet kann man meilenweit wandern. Dabei ist die ästhetische Funktion augenscheinlich der medizinischen untergeordnet. So ermöglichen diese Treter, dass die Füsse nicht nur in der sommerlichen Hitze schwitzen können, sondern vor allem auch atmen dürfen. Gleichzeitig bekommen sie so eine gesunde Sommerbräune ab. Und apropos Gesundheit: Gesunde Ernährung ist ja schön und gut, aber ein wirklich heilsamer Lebensstil kann doch durch das richtige Schuhwerk erst perfektioniert werden. Wer möchte sich denn schon bei gefühlten 36 Grad in einer Schweisssauna aus Plastik aufhalten? Niemand. Und als Jesuslatschen werden Trekkingsandalen sowieso nicht mehr abgestempelt. Mittlerweile hat die Form Kultstatus erreicht und wird auch in hochwertigeren Materialien aus Leder hergestellt. Ihre absolute Bequemlichkeit wird immer noch hoch geschätzt. Jeder, der schon mal auf der anderen Seite des Globus auf Wanderschaft war, weiss wie verlässlich dieser Wanderpartner doch sein kann. Und echte Globetrotter schauen bei der Partnerwahl sowieso immer erst na ihr wisst schon wohin: auf die Füsse. Text: Julian Stoss Illustration: Patric Sandri
DVD Release 01.04.010
DVD & BluRay Release 18.02.010
DVD & BluRay Release 26.02.010
DVD & BluRay Release 18.03.010
DVD & BluRay Release 18.03.010
DVD & BluRay Release 12.03.010
SETH ROGEN & ELIZABETH BANKS in «ZACK & MIRI MAKE A PORNO»
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KUNST GEGEN dIE KRISE Lettland hat keine einfache Geschichte. Jahrelang stand es im Schatten der Grossmächte, sucht noch heute nach seiner wahren Identität und ringt hart mit den Auswirkungen der Finanzkrise. Umdrängt von all diesen Problemen, findet sich hier vielleicht gerade deshalb eine interessante Kunstszene. Denn in Lettland wird man nicht Künstler, um hip zu sein, sondern um etwas zu bewegen. Text: Xymna Engel, Fotos: Ansis Starks
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Kunst zu zweit: das Künstlerpaar Miks Mitrēvics und Kristīne Kursiša in der ‹VKN-Galerie› während ihrer Ausstellung ‹Entropy Cube›.
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Zane Onckule wollte jungen K端nstlern in ihrer Supernova Gallery eine Plattform bieten. Die meisten Leute kamen allerdings nur wegen des billigen Kaffees.
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uf dem Tisch des Schweizer Botschafters in Riga stapeln sich Anträge für Auslandsstipendien – es sind vor allem die Jungen in Lettland, die von einer Zukunft fern von existenziellen und gesellschaftlichen Problemen träumen. Verlassene Baugerüste, unbewohnte Plattenbauten und marode Mauern prägen vielerorts das Stadtbild Rigas. Die Strassen sind oft leer, runzlige Frauen fegen Laub, verdienen sich so ein paar Lats, die wohl nicht mal für ein Bier reichen. Die Leute begrüssen sich oft nur knapp und wahren Dis tanz. Küsschen hier, Küsschen da: gibt es kaum. Hinter der harten Fassade stehen aber oft sehr kommunikative, freundliche und kreative Menschen. Man sehnt sich nach Wärme, will sich aber gleichzeitig weiter dieser melancholischen, seltsamen Stimmung hingeben. Erik Saties Klavierkompositionen wären der passende Soundtrack für das Durchstreifen der malerischen kleinen Gassen der Altstadt. Ein Hauch von Fin de Siècle und Jugendstil gesellt sich zu Mittelalter und Moderne.
Hundert Ideen – null Budget Man könnte meinen, die Möglichkeiten seien unmöglich geworden. So zieht es auch viele Künstler in den ‹stabileren› Westen: Berlin, Amsterdam, London. Ieva Astahovska, Leiterin des Lettischen Zentrums für Gegenwartskunst, nimmt ihre Umgebung jedoch als äusserst lebendig wahr: ‹Vielleicht hat die Wirtschaftskrise auch etwas Gutes. Die Leute müssen kämpfen, sie haben mehr Motivation, etwas zu verändern. Es ist eine neue Welle, die die Menschen zwingt, Dinge anders zu betrachten, kreativ zu sein und die limitierten Räume zu sprengen.› So gibt es auch viele junge Künstler, für die Riga und die umgebende malerische Landschaft Heimat und Inspiration sind. Während in der Schweiz Politiker und Kulturvertreter nach Lösungen suchen, wenn Tageszeitungen vor dem Ruin stehen, werden in Riga diskussionslos die Kulturteile gestrichen und visionären Projekte wie dem Museum für Gegenwartskunst die finanzielle Unterstützung gekürzt. Der Staat halbiert das Kulturbudget, aber die Künstler schöpfen dafür aus ihrem Reichtum an Ideen. In einer alten Markthalle wurde letzten Sommer das Kulturzentrum ‹Kim?› eröffnet, dessen Café schnell zum Treffpunkt der Szene avancierte. Hier sitzt der Chef der populärsten Modelagentur Lettlands mit Martins Dambergs, dem Gründer des Zentrums an der KalnciemaStrasse, zusammen, ein russischer Jungliterat stöbert in der eingegliederten Bibliothek, Grafiker arbeiten auf ihren MacBooks im Takt des Ambient-Sounds. Der ehemalige Kunststudent Martins und sein Bruder retten aus abbruchreifen Häusern den Rohstoff, um alte Holzhäuser zu renovieren. Sie wollen dem in Stadtnähe liegenden Quartier an der Kalnciema-Strasse ein neues Gesicht verleihen und etwas in den Köpfen der Leute aufbauen. Neben dem Café
hat das international erfolgreiche Künstlerpaar Miks Mitrēvics und Kristīne Kursiša in der ‹VKNGalerie› die Ausstellung ‹Entropy Cube› aufgebaut. Der Ausstellungsraum als klinisch weisser Kubus wird dem Lauf der Zeit unterworfen. Auf die Wände werden Risse gezeichnet; ein blattloser Baum, ein Vogelkäfig ohne Vogel, Rauchschwaden und Spinnennetze künden vom Verfall und unaufhaltsamen Fortschreiten der Zeit. Man könnte meinen, auch der gesellschaftliche und ökonomische Verfall Lettlands würde hier prognostiziert.
Design mit Drive ‹Zeit macht aus einem Gerstenkorn eine Kanne Bier.› In diesem lettischen Sprichwort schwingt auch viel Hoffnung und Optimismus mit. ‹Kim?› bietet nicht nur Möglichkeiten für Künstler, sondern auch für die Gesellschaft. Hier soll eine Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur stattfinden. ‹Das gegenwärtige Problem in Lettland ist, dass es nur wenig Kritik und Reaktionen auf Kunst gibt. Die Gesellschaft ist noch nicht wirklich bereit dafür›, meinen die beiden Künstler, die auch international sehr erfolgreich sind und die unberührten Plätze und die Rauheit des eigenen Landes als ihre primäre Inspirationsquelle und ihr Schaffenszentrum bezeichnen. Das Interesse der Bevölkerung an Kunst und Design ist nach wie vor nicht sehr gross. ‹Viele können nicht verstehen, was eine als künstlerisch definierte Bank von einer Bank aus dem Baumarkt unterscheidet›, meint Rihards Funts, Initiator des Projekts ‹Design Drive›. Er engagierte vor einem halben Jahr rund 20 Designer, nicht nur um die Design-Szene zu vernetzen, sondern vor allem um die Bevölkerung und den internationalen Markt mit lettischem Design vertraut zu machen. ‹Hinter jedem Objekt steht mehr als nur seine Form, deshalb arbeiten wir mit einem Philosophen zusammen, der hinter
‹Hinter jedem Objekt steht mehr als nur seine Form.›
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die Gegenstände blickt.› Als bewegliche Ausstellung versucht Design Drive öffentliches Interesse zu erregen, zur Zeit in der jungen Galerie ‹Tasty›. Der Boden ist dort mit Stroh bedeckt: es soll der Eindruck entstehen, man befinde sich auf dem Land. Auf einem futuristisch gestalteten Tisch ist eine Backform ausgestellt, die dem Kuchen die Form eines Hauses gibt. ‹Dies ist das erste seit langem fertiggestellte architektonische Projekt in Lettland›, scherzt Rihards ironisch. Doch die Situation in Lettland ist ernst. Die Arbeitslosigkeit ist gravierend, die Existenzangst der Leute ist spürbar. ‹Ich lebe sehr gerne in Riga›, fährt Rihards fort, ‹aber ich habe hier kaum Möglichkeiten, mich auszudrücken. Ich denke, das ist der Grund, weshalb es viele Künstler ins Ausland zieht.› Ein Kunstwerk muss in Kommunikation mit den Menschen treten, um zu wirken. Dabei ist das Interesse an lettischem Design im Ausland sehr gross. Design Drive wird immer wieder auf internationale Ausstellungen eingeladen; die vielen verschiedenen Materialien und die eigenwillige Formsprache stossen auf reges Interesse.
Arbeiten im Schatten ‹Ich habe das Gefühl, jeder lebt hier auf seiner eigenen Insel›, meint Ieva Astahovska. Der Fotograf und Künstler Kaspars Lielgalvis hat daher vor drei Jahren ein Projekt ins Leben gerufen, um mehr Zusammenhalt in der Kunstszene zu erreichen: In einer ehemaligen Textilfabrik in der Agglomeration von Riga hat er mit Freunden das ‹VEF› aufgebaut. Hier finden Modedesigner, Fotografen und Künstler auf 3000 m² günstige Ateliers für ihr Schaffen. Die Ateliers stehen auch Besuchern offen, und in den leeren Fabrikräumen findet Neues neben Zerfallenem Platz. Für die Künstler hat die Wirtschaftkrise hier etwas Gutes an sich. Das auf drei Jahre begrenzte Projekt geht nun in die Verlängerung,
da sich zur Zeit keine Investoren finden, die sich für die grosse Fabrikanlage interessieren. Die Diskussion über Kunst und auch die Kunst an sich sieht Kaspars sehr pragmatisch: ‹Wir gehören zwar zu Europa, sind aber trotzdem irgendwie nirgendwo.› Es gibt heute weniger gesellschaftskritische Kunst, die Unschuld ist verloren gegangen. Viele Kunstwerke basieren vor allem auf Form und Material. Was in den letzten Jahren trotz geringer Subventionierung realisiert worden ist, lässt jedoch erahnen, wozu Riga fähig sein kann. Im ‹Dirty Deal Café› tüfteln DJs an ihren Mischpulten; junge Leute besuchen das unabhängige Kino, das Theater oder nehmen an Workshops teil. Auch das ‹RIXC›, das Zentrum für neue Medienkultur, vereint seit einigen Jahren Klangkünstler, Musiker und sonstige Kreative. Zudem unterstützt das alternative Verlagshaus ‹Neputns› mit seinen Publikationen zu Kunst, Design und Fotografie die Bildung einer lebendigen Kultur. Bis vor kurzem gab es kaum Galerien. Zane Onckule, Leiterin der vor einem halben Jahr eröffneten Galerie ‹Supernova›, wollte anfangs jungen Kunststudenten eine Plattform bieten – viele Leute kamen jedoch nur wegen des billigen Kaffees. Die Kaffeemaschine wurde weggeräumt, die Idee von kommerziellem Kunsthandel wich dem Konzept internationaler Kunstvermittlung. ‹Why We Worry› hiess die letzte Ausstellung, die von der Neuen Galerie Bern organisiert wurde. Vier junge Schweizer Künstler zeigen in ihren Werken, in welchen Sorgen sie sich verstricken. Es wird Selbstkritik geübt und persönliche Ängste werden dargestellt: Leistungsdruck, Kapitalismus, die Suche nach Glück. Viele Einheimische kommen an die Eröffnung, das Interesse an den Sorgen, die sich junge Leute in der ‹reichen› Schweiz machen, ist gross. Dabei ähneln sich die Sorgen von Schweizern und Letten in vielen Punkten: Wie es weitergehen soll, wie kreative Projekte realisiert werden können, wie man glücklich werden kann – der Gegensatz von Gegenwart
und Vision. Besonders der künstlerische Nachwuchs Lettlands spürt die Unvereinbarkeit dieses Gegensatzes. Das Licht wird gedämmt, die Überwachungskameras dafür angeschaltet. Die Hochschule der Künste schliesst für eine Woche die Türen, um die Kosten für Heizung und Strom zu sparen. Die neue Generation von Künstlern vermisst auch hier den internationalen Weitblick und eine kritische Reflexion. Der Unterricht gilt als veraltet und konservativ.
Fall nach oben? In einer Bar namens ‹Cuba› – was in einem ehemals kommunistisch geleiteten Land, das mit nur zwei Sommermonaten im Jahr gesegnet ist, seltsam klingt – wachsen Blumen in Konservenbüchsen. Auch die aufblühende Kultur Lettlands hat einen konservativen Charakter. Sie ist zur Zeit in einer Konservenbüchse der Marke Wirtschaftkrise gefangen. Doch auch in einer Konservenbüchse können frische Blumen wachsen. Die Letten mussten schon immer improvisieren, und hier liegt wohl auch ihre Stärke. Defizite werden zu Chancen: ‹Es gibt so viele ungelöste Probleme in Lettland, aber irgendwie macht dies das Leben auch interessant›, sagt Kaspars zum Schluss des Gesprächs. In vielen Künstlerköpfen in Riga entstehen neue Möglichkeiten. Ein Land im Schwebezustand kann entweder abstürzen oder genau daraus seine Kraft schöpfen.
‹Es gibt so viele ungelöste Probleme in Lettland, aber irgendwie macht dies das Leben auch interessant›. 94 kinki
Sebastien Verdon in der Supernova Gallery vor seinem Kunstwerk. ‚Why We Worry› lautete der Titel der Ausstellung.
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‹top notch gallery› Die besten Adressen für junge Kunst. Wie kann ein Ort, an dem in der Vergangenheit Einkaufswägen herumgestossen wurden und die Wände höchstens mit übergrossen Aufnahmen von Essiggurken verschönert wurden, plötzlich zu einer wahren Perle der Kunst werden? Die ‹vagabundierende Galerie artacks› macht’s möglich.
U Unter den Händen und Sprühdosen von etwa 20 Sprayern wurde aus der ehemaligen MigrosFiliale am Berner Loryplatz ein Ausstellungsraum der besonderen Art.
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rban Art, Streetart und Konsorten sind manchem ein Dorn im Auge oder, besser gesagt, etwas, woran sich Geister scheiden können. Und während manch einer die ganze Lebensphilosophie dahinter zu absorbieren und zu leben scheint, wollen andere dieser jungen Form der Kunst oftmals keine Daseinsberechtigung zugestehen. Schade drum, denn häufig entpuppt sich die Urban Art als wahre Perle, und zwar dann und auch dort, wo man es am wenigsten erwarten würde. So geschehen ist das in der ehemaligen Migros-Filiale am Berner Loryplatz, die die wandernde Galerie ‹artacks› Ende Dezember 2009 für das Projekt ‹Wallume I› in einen Ausstellungsraum der etwas anderen Art verwandelte. Wo in der Vergangenheit Schweinebauchanzeigen und
‹3 für 2›-Angebote die Wände dekorierten, wuchsen in Zusammenarbeit mit über 20 Schweizer Malern und Sprayern Einzelbilder zu einem grossen Gesamtkunstwerk zusammen. Dass das Ganze nicht zu einem Gemischtwarenladen unterschiedlicher Styles verkam, ist einer simplen Gestaltungsvorlage von artacks zu verdanken: als einzige Grenze ihrer kreativen Freiheit mussten sich die Kunstschaffenden auf die Farben Schwarz und Weiss beschränken.
Der Reiz des Temporären Dabei ist diese Aktion nicht die erste, die artacks auf die Beine stellte. So organisierte die Galerie mit ‹GOIN’OUT› bereits ein Installationsprojekt in einem Schiffscontainer auf dem Berner Waisenhausplatz. Und am Strassen-
festival ‹Buskers› produzierte artacks letzten Herbst schliesslich mit ‹Take Away› auf der Münsterplattform vor Ort Kunst – zum taufrischen Kauf und sofortigen Mitnehmen. Die Faszination für schnelle und kurzlebige Kunst zieht sich wie ein roter Faden durch alle Projekte. So mussten die im Rahmen von ‹Wallume I› bemalten Wände nach den glorreichen Tagen im Rampenlicht der ehemaligen Migros zu guter Letzt doch Farbrollern und weisser Farbe weichen: die Räumlichkeiten wurden komplett geweisselt, die Existenz des kreativen Spielplatzes, den artacks geschaffen hatte, wurde ausradiert. Dieses Schicksal gehört für die vier Freunde, die hinter artacks stehen, fest zum Konzept dazu. Nach ihrer Philosophie zeichnet nämlich gerade ihre Vergänglichkeit die besondere Kunstform aus, die die Non-Profit-Organisation fördert. Die Ausstellungen, die Mike, Sandro, Sébastian und Patrick organisieren, zielen daher stets auf den Moment, anstatt auf die Ewigkeit. Ein ausführliches Interview mit Sébastian Lavoyer und eine umfassende Gallery zu Wallume findet ihr diesen Monat unter kinkimag.com/magazin, ausserdem weitere Info zu der Galerie auf artacks.ch. Text: Anja Mikula Fotos: artacks
Distribution Schweiz: ThreeLogy GmbH, +41 (0)43 477 88 66, www.stussy.com
Bury the Jumbo
Wir begraben einen Jumbojet. Mit diesem Motto riefen die beiden Initianten von ‹Bury the Jumbo› ein weltweit einmaliges Projekt ins Leben, dessen Ziel es ist, Kreativschaffende aus aller Welt zu fördern und damit die Welt nachhaltig positiv zu verändern. Text: Martina Messerli, Fotos: Pascal Scandola, Janis Weidner
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ass der Weg in diesem Fall das Ziel ist, wird im Gespräch mit den beiden Initianten, dem ‹Captain› und ‹Bury›, schnell klar. Denn bei ‹Bury the Jumbo› geht es nicht einfach nur um das Begraben eines Jumbojets, sondern darum, kreative Menschen in einer Internet-Community zu vereinen und Kollaborationen zu fördern. Gewiss, ‹Bury the Jumbo› ist nicht die erste Community, in der kreative Köpfe projektorientiert zusammenarbeiten, doch was das Projekt so einzigartig macht, ist das übergeordnete Ziel, an dem gemeinsam gearbeitet wird und mit dem sich die Mitglieder identifizieren. Beitreten kann der Community, die derzeit rund 500 Mitglieder zählt, jeder, der in irgendeiner Form einen Beitrag leistet. Der Beitrag kann finanzieller Natur sein, ebenso gut kann es aber auch eine Materialspende sein. Wer Bury und dem Captain zum Beispiel auf ihrer Europatournee im letzten Herbst Kost und Logis gewährte, wurde Mitglied der Community. Der kleinste monatliche Mitgliedsbeitrag beläuft sich auf 2,50 $, eine Summe, die niemanden von diesem Projekt ausschliessen sollte. Das Spendenkapital wird im vollen Umfang zur Realisierung der Vision und der daraus abgeleiteten Ziele verwendet. Konkret bedeutet das: Wer Mitglied ist, kann den Verlauf des Projektes demokratisch mitbestimmen und darüber entscheiden, welche von der Community erbrachten, kreativen Vorschläge umgesetzt werden sollen. Möglichst vielen Kreativschaffenden soll so die Möglichkeit gegeben werden, ihre Ideen in die Tat umzusetzen.
‹Our narcism is viewable from space› Das ganze Projekt basiert auf den drei Grundsätzen Fairness, Transparenz und Nachhaltigkeit. Fairness wird durch das demokratische Abstimmungssystem auf der Website garantiert. Jedes Mitglied der Community verfügt über eine einzige Stimme – und zwar ganz unabhängig davon, wie hoch die Spende war. Dadurch kann sich niemand zu seinen eigenen Gunsten exponieren und die anderen Mitglieder ausnützen. Um Transparenz zu bewahren, wird das Projekt ständig von einer Videokamera 98 kinki
begleitet, um die Filme danach im Blog zu veröffentlichen. Auch die Finanzierung des Projekts bleibt kein Geheimnis, die Bankauszüge sind jederzeit online einsehbar. Dies soll verhindern, dass Spendengelder sinnlos verjubelt werden, respektive in die Taschen einzelner Leute fliessen. Der Nachhaltigkeitsaspekt liegt auf der Hand. Durch das Vergraben einer ausrangierten Boeing 747 setzt die Community ein Zeichen für die Ewigkeit und schafft nebenbei ein Netzwerk, das auch nach dem Begräbnis in voraussichtlich fünf Jahren noch Bestand haben wird.
Trauermarsch durch Zürich Bei ‹Bury the Jumbo› soll nicht nur jeder mitmachen können, die Absicht von BTJ ist es auch, Kunst möglichst vielen Leuten zugänglich zu machen. Bury und der Captain wehren sich deshalb vehement gegen die elitäre Abschottung gewisser Künstlerkreise. Unter dem Leitsatz ‹Kunst ist Kultur ist ein Allgemeingut› finden die BTJ-Aktionen denn auch im öffentlichen Raum statt – ohne Eintrittskosten oder andere Zugangsbeschränkungen. Im Rahmen einer solchen Aktion wurde der Jumbo im Juni letzten Jahres bereits symbolisch unter der Zürcher Langstrasse begraben. Nach dem Motto ‹The Jumbo is dead – let’s bury the Jumbo› fand ein Funeral March statt. Die obersten dreieinhalb Meter einer eigenhändig und originalgetreu nachgebauten Jumbo-Heckflosse wurde zu den Klängen des Tonhalle-Orchesters von zwei Pferden durch die Zürcher Innenstadt gezogen, um danach auf der Terrasse der Galerie Perla-Mode vorübergehend ihre letzte Ruhestätte zu finden. Die Heckflosse zierte ein Zitat der PerformanceKünstlerin Frances Belser, visuell umgesetzt vom Schweizer Graffitipionier Pirmin Breu. Die selbstkritische Botschaft ‹Our narcism is viewable from space› beschreibt den Grössenwahn in unserer Gesellschaft, immer noch höher und weiter hinaus zu wollen. Und sie steht symbolisch für die Vision von Bury the Jumbo: dieses Treiben einerseits mit dem grössten Kunstprojekt aller Zeiten toppen zu wollen, den Jumbo andererseits als Symbol des Protzes der 70erJahre endgültig zu begraben und das Zeitalter der Kreativschaffenden einzuläuten. Ganz bewusst wurde darauf verzichtet, den Schriftzug ‹Bury the Jumbo› auf der Heckflosse grösser
in Szene zu setzen. Der mit solchen Aktionen geschaffene Raum soll ganz den Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung stehen. Aktionen wie der Funeral March sind öffentlichkeitswirksam, lösen aber immer auch Unverständnis und kritische Fragen aus. Zum Beispiel die Frage, wie sich denn nachhaltiges, ökologisches Handeln mit dem Verbuddeln eines Jumbojets vertrage. Der Captain winkt ab. Das seien rein technische Fragen, die im Vergleich zum Abfallproblem einer Millionenstadt relativ einfach gelöst werden könnten. Auch die Frage, weshalb die Utopisten die rund drei Millionen, die für die Umsetzung aufgebracht werden müssten, nicht einfach direkt an ein soziales Projekt spenden, lassen die beiden nicht gelten. Zu kurzfristig gedacht sei dieser Einwand, BTJ sei längerfristig und nachhaltiger angelegt. Gehe der Plan auf, so würde durch die kreativen Aktionen weit mehr Geld als die veranschlagten drei Millionen zusammenkommen, das dann in einem nächsten Schritt in philanthropische Projekte investiert werden könne. So sehen sich die beiden denn auch nicht als militante Weltverbesserer. Sie sind jung, soziales Handeln und Ökologie sind eine Selbstverständlichkeit, die sie leben. Mit dem Projekt ‹Bury the Jumbo› sprechen sie nicht nur davon, die Welt zu verbessern, sie tun es einfach und verleihen dem Kulturbegriff eine neue Bedeutung. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass ein Projekt dieses Umfangs mit Knochenarbeit verbunden ist und seine Drahtzieher, die nebenher regulären Jobs nachgehen, viel Kraft kostet. Die Freiheit, das tun zu können, worauf sie Lust haben, sowie die vielen interessanten Begegnungen und der Spass, den das Projekt mit sich bringt, verleihen ihnen jedoch genug Energie, um mit sichtlich viel Begeisterung und noch mehr Herzblut alles geben zu können, meinen die Initianten. Sollte ihr Plan aufgehen, bestimmt natürlich die Community auch, wo der Jumbo begraben wird. Am liebsten wäre dem Bestatter Bury ein Ort, der möglichst vielen Leuten zugänglich ist. Sicherheitshalber haben sie auf ihrer Europatournee den Umriss des Jumbos schon mal zu Füssen des Pariser Eiffelturms abgesteckt. Mit Heringen. Gespendet von der Schweizer Botschaft in Paris. Weitere Info unter burythejumbo.com, francesbelser.com und pirminbreu.com.
Grössenwahn oder Weltkultur revolution? Der Captain und Bury von ‹Bury the Jumbo›.
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JACKSON Eaton was NEVER MARRIED
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Wer in einem Ort namens Denmark irgendwo auf dem australischen Kontinent geboren wurde, der muss wohl fast zwangsläufig zu jemandem werden, der bestrebt ist, die Leute zu frappieren. So auch eben jener Jackson Eaton, dessen hier gezeigte Arbeiten Bestandteil der Kollaboration mit der koreanischen Fotografin Hasisi Park sind. Das Projekt, das genau 999 Tage an dauerte, enthüllt das Intimleben des Paares und setzt sich zugleich kritisch mit den Stereotypen einer koreanisch-westlichen Beziehung auseinander. Die Serie verweigert sich spielerisch einem klischierten Bild von Liebe und offenbart dem Betrachter stattdessen ein Gefühl von Ehrlichkeit und unberührter Rohheit, das sich Liebe nennt. Text: Anja Mikula
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Illustration: Lina Müller, Patric Sandri Bildbearbeitung, Grafische Gestaltung: Anja Mikula | anja.mikula@kinkimag.ch Anna-Tina Kessler | anna-tina.kessler@kinkimag.ch Dominic Rechsteiner | dominic.rechsteiner@kinkimag.ch Lektorat: Peter Rösch | peter.roesch@kinkimag.ch Promotion: Denise Bülow | denise.buelow@kinkimag.ch Franziska Bischof | franziska.bischof@kinkimag.ch
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zwei Kinotickets für ‹A Single Man›
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Druck: Werk zwei Print + Medien GmbH Ausschneiden und ab damit an: Aurum Communication AG c/o kinki magazine Mööslistrasse 3 8038 Zürich *solange der Vorrat reicht – first come, first serve!
Einzelverkauf/Abonnement: CHF 6/ 4 (pro Ausgabe)/CHF 58/ 50 (11 Ausgaben) Vertrieb Schweiz: VALORA AG, www.valora.com Vertrieb International: Axel Springer Verlag Vertriebs GmbH, www.asv-vertrieb.de Die nächste Ausgabe gibt es ab dem 15. März!
‹media› Vom Umschlag bis zum Abspann. ‹Was brauchen Schriftsteller zu reisen, solange sie Phantasie haben?›, fragte sich einst Robert Walser. In dieser Hinsicht führen unsere medialen Empfehlungen euren Körper nicht weiter als zur Buchhandlung oder zur Videothek um die Ecke, euren Geist jedoch über jegliche Grenzen hinweg. Denn wie der Schweizer Dichter schon vor hundert Jahren wusste: ‹Wichtig ist nur die Reise zu sich selbst.›
BUCH whisky
Jack Kerouac: Unterwegs Wenn wir schon beim Reisen sind, dann kommen wir um einen Kultautor nicht umhin: Jack Kerouac. Der Franco-Kanadier schrieb mit seinem Buch ‹Unterwegs› – das ich in der englischen Fassung ‹On the Road› deutlich bevorzuge – ungewollt das Manifest der Beat Generation. Geprägt von Rastlosigkeit, getrieben von Alkohol, Drogen und Sex sowie begleitet von den musikalischen Klängen des Bebops zählt Kerouacs autobiografischer Roman zu einem der Hauptwerke der Beat Generation. Er erzählt vom ziellosen Sich-Treibenlassen vom einen Hangover über die nächste Frau und Party zum folgenden Absturz. Ob mit Bus, Lkw, Zug oder Auto: Dean Moriarty und Sal Paradise – die Pseudonyme von Jack Kerouac und seinem durch ihn zur Legende gewordenen Freund 110 kinki
Neal Cassady – bleiben stetig in Bewegung und trampen auf der Suche nach dem erfüllenden Rausch über den nordamerikanischen Kontinent bis nach Mexiko. Die Subjektivität, die Sprunghaftigkeit und direkte Umgangsprache Kerouacs ebneten literarisch den Weg für den New Journalism. Die Abenteuerlustigkeit und die jugendlichen Ansichten, die verloren zwischen Kunst und politischen Gedanken oszillierend von der amerikanischen Gesellschaft abwichen, wurden inhaltlich zum Lebensgefühl der Beatniks. Erschienen bei rororo Taschenbücher, CHF 16.90
wodka
Wenedikt Jerofejev: Reise nach Petuschki Wie übersteht man am besten eine stundenlange Zugreise von der Hauptstadt in die Einöde Russlands? Indem man den wirklich besten Freund des Menschen, den Alkohol, mit auf Reisen nimmt und ihn sich, je länger die Reise, um so tüchtiger einverleibt. So zumindest pflegt es der russische
Schriftsteller Wenedikt Jerofejev zu tun, der seinen von Spiritus und Weltüberdruss beseelten Romanhelden Wenitschka über den Roman und die Zugfahrt hinweg inbrünstig über das transparente Gold referieren lässt. Eine wahre Saufphilosophie gibt Wenitschka in den endlos erscheinenden Stunden zwischen Moskau und Petuschki von sich. Ob im Gespräch mit sonderbaren trinkenden Mitreisenden oder im Monolog – Wenitschka räsoniert über sein von Misserfolgen geprägtes Leben und offenbart neben erprobten Trinkgewohnheiten auch zahlreiche (kritische) Gedanken über die russische Gesellschaft. Schon vor der ersten Veröffentlichung 1973 wurde das Buch als Untergrundliteratur herumgereicht, besondere Resonanz fanden dabei die alkoholischen Mixturen, die von der Bevölkerung der damaligen Sowjetunion eifrig nachgemischt wurden. Die Rezeptur des ‹Geistes von Genf› lautet beispielsweise: 50 g Weisser Holunder, 50 g Antifussschweisspuder, 200 g Shiguli-Bier und 150 g Spritlack. In anderen Cocktails verwendet Wenitschka Antischuppenmittel, Nagellack oder Rasierwasser als wertvolle Ethanollieferanten. Gegen Ende des Buches verliert sich der zusehends betrunkenere Erzähler immer mehr in abstrusen, surrealistischen Schilderungen und die Reise an sich wird dem Leser immer suspekter, bis er nicht mehr
weiss, ob er der Zugfahrt und den apokalyptischen Abgründen, die das Leben Wenitschkas und somit das Buch beenden, noch Glauben schenken soll. Erschienen beim Piper Verlag, CHF 17.90
schampus
David Foster Wallace: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich Als sich David Foster Wallace im Alter von 46 im September 2008 erhängte, hinterliess er neben einer trauernden Familie eine beeindruckende Fangemeinde. Zurück blieben auch eine Hand voll Bücher, die zum Besten gehören, was in den letzten Jahren in den Staaten veröffentlicht wurde. Für ‹Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich› unterzog sich Wallace einem Selbstversuch. Im Auftrag des Harper’s Magazine begab er sich an Bord eines Luxuskreuzfahrtschiffs, um eine Reportage über seine Erlebnisse zu verfassen. Das Buch ist die Antwort auf die Frage, was passiert, wenn ein bekennen-
der Agoraphobiker wie Wallace sich zusammen mit weit mehr als tausend Urlaubern für sieben Tage auf ein 47 255 Tonnen Schiff begibt. Wallaces Beobachtungen offenbaren einen kritischen Blick auf die Erlebnisse an Bord, Liebe zum Detail, Sprachtalent und einen immer wieder von Tragik durchzogenen Humor.
DVD irrational
Erschienen beim Mare Verlag, CHF 30.90
cocktail
Juxtapoz Photo Jährlich bringt das amerikanische Kunst- und Kulturmagazin ‹Juxtapoz› ein Spezialheft heraus, das sich der zeitgenössischen Kunst widmet. Nach Büchern zu Illustration, Tattoo- oder Posterkunst vereint die aktuelle Buchedition zahlreiche seit 1994 gezeigte Fotografen. Geradezu erleichtert spricht sie damit einen Toast auf die künstlerische Fotografie aus, welche die Macher im letzten Jahrzehnt durch elektronische Entwicklungen wie Digital- und Handykamera sowie virtuelle Plattformen wie MySpace und Flickr als Kunst und Handwerk gefährdet sahen. Wie sich in den letzten Jahren jedoch abzeichnete, haben sich die Künstler gegen das Hobbyfotografentum durchgesetzt: ‹the good art shines through›, und wurde vielleicht sogar noch beflügelt. Gezeigt werden Künstler, welche durch ihre Arbeiten eine neue Bewegung in der Fotografie geschaffen haben, die auch uns in neue Bildwelten entführt. Die breite Motivwahl und verschiedenen Stile führen uns von Ort zu Ort über den Globus und erlauben einen Einblick in eine aufkeimende, lebendige Fotografieszene. Erschienen bei Ginko Press, ca. CHF 45.– Während William S. Blake sich zu Hause in seine Bücher vertieft, die er im Wochentempo verschlingt und andächtig hegt und pflegt, schleppt Florence Ritter ihre Bücher von A nach B, knickt Ecken um und verziert die weissen Seiten mit allerlei Flecken. Ein intensives Lesevergnügen ist unseren beiden Rezensenten aber gemein.
TWO LOVERS Der Regisseur James Gray, der zusammen mit Ric Menello auch das Drehbuch zu ‹Two Lovers› geschrieben hat, hat in einem Interview zugegeben, dass ursprünglich die Erzählung ‹Weisse Nächte› ihn zu dem Projekt inspiriert habe. Gray gelingt es, den Esprit von Dostojewskis Helden zu bewahren, obgleich er ihn anderthalb Jahrhunderte durch die Zeit reisen lässt und von St. Petersburg nach Brooklyn versetzt. Und dies vor allem dank Joaquin Phoenix, der äusserst grandios den introvertierten Träumer Leonard mimt. Wie der Titel bereits verrät, ist Leonard hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen. Zwischen einer, die ihn liebt und ihm eine glückliche Zukunft verspricht, und einer, die ihn anzieht und zugleich zurückstösst und wahnsinnig macht. ‹Two Lovers› ist das sehr intime Porträt eines Fantasten, der an der Härte der Realität zu scheitern droht. Ab 12. März als DVD erhältlich.
surreal
THE BROTHERS BLOOM Als postmoderne Gaunerkomödie wurde ‹The Brothers Bloom› mitunter von der Kritik bezeichnet. Tatsächlich findet der Regisseur und Drehbuchautor Rian Johnson zu einer ganz eigenen Filmsprache, die sich vorgefertigter Genres nur auf sehr ironische Weise bedient. Der Streifen gewinnt so etwas von einem philosophischen Essay, der auf die Figuren und die Handlung nur zurückgreift, um an ihnen seine Gedanken und Ideen zu illustrieren. Dementspre-
chend spielt der Antiheld namens Bloom schon so lange nur noch die Rolle, die ihm sein Bruder Steven für ihre regelmässigen Betrügereien immer wieder auf den Leib schneidert, dass er schon gar nichts mehr tun kann, das nicht Teil von Stevens grandiosem Masterplan wäre. Die Sehnsucht des lethargischen Blooms, aus diesem Skript auszubrechen und ein ‹ungeschriebenes Leben› zu führen, durchzieht den ganzen Film, in dessen weiterem Verlauf die Grenzen zwischen gespielter Rolle und authentischer Identität immer mehr verschwimmen. Hier kommen nicht nur Hobbyphilosophen auf ihre Kosten, sondern auch alle anderen, die an einem gesunden Mass an Realitätsverlust leiden. Ab 26. Februar als DVD erhältlich.
brutal
CARRIERS Wie stellt man sich das Ende der Welt vor? Als selbstlosen Kampf einiger – meist amerikanischer – Helden zur Rettung der ach so wundervollen Menschheit? Oder als Freilegung der ganzen Widerwärtigkeit, die tief verborgen in jedem von uns schlummert und zum Vorschein kommt, wenn der Überlebensinstinkt aktiviert und unser modernes Rechtssystem deaktiviert wird? ‹Carriers› zeichnet genau dieses letztere Bild der durch einen Virus ausgelösten Apokalypse. Und genau diese realistische Herangehensweise an das Science-Fiction-Genre macht das Leinwanddebut der noch blutjungen Pastor-Brüder zu einem kleinen Geniestreich. Im Vergleich zu dem Idealismus der Hollywood-Produktionen versprüht ‹Carriers› einen wohltuenden Pessimismus. Homo homini lupus! Ab 25. Februar als DVD und Blu-ray erhältlich.
FILM kainsmal
TROUBLED WATER Der internationale Titel des norwegischen Films von Erik Poppe weist auf die zentrale Metapher, die die beiden gegensätzlichen Hauptfiguren von ‹Troubled Water› verbindet. Denn in diesen unruhigen Gewässern hat Agnes ihren Sohn und Jan seine Freiheit verloren. Nach einem tragisch endenden Jugendstreich, bei dem Agnes’ Sohn in einem Fluss ertrunken ist, wurde Jan als Mörder verurteilt. Gerade aus dem Gefängnis entlassen, versucht er acht Jahre nach der Tat, sich als Orgelspieler in einer Kirche ein neues Leben aufzubauen, wird allerdings schon bald von seiner Vergangenheit eingeholt. Die beeindruckende Leistung des Regisseurs und der Darsteller besteht darin, die Figuren im Laufe des Films immer weiter von ihren Rollen zu lösen, so dass wir am Ende nicht mehr den Täter oder das Opfer sehen, sondern schlicht und ergreifend zwei verschiedene und sich doch ähnelnde Menschen. Ohne viele Worte werden die Charaktere und ihr Inneres porträtiert. So etwa Jan, wenn er an der Orgel sitzt und sich ganz in der Musik vergessen kann. Oder Agnes, die beim Schwimmen einen Moment lang abtaucht, um sich irgendwie mit ihrem ertrunkenen Sohn vereint zu fühlen. Erik Poppes Drama hat den Mut, beide Perspektiven zu berücksichtigen und sowohl Opfer als auch Täter, wenn auch nur einen Moment lang, zusammenzuführen. Seit 28. Januar im Kino. Auch diesen Monat serviert euch unser Sternekritiker Peter Rösch ein mediales 4-GängeMenü der besonderen Art. Dazu empfiehlt er einen 2008er Roten Libanesen und süsses oder gesalzenes Popcorn.
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Backpack
‹You don’t know about my Shanghai?› Wer selbst schon einmal mit dem Rucksack in Asien unterwegs war, wird sich über die skurrilen Situationen schlapp lachen, die Sonja Heiss in ihrem preisgekrönten Film ‹Hotel Very Welcome› erzählt: Völlig überzogen könnten die Szenen wirken – hätte man sie nicht genau so schon selber erlebt. Text: Paula Kohlmann
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igentlich befinden sie sich vielleicht alle auf der Suche: auf der Suche nach sich selbst, dem Sinn des Lebens oder auf der Jagd nach einer Erfahrung, die sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen werden. Die Rede ist von der Spezies der Tramper, jenem alternativen Touristenstrom, der anstatt mit Rollkoffer lieber mit Rucksack bewaffnet durch
die Welt zieht, der vermeintlichen Enge der Heimat entflieht und so oft am anderen Ende der Welt weder Lösungen auf die Probleme des Lebens noch die anfangs erhoffte Erleuchtung vorfindet. Die deutsche Regisseurin und Drehbuchautorin Sonja Heiss porträtiert in ihrem Film, der irgendwo zwischen Tragikomödie, Dokumentation und Farce schwebt, fünf europäische Backpacker, die in Indien und Thailand ihr Glück suchen. Da wären zum Beispiel die Engländer Josh und Adam, die es sich zum Ziel gemacht haben, an nächtelangen Goa-Raves möglichst viele Touristinnen möglichst vieler Nationalitäten zu vernaschen. Und auch wenn dieses Vorhaben anfangs jede Menge Spass verspricht, sieht sich, spätestens als das Geld alle ist, ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Ganz im Gegensatz dazu steht die Reise der deutschen Marion, die im Meditationszentrum ‹zu ihrem innersten Selbst› finden möchte und dennoch immer wieder auf die Beziehungsprobleme in ihrer Heimat zurückgeworfen wird. Noch mehr scheint sich allerdings Liam, die wohl präsenteste Figur unter den fünf, von seiner Reise zu erhoffen. Der Ire hatte in seiner Panik vor seiner Rolle als werdender Vater seine Heimat verlassen, sucht nun in Indien zwischen 112 kinki
Pushkar, Goa und Jaisalmer nach Ablenkung und neuen Perspektiven. Ebenso speziell dürfte die Situation für Svenja sein, die während des ganzen Filmes die Sprachbarrieren telefonisch zu spüren bekommt, ihren Ferienort aber aufgrund der vielen Missverständnisse bis zum Schluss nicht verlässt. Heiss zeichnet in ihrem Film ein sarkastisches, allerdings stets liebevolles Bild einer Generation zwischen Rastlosigkeit und Selbstsuche, die doch immer mit sich
selbst fertig werden muss. Die dargestellten Hoffnungen, Enttäuschungen, Probleme und vor allem sehr, sehr komischen Momente, die ein Selbstfindungstrip in Indien und Thailand mit sich bringt, wirken authentisch wie ein Dokumentarfilm und ironisch-schräg wie eine Komödie. Ein Muss für alle Rucksacktouristen oder solche, die es noch – oder niemals – werden wollen! ‹Hotel Very Welcome› ist bereits als DVD erhältlich. Fotos: Kinowelt Home Entertainment
Fünf Backpack-Urlauber auf der tragikomischen Suche nach dem ganz grossen Erlebnis. Sonja Heiss animiert in ihrem Film nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken.
JETZT ÜBERALL IM HANDEL!
‹Henry & Paul› Die mit den grauenhaften Sätzen. Und langen Unterhosen. Und kleinen Häufchen auf dem Tresen.
Sir? Sprich, Henry. Darf ich Ihnen diese Kritik vorlesen, Sir? Schiess los, Henry. ‹Dieser Künstler lässt all jene Herzen schmelzen, welche sich an schwermütigen Sommerabenden laben.› Was für ein Schwachsinn, Henry. Weshalb, Sir? Die Sprache verkümmert, 114 kinki
Henry. Ein ‹schwermütiger Sommerabend›? Na gut: kommt ein Sommerabend in die Kneipe und bestellt ein Glas Scotch. Sir… Warte, Henry. Der Barkeeper fragt ihn: Alles klar an der Bar? Der schwermütige Sommerabend antwortet: Nein Mann, ich bin schwermütig. Weisst du, mein frohlockender Frühlingsmorgen hat heute mit mir
Schluss gemacht. Sir, falsche Sprachbilder gibt es zuhauf. Jaja. Und so sitzt dieser Sommerabend schwermütig in der Bar und betrinkt sich einsam und allein und schabt kleine graue Häufchen vom Flaschenetikett auf den Tresen. Und dann, pardautz! Schneit der laue Spätsommerabend zur Türe hinein. Das Ende der Geschichte ist klar, Henry.
Sir? Sie gehen zusammen ins Bett. Oh. Ja, Henry. Obwohl ich es mir kompliziert vorstelle, wenn zwei Abende bis zum Morgengrauen miteinander kopulieren. Technisch gesehen, natürlich. Sie schweifen ab, Sir. Jaja. Wusstest du übrigens, dass gewisse Dinge ungeachtet aller technischen Fortschritte unumwindlich sind? Pardon… Sir? Ja, beim Händewaschen nach vorne rutschende Pulloverärmel zum Beispiel. Die Hände voller Seife und die Unterkante des Ärmels ist bereits nass. Mit dem Kinn oder mit sonstigen Verrenkungen versucht man, sie wieder hochzuziehen, was aber selten zufriedenstellend klappt. Wie kommen Sie jetzt plötzlich darauf, Sir? Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern, Henry. Schlechte Schreiberlinge und nasse Pulloverärmel wird es immer geben. Ich gehe gar soweit und vergleiche diesen zitierten Schreiberling mit einem Waschlappen. Und als Waschlappen könnte man auch nasse Pullover verwenden. In der Tat, Sir. Oder ausgeleierte lange Männerunterhosen. Das… stimmt auch, Sir. Na also. Dann könnte man ohne Müh und Not schreiben: ‹Dieser Künstler lässt all jene Herzen schmelzen, die sich daran laben, in schwermütigen Sommernächten ohne lange Unterhosen zu kopulieren.› Manchmal machen Sie mir Angst, Sir. Text: Roman Neumann Foto: Philippe
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‹ausblick›
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