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EGON BAHR

FOTO: JOACHIM KASTEN

Egon Bahr 2015 während des Interviews mit Joachim Kasten

Gedenken 100 Jahre Egon Bahr

Am 18. März wäre die SPD-Ikone Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Als Minister der Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt machte er sich verdient und stieß einen Prozess an, der als „Neue Ostpolitik“ bleibende Spuren hinterließ.

Von 1984 bis 1994 leitete Egon Bahr das Institut für Friedensforschung und Sicherheits politik in Blankenese. Politische Akzente setzte er in seiner Hamburger Zeit u. a. mit der Schrift „Zum europäischen Frieden. Eine Antwort auf Gorbatschow“. Mit 93 Jahren starb Egon Bahr am 19. August 2015 in Berlin.

Aus Anlass der 70. Wiederkehr der Kapitulation des Nazireichs am 8. Mai 1945 konnte ich einige Monate zuvor ein Gespräch mit ihm führen.

Dankbarkeit. Es war spannend einem Menschen zu begegnen, der eine ganze Epoche mitgewirkt hatte, das politische Schicksal Deutschlands und Europas zu formen. Zu Beginn unseres Gesprächs bitte ich ihn, von seiner Gefühlslage am Kapitulationstag zu erzählen.

Seine erste Erinnerung an das Kriegsende verbindet Bahr nicht mit dem Gefühl einer Befreiung von den Nazis, sondern mit einer Bedrohung, der er und seine zukünftige Frau ausgesetzt waren. „Wir saßen in einem Luftschutzkeller und das erste, was ich sah, war ein Bajonett und dann den dazugehörigen Rotarmisten“, berichtet er.

In dem darauf folgenden gewaltsamen Szenario gelingt es Egon Bahr seine schwangere Freundin zu schützen. Allerdings nur um den Preis, dass der Soldat ihm an den Hals ging. Warum er plötzlich dennoch losließ, hat er nie erfahren. Kein Widerstand. „Warum fanden die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs erst ein Ende, als das Land nahezu vor der totalen Zerstörung stand?“, möchte ich wissen. „Die Menschen hatten ein latent schlechtes Gewissen. Man wusste, was die eigenen Leute in der Sowjetunion angerichtet hatten, und fürchtete die Vergeltung“, erklärt er. Auch die Phrase vom „Endsieg“ war für ihn absurd. „Wir waren ja nicht dumm. Und solange die SS herrschte, hatte selbst die Wehrmacht nicht viel zu sagen.“

Der verdrängte Holocaust.

Vom verbrecherischen Charakter des Regimes erfuhr Egon Bahr hautnah, als ein Onkel aus dem KZ Oranienburg mit kahlgeschorenem Kopf und herausgebrochenen Goldzähnen nach Hause kam. „Da wurde uns klar, dass es Konzentrationslager gab“, berichtet er. „Aber das Wort Auschwitz hatten wir nicht gehört. Ein derartiges, in der Geschichte einmaliges Verbrechen von industrialisierter Menschenvernichtung konnte man sich nicht vorstellen.“

Alexander und Margarete Mitscherlich prägten die These von der „Unfähigkeit der Deutschen zu trauern“.

Als Zeitzeuge bestätigt Egon Bahr diese Haltung. „Das ist in meiner Erinnerung auf den Schock des nun wirklich verlorenen Krieges zurückzuführen. Der saß so tief, dass man das Nachdenken über die Ursachen unterdrückte. Das Naheliegende interessierte. Wie bekomme ich etwas zu essen? Es war ein täglicher Kampf um das Überleben.“

„Solange die SS herrschte, hatte selbst die Wehrmacht nichts zu sagen …“

Der Schock saß so tief, dass man das Nachdenken über die Ursachen unterdrückte.“

Suche nach Stabilität. Gegen Ende des Interviews sprechen wir über die Gefährdung des Friedens nach der russischen Besetzung der Krim-Halbinsel. Eine direkte Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für die gefährliche Destabilisierung im Osten Europas will der 93-jährige Ex-Diplomat nicht formulieren. Als Reaktion erhalte ich eine Beschreibung des historischen Hintergrunds. Dazu gehörten für Bahr insbesondere Entscheidungen aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung.

Festgelegt wurde, dass die Nato vorrückt bis zur polnischen Westgrenze. Das entsprach dem Wunsch Gorbatschows, dem russischen Bären nicht zu sehr „auf den Pelz“ zu rücken. „Keiner hat jedoch gewusst, dass es ein Jahr später die Sowjetunion und den Warschauer Pakt nicht mehr geben würde“, erläutert Egon Bahr.

Die neuen unabhängigen osteuropäischen Staaten suchten dann so schnell wie möglich Sicherheit im Nato-Pakt. „Daraus entstand eine Lage, in der Russland sich eingekreist und zum Teil betrogen fühlte“, konstatiert Egon Bahr. Das sei zwar nicht beabsichtigt gewesen, führte aber dazu, dass die Ukraine zwischen dem Westen und Russland stand. „Und an dieser Konfliktlage arbeiten wir immer noch“, rundet Egon Bahr seine Analyse ab. Er hofft auf eine neue Stabilität durch Minsk II. „Dann kann und muss man über das Verhältnis zwischen Ost und West, zwischen Amerika, Europa und Russland längerfristig nachdenken und planen“, lautet seine Forderung.

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