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AMTSGERICHT/TIMS THESEN
THEMA: Das woke Melodram
Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Neulich hatte ich das Vergnügen, zusammen mit meiner kleinen Tochter „Das Seeungeheuer“ zu sehen: einen aktuellen Animationsfilm, der zeigt, wo in der Branche derzeit der Hammer hängt. Sehr beeindruckend. Der Film ist darüber hinaus so divers wie mit dem Rechenschieber ermittelt. Die Produzenten haben peinlich genau darauf geachtet, dass sich jede Ethnie, jedes Geschlecht, jedes Alter etc. wiederfindet. Der erste Offizier eines Monsterjäger-Schiffes zum Beispiel ist eine Rastafarian Ende 40.
Meiner neunjährigen Tochter ist das nicht aufgefallen – gut! Es zeigt, dass das Ziel erreicht wurde: Auf dem Bildschirm buntes Spektakel ohne Klischees, das gleichzeitig pädagogisch wirkte – ohne dass junge Rezipienten diese Absicht bemerken.
Ich persönlich habe übrigens auch keinerlei Probleme mit Radiosprechern, Fernsehansagern und anderen Medienschaffenden, die gendern, beide Formen verwenden oder sich anderweitig um einen respektvollen Umgang bemühen. Solange das thematisch sinnvoll und mit Blick auf den Kontext passiert, finde ich es vernünftig. Und meist tut es das. „GeisterfahrerIn auf der A7“, habe ich noch nie gehört.
Irritierend wird’s allerdings, wenn der Kontext fehlt. Ich fasse mir mal an die eigene Nase. Im Redaktionsraum des KLÖNSCHNACK hängt eine Regenbogenfahne. Ich gehöre dem Verein gefühlt seit dem Mauerfall an und kann mich an keinen einzigen Fall einer Diskriminierung queerer Menschen erinnern (Menschen, die es durchaus gab). Die Flagge hängt da mut- und risikolos. (Vielleicht sehe ich das aber auch zu streng und der Regenbogen ist einfach die Bayern-München-Flagge für Progressive.) Wenn nun jemand laut und dramatisch wird, ohne dass ein entsprechender Grund vorhanden ist, dann nennen wir das nicht nur im Deutschunterricht „melodramatisch“. Kein echtes Drama, viel Show, wenig Mut zu Entscheidungen. Natürlich gibt es Diskriminierung von Schwulen und Lesben. Nur nicht unbedingt beim KLÖNSCHNACK. Natürlich gibt es Diskriminierung von Kein echtes Drama, viel Hautfarben. Aber höchstwahrscheinlich nicht in der Show, wenig Karoviertel-Kneipe. Mut … Erinnern Sie sich noch an den Sticker „Kein Bier für Nazis!“, den man vor einigen Jahren immer wieder mal sah? Der hing nicht im „Deutschen Haus“, sondern in Stadtvierteln, in die sich seit Jahrzehnten kein Nazi mehr verlaufen hatte. Melodramatisch finde ich es auch, wenn Menschen im privaten Gespräch gendern. Gut, wenn der Onkel aus Thüringen geärgert werden soll, meinetwegen. Wenn aber zwei Leute sich gut kennen und dann auch noch aus der selben progressiv-toleranten Blase stammen – wenn die vorm Bio-Bäcker anfangen zu gendern, dann ist das so mutig und nötig wie ein Pups in der Badewanne. These für Januar: Wir sollten die Anstrengungen, eine gerechte, tolerante Gesellschaft zu schaffen, ernst nehmen. Dazu gehört Selbstreflexion und Sinn für Kontext. Melodramatik könnte der Sache eher schaden als nutzen.
Das Amtsgericht
Aus dem Amtsgericht Warum?
In Handschellen wird Thorsten F. (Name geändert) in den Sitzungssaal des Amtsgerichts Blankenese geführt. „Ihnen wird vorgeworfen, über einen Zeitraum von zwei Jahren Ihre Partnerin mehrfach tagsüber in Ihrer Wohnung eingeschlossen zu haben, wenn Sie zur Arbeit gingen. Sie sollen sie körperlich misshandelt und gedroht haben, sie umzubringen, sollte sie Sie verlassen.“
Echt jetzt? Das ist starker Tobak. Die Richterin gibt dem 36-Jährigen die Gelegenheit, sich zu den Tatvorwürfen zu äußern, wenn er das möchte. Möchte er? Gesteht er eventuell einen geplanten Femizid? Und wie wird er seine Taten möglicherweise rechtfertigen? Seine Antwort ist überraschend: „Das stimmt alles nicht. Nicht eine einzige Aussage ist richtig.“ Versucht er sich jetzt etwa noch rauszureden?
Herr F. berichtet ausführlich über die Beziehung zur „Liebe meines Lebens“. Er kam von Montage zurück und sie hatte ihn verlassen; überraschend, ohne Gründe und ohne ein weiteres Wort. Nach einem Jahr erhält er Post von ihrem Anwalt: Sie reicht die Scheidung ein. Und dann kommt die Anzeige mit den genannten Vorwürfen. Er fällt aus allen Wolken.
Die Ausführungen des Angeklagten lassen Zweifel am Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen aufkommen. Man-
ches scheint bei genauerer Betrachtung unlogisch: Die Wohnung liegt in einem Mehrparteienhaus in einer dicht bebauten Gegend. Wieso hat sie sich nicht bemerkbar gemacht? Und warum hat sie ihn nach den angeblichen Vorfällen überhaupt noch geheiratet? Und warum beauftragt sie, als kanadische Staatsbürgerin, einen Anwalt für Migrations- und nicht für Familienrecht? Handelt es sich etwa um eine Scheinehe? Thorsten F. steckt in dem Dilemma, dass er sich wegen der unkonkreten Vorwürfe kaum verteidigen kann. Seine Frau kann die Tage nicht genau benennen, an denen die Taten stattgefunden haben sollen, sonst könnte er mögliche Alibis angeben. Schließlich melSie wollte ins Frauenhaus det sie sich telefonisch; sie sollten mal miteinander reden. Sie treffen sich und er fragt sie nach ihren Beweggründen für ihre Anzeige. Die Antwort ist so einfach wie erschütternd: Sie habe zunächst bei ihrem Onkel gewohnt, aber das war ihr zu mühsam. Sie hätte sich am Haushalt beteiligen sollen. Da sie kein Geld für eine eigene Wohnung hatte, wollte sie ins Frauenhaus. Da man dort nicht so ohne Weiteres einen Platz bekommt, war die Anklage notwendig. Da bleibt einem als Zuhörer glatt der Mund offenstehen. Trotz ihrer Erklärung zieht sie die Anzeige nicht zurück. Sie macht als Ehefrau von ihrem Recht Gebrauch und verweigert die Aussage vor Gericht. Die Richterin macht es kurz: Freispruch. Alke Dohrmann