KOLT #45

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NUMMER ZEHN 2013 // CHF 5.www.kolt.ch

MIT

AGENDA Oktober 2013

ZWISCHEN DEN FRONTEN


Weil du die Augen offen hast, glaubst du, du siehst.

Johann Wolfgang von Goethe

COVER – von der Leichtigkeit des Durchblicks.

SIO AG Generalvertretung COVER Rötzmattweg 66 CH-4603 Olten T +41 62 207 07 07 F +41 62 207 07 00 info@cover.ch cover.ch


IMPRESSUM

VERLAG / HERAUSGEBER Verlag 2S GmbH Leberngasse 17 4600 Olten verlag@v2s.ch www.v2s.ch

EDITORIAL

VERLAGSLEITUNG Yves Stuber, Matthias Sigrist REDAKTIONSLEITUNG Pierre Hagmann (ph) redaktion@kolt.ch FINANZEN Matthias Gubler INTERNETAUFTRITT Mathias Stocker LAYOUT / SATZ Christoph Haiderer, Gaia Giacomelli REDAKTIONELLE MITARBEIT Stephanie Schumacher, Katja Zellweger, Fiona Gunst, Franziska Monnerat, Rolf Strub, Daniel Kissling, Pedro Lenz, Kilian Ziegler, Christian „Ché“ Dietiker, Dino Lötscher, René „Fribi“ Freiburghaus ILLUSTRATION Gaia Giacomelli, Amélie Fibichier, Anna-Lina Balke, Jamie Aspinall, Manuel „Ti“ Mathys, Pascal „Tokijad“ Hofer, Céline Fallet, Petra Bürgisser

Cover fotografiert von Remo Buess

FOTOGRAFIE Marco Grob, Remo Buess, Yves Stuber LEKTORAT Hannes Zwicker

mit freundlicher Unterstützung von:

LESERBRIEFE leserbriefe@kolt.ch www.kolt.ch/leserbriefe AGENDA agenda@kolt.ch www.kolt.ch/agenda ABO Jahresabonnement CHF 49.—(inkl. MwSt) Gönnerabonnement CHF 99.—(inkl. MwSt) abo@kolt.ch www.kolt.ch/abo INSERATE inserate@kolt.ch www.kolt.ch/inserieren KONTAKT www.kolt.ch hallo@kolt.ch AUFLAGE 1'500 DRUCK Dietschi AG Druck und Medien Ziegelfeldstrasse 60 CH-4600 Olten © 2013, Verlag 2S GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung. Die Urheberrechte der Beiträge bleiben beim Verlag. Keine Gewähr für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen.

KOLT

Oktober 2013

Illustration von Gaia Giacomelli

I

was never supposed to be here“. Wenn es irgendeinmal ein Buch über sein Leben geben sollte, sagt Marco Grob, dann müsste es diesen Titel tragen. Frei übersetzt: "Wie zum Teufel bin ich hier gelandet?“ Er landet vielerorts, 290 Tage im Jahr ist er unterwegs, und überall fotografiert er Menschen, die eine Rolle spielen. Letzthin etwa landete der TIMEMagazine-Fotograf im Wohnzimmer von Benjamin Netanjahu, dem israelischen Ministerpräsidenten. Dort tranken die beiden zusammen eine Tasse Tee und sprachen über Netanjahus toten Bruder. Das war einer dieser Momente, in denen Marco Grob aus Olten für eine Sekunde innehält, um sich schaut und denkt: Wie zum Teufel bin ich hier gelandet? Nicht alle Orte, an denen er arbeitet, sind so sicher wie das Wohnzimmer von Benjamin Netanjahu. Wenn er für die Vereinten Nationen im Einsatz steht,

heissen die Destinationen Afghanistan, Kambodscha oder Südsudan. Seit drei Jahren engagiert sich der Fotograf für UNMAS, den United Nations Mine Action Service. Für ihn als Menschen sei dieses Engagement im Kampf gegen Landminen das Wichtigste überhaupt geworden, sagt Grob im KOLT-Interview. Wir sprachen mit ihm über perfide chinesische Lichtsensor-Minen, Lachen als Ventil in schlimmen Situationen und den extremen Spagat, den sein Beruf mit sich bringt. Ausserdem ist es uns eine ausserordentliche Ehre, in dieser Ausgabe exklusiv eine Auswahl an Bildern zu zeigen, die Marco Grob im UNMASAuftrag vor Ort gemacht hat. Der Veröffentlichung dieser Aufnahmen liegt eine Spezialerlaubnis seitens der UNO zugrunde.

DRUCK&MEDIEN OLTEN

Olten, im September 2013 Pierre Hagmann

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Wir liefern die Energie f端rs Leben in der Region.

Aare Energie AG Solothurnerstrasse 21 Postfach 4601 Olten Telefon 062 205 56 56 Fax 062 205 56 58 info@aen.ch www.aen.ch


INHALT

OKTOBER 2013

11 03 EDITORIAL / IMPRESSUM

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06 PREVIEWS Highlights im Oktober 2013

09 CINEMA Schwarzweiss – und doch erfrischend uncool // 5 Fragen an Herbert Schibler, Direktor Stadttheater Olten

11 DAS KLEINE JOB-INTERVIEW Jennifer Papatzikakis, Kleiderboutiquebesitzerin

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12 STADTLEBEN Bitte mal langsam

14 IM EXIL Menschen aus der Region berichten aus der Welt: Pontedeume, Baku, Hongkong, North Coast Trail

16 "Das ist einfach nicht zu akzeptieren"

Starfotograf Marco Grob gewährt tiefe Einblicke in die Welt der Minenbekämpfung

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26 HÖREN & LESEN 26 Pedro Lenz „Der Arm des Armen“ // Max Katiofski „Das Erdbeben von Tokio“ 27 Ché‘s Bro Tipps // Deeno‘s Review // Fribi‘s Metal News 28 Edith Hiltbrunner „Numerische Zäsur“ // La Vache Kili „Die sieben Sachen des Anatol A.“ 29 Schon gelesen...? // KOLT liest...

30 IM RAMPENLICHT

32

30 Das Electro-Hip-Hop-Jazz-Experiment // "Wir wollen möglichst schnell in die Region zurückkehren" 31 "Diesmal wird niemand getötet"

32 FREAKS BRAUCHT DAS LAND „Das war eine geile Grabung!“

34 DAS LIEBSTE ZUM SCHLUSS Die besten Dinge des Monats

KOLT

Oktober 2013

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PREVIEWS PHOTOSTREAM OLTEN GEHT IN DIE ZWEITE RUNDE

ROCK'N'ROLL – NOT FOR RESALE // FIRST TATTOO EVENT

Fotozirkel

Konzert / Tattoo-Convention

KULTURLOKAL COQ D‘OR Tannwaldstrasse 48, 4600 Olten PHOTOSTREAM Olten #2 photostream-olten.ch facebook.com/PhotostreamOlten

SCHÜTZI OLTEN www.schuetzi.ch

Mo 7. Oktober 2013 Türöffnung: 19 Uhr (Barbetrieb) Projektion: 20 Uhr Ein frühes Eintreffen ist empfohlen, freie Platzwahl.

Konzert mit: The B-Shakers & Rag Dolls Fr 11. Oktober 2013 20:00 Uhr Tattoo Event: Sa 12. Oktober 2013 12 bis 24 Uhr So 13. Oktober 2013 12 bis 18 Uhr

VON ROLL EISENWERK

Tipp des Monats

NACHTFIEBER: FÜR WÖRTER UND GEGEN SÄTZE Late-Night-Show Mit Knackeboul, Victor Vögeli & Musique en Route SCHÜTZI OLTEN www.nachtfieber.ch Do 24. Oktober 2013

Letzte Möglichkeit zum Besuch der Ausstellung HISTORISCHES MUSEUM OLTEN Konradstrasse 7 4600 Olten 062 212 89 89 www.historischesmuseum-olten.ch Ausstellungsende: 27. Oktober 2013 Öffnungszeiten: Di bis Sa 14-17 Uhr So 10-17 Uhr

Die aktuelle Sonderausstellung «Von Roll Eisenwerk» präsentiert die über 200-jährige Geschichte des grossen Schweizer Eisen-Konzerns Von Roll, der mit etlichen Fabriken die Wirtschaftsgeschichte unseres Landes prägt. Von Roll ist eine der ältesten Industriegruppen der Schweiz und hat eine lange Tradition in mehreren Sparten der Metall- und Maschinentechnik. Die Ausstellung zeigt Objekte, Bilder und Dokumente aus 200 Jahren und von zahlreichen Leihgebern in mehreren Kantonen der Schweiz. Anhand von Objekten und vielen Fotografien aus den Werken Gerlafingen, Klus, Bern, Choindez, Rondez und Zürich stellt sie die einzelnen Unternehmensstandorte und ihre Entwicklung vor, informiert über Produkte und Geschäftsbereiche und erklärt Produktionsprozesse.

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Vorverkauf: www.hellsangels-overland.ch / Bar 49 Schönenwerd Nach dem grossen Erfolg der Premiere des neuen Fotozirkels im Oltner Kulturlokal Coq d‘Or mit rund 100 Besucherinnen und Besuchern folgt am 7. Oktober die zweite Ausgabe. Wiederum zeigen drei Fotowerker mittels Projektion spannende Beispiele ihrer Arbeiten. Werner Rolli aus Küttingen projiziert unter anderem eine spannende Reportage aus der Glockengiesserei Rüetschi in Aarau an die Leinwand. Nebst Portraits gehören Reportagen und Bühnenaufnahmen zu seinen Arbeitsgebieten. Der zweite Protagonist des Abends, Yves Stuber, gründete 2009 dieses Magazin. Seither ist der 30-jährige für KOLT nicht nur als Verlagsleiter, sondern auch als Bildchef und Fotograf tätig. Yves Stuber zeigt uns vorwiegend Arbeiten, die er für das Kulturmagazin fotografiert hat. Der Dritte im Bunde ist Daniel Bracher aus Zofingen. Er ist Autodidakt mit grafischem Hintergrund, seine Lehre hat er als Fotolithograf beendet, sein Geld verdient er heute als Künstler, Illustrator und Bildretuscheur. So pendelt er zwischen Fotografie, Bildhauerei und Malerei. Er bedient sich gerne moderner Computertechnik, um diese in einem erneuten Prozess mit Malerei oder Collagetechniken in Verbindung zu bringen. Bilder oben: v.l. Yves Stuber: Ein Portrait von Mike Fehlmann (Olten), Werner Rolli: Eine Aufnahme aus der Glockengiesserei in Aarau, Daniel Bracher: Aufnahme aus der Serie „Manga“.

Showbeginn: 22:01 Uhr (Türöffnung und Barbetrieb ab 21.00 Uhr) Vorverkauf ab 1. Oktober 2013 unter www.nachtfieber.ch oder in allen Kinos der youcinema: CHF 20.- bis 60.-

Obwohl sie sich der „alten“ Musik verschrieben haben: The B-Shakers einem alten, verstaubten Radio zu vergleichen, wäre unpassend. Im Gegenteil: Wie eine kräftig schnaubende, Funken sprühende Dampflokomotive kommt ihr Sound daher. Unaufhaltbar bahnt sich das eiserne Pferd den Weg durch die unendlichen Weiten und bringt ehrlichen und ansteckenden Rockabilly Sound. Bei den Oltner Rag Dolls stand am Anfang noch der Gedanke Rock 'n' Roll im Vordergrund. Mit der Zeit veränderte sich der musikalische Geschmack der Band und so wurde auch der Stil angepasst. Man bewegte sich mehr Richtung Indie-Rock und Powerpop, ohne natürlich die eigentlichen Rock'n'Roll Wurzeln zu verleugnen. Jetzt sind die Sieger des MyCokeMusic Soundchecks mit ihrer ersten Single und der dazugehörigen EP „Bought and Sold“ am Start. Am gleichen Wochenende findet in der Schützi auch der erste Tattoo Event Olten statt – eine zweitägige Tattoo-Convention mit nationalen und internationalen Tätowierern und Händlern, Live-Show, Radio Overland Live, Contest, u.v.m.

Late-Night-Shows in der Schweiz tauchen auf und gehen unter, speziell in sogenannt grossen Städten. Die Oltner Satire- & Musikshow Nachtfieber bleibt – auch nach sechs Jahren und steht weiterhin für kreative Beständigkeit, zeitlose Aktualität, traurige Fröhlichkeit und frohe Melancholie. Die Gästeschar für die kommende Ausgabe verspricht vieles: Einen omnipräsenten Hip-Hopper, einen freestylenden Knecht und dazu die fantastische Balkanband Musique en Route. Was sich aus diesen vermeintlichen Gegensätzen entwickelt... wir sind gespannt. Strohmann-Kauz, Strub und Wyss kümmern sich um den Rest. Es bleibt offen, wer moderieren, musizieren, servieren oder dazwischen parlieren wird.

Oktober 2013

KOLT


OKTOBER 2013 FARE THEE WELL, MISS CAROUSEL / OTTO MORACH. EINE SCHENKUNG bis 17.11.2013

DISTELI – KELLER – WARHOL bis Sommer 2014

HAMMER NIGHT

Jazz in Olten präsentiert

The Sound of the 60’s, 70’s & 80’s DJ TomTom, & Guests

FOOTPRINTS – DIE 8. OLTNER JAZZTAGE

SCHÜTZI OLTEN www.bromusic.ch

VARIO BAR COQ D’OR KINO LICHTSPIELE www.jazzinolten.ch www.kingpepe.ch www.menschenversand.ch

Sa 26. Oktober 2013 Doors: 20.30 – 4 Uhr Eintritt: CHF 20.Reservationen: bro@bromusic.ch

GIAN RUPF & HANS HASSLER / SEZ NER

KUNSTMUSEUM OLTEN www.kunstmuseumolten.ch Öffnungszeiten: Di–Fr 14–17 Uhr Do 14–19 Uhr Sa/So 10–17 Uhr

Sa 2. November bis So 10. November THEATERSTUDIO OLTEN www.theaterstudio.ch Fr 1. November 2013, 20.15 Uhr Sa 2. November 2013, 20.15 Uhr Vorverkauf: Leotard, Ringstrasse 28, Olten

Wie schon in den Jahren zuvor, steht auch dieses Jahr wieder die Oltner Kult-Party schlechthin vor der Tür: Die Hammer Night in der Schützi. Am Samstag, 26. Oktober wird zum sechsten Mal dem Lokal „Hammer“ Tribut gezollt. An den Plattenspieler wird DJ TomTom, Discjockey aus Leidenschaft, mit einem seiner einzigartigen Sets die Zeit und Musik des Hammers aufleben lassen. Die Partybesucher können also die Vintage- und FlowerPower-Gefühle von damals wieder neu erleben. Hier kann zu Sound aus den 60er, 70er, 80er sowie zu Rock, Soul und Funk ausgiebig getanzt werden. Der Hammer war eine der ersten Schweizer Diskotheken und wurde schnell zum landesweit renommierten Treffpunkt für Fans der Beat-Musik. So spielten legendäre Bands wie Pink Floyd, John Mayall, Pretty Things und The Kinks im Hammer grossartige Konzerte. Bei der Hammer Night ist sogar der Name Programm, denn diese Party trifft den Nagel auf den Kopf.

KOLT

Oktober 2013

Anfangs November gibt es ganz viel gute Musik in der Stadt. Die 8. Oltner Jazztage bieten an fünf Tagen sechs Konzerte aus verschiedenen Bereichen des aktuellen Jazz. Die Palette reicht dabei von Mainstream Jazz mit Roland Philipp, einer Carte Blanche für den Oltner Fabian Capaldi bis hin zu Brasil-Jazz, instrumentalem Techno und einem live vertonten Stummfilm. Das Programmheft mit ausführlicheren Informationen ist dieser KOLT-Ausgabe beigelegt. Das Älplerleben ist kein Zuckerschlecken. Das weiss spätestens seit Arno Camenischs Buch «Sez Ner» jeder seiner Leser. Jetzt wird es plastisch: Gian Rupf und Hans Hassler zaubern die Alp rau und archaisch auf die Bühne des Theaterstudios Olten. «Sez Ner» erzählt von Momenten auf der Alp Stavonas zwischen zerbrechlicher Poesie, Einsiedelei-Cholerik und Sennen-Alltag. Zwei Männer lassen einen Alpsommer erklingen: emotional, komisch und ungehalten! Gian Rupfs Spiel lotet die menschlichen Abgründe inmitten der alpinen Landschaft aus. Und Hans Hassler, der Godfather des freien Volks- und Jazzakkordeons, kontrastiert dazu mit seiner musikalischen Sprache mit Klarinette und Akkordeon.

Die erste Veranstaltung am 2. November ist eine deftige Berner Platte in Zusammenarbeit mit der Buchmesse Olten und dem Verein art i.g.. Die Lesung des Berner Autors Matto Kämpf wird umrahmt von zwei Sets von „King Pepe“ und seiner Band „Le Rex“. King Pepe ist ein Mundartsänger. Aber weder Rocker noch Rapper, sondern ein Swinger. Und zwar ein lustiger. In seinen witzigen und frivolen Texten erzählt er seltsame Geschichten von Kaugummis, Stalin, Churchill oder den Abgründen der Liebe und lässt sich dabei wie Frank Sinatra von einer kleinen Jazz-Band mit vier Bläsern und einem Trommler begleiten.

Für die Ausstellung «Fare Thee Well, Miss Carousel» übergibt das Kunstmuseum das Szepter einem Künstlerinnen-Trio: Loredana Sperini hat ihre Kolleginnen Sara Masüger und Tanja Roscic, mit denen sie schon länger einen intensiven Austausch pflegt, angefragt, gemeinsam eine Ausstellung zu erarbeiten, die sie auch zusammen kuratieren. Im Rahmen der Ausstellungsreihe «Disteli-Dialog» realisiert der Schweizer Konzeptkünstler San Keller (*1971) unter dem Titel «Disteli – Keller – Warhol» ein Kunst- und Filmprojekt, das sich um eine aussergewöhnliche Tausch-Aktion dreht: Es ist sein Ziel, den Gründungsbestand des Kunstmuseums Olten, die Sammlung von 2000 Werken des Karikaturisten und politischen Zeichners Martin Disteli, gegen ein Gemälde von Andy Warhol aus einer US-Sammlung zu tauschen. Kürzlich durfte das Kunstmuseum eine Schenkung von 123 Gemälden des Solothurner Expressionisten und Kubofuturisten Otto Morach (1887–1973) entgegennehmen. Im Neu-/Umbau des Kunstmuseums sollen die Werke eine ständige Bleibe erhalten. Aus aktuellem Anlass zeigt das Kunstmuseum die Gemälde kombiniert mit Werken aus der Sammlung in einer «Schaulager-Situation».

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KULTURSPLITTER

MONATSTIPPS DER PARTNERMAGAZINE AUS AARAU | BASEL | BERN | LUZERN | ST. GALLEN | VADUZ | WINTERTHUR | WWW.KULTURPOOL.BIZ

trotzdem ein grosses Ding – auch für alle Neugierigen, die in die Alte Kaserne reinschauen. Ab Samstag, 19. Oktober, 12 Uhr Alte Kaserne Winterthur, Technikumstrasse 8 8400 Winterthur, www.24stundencomics.ch

SCHAAN: „RÄÄS SYMPHONIC“ Unter dem Titel „Rääs Symphonic“ betritt die Liechtensteiner Mundartband „Rääs“ Neuland und erfüllt sich gleichzeitig einen lang gehegten Wunsch. Das eher klassisch ausgerichtete Orchester Liechtenstein Werdenberg lässt sich auf das Wagnis ein, die rockigen Mundartsongs symphonisch zu begleiten. Das Experiment zwischen Rock und Klassik verspricht einen

AARAU: KLASSIK IM STOLLEN

interessanten und energiegeladenen Konzertabend.

«Argovia philharmonic» – wie sich das Aargauer

„Rääs Symphonic“, Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr, SAL

Symphonieorchester jetzt nennt – tritt mit einem Kam-

Schaan. www.mundart.li

merensemble im so genannten «Meyerstollen», tief unter dem Aarauer Bahnhof auf. Mit einer dreiteiligen Konzertreihe unter dem Titel «Wege zur Seidenstrasse» begibt sich das Ensemble auf eine musikalische Reise von Europa durch den Kaukasus bis nach China. Der Meyer-Stollen ist ein Tunnelsystem welches der Aarauer Unternehmer Johann Rudolf Meyer Ende des 18. Jahrhunderts bauen liess, um Wasser zu seiner

ST. GALLEN: SÜDAMERIKANISCHE BEATNIKS

Färberei zu leiten. Mit dem Neubau des Aarauer Bahn-

Die Beatnik-Welle der 60er-Jahre überrollte auch den

zugänglich gemacht.

Süden Amerikas. Live dabei: Rod González, gebürtiger

Aarau, Aufschluss Meyerstollen (Bahnhof Aarau),

Chilene und Bassist der besten Band der Welt aka Die

Sonntag, 27. Oktober, 17.00 Uhr

BERN: HERTA MÜLLER LIEST

Ärzte. Seit 2011 ist er Mitglied von iMÁS SHAKE! und

Infos: www.argoviaphil.ch, www.meyerstollen.ch

Auf Einladung der Hochschule der Künste liest Nobel-

hofs wurde ein Stück des Tunnels für das Publikum

mit dabei, wenn die Berliner Band in der St.Galler

preisträgerin Herta Müller aus ihrem Werk. In letzter

Grabenhalle ihr südamerikanisches Beatnik-Flair

Zeit hat sie vor allem Collagen veröffentlicht: mit aus

versprüht. Unterstützung erhält die Combo von drei

der Presse ausgeschnittenen Wörtern gesetzte Texte.

Verrückten aus dem Appenzellerland: The Fools sind

So akribisch wie sie diese Bilder zusammenstellt, ist

ebenfalls geprägt von der Beatmusik, mixen aber auch Kulturmagazin

dann auch die Sprache. Die Miniaturen der Collagen

Rock’n’Roll oder Psychedelic Rock in ihre Sets.

gehören zu den Höhepunkten ihres Schaffens. Nach

iMÁS SHAKE! (D) & The Fools (AR)

der Lesung unterhält sie sich mit dem Germanisten

Samstag, 5. Oktober, 20.30 Uhr, Grabenhalle St.Gallen.

Thomas Strässle über ihre Arbeit.

grabenhalle.ch

Kornhausforum, Bern. So., 20.10., 11 Uhr

Winterthur

STANS: WEICHES HERZ, SCHARFER BLICK

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Als Karambolagen-Fotograf wurde der pensionier-

BASLER BLÄTTERRAUSCHEN

te Polizist Arnold Odermatt überraschend internati-

Nach dem definitiven Messe-Aus und dem Nomadi-

onal berühmt. Jetzt wird sein Schaffen erstmals auch

sieren der letzten Ausgabe hat die <BuchBasel> 2013

WINTERTHUR: 24 STUNDEN COMICS

im Museum seiner Heimat gewürdigt. Die Ausstellung

wieder ein Festivalzentrum: das Volkshaus Basel.

Innerhalb von 24 Stunden schreibt und zeichnet jeder

zeigt bekannte Bilder aus dem Polizeialltag, aber auch

Doch auch ringsum wird an kuriosen Orten – wie

der 60 Zeichnerinnen und Zeichner einen 24-seiti-

bis jetzt ungesehene Bilder aus dem privaten Umfeld.

dem Veloladen <Obst&Gemüse> oder in Privatküchen

gen Comic von A bis Z. Dabei springen alle ins kalte

Sie zeugen von einem aussergewöhnlichen Sinn für

– gelesen. Die Partnerschaft mit <Zürich liest>, der

Wasser: Es wird ohne Vorarbeit gestartet, die Storys

die Ästhetik des Alltags und dürften bei manchem Be-

Showdown des Schweizer Buchpreises, viele Lesungen

werden vor Ort geschrieben und gezeichnet, koloriert

trachter für nostalgische Gefühle sorgen. Grosse Foto-

und Specials wie etwa ein Podium zum Finanzplatz

und ausgeschmückt. Erfunden vom Amerikaner

grafie aus einem kleinen Dorf: Das ist ein Ausflug in

Schweiz, Herbstgedichte und Slampoetry oder der Auf-

Scott McCloud, wird dieser von ComicsPro definierte

die Innerschweiz wert.

tritt der Rock'n'Roma-Band KAL vom Balkan sorgen

Zeichenmarathon einmal im Jahr an mehr als 100

Ausstellung: Arnold Odermatt. Das Dorf als Welt.

für ein buntes und abwechslungsreiches Programm.

Orten auf der ganzen Welt durchgeführt. Es gibt keine

22. September – 15. Dezember,

BuchBasel 2013: Do 24.–So 27.10., div. Orte,

Medaillen zu vergeben, der 24-Stunden-Comic ist

Nidwaldner Museum Stans.

www.buchbasel.ch

Oktober 2013

KOLT


CINEMA

PRISONERS USA 2013 // THRILLER Ab 3.10., youcinema Der Schreiner Keller (Hugh Jackman) und seine Familie bekommen Besuch von Freunden. Seine kleine Tochter und ihre Freundin gehen raus zum Spielen – und werden entführt. Das FBI wird eingeschaltet und Detektiv Loki (Jake Gyllenhaal) macht sich an die Arbeit. Doch die Nachforschungen laufen Keller zu langsam, weshalb sich Keller auf eigene Faust auf die Suche nach seinem Kind macht. Dabei entführt er sogar einen Mann, den er unter Verdacht hat. – Packendes Drama vom frankokanadischen Regisseur Denis Villeneuve.

TANGO LIBRE FRA/BEL 2013 // DRAMA 17. bis 21.10., Kino Lichtspiele Der Tango wird in Frédéric Fonteynes Tragikomödie zum kraftvollen Leitmotiv. Der Gefängniswärter JC trifft bei einem Tango-Kurs auf die Krankenschwester Alice. JC ist von der jungen Frau fasziniert und staunt nicht schlecht, als er sie kurz darauf im Gefängnis wiedertrifft, wo sie ihren Mann Fernand und ihren Geliebten Dominic besucht, mit denen sie eine offene Beziehung führt...

5 Fragen an... Herbert Schibler, Direktor Stadttheater Olten

Schwarzweiss – und doch erfrischend uncool In „Frances Ha“, einer der schönsten Komödien des Jahres, verkörpert die US-Schauspielerin Greta Gerwig ein neues Frauenbild. von Pierre Hagmann

D

ie 27-jährige Frances wohnt mit ihrer Freundin Sophie in einer New Yorker WG. Seit langem versucht sie, sich als Tänzerin zu etablieren. Trotz ausbleibendem Erfolg lebt sie gut gelaunt in den Tag hinein – bis Sophie die gemeinsame Wohnung verlässt, um mit dem Freund zusammenzuziehen. Und Frances mit langsam wachsender Panik zwischen Training und Jobs, zwischen Menschen und Wohnungen pendelt. „Frances Ha“ ist das wunderbare Porträt einer Frau, bald 30, in einer heiklen Übergangszeit, nach der Studienzeit, vor dem Berufsleben. Ein Porträt einer Persönlichkeit, die noch nicht fertig ausgereift ist, genau wie der Name im Titel. Den vollständigen Namen der Hauptfigur erfährt der Zuschauer erst am Ende des Streifens. Der leichtfüssige SchwarzweissFilm von Noah Baumbach kommt ohne klischierten Indie-Hipster-Chic aus, was in erster Linie an seiner grandiosen Protagonistin (die übrigens mit dem Regisseur liiert ist) liegt:

Greta Gerwig, 1983 in Kalifornien geboren, nun in New York zuhause, wo der Film auch spielt. Gerwig hat sich via Hintereingang in die Welt der aufstrebenden Hollywood-Celebrities gespielt. Bislang galt sie vor allem als Königin der Mumblecore-Szene, einem Independent-Subgenre, das sich über tiefe Produktions-Budgets, improvisierte Dialoge und Do-it-yourself-Ästhetik definiert. Mit Darbietungen wie in „Frances Ha“ eröffnen sich Gerwig, der eine geistige Verwandschaft mit Woody Allen nachgesagt wird, nun neue Perspektiven. Ihr MainstreamDebüt liegt bereits hinter ihr („No Strings Attached“, „Arthur“). Bleibt zu hoffen, dass die wunderbar uncoole und eigenwillige Schauspielerin das neue Frauenbild, welches sie verkörpert, auch im kommerziellen Hollywood-Kino ausleben darf.

FRANCES HA USA 2012 // COMEDY/DRAMA 3. bis 7.10., Kino Lichtspiele

Was ist Ihr Lieblingsfilm? „Spiel mir das Lied vom Tod“. Als Teenager ging ich gleich zweimal hintereinander ins Kino. Claudia Cardinale haut mich immer noch um, wenn sie aus dem Zug steigt… Welchen Film haben Sie zuletzt im Kino gesehen? Leider gehe ich nicht mehr so oft ins Kino wie früher. Im Lichtspiele habe ich in der letzten Saison die wunderbare Verfilmung von „le prénom“, einer französischen Komödie, gesehen. Bei welchem Film hätten Sie gerne die Hauptrolle gespielt? In „Die Legende von Bagger Vance“ die Rolle eines ehemaligen Golfchampions (Matt Damon). Mit welchem Filmstar würden Sie am liebsten einmal einen Kaffee trinken? Mit Katja Riemann. Ein Glas Wein war es schon einmal vor sechs Jahren nach ihrem Auftritt als „Anna Karenina“. Worüber würden Sie gerne einen Film drehen? Über Nietzsche und Rilke in Sils Maria.

Das ganze Oltner Kinoprogramm für den Monat Oktober: youcinema.ch und lichtspiele-olten.ch

Olten • Oftringen • Brugg

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deliah.kyburz@youcinema.ch www.redcarpetcinema.ch

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TITEL

AM LIEBSTEN NACH HAUSE

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KOLT

Januar 2011 2011 Januar


DAS KLEINE JOB-INTERVIEW

„Man ist dann gut angezogen, wenn man sich in den Kleidern wohl fühlt“ Jennifer Papatzikakis, 23, hat kürzlich eine eigene Kleiderboutique in Olten eröffnet. Eine der wichtigsten Herausforderungen sei es, am definierten Konzept festzuhalten. Interview von Stephanie Schumacher Foto von Yves Stuber

J

ennifer Papatzikakis, Sie haben vor kurzem Ihren Laden "Zeit für neue Helden" eröffnet. Wie bereitet man sich auf eine solche Aufgabe vor? Gibt es Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen? Vorschriften gibt es nicht, da ich Labels einkaufe. Ich hatte das Glück, dass ich jemanden kenne, der seit einem Jahr eine eigene Boutique hat und mich vom ersten Augenblick an immer ehrlich beraten hat. Beispielsweise, wie ich Modemessen finden kann: Eine in Berlin heisst „Bred & Butter“ – nicht gerade ein konventioneller Name. Zudem setzte ich mir einen Preisrahmen. Luxuslabels kamen nicht in Frage. Alles was in Richtung Rock, Hippie und Bohemien ging, kam in die engere Auswahl. Die wichtige Aufgabe dabei ist es, am eigenen Konzept festzuhalten. Nebst dem bekannten Label „Cheap Monday“ sind die anderen Labels bei mir schweizweit exklusiv erhältlich.

Sind Sie mit dem Standort zufrieden? Ja, sehr. Fahrradfahrer werden auf mich aufmerksam und Schülerinnen werfen vor oder nach der Schule einen Blick in meinen Laden. Am Mittag gehen alle, die hier in der Umgebung arbeiten, was essen oder an die Aare wollen, zu Fuss vorbei.

Wieso verkaufen Sie nebst Kleidern auch Accessoires? Für mich "Die Ikonen wachen über meinen Laden": Ladenbesitzerin Jennifer Papatzikakis. war klar, dass ich in meinem Laden auch Geschenkartikel anbieten möchte. Kleiderläden, die solche Dinge verkaufen, fand ich immer beSie befassen sich jeden Tag mit Thesonders toll. Auch hier musste ich mir men wie Schönheit oder Mode. Wann eine klare Linie setzen. Ich habe mich ist ein Mensch schön und gut gekleivorerst auf alles, was mit Musik zu tun det? Ein Mensch ist für mich gut gehat, beschränkt. kleidet, wenn er sich darin wohl

Urban, jung, unkonventionell – das ist CAMPUS. Jetzt neu bei Mode Bernheim.

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fühlt. Man sieht dann automatisch schön aus. Das ist für mich die Herausforderung am Verkaufen: dass der Kunde neue Ideen von mir kriegen kann und merkt, dass er sich auch in Anderem wohl fühlt. Ich bin aber keine „Aufschnorri“-Verkäuferin, Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig. Sie haben viele Bilder von Stil-Ikonen in Ihrem Laden präsent. Zur Inspiration? Einerseits sind die Bilder Inspiration für die Kunden, andererseits auch Wegweiser, wo die Herrenabteilung endet und die Damenabteilung beginnt. Es gibt viele, die sich die Bilder länger anschauen. Ich finde, dass sie meinem Laden eine besondere Atmosphäre geben. Die Ikonen wachen auch über meinen Laden (lacht). Sie betreiben auch eine Änderungsschneiderei. Was kann man alles zu Ihnen bringen? Alles, was Stoff anbelangt ist kein Problem. Ich mag die Herausforderung, etwas zu ändern, ohne das ganze Kleid auseinander zu nehmen. Ich kann mir auch nicht mehr Stoff besorgen, sondern muss mit dem arbeiten, was ich habe. Zeit für neue Helden: Concept-Store. Zielempgasse 17, 4600 Olten. Geöffnet jeweils ab 10 Uhr, Mo und Di geschlossen.

OLTEN über die Welt Muss der Westen intervenieren, wenn – wie in Syrien geschehen – Giftgas zum Einsatz kommt? Mehmet Bal, 39, Wangen b/Olten Ja, unbedingt. Auch wenn eine militärische Reaktion das Risiko weiterer ziviler Opfer birgt – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. In solchen Fällen müssen einfach klare Zeichen gesetzt werden. Susanne Dietrich, 39, Zofingen Ja, der Westen soll sich einmischen und unsere Freiheit am Brandherd verteidigen. Und zwar, weil sich auch islamistische Terroristen unter die Rebellen mischen und das zu einem gefährlichen Pulverfass für die ganze Region werden kann. Wehret den Anfängen, auch hier. Riccardo Aggujaro, 31, Winznau Der Entscheid sollte bei der UNO liegen, nicht bei einem einzelnen Staat wie zum Beispiel den USA. Grundsätzlich bin ich gegen solche Interventionen. Mike Bigler, 26, Zofingen Es ist schwierig, sich darüber ein Bild machen zu können. Das Assad-Regime streitet den Einsatz von Giftgas ab, die Amis behaupten das Gegenteil. Ein Abbau der Chemiewaffen scheint mir darum das sinnvollste. Wenn ich das als Intervention bezeichnen darf, dann scheint sie mir sinnvoll.


STADTLEBEN Die Kirche als moderner Ort der Entschleunigung: Zum Beispiel mit Schläuchen als einladende Eingänge, die auch für Ausstellungen genutzt werden können.

Bitte mal langsam Die Christkatholische Stadtkirche steht inmitten der neuen Begegnungszone und wird kaum noch genutzt. Die Zukunft ist ungewiss: Eine Sanierung wird nötig, doch dazu fehlt Geld. Nun wird diskutiert, wie man die Kirche künftig kommerziell nutzen könnte, um Mittel zu generieren und die Innenstadt weiter aufzuwerten. Das ist der falsche Weg. Text von Matthias Sigrist Visualisierungen von Amélie Fibicher (siehe Erläuterung ganz rechts)

D

er Oltner Verein Stadtgespräche, welcher sich zur Aufgabe gemacht hat, architektonische und städtebauliche Themen in Olten (kontrovers) zu diskutieren, lud Ende August ins Kunstmuseum Olten zu einer weiteren Podiumsdiskussion. Zahlreiches Publikum scharte sich um die drei Podiumsteilnehmer und den Moderator – schliesslich ging es in der Diskussion um eine grosse Frage: „Soll die Christkatholische Stadtkirche zu einem Hallenbad umfunktioniert werden?“ Natürlich war der Gesprächstitel eine Provokation, natürlich ging es nicht um ein Hallenbad. Tatsächlich stand eine mögliche Umnutzung der Stadtkirche zur Debatte. Soll man sie öffnen für andere, neue Nutzungen? Lässt man die Hülle der Kirche stehen und füllt sie mit ei-

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ner neuen Nutzung wie einer Markthalle, einem Café, einem Museum, einem Konzert- und Partylokal – einem Ort der Konsumation und Unterhaltung also? Bereits kommen Stimmen auf, man könnte einen Mitwirkungsprozess zur Umnutzung der Stadtkirche veranstalten. Die Bevölkerung

>> DAS IST VOR ALLEM EIN MITTEL, HINTER DEM SICH GUTBEZAHLTE STADTENTWICKLER VERSTECKEN KÖNNEN, WENN ES NICHT VORWÄRTS GEHT. <<

wäre also aufgerufen, ihre Ideen einzubringen, was denn aus der Kirche werden soll. Die Ideen würden von „sein lassen“ bis hin zu einem Hallenbad reichen. Und dann? Was ist mit diesen Ergebnissen anzufangen? Nichts. Sie sind unbrauchbar und keine Hilfe für die Kirchenleitung. Gerade in Olten scheint das Mittel des Mitwirkungsprozesses beliebt zu sein. Der Nutzen daraus ist in vielen Fällen jedoch mehr als fraglich. Es ist vor allem ein Mittel, hinter dem sich gutbezahlte Stadtentwickler und weitere Fachberater verstecken können, wenn es nicht vorwärts geht; man müsse zuerst die Mitwirkung auswerten. Und dann nochmals einladen und präsentieren und die Resultate aus den Rückmeldungen nochmals auswerten. Doch eben: He-

rausschauen tut in den meisten Fällen nichts. Weil die Bandbreite von Ideen dermassen gross ist, braucht es dann einen Kompromiss – dieser ist aber meist schon vor dem Mitwirken der Bevölkerung festgestanden. Gerade in der Frage um die Zukunft der Stadtkirche ist ein Aufruf an die Bevölkerung mit Sicherheit der falsche Weg. Die Kirchenleitung soll sich ihrer Kernaufgabe besinnen: das Führen eines Ortes, an dem Türen und Arme offen stehen für Menschen in Not und für Menschen, welche einen Ort der Ruhe suchen. Die Mitglieder der Kirchenleitung sind weder Bademeister noch Gemüseverkäufer, sondern Seelsorger. Die Innenstadt Olten hat an Attraktivität gewonnen, ganz klar. Und die Innenstadt ist zu einem Ort ge-

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STADTLEBEN

„Wir sind offen, aber stiller“ KOLT hat die ETH-Architektin Amélie Fibicher (EM2N, Zürich) beauftragt, die Oltner Stadtkirche in einen modernen und nichtkommerziellen Ort der Entschleunigung zu verwandeln. Das Resultat zeigt eine Mischung zwischen Park und Ausstellungsraum, wobei die Substanz der Kirche kaum angegriffen wird.

Der Innenraum der Stadtkirche, wie ETH-Architektin Amélie Fibichier sich ihn vorstellt: als begrünte Oase, die zum Verweilen einlädt.

worden, an welchem gefestet und gefeiert werden darf und soll. Events haben schon einige stattgefunden und weitere werden stattfinden. Das ist richtig, dafür wurde der Platz gebaut. Gleichzeitig darf es aber auch in der verkehrsfreien Innenstadt Orte des kurzen Innehaltens, der Ruhe geben. Und genau hier setzt die Aufgabe einer zentralen Stadtkirche an. Der Mensch soll nicht immer konsumieren (müssen). Eintritt zahlen, etwas kaufen, vorgegebene Unterhaltung bekommen. Eine Markthalle ist sicher eine schöne Sache – und funktioniert nur, wenn darin Waren umgesetzt werden. Ebenso bei einem Restaurant oder einer Galerie.

ÜBERALL LAUERT ABLENKUNG Wir werden heute auf Schritt und Tritt unterhalten, überall fliegen uns Kaufargumente entgegen. Wir sind eingelullt von Werbung, können 24 Stunden konsumieren. Überall Events und Konsumtempel wie Shoppingmalls oder Restaurants oder Kinos oder Kulturlokale. Wir leiden unter einer „Eventisierung“ des Alltags. Die Folgen: Eigenverantwortung entfällt zusehends, alles wird vorgekaut und liegt griff- und konsumbereit vor unserer Nase. Die Verführung, nicht

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mehr mitdenken zu müssen, lauert an jeder Strassenecke. Wir brauchen Orte, an welchen wir nicht permanent vom Alltag überrollt werden. Und hier liegt des Pudels Kern: Eine Kirche ist ein solcher Ort. Ein Ort der Ruhe und Besinnung und Spiritualität. Ein Ort der Entschleunigung. Wir sollten Orte, welche explizit dafür stehen, auch als solche nutzen. Zurückziehen und herunterfahren. Still sein, ein Buch lesen oder per Kopfhörer Musik hören. Die Kirche soll ihre Tore öffnen und Menschen sollen sie beleben. Da können auch Bilder ausgestellt sein. Es braucht aber keine programmierte Unterhaltung, keine Events. Einfach mal ruhig sein und seinen Gedanken nachgehen – schadet nicht. Mehr und mehr Menschen verlieren die Fähigkeit dazu. Viele können sich nicht mehr selber beschäftigen: "Ich kenne unzählige Menschen, die nach dem ewigen Leben dürsten», notierte der deutsche Publizist Johannes Gross, "aber mit einem verregneten Sonntagnachmittag wissen sie nichts anzufangen." Das manifestiert sich zum Beispiel darin, dass jeweils bereits am 26. Dezember oder am Ostermontag die ersten Shoppingmalls ihre Tore wieder öffnen. Und gerade deshalb braucht es nicht noch einen Ort, der

Unterhaltung und Konsum in den Vordergrund stellt. Vor allem nicht eine Kirche, deren Nutzen ein ganz anderer ist. Das ist im Übrigen eine weltliche Argumentation, keine religiöse. Über die Umnutzung sakraler Bauten, gerade unserer Landeskirchen, welche noch einer Handvoll Kirchgänger am Sonntagmorgen dienen, darf und soll nachgedacht werden. Die Christkatholische Stadtkirche mit ihrer zentralen, innenstädtischen Lage gehört nicht dazu. Die Stadtkirche soll ein Ort bleiben, an welchem wir Ruhe finden, an welchem wir gedenken und unsere auch mal überbelasteten Gemüter vom hektischen Alltag herunterfahren können. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, muss die Kirche einfach und regelmässig zugänglich sein. Das ist heute nicht der Fall. Hier sollte die Veränderung, die Anpassung stattfinden. Die Funktion der Kirche im 21. Jahrhundert muss nicht neu erfunden werden. Ein leichtes "Redesign" würde reichen. Matthias Sigrist, ist Co-Herausgeber von KOLT und Mitglied der reformierten Kirche, bezeichnet sich aber als Agnostiker. Nebst seiner Tätigkeit bei KOLT ist er in der Um- und Zwischennutzung von Immobilien tätig.

Unser Auftrag an die Architektin war nicht der eines fertigen umsetzbaren Konzeptes. Vielmehr war das Ziel ein visualisiertes, architektonisches Gedankenspiels, welches zum Nachdenken anregt und Inspiration liefern kann. Amélie Fibicher hat für KOLT einen öffentlich zugänglichen Park im Zentrum geschaffen, der durch seine klare Trennung zum Aussenraum zwar Ruhe bietet, aber trotzdem zum Eintritt einlädt und die Fortsetzung der bestehenden Nutzung der christkatholischen Kirche wünscht. In den Skizzen wird der Innenraum der Kirche zum geschützten und begrünten öffentlichen Raum, zu einer Art Park, mit Sitzgelegenheiten und begrünten Zonen. In Olten sind Oasen, Parks, Grünflächen, Sitzgelegenheiten, Orte des Verweilens sehr rar. Auch überall sonst im Land können Parks viele Monate im Jahr nur schlecht genutzt werden. Hier ergibt sich die Möglichkeit, einen nichtkommerziellen Aufenthaltsraum für die Bevölkerung zu kreieren, ohne die ursprüngliche Nutzung der Kirche zu verhindern. Die Menschen können sich im öffentlich zugänglichen Innenraum treffen, lesen, verweilen und denken. Die Kirche war früher ein Ort der Gemeinschaft und ein Treffpunkt; diese Merkmale werden erhalten. Die auf der Skizze rot gefärbten „Schläuche“ – die an bestehenden Eingängen platziert wurden, so dass es möglichst wenige Durchbrüche im Bestand gibt – dienen einerseits als gut ersichtliche und neue Eingänge zum Inneren des Gebäudes. Andererseits können sie genutzt werden für Ausstellungen, Messen und Vorträge. Sie dienen als Räume mit frei definierbaren Funktionen, anders als der bestehende Platz aussen und der neu kreierte Platz innen, deren einzige Funktion es ist, von den Menschen belebt und genutzt zu werden. Der neue Haupteingang ist transparent, verschliesst sich gegenüber Passanten somit nicht mehr so stark, aber schirmt die ruhigere Zone gegen die lärmigere Kirchgasse ab, um eine andere Art der Öffentlichkeit zu erreichen – im Sinne von: „Wir sind offen, aber stiller“.

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IM EXIL

Die Welt ist schön und traurig Menschen aus der Region berichten aus der Welt – diesmal unter anderem über das Mahnmal von Baku, ausgebeutete Philippinerinnen in Hongkong und Plastikinseln im Pazifik.

1 PONTEDEUME, GALIZIEN, SPANIEN

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alizien ist überall! Eine von der Feuchtigkeit heruntergekommene weisse Fassade des Dorfmarkts vor grünem, üppigem Wald. Ich höre beinahe die FARC-Rebellen im Urwald verhandeln und die Waffen putzen, wenn keine europäische Abfallentsorgungsstation die Wahrnehmung korrumpieren würde. Die holzigen Balkone mit Glasfenster wiederum erzeugen eine verinnerlichte Vorstellung von Küstenhäusern in Maine, oder vielleicht eher Stockholm? Dahinter aber sehe ich so etwas wie einen andalusischen weissen Balkon, voller üppig farbiger Blumenbouquets. Gegenüber liegt ein rauher Hafen mit vertäuten Fischkuttern voller Netze, die genauso gut in Hamburg ankern könnten. Kaum im Auto,

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blickt man auf die Bucht zurück, sie scheint ein skandinavisches Fjord zu sein, so effizient, wie sich das Meer hier in das Land hineingeschlängelt hat. Die Sandstrände wiederum können es mit Biarritz aufnehmen – auslaufend, natürlich, breit und wild. Wenn da nicht Schweizer Nadelwälder, gespickt mit Eukalyptus, das ganze Hinterland füllen würden. Auch durch den nebligen Jura mit knorrigen Weidenzäunen – oder war es ein Bild von Ansel Adams? – sind wir gekurvt, bevor uns ein Eukalyptus-Urwald verschluckt hat, der mit Tessiner Steinofen-Grotti zum Tintenfisch- oder Entenmuschel-Essen eingeladen hat. Die Journalistin Katja Zellweger, 26, ist kürzlich von ihrem ErasmusSemester in Spanien zurückgekehrt.

2 BAKU, ASERBAIDSCHAN

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ash Xenum Abbassova lebt an der Dilare Eliyeva in Winter Park, Baku. Ein Quartier welches bereits auf Google Maps als "illegal destruction site" markiert ist. Wie ein Mahnmal trotzt ihr Haus noch als einziges übrig gebliebenes in der ganzen Strasse. Nachdem links und rechts die Häuser eingerissen worden waren und sie bereits seit ein paar Wochen ohne Strom lebt, wurde vor ein paar Tagen die Wasserleitung aufgebrochen und der Keller geflutet. Anstelle der Wohnhäuser soll ein

MEHR ALS EINE DRUCKEREI

...

Bürokomplex mit Hotels und Shopping entstehen. Sie weigert sich, den illegalen Abtretungsvertrag der Regierung zu unterzeichnen, weiss jedoch, dass ihre Tage in dieser Wohnung gezählt sind. Vor der Türe stapeln sich die Umzugskartons. „Bei den Nachbarn hiess es, ihr habt zwei Stunden..." Philipp Künzli stammt aus Olten und arbeitet an der Fotoreportage forced in Baku, Aserbaidschan, ein Projekt über Zwangsumsiedlung im Namen des Fortschrittes.

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März 2012 KOLT T 062 205 75 75

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IM EXIL Wer im Ausland lebt oder seine Ferien jenseits der Grenze verbringt, ist herzlich eingeladen, uns einen Beitrag für diese Rubrik zu schicken: 1 Bild und max. 1000 Zeichen Text an redaktion@kolt.ch.

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HONGKONG, CHINA

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onntags füllen sich Hong Kongs Parks und Fussgängerzonen mit Gesichtern, die man sonst kaum in der Öffentlichkeit sieht. Hauptsächlich Frauen aus Indonesien oder den Philippinen. Sie verbringen ihren freien Tag auf der Strasse, denn ihr Wohnort ist ihr Arbeitsplatz, und für Kaffees oder Restaurants fehlt ihnen das Geld. In Hong Kong nennt man sie Domestic Helpers. Zurzeit leben und arbeiten gut 300’000 von ihnen hier im Hochhausdschungel. Zu ihren Aufgaben gehören Putzen, Kochen, Waschen, Kinder- und Altenbetreuung. Die Arbeitszeit ist nicht festgelegt, oft wird erwartet, dass ein Domestic Helper 24 Stunden pro Tag zu Diensten steht. Ihre Arbeitsverträge schreiben aktuell einen Lohn von

NORTH COAST TRAIL, VANCOUVER ISLAND, KANADA umgerechnet etwa 470CHF pro Monat und einen Ruhetag pro Woche vor. Zudem bekommen sie Essen und Unterkunft, was angesichts Hong Kongs prekärer Wohnverhältnisse auch mal heissen kann, auf einer Strandmatte unter dem Tisch zu schlafen. Während der ersten 6 Monate müssen sie mindestens 65% des Lohnes an Arbeitsagenturen abtreten, welche die Frauen nach Hong Kong bringen. Diese machen das grosse Geschäft. Wieso das Ganze? Die meisten Domestic Helper unterstützen mit dem Geld, das sie hier verdienen, ihre Familien in den Herkunftsländern. Nina Gutweniger, 31, stammt aus Hägendorf und arbeitet in Hongkong als Beraterin im Bereich Domestic Helpers and Migrant Workers Programme.

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Uhr morgens. Wir warten auf das Wassertaxi, das uns in der Shushartie Bay abholen soll. Sechs Tage wanderten wir von ‚easy/ moderate’ bis ‚extremely difficult’. Dabei kam uns erstmals, seit wir in Kanada wandern, ein Bär entgegen. Die Frage, Foto schiessen oder lärmen, stellte sich nur kurz. Wir riefen. Fortan grüssten wir, freundlich wie wir sind, täglich lautstark Bär, Puma und Wolf. Unser Weg führte uns durch verwunschenen Regenwald und lichtes Hochmoor, an tausendjährigen Giganten vorbei, über Strände, Seilbahnen und Wurzelstöcke so gross wie mein Büro, am Seil Abhänge hoch und Aufgänge runter. Nachts im Zelt lauschten wir jeweils der herannahenden Flut hoffend, die

Angaben auf der Gezeitentafel mögen stimmen. Ein neuer Tag, ein erneuter Parcour über Schwemmholz, Milchflaschen und PET. Mist, den ganz grosse Flaschen irgendwann liegengelassen, ins Meer geworfen oder in einem Fluss vergessen haben. Aus dem Vergessenen wächst ganz weit draussen in den Weiten des Wassers still und stetig eine Insel aus Plastik heran, bunt und in ständiger Bewegung. Da, genau da und nirgends sonst, sollten diese Flaschen leben. Das Wassertaxi kommt. Der Chauffeur überrascht uns mit frischem Wasser und einem Frühstücksbagel. Daniela Hurni & Rhaban Straumann aus Olten lebten von Juli bis September in B.C. und Yukon Territory.


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"DAS IST EINFACH NICHT ZU AKZEPTIEREN"

>> DAS IST EINFACH NICHT ZU AKZEPTIEREN << Marco Grob aus Olten fotografiert Berühmtheiten in aller Welt und ist damit selber berühmt geworden. Weniger bekannt ist, dass Grob seit einigen Jahren auch für die Vereinten Nationen im Einsatz steht. Im Auftrag der UNMAS (United Nations Mine Action Service) dokumentiert er mit seiner Kamera den ebenso riskanten wie zermürbenden Kampf gegen Landminen – ein Kampf, der auch beim weitgereisten Fotografen Spuren hinterlassen hat. Die Bilder, die wir hier dank UNOSondergenehmigung exklusiv zeigen dürfen, hat Marco Grob im Einsatz in Afghanistan, Kambodscha und dem Südsudan gemacht.

von Pierre Hagmann und Katja Zellweger

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Pasha Mir, 40, lebt in Sayad, Bagram, Afghanistan. Er wurde durch eine Landmine schwer verletzt, als er vor seinem Shop ein Schild installieren wollte.

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"DAS IST EINFACH NICHT ZU AKZEPTIEREN"

arco Grob, Sie haben als Porträtist von Berühmtheiten international den Status eines Starfotografen erlangt. Wieso fotografieren Sie jetzt Minenopfer im Südsudan? Für mich als Menschen ist es das Wertvollste überhaupt, für dieses Engagement tätig sein zu dürfen. Die UNMASEinsätze sind jeweils die Highlights des Jahres. Da fühle ich, Teil von etwas Grösserem als mir selbst zu sein. Auch wenn das Leid, das ich dort antreffe, schwer zu ertragen ist. Und auch Wut und Trauer hinterlässt. Wie begann das alles? Wie ist die Zusammenarbeit mit der UNO zustande gekommen? Ich wurde angefragt. Das war kurz, nachdem ich den Auftrag, die burmesische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi zu porträtieren, aus Zeitgründen abgelehnt hatte. Als mein TIME-Magazine-Kollege und guter Freund James Nachtwey von meiner Absage erfuhr, hat er mich gefragt, ob ich wahnsinnig geworden sei. Zwei Tage später klingelte mein Telefon und Aaron J. Buckley, Öffentlichkeitsmitarbeiter der UNMAS, bot mir an, in Afghanistan Betroffene und Mitarbeiter zu fotografieren. Ich habe keine Sekunde gezögert. Die UNO hat sich zum Ziel gesetzt, Afghanistan bis 2023 entmint zu haben. Noch werden aber jeden Monat über 30 Menschen durch Minen verletzt oder getötet, obwohl schon 1860 Quadratkilometer Land freigegeben werden konnten. Wie bewegt man sich in diesen Gebieten? In Afghanistan konnten wir uns überhaupt nicht frei bewegen. Das heisst: quasi immer im Bunker oder in gepanzerten Fahrzeugen. Hätten wir uns da nicht strikt an die Regeln gehalten, wären wir sofort heimgeschickt worden. Wir? Für solche Aufträge versuche ich, mein Team schlank zu halten. Darum werde ich einzig von meiner Assistentin Tara Rice begleitet. Ich will ja nicht Kosten verursachen, sondern Geld für die Sache generieren. Normalerweise bewegen wir uns mit Fahrzeugen und haben Dolmetscher dabei. Manchmal drei pro Tag, wegen der unterschiedlichen Dialekte. Jedenfalls mussten wir in Afghanistan alle 30 Minuten unseren Standort per Funk durchgeben, ansonsten wäre ein Suchtrupp losgefahren. In Ländern wie dem Südsudan gilt: Street plus 10 – nur die Strasse und

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>> EINE MINE ZU PRODUZIEREN UND PLATZIEREN KOSTET 2 DOLLAR. SIE ABER PER HAND AUS DER ERDE ZU HOLEN DAS TAUSENDFACHE.<<

Sot Tol, Siem Reap, Kambodscha. Fotografiert im Meta Karuna Center, einer Reha-Klinik für Landminen-Opfer.

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TITEL ein beidseitiger Couloir von je zehn Metern Breite sind sicher begehbar. Ausser die Gebiete sind explizit als geräumt deklariert. Wer ein Gebiet als geräumt deklariert, trägt sehr viel Verantwortung; dann muss wirklich jeder Brunnen, jeder Mango-Baum, jeder Zentimeter überprüft und geräumt sein. Haben Sie kritische Situationen erlebt? Nein, wir hatten bisher Glück. Zwei Wochen nachdem wir Kabul verlassen hatten, riss ein Selbstmordattentäter 18 UN-Leute mit in den Tod. Unsere nächste Destination sollte Somalia sein, doch der Trip wurde wegen eines heftigen Selbstmordanschlages abgesagt, mit Mali ging es ähnlich. Wenn etwas passiert, dann passiert es auch dem Nichts. Das sagen alle, die sich auskennen. Was das wirklich heisst, kann man sich als Schweizer gar nicht vorstellen – und vielleicht ist das besser so. Doch die Situation ist natürlich permanent angespannt. Die Leute vor Ort erleben auch psychischen Stress. Ein Gerücht über eine einzelne Mine kann ein ganzes Quartier über Jahre verunsichern. Dann fürchten sich die Menschen vor Minen, die es gar nicht gibt. Man stelle sich vor: Plötzlich hiesse es, dass irgendwo in der Schweiz eine Landmine liegt. Eine einzige – aber niemand weiss wo. Psychoterror. Wie gehen Sie mit dem Leid um, das Sie vor Ort erlebt haben? Ein komisches Ventil ist Lachen, wenn es ganz unerträglich traurig wird. Wir glaubten den Leuten nicht, die uns erzählt hatten, dass sie in den schlimmsten Momenten lachen mussten – bis es uns selber passiert ist. Ich bin 290 Tage im Jahr unterwegs und werde ständig mit Armut konfrontiert. „Krieg“ ist aber eine ganz andere Dimension;

>> JA, WIR BEWEGEN UNS ZWISCHEN DEN EXTREMEN. UND DAS MACHT UNSER WELTBILD ZIEMLICH KOMPLIZIERT.<< 20

da fehlt oft die Hoffnung. Die Nachwehen des Krieges sah ich zum ersten Mal in Afghanistan 2010. Kambodscha hat mich aber erst richtig umgehauen. Warum? Bei staatlich geleiteten Militäraktionen existieren Pläne, die dokumentieren, welche Minen wo und wie angeordnet sind. Die Russen zum Beispiel haben den Afghanen nach dem Krieg solche Pläne zur Verfügung gestellt. In Bürgerkriegen mit Guerilla-Truppen beispielsweise oder lokalen Kommandos, die ohne Draht gegen oben agieren, läuft das Ganze viel unkoordinierter ab: die verminen im Gegensatz zu regulären Armeen planlos. Davon erholen sich Länder extrem schlecht. Wie Kambodscha eben, wo die Roten Khmer gewütet haben. Tara, meine Assistentin, die schon vieles erlebt hat, ist in Kambodscha fast zusammengebrochen. Auch ich musste manchmal weinen. Zum Beispiel, als ich Kinder bei einem Rollstuhl-Rennen beobachtete. Das ist einfach nicht zu akzeptieren! Pol Pot, der Khmer-Rouge-Diktator, hat einmal gesagt: „Minen sind die perfekten Soldaten. Sie arbeiten rund um die Uhr, sie geben nie ihre Stellung auf, sie brauchen nichts zu essen, sie stellen keine Forderungen, und – am wichtigsten – sie nehmen dem Gegner die Lust am Kampf.“ Pol Pot ist längst tot, doch die Minen richten weiter ihr Unheil an. Ist der Kampf aussichtslos? Nein! Aber er verlangt extrem viel Geduld und Geld. 100 Millionen Landminen gibt es noch heute weltweit. Es braucht so viel, um nur eine einzige davon zu entschärfen. Ich war bislang insgesamt 1,5 Monate im Einsatz für die UNMAS. In dieser Zeit konnten 5 Panzerminen und 15 Antipersonenminen lokalisiert und entfernt werden. Die Minenräumung ist nicht nur extrem zeitintensiv, sondern auch sehr harte Arbeit: Man muss sie in mühsamer Kleinarbeit ausbuddeln, oft in brutaler Hitze, auf den Knien, Schritt für Schritt. Nach 30 Minuten brauchen die Leute eine Pause. Und das Ganze kostet viel Geld. Die Faustregel lautet: Eine Mine zu produzieren und platzieren kostet 2 Dollar. Sie aber per Hand aus der Erde zu holen das Tausendfache. Minen sind so billig? Ja. Das ist ja auch nicht viel dran. Die in Kambodscha weit verbreitete italienische Mine etwa ist bloss 150 Gramm schwer, vor

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Mundari-StammesangehĂśriger, Juba, SĂźdsudan

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Oun Lors, Battambang, Kambodscha. Oun war mit Abholzarbeiten besch채ftigt, als ihm eine Landmine ein Bein wegriss. Fotografiert im Battambang Emergency Hospital.

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nehmlich aus Kunststoff, einzig die kleine Feder darin ist aus Metall. Das macht es schwierig, sie per Metalldetektor zu orten. Diese ist eine der kleinsten Minen – und richtet doch verheerende Schäden an. Wer da drauftritt, verliert mindestens einen Unterschenkel und erleidet schwere Verbrennungen. Ganz perfide sind die Lichtsensor-Minen, die die Chinesen entwickelt haben: Sobald die Mine beim Ausgraben ans Licht kommt, bläst sie dir das Gesicht weg. In der ganzen Diskussion darf man UXO nicht vergessen: Unexploded Ordnance, also Blindgänger – das ist vielerorts ein genauso grosses Problem. In einigen Ländern wie Laos stellen UXO die wahre Bedrohung dar, nicht Minen.

sche Zeitgeschichte. Andererseits und vor allem sind es die Begegnungen mit den Menschen, die diese Arbeit einzigartig machen. Ich habe auf dieser Mission die mitunter intelligentesten Menschen getroffen, die mir je begegnet sind. Einheimische, UNOMitarbeiter, NGO-Arbeiter. Leute, die versuchen, eine kleine Differenz zu machen. Haben sie denselben Anspruch an sich selbst? To make a difference, einen Beitrag zu leisten zur Verbesserung der Situation? Oh ja. Das zu tun, wird zu meiner Verantwortung im Moment, in dem ich das Problem erkenne. Man kann Probleme nur lösen, wenn sie erkannt und dokumen-

Wieviel verdienen Sie bei Ihrem UNMAS-Engagement? Nichts. Ein Honorar stand nie zur Diskussion. Die Einblicke, die ich erhalte, sind unbezahlbar und die Befriedigung, bei einem solchen Engagement mitwirken zu können, ist riesig. Da spielt einerseits persönliches Interesse mit: Seit Jugendtagen schon interessiere ich mich stark für politi-

>> MAN STELLE SICH VOR: PLÖTZLICH HIESSE ES, DASS IRGENDWO IN DER SCHWEIZ EINE LANDMINE LIEGT. EINE EINZIGE – ABER NIEMAND WEISS WO. PSYCHOTERROR.<<

meindeverwaltungen, wo auch noch gleich ihr Bild hängt. Was können Sie als Fotograf konkret beitragen? Ich zeige, was die Politik für ein Schlamassel angerichtet hat und wer die armen Schweine sind, die es ausbaden müssen. Ich kann mit dieser Arbeit aufzeigen, was nach einem überstandenen Konflikt für die Menschen an Aufräumarbeiten ansteht, bevor überhaupt nur an Normalität gedacht werden kann. Dazu steht mir nun ein internationales Podium zur Verfügung. Die Bilder sollen der UNMAS, die unter anderem mittlerweile gut 12 000 Afghanen im Land beschäftigt, Aufmerksamkeit verschaffen und helfen, die Fördermittel fliessen zu lassen. Doch mir ist natürlich bewusst: Meine Mittel sind extrem limitiert. Wenn aber meine Arbeit über zehn Jahre ein einziges Kind rettet, dann reicht mir das als Motivation. Wie gesagt: Es braucht viel Geduld. Und gleichzeitig dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Da kann ich in der Zusammenarbeit mit dem teilweise bürokratischen UNO-Apparat auch mal Klartext reden, wenn es mir zu langsam geht.

Marco Grob mit Hamer-Kindern in Äthiopien. (Bild: Tara Rice)

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tiert werden. Wer solch gravierende Probleme hautnah erlebt, wie ich sie gesehen habe, der trägt die Verantwortung, einen Beitrag zur Lösung zu leisten. Egal, wie schwierig und gefährlich diese Aufgabe ist. Diese Verantwortung müssen jetzt, wo ich Ihnen davon erzähle, auch Sie als Journalist übernehmen. Ich fordere auch alle Künstler auf, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wie meinen Sie das? Ich fordere die Kunstszene auf – Musiker, Künstler, Fotografen...: Helft mit, einen Beitrag zu leisten im Aufzeigen der Wahrheit, auch wenn diese extrem unbequem ist. Unter den Nazis mussten die Künstler als erste gehen. Heute ist insbesondere die bildende Kunst unglaublich bequem geworden. Ich sehe vorwiegend Dekorateure oder Clowns ohne Tiefgang. Nicht zum Aushalten. Statt dass man sich vor den Aussagen der Künstler fürchtet, stehen diese auf der Lohnliste der Ge-

Könnten Sie sich vorstellen, als Kriegsfotograf zu arbeiten, aktuell in Syrien etwa? Das TIME Magazine hat zum jetzigen Zeitpunkt alle Mitarbeiter aus Syrien zurückgezogen. Grundsätzlich würde mich die Arbeit reizen. Gleichzeitig muss ich sagen: Ich bin kein Kriegsfotograf. Kriegsfotografen sind Soldaten, sagt der vielleicht berühmteste unter ihnen, mein TIME-Kollege James Nachtwey. Mir fehlt dieser Instinkt für die Gefahr, den es braucht, um in diesem Job zu bestehen. In Ihrer Tätigkeit als TIME-Fotograf fotografieren Sie häufig die Mächtigsten und Reichsten. Fühlt sich das manchmal nicht wie ein Widerspruch zu Ihrer UNMAS-Arbeit an? Tatsächlich geht das soweit, dass wir sowohl die Urheber des Krieges fotografieren, als auch deren Opfer. Ja, wir bewegen uns zwischen den Extremen. Und das macht unser Weltbild ziemlich kompliziert. Drei Wochen vor unserer Reise nach Kambodscha habe ich für das TIME Magazine den ehemaligen US-

UNMAS: Seit 1997 und mittlerweile in 30 Ländern aktiv United Nations Mine Action Service (UNMAS) ist eine Unterorganisation der UNO mit viel Autonomie. 1997 ins Leben gerufen, arbeitet die UNMAS heute in 30 Ländern aktiv mit den Regierungen zusammen und reduziert die Bestände von Landminen und unexplodiertem Geschütz, die aus Kriegen übrig geblieben sind. Damit gewährt sie der Bevölkerung eine Rückkehr in eine sichere Umwelt sowie einer stabilen Lebenssituation. Das „Demining“-Programm bietet zudem den Einheimischen Arbeitsplätze, schafft also auch wirtschaftliche Kraft in den Nachkriegsländern. Die UNMAS verfolgen dabei fünf Säulen der Entminungsarbeit, die nicht immer alle gleichzeitig in einem Land realisiert werden können: Beseitigung der Minen, Aufklärung/Bildung, Opferhilfe, Fürsprechen für minenlose Kriegsführung und Vernichtung bestehender Minen. In Afghanistan konnte die Opferzahl innerhalb der letzten sieben Jahre um 40% reduziert werden. Kambodscha ist eines der am stärksten verminten Länder weltweit, vier bis sechs Millionen Landminen und andere Munitionen sind bis heute vom Krieg übrig geblieben. Mit 50 Millionen US-Dollar Spendengeld könnte das asiatische Land 2020 minenfrei sein. Im letzten halben Jahr waren die Landminenvorfälle um 36% rückläufig gegenüber den Zahlen vom Vorjahr. Nach einem sechsjährigen Friedensabkommen ist der Südsudan, das jüngste Land der Welt, noch voller Minen und anderen nicht detonierten Sprengstoffen, die aus fünfzig Jahren Bürgerkrieg stammen. Gemeldet sind 4757 explosive Einheiten; man geht davon aus, dass mindestens 700 Objekte unterschiedlicher Grösse noch nicht entfernt werden konnten. Auch rechnet man mit vielen nicht verzeichneten Minen. Auch die Schweiz beteiligt sich an der globalen Minen-Bekämpfung. Sie stellt jährlich zwischen 16 und 18 Millionen Franken für Projekte der humanitären Minenräumung und zur Beseitigung explosiver Kriegsmunition bereit. Damit gehört die Schweiz zu den 15 grössten Geberländern.

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TITEL Aussenminister Henry Kissinger getroffen und fotografiert – das sollte zum besten Exempel des Spagats werden, den ich meinem Beruf mache. Kissinger war unter Präsident Nixon verantwortlich für die Bombardierung von Kambodscha. Und dort sah ich dann Betroffene, denen es das Gesicht zerfetzt hat. In den 70er-Jahren hat Kissinger da mehr Bomben reingesetzt, als im Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Japan zusammen abgeworfen wurden. Und Kambodscha ist flächenmässig massiv kleiner. Das macht mich extrem wütend. Damit hat er nicht nur viele unmittelbare Schäden angerichtet, sondern auch ein Vakuum und so die Basis für die Etablierung von Pol Pot geschaffen. Dass Kissinger, der eine Blutspur hinterlassen hatte wie nur wenige andere, ein paar Jahre nach der Bombardierung mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, spottet jeder Beschreibung. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, das ist für mich kein Widerspruch. Und wieso nicht? Ich will so viel von dieser Welt und Zeit zeigen, in der ich lebe, so wie sie sich jetzt präsentiert, wie nur irgendwie möglich. Ich sehe mich als Chronisten und Dokumentarist von Menschen, die in unserer Epoche in irgendeiner Art und Weise eine Rolle spielen und ich habe an mich als Berufsfotografen den Anspruch von Objektivität – ich betreibe keinen anwaltschaftlichen Journalismus. Ob bei Kissinger oder bei einem Minenopfer in Kambodscha: Ich nehme mich komplett zurück. Das ist der beste Weg, um das wahre Gesicht eines Menschen zu zeigen: Das Monster wird sichtbar, wenn ich mich selber völlig zurücknehme. Sonst laufe ich Gefahr, selbst zum Monster zu werden. Als Privatperson hingegen

>> DAS MONSTER WIRD SICHTBAR, WENN ICH MICH SELBER VÖLLIG ZURÜCKNEHME. SONST LAUFE ICH GEFAHR, SELBST ZUM MONSTER ZU WERDEN.<< 24

kann und will ich Position beziehen, da werde ich zum Advokaten. Wie in diesem Interview. Und als Privatperson sage ich auch: Politiker sind mir suspekt, per se. Jemand, der in den Spiegel schaut und das Gefühl hat, er könne ein Land wie die USA regieren, muss völlig verrückt sein. Wie und wo werden Ihre Bilder eigentlich gezeigt? Immer wieder und vielerorts. Das Projekt kennt kein definiertes Ende. Wir hatten schon Ausstellungen in New York City, in Kabul, in der südsudanesischen Hauptstadt Juba, in Phnom Penh. Die Bilder werden mit Bildlegenden versehen, die aus den geführten Interviews zitieren. Momentan arbeiten wir an einem Film über eine Deminerin, auch ein Buch ist denkbar. Darum müssen die Bilder eine Geschichte erzählen und auf ihre Art auch „schön“ sein. Das kann bei Kinderbildern zum Problem werden. Auch wenn die Kinder verwundet sind, verzerrt das Bild oft die Aussage: Es wird zu schnell zu hübsch oder herzig. Es geht darum, einfach zu zeigen was ist; dazu müssen aber auch nicht die zerfetzten Augenhöhlen des Blinden ausgeleuchtet werden. Denn wie gesagt: Ich will meine Wut nicht an den Bildern auslassen. Sonst kauft das auch niemand. Ihre Bildsprache hat sich im Verlauf der UNMAS-Tätigkeit leicht verändert. Die Bilder des Mundari-Stammes aus dem Südsudan etwa zeigen keine neutralen Hintergründe, sondern Landschaft und Tiere. Ich habe mich etwas vom formalen Porträt gelöst, weil mir einerseits die Farbigkeit von Afrikas Szenerie gefällt, andererseits hat es sich inhaltlich angeboten. Der im Südsudan fotografierte MundariStamm zählt zu den „Nutzniessern“ der Entminungsaktionen, sie sind eine Risikogruppe, weil ihr Weideland vermint ist. Ihnen wird der Umgang mit Minen beigebracht. Vorher hatte ich vermehrt Minenopfer oder UNMAS-Deminer porträtiert. Ist es denkbar, dass Sie der klassischen Porträtfotografie den Rücken kehren? Nein. Ich bin und bleibe ein Porträtfotograf. Das liegt in meinem Blut. Dieser wunderbare Job ermöglicht mir Reisen an spezielle Orte und macht mich mit Helden unserer Zeit bekannt. Wie etwa Aki Ra, ein ehemaliger Minenleger für die rote Khmer. Mit einem Küchenmesser hat er mittlerweile 55’500 Minen aus der Erde geholt.

Marco Grob: Emmy-Preisträger aus Olten Marco Grob ist 1965 in Olten geboren und hier aufgewachsen. Erstmals als Fotograf arbeitete er ab Mitte der Achtziger Jahre als Assistent bei Chris Ann Miller in Los Angeles. Ab 2003, sagt er heute, „habe ich nur noch das gemacht, was ich wirklich wollte“: Er wandte sich von der Werbe- und Still Life-Fotografie ab und befasste sich zunehmend mit Porträtfotografie in den USA. 2008, im Alter von 43 Jahren und nach Abstechern nach Berlin, London, Kapstadt, fühlte er sich bereit, um nach New York zu ziehen. Seither hat er unzählige Hollywoodstars und Politgrössen abgelichtet, darunter auch US-Präsident Barack Obama. Grob ist einer von aktuell vier festangestellten Fotografen des renommierten TIME Magazine, publiziert aber auch in anderen Zeitschriften wie GQ, Vogue, Esquire, The New York Times Magazine, Wired, New York Magazine und National Geographic. Seine Arbeit ist preisgekrönt: 2007 erhielt er den Hasselblad Master Preis, vier Jahre später den Kunstpreis des Kantons Solothurn. 2012 folgte der vorläufige Höhepunkt: Für die Porträtserie «Beyond 9/11: Portraits of Resilience» zur zehnjährigen Gedenkfeier des World Trade-Center Anschlags wurde Marco Grob mit einem Emmy ausgezeichnet. Momentan ist er Teil der fünfköpfigen Jury für den Schweizer Fotowettbewerb Prix Photo. Ausserdem unterrichtet er, einerseits bei „Maine Media Workshops“, andererseits an der Columbia University in New York. Für die UNMAS ist er seit drei Jahren im Einsatz.

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Links: Joyce Nyoka Alison, Yei, S端dsudan. Joyce arbeitet f端r ein weibliches Entminungs-Team. Unten: MundariStammesangeh旦rige, Juba, S端dsudan.

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HÖREN & LESEN DIE NaRr-KOLUMNE

Das Erdbeben von Tokio von Max Katiofski

IN EINEM ZUG

Der Arm des Armen

Pedro Lenz, 48, ist Schriftsteller und lebt in Olten gleich beim Bahnhof. Er ist

von Pedro Lenz

praktisch täglich im Zug unterwegs.

Illustration von Petra Bürgisser „Soll ich für dich auch Reis machen?“, fragte Sayuri ihre Freundin Reika, als sie den Herd anstellte. Es war drei Minuten vor 12, am 1. September 1923 und nicht nur Sayuri verspürte Hunger. In ganz Tokio liessen die Menschen die Gasflammen lodern, und als die Erde eine Minute bebte, so stark bebte, wie sie noch nie gebebt hatte zuvor, dauerte es nicht lange und von der Küste bis ins Hinterland stiegen unzählige Rauchsäulen aus den eingestürzten Häusern in den Himmel. Auch Sayuri und Reikas Haus stand in Flammen, die Strasse stand in Flammen, die ganze Welt stand in Flammen. Aus dem Haus gestürzt, schrie ihnen eine Frau, zweifellos eine Geisha, zu: „Kommt in den Park, dort hat es einen Weiher, der uns schützen wird!“ Sayuri und Reika folgten dem Rat und rannten, so gut es durch die schreienden und schutzlosen Menschenmengen ging, in den Park und auf den Weiher zu. Nicht wenige Frauen, alles Geishas, standen schon im Wasser.

D

ie Abfalleimer in modernen Bahnhöfen sind oft so konzipiert, dass niemand darin wühlen kann. Die Einwurfschlitze sind ziemlich schmal und an der Seite angebracht. Deshalb lässt sich kaum erkennen, was sich drin befindet. Trotzdem gibt es auch in modernen Bahnhöfen Menschen, die hin und wieder in einem Abfalleimer zu wühlen versuchen. Es sind meist Menschen, die niemand sehen will, Menschen, die arm sind und deren Armut den Mitmenschen unangenehm ist. Armut und Elend sehen nicht sexy aus. Armut und Elend passen schlecht in die Geschäftigkeit eines modernen Bahnhofs. Das ist einer der Gründe, weshalb die Einwurfschlitze an zeitgemässen Abfalleimern schmal und seitlich angebracht sind.

Sayuri und Reika zögerten nicht und sprangen. Und auch die anderen Frauen, die auf sie folgten, zögerten nicht und sprangen, eine nach der anderen, zuerst ein Dutzend, dann dreissig, dann fünfzig dann hundert, immer mehr, und versuchten sich von der Feuersbrunst zu retten. Doch keine überlebte. Wer nicht verbrannte, der ertrank. Max Katiofski wurde 1987 in Berlin geboren und lebt dort als freier Schriftsteller. Er hat mehrere Geschichten veröffentlicht, u.a. In der NaRrgenda, der neuen Sondernummer des Literaturmagazins NaRr. www.dasnarr.ch

Ein Freund, der weder arm ist, noch je auf die Idee käme in Abfalleimern zu wühlen, hat neulich im letzten Zug nach Olten seine Brieftasche liegengelassen. Er merkte es wenige Minuten später und erkundigte sich sofort beim Bahnpersonal, ob jemand die Brieftasche gefunden hätte, aber die Brieftasche war weg. Der Freund vermutet, dass irgendein anderer Passagier die Brieftasche beim Hinausgehen gesehen und eingepackt hat. Er ärgerte sich über seine Zerstreutheit und vor allem darüber, dass er all die vielen Karten und Ausweise würde ersetzen müssen. Doch schon am nächsten Morgen erhielt der

Freund einen Anruf von der Bahn. Seine Brieftasche war gefunden worden. Wie in solchen Fällen üblich, hatte jemand das Bargeld an sich genommen und die Brieftasche mit den Ausweisen und den Bankkarten weggeworfen. Wir dürfen vermuten, dass die Finderin oder der Finder dieser Brieftasche eine ordentliche Person war. Sie hatte nämlich die Brieftasche nach sorgfältiger Entnahme des Bargelds nicht einfach irgendwohin geworfen, sondern sauberkeitsbewusst in einen Abfalleimer entsorgt. Daraus lässt sich schliessen, dass die Finderin oder der Finder auch zu den Leuten gehört, die es schlecht ertragen, wenn der Bahnhof dreckig ist und von armen Menschen bevölkert wird. Dem Freund, der seine Brieftasche im Zug hatte liegenlassen, kam jedoch ironischerweise genau das Elend eines Mitmenschen zugute. Ein armer Schlucker, der sich selbst von den schmalen Schlitzen der Abfalleimer nicht davon abhalten lässt, hin und wieder mit seine langen Armen im Kehricht zu wühlen, hatte die Brieftasche aus dem Abfall gefischt. Da er aber nicht nach Brieftaschen ohne Bargeld, sondern nach etwas Essbarem gesucht hatte, gab er sie bei einer Frau von der Bahnhofhilfe ab. Mein Freund ist dankbar und gleichzeitig ziemlich beschämt.

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HÖREN & LESEN

Fribi's Metal News

Deeno‘s Reviews

www.bromusic.ch

www.outsider-shop.ch

FATES WARNING

JEL

Darkness in a different light (Metal Blade)

Late Pass (Anticon)

Yeah! Nach neun Jahren Abstinenz endlich ein neues Album meiner Progressiv Lieblinge. Das Warten hat sich gelohnt. Die Kalifornier liefern, was ihre Fans mögen: abwechslungsreichen Progressiv-Metal und feinfühlige Balladen, die ins Ohr gehen. Ray Alder gehört für mich zu den drei besten Metal-Sängern dieses Universums. Seine facettenreiche Stimme dominiert das ganze Album hindurch. Auch wenn die „FrickelOrgien“ weniger geworden sind, verstehen es Fates Warning, komplexe Songs zu arrangieren, die sogar radiotauglich sind; man erinnere sich zum Beispiel an “Inside Out“, das wohl hittauglichste Werk der Band. Bleibt nur zu hoffen das wir nicht bei jedem Album fast zehn Jahre warten müssen.

ELVIS COSTELLO & THE ROOTS

Jel dürfte wohl den wenigsten bekannt sein, dennoch schaffte er es auf die Shortlist der besten Indie-Hip-Hop Produzenten der letzten zehn Jahre. Und dies auch aus gutem Grunde. Hier knallt die Radikalität von Public Enemy auf den deutschen Psychedelic-Prog-Rock der Siebziger. Harte, messerscharfe Beats duellieren sich mit experimentellen Soundscapes. Das klingt futuristisch, teilweise abgedreht, hat aber immer mehr als genügend Drive, um den Kopf nicken zu lassen. Jel selber sagt dazu: „I’m not falling the fuck off. I’m not getting super large. I’m just doing my thing“. Recht hat er!

ATLANTEAN KODEX

MAZZY STAR

White goddess (Cruz Del Sur)

Seasons of Your Day (Rhymes of an Hour)

Wiederum bieten uns die Schwaben ein Meisterstück des Metals. Mit White Goddess untermauern sie ihre Vormachtstellung in der EpicMetal-Gemeinde. Majestätisch und unglaublich atmosphärisch gehen Atlantean Kodex hier zu Werke: man fühlt sich in einem Soundtrack von Braveheart oder Gladiator gefangen. Brachial und urgewaltig prasseln diese epischen Werke auf den Hörer nieder, die eher doomig bis midtempo gehaltenen Songs erinnern an die beste Tage von Warlord oder Sacred Blade, ohne auch nur ein Promille abzufallen. Ich denke, dass man "White Goddess" ohne zu übertreiben zu den fünf besten Metal-Releases dieses Jahres zählen darf.

KOLT

Oktober 2013

Ché's Bro Tipps

Mazzy Star gelten als echte Indie-Folk Supergroup. 1990 gegründet, bescherten sie uns drei wunderbar zerbrechlichmelancholische Alben. Seit 1996 ist es nun mehr oder weniger still geworden um die Band. Ausser einer Single gabs bis dato nichts Neues. Nach dieser viel zu langen Abstinenz beschert uns die Originalbesetzung endlich einen nagelneuen Longplayer. Und man kann ohne Zweifel behaupten, dass Mazzy Star da weitermachen, wo sie vor langer Zeit aufgehört haben. Einzigartig traurig und wie ein Blatt, das vom Winde getragen wird, läutet dieses Album den Herbst ein.

Wise Up Ghost Seit mehr als drei Jahrzehnten im Geschäft, überrascht Costello diesmal durch die Kooperation mit der Hip-Hop-Nu-Soul-Band The Roots. "Ich weiss nicht, welchen Namen ich dieser Musik geben soll", so der Altmeister. "Es ist wie ein grosser Hexenkessel, in den wir allerlei Pülverchen und Zaubertränke, Frösche und Finger hineingeschüttet haben.” Ein Album, das sich allen Regeln des Schubladendenkens wiedersetzt.

GOV‘T MULE Shout "Shout!" ist ein spezielles Doppel-CD-Set. Warren Haynes, Gründer, Gitarrist und Sänger der Band erklärt: "Der erste Teil des Albums dreht sich natürlich um uns und unsere neuen Songs. Es zeigt sich, welch einzigartige Chemie sich inzwischen in der Band entwickelt hat." Die zweite CD glänzt mit einer ganzen Reihe berühmter Gastsänger (u.a. Steve Winwood, Dave Matthews, Elvis Costello, Dr. John, Glenn Hughes und Ben Harper). Jeder von ihnen hat einen der elf Songs neu eingesungen und so in ein neues Licht gesetzt.

DAVE HOLLAND Prism Der wohl wichtigste Bassist des modernen Jazz hat sich für „Prism“ mit Kevin Eubanks (Gitarre), Craig Taborn (Piano), und Eric Harland (Drums) zusammengetan. Jeder der vier Meister-Musiker hat eigene Kompositionen beigesteuert. So ist ein elektrisierendes Album mit einem unwiderstehlichen Groove entstanden, mit dem Holland eine neue musikalische Richtung einschlägt. (Live: Stadtcasino Basel, 16.Okt.13)

BUDDY GUY Rhythm & Blues Für sein neues Doppelalbum hat er ein paar prominente Duett-Partner aufgeboten. Kid Rock, Beth Hart, Gary Clark Jr., Steven Taylor, Joe Perry und Keith Urban begleiten die Blues-Legende Buddy Guy auf seiner Zeitreise durch das eigene Leben.

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HÖREN & LESEN

Numerische Zäsur Für Historikerinnen wie mich sind runde Geburtstage nicht einfach runde Geburtstage. Eine Gastkolumne von Edith Hiltbrunner

H

istorikerinnen sind Handwerkerinnen und ihr Element ist die Zeit. Sie bohren in der Vergangenheit, schrauben an Zeitabschnitten, feilen Augenblicke zurecht, zimmern Dimensionen, legen entscheidende Stunden der Geschichte frei und schustern Jahrzehnte zu einem Ganzen zusammen. Ohne mit der Wimper zu zucken ziehen sie Längsschnitte von mehreren hundert Jahren und spannen den Bogen über Epochen hinaus. Der Gedanke an einen bestimmten Zeitabschnitt aber löst mulmige Gefühle aus und ist immer wieder Thema in Gesprächen unter Fachkolleginnen: Die letzten dreissig Jahre, markiert durch den eigenen dreissigsten Geburtstag (es geht nicht um den Dreissigjährigen Krieg). Bei mir ist es im Herbst soweit. Musikalisch gesprochen blicke ich an meinen Dreissigsten auf den Zeitraum von Irene Cara (Flashdance… what a feeling) bis Avicii (Wake me up) zurück. Wie kommt es, dass Historikerinnen, Fachfrauen der Zeit, Ehrfurcht vor dem unausweichlichen Ereignis empfinden? Ich zähle mich ebenfalls zu ihnen dazu. Angesichts des runden Wiegenfestes tauchen neue, wichtige Fragen auf, wie zum Beispiel: Berechtigt der dreissigste Geburtstag dazu, mich an der Volkshochschule Olten für den Kurs „Gedächtnistraining“ – das Gehirn will bis ins hohe Alter gefordert und gefördert werden – einzuschreiben? Das mit dem Alter ist so eine Sache. Trotz dreissig Jahren Lebenserfahrung habe ich es nicht geschafft, in einem der Schulhäuser Neuendorfs die Kaffeemaschine so zu bedienen, dass sie dampfenden Kaffee ausgespuckt hätte. Schliesslich behalf ich mir mit einem Schwarztee. Runde Geburtstage sind im Fachjargon der Historiker ausgedrückt numerische Zäsuren. Die Zahl ändert sich, sowohl

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der Einer als auch der Zehner, und mit dem neu angebrochenen Zehner ist die Erwartung verbunden, in einen neuen Zeitabschnitt einzutreten. Alles wird sich ändern. Mit „alles“ meine ich zum Beispiel: die Haarfarbe.

Die sieben Sachen des Anatol A.

Ich brenne darauf, nach meinem dreissigsten Geburtstag mehr graue Haare zu bekommen als die zwei, welche ich bereits habe. Ich werde sie nicht dem Jugendwahn opfern, sondern sie mit Stolz zum Coop City Olten tragen, aus den 850 Weinsorten eine Flasche auslesen und diese an der Kasse bezahlen. Dank den grauen Haaren werde ich diesen Kaufprozess machen können, ohne meine ID zücken und umständlich beweisen zu müssen, dass ich meinen sechzehnten Geburtstag vor langer Zeit gefeiert und mit Sirup darauf angestossen habe. Ich bin mir sicher: Dieses Erlebnis, auf welches ich schon so lange warte, wird nach dessen Eintritt ein völlig neues Lebensgefühl auslösen. Dann gelte ich auch in den Augen von Coop City Olten als erwachsen. Ein Nachdreissig-Highlight. Eine Fachkollegin ist Anhängerin des Spruchs: „Birthdays are good for you. Statistics show that the people who have the most live the longest.“ In diesem Sinn begehe ich meinen dritten runden Geburtstag ehren- und würdevoll. Und ich habe keine Angst vor dem Vierzigsten. Denn bis dahin werde ich genug Lebenserfahrung gesammelt haben, um mir in einem der Schulhäuser Neuendorfs eine dampfende Tasse Kaffee machen zu können. Das ist doch was! Allen, welche im Jahr 2013 Geburtstag feierten oder noch feiern werden: Joyeux anniversaire!

In einem Schweizer Ort, so klein, dass Züge nur auf Verlangen halten, so klein, dass die Mehrzweckhalle mehr Menschen fasst, als das Dorf Bewohner zählt, in diesem Ort, also, der irgendwie gar nicht existierte, lebte Anatol Anatolien. Dies war – natürlich – nicht sein richtiger Name. Sein echter Name war langweilig. So langweilig, dass er ihn nie vergessen, aber für immer verdrängen konnte. Der junge Bauernsohn wollte die Welt sehen. Er hatte genug von diesem Ort, in dem man sich über Ausländer beschwerte, die es im Dorf nicht gab. Genug von Stammtischparolen und konservativem Denken. Die grosse Welt hat keinen Platz für Kleingeister. So fällte er den einfachsten Entscheid seines Lebens und packte seine sieben Sachen – dies ist keine Floskel, er besass genau nur sieben Gegenstände. Bepackt mit seinem Rucksack, der so schwer wog, wie seine Gedanken, streckte er seinen Rücken zum ersten Mal in seinem Leben richtig durch. Er verliess sein Zimmer, ohne zurückzuschauen und schlich die Treppe hinunter. Das Knarren der Stufen klang wie Zuspruch in seinen unerfahrenen Ohren. Nie mehr würde er die Berge im Nacken spüren, die jeden Tag ein wenig näher zu rücken schienen. Nie mehr würde er Kühe melken oder im Dorfladen einkaufen müssen. Bald schon würde er Tagebuch schreiben, Kaffee trinken und rauchen. Wie ein Künstler würde er leben, irgendwo im Ausland. In einer grossen Stadt, wo man vor lauter Menschen sich selbst nicht sieht. Wo einem die Aufregung die Nerven massiert. Irgendwo, wo sogar der Verkehr poetisch wirkt. Im Parterre angelangt, vergoss er aus Respekt eine Träne, atmete noch einmal die Luft seines Elternhauses und war bereit. Im Wissen nie zurückzukehren, griff er zur Klinke der Haustür. Doch bevor er diese drücken konnte, fühlte er im Rücken eine imposante Gestalt. Er musste nicht zurückschauen, er wusste wer es war. „Vater, ich gehe. Für immer. Mein Herz hat ein Ticket in die Zukunft.“ Es hätte einer dieser Dialoge werden können, von denen man in hundert Jahren noch gesprochen hätte. Aber der Vater fasste sich kurz und packte Anatol beim Kragen: „Sohn, du bist elf Jahre alt. Geh schlafen.“ Anatol blieb im Dorf – bis zu seinem Lebensende.

Die Oltnerin Edith Hiltbrunner, geboren 1983, ist Historikerin. 2012 ist ihr Buch

von Kilian Ziegler

Eine gute Zeit La vache Kili

„Generalstreik 1918 in der Region GrenchenSolothurn“ erschienen. Ausserdem ist sie Lehrerin an einer Schule in Neuendorf.

PS: Mein Konto will ausziehen, das steht in einem Brief mit dem Betreff: Kontoauszug.

Oktober 2013

KOLT


HÖREN & LESEN

Schon gelesen..?

EGON LOESERS ERSTAUNLICHER MECHANISMUS ZUR BEINAHE AUGENBLICKLICHEN BEFÖRDERUNG EINES MENSCHEN VON ORT ZU ORT.

SÜDWESTWÄRTS 1 & 2 von Pablo Haller

Daniel Kissling ist Geschäftsführer vom Coq d’Or in Olten, organsiert ebenda das Literatur-Festival „Lesbar“, ist Herausgeber des Literaturmagazins „NaRr“ und widmet sich nebenher den Geisteswissenschaften Germanistik und Philosophie. www.dasnarr.ch

KOLT liest...

von Ned Beauman

Buchtipps von Daniel Kissling

Das englische Wort „trip“ kann verschieden verstanden werden. Zum Einen steht es für eine ganz normale Reise, einen Ausflug, man geht bzw. fährt physisch von irgendwo nach irgendwo. Zum Anderen aber ist es eine Reise im geistigen Sinne, eine Kopfreise, nicht selten durch hilfreiche Substanzen angeregt. „Südwestwärts 1 & 2“, der neue, im deutschen goNZoverlag erschienene Gedichtband von Pablo Haller ist beides und noch vielmehr. Nimmt uns der junge Luzerner Dichter, Schriftsteller, Verleger und Spoken-Word-Künstler inhaltlich mit in den Südwesten, nach Marokko und anderswo, so schickt er uns gleichzeitig auch auf einen wilden Trip der Worte, Strophen, Rhythmen und Zitate. Mit den Grossen der Beat-Generation, von Ginsberg, Burroughs bis Weissner und Brinkmann als Begleiter, reiht er Bilder, Szenen und Gedanken nicht nur übereinander, sondern bricht sie auf, überschneidet, überblendet sie und seziert dabei mit brachialer Sprachgewalt das eigene Ich genauso wie die Literatur und unsere Gesellschaft. „Südwestwärts 1 & 2“ ist ein lyrischer Road Trip und zwar unter einer wärmenden und sengenden, flirrenden und unerbittlichen Sonne.

Nein, Egon Loeser ist kein Typ, den man mag. Im Gegenteil: Selbstbezogen und selbstgerecht, asozial und unhöflich, mit schwindendem Kopfhaar und ansetzenden Pölsterchen, einzig auf Ruhm, Anerkennung und vor allem Sex aus, ist er vielleicht eine der unvorteilhaftesten Hauptfiguren eines Romans überhaupt. Umso erstaunlicher, dass – hat man dieses Buch einmal in die Hand genommen – man es kaum wieder weglegen wird, bis man die letzte Seite gelesen hat. Einerseits, weil man vielleicht doch Sympathien hegt für diesen so verbissen an seiner obskuren Maschine und an seiner sexuellen Befriedigung arbeitenden Bühnenbildner, der um die halbe Welt und durch ein halbes Jahrhundert reist und doch nie glücklich zu werden scheint. Andererseits, weil es dem britischen Schriftsteller Ned Beauman nach seinem Erstling „Flieg, Hitler, flieg!“ auch in seinem zweiten Roman gelingt, die absurdesten Situationen und Einfälle in eine Story zu verpacken, die in Sachen Spannungen, unerwarteter Wendungen und Cliffhangern einem guten Krimi in nichts nachsteht. Wenn Loeser im Berlin der 30er-Jahren an illegale Partys geht, dem Aufschneider Bert Brecht -seine Anziehungskraft auf Frauen missgönnt, wenn er genau wegen einer dieser Frauen, seiner früheren Nachhilfe-Schülerin Adele Hitler (nicht verwandt oder verschwägert!), zuerst nach Paris und dann Los Angeles reist, dann ist das genauso klug wie unterhaltend, genauso abgedreht wie hintersinnig.

THE TIPPING POINT (2000) von Malcolm Gladwell Dieser magische Moment, wenn eine Idee, ein Trend oder ein Produkt eine bestimmte Grenze überschreitet und sich dann ausbreitet wie eine Epidemie – das ist der Tipping Point. Gladwell erklärt als Erster ein soziologisches Phänomen, das zuvor als quasi unerklärlich galt. Pierre Hagmann, Redaktionsleiter LAWRENCE OF ARABICA (2011) von Meinrad Kofmel In seinen insgesamt elf Geschichten nimmt uns Meinrad Kofmel auf diverse Reisen rund um die Welt mit. Alle haben eins gemeinsam: den Kaffee. Wundervoll, abwechslungsreich und süffisant geschrieben. Remo Buess, Fotograf BILLY – THE COMPLETE LIFE STORY OF A COMIC GENIUS Von Pamela Stephenson Hierzulande höchstens als Schauspieler bekannt, verkörpert der Schotte Billy Connolly einen – wenn nicht den einflussreichsten Stand-up-Comedian der Neuzeit. Die von seiner Frau verfasste Biographie lässt einen zeitweise aus vollem Hals lachen, zeitweise aber auch Tränen der Traurigkeit vergiessen, denn im Speziellen seine traumatische Kindheit, die er in einem Arbeiterviertel von Glasgow verlebte, geht unter die Haut. Hannes Zwicker, Lektor

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Kontakt:

Projektpartner und Jury-Mitglieder:

Region Olten Tourismus 062 213 16 16 info@oltentourismus.ch 29

Oktober 2013

www.oltentourismus.ch/oltnerfilm


IM RAMPENLICHT

"Der Rahmen wird geschlossen – oder auch gesprengt": Ramon Bischoff.

kann ein Stück nicht ganz fertig werden, nicht ganz ausreifen. Es bleibt ein Entwurf. Aber genau das ist der interessante Knackpunkt“, sagt Ramon Bischoff.

TÜRKIS IM WINTER

Das ElectroHip-Hop-JazzExperiment Eine Compilation, ein Wort mit vier Buchstaben, unzählige Musiker und viele Stilrichtungen: Das Projekt Outlineseries von Ramon Bischoff ist ziemlich aussergewöhnlich. Text von Franziska Monnerat Foto von Yves Stuber

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wölf Lieder, keines wie das andere, alle entstanden aus den Skizzen von anderen Liedern. Outlineseries ist ein musikalisches Experiment, das verschiedene Künstler und

Musikstile zusammenbringt. Ins Leben gerufen vom jungen Lostorfer Ramon Bischoff, hat das Projekt letztes Jahr jeden Monat eine Compilation hervorgebracht. „In einem Monat

Vorgegeben hat er den Musikerinnen und Musikern, die aus der Region stammen, lediglich den Termin der Veröffentlichung und ein Wort mit vier Buchstaben. Bei der ersten Compilation von Outlineseries zum Beispiel CYAN, türkis. „Es war Winter, grau. Ich selber habe eine verwaschene Zeit miterlebt und versucht, die Diskrepanz aufzuzeigen zwischen Hellem, Aufgeblühtem in einem Umfeld von Düsterheit“, erklärt Bischoff das Konzept seines eigenen Songs auf der ersten Compilation. Für seine Produktionen nimmt er akustisch mit dem Mikrofon auf, arbeitet mit Samples von Platten und mp3, einem Midi Keyboard, einem MPD Midi-Controller und einem Roland Synthesizer. Im Sequenzer Programm Logic verarbeitet er schliesslich alle Sounds und lässt sie zusammenfliessen.

ERSTMALS AUF VINYL Wie das Spektrum der Farben zwischen Blau und Grün ist auch das Spektrum der Musikstile auf der Compilation mit dem Titel CYAN sowie der darauf folgenden Compilations breit: Einflüsse von Hip-Hop über elektronische Musik bis Jazz lassen sich heraushören, kaum eines der Lieder lässt sich eindeutig zuordnen. Man-

che klingen abstrakt, sperrig und verschroben. „Ich erlebe eine wachsende Offenheit gegenüber verschiedenen Musikstilen.“ Auf der finalen dreizehnten Compilation greifen einige der Musikschaffenden, die bereits bei den vorangehenden Compilations mitgewirkt haben, eine der Soundskizzen auf, führen sie weiter und stellen sie fertig. Nicht ein eigenes Lied wird vollendet, sondern das eines anderen Künstlers. „Der Rahmen wird geschlossen – oder auch gesprengt“, erklärt Ramon Bischoff die Idee hinter der Compilation Outlineseries#13, die Ende Oktober erscheint, neben dem digitalen Download als Erste der Reihe auch auf Vinyl. Er selber habe versucht, aus den lichthaften Synthesizerklängen und verspielten Drums, die sich in Marcel Kalts Windspiel in einem steten Minimalgroove bewegen, eine Regel zu gewinnen. Entstanden ist ein spannungsgeladener Song: Starre, regelartige Hi-Hats legen sich über sphärische Soundebenen und gurgelnde Wassergeräusche. „Der Song soll spürbar machen, dass es möglich ist, Flächen in ein grösseres System einzuspannen, gleichzeitig aber auch nicht.“ Outlineseries#13 bricht Regeln, und überrascht mit musikalischer Kreativität und Vielfalt. Einzig eines ist die Compilation von Ramon Bischoff nicht: Mainstream. Outlineseries#13 Plattentaufe 26. Oktober 2013. Vario Bar Olten. Mit Konzert, Live-Performances, DJ-Sets. www.prefermusic.ch

"Wir wollen möglichst schnell in die Region zurückkehren" Ende Oktober geht die siebte Ausgabe von „In & Out“ über die Bühne. Nach sechs Jahren in Schönenwerd findet die Schweizer Designmesse erstmals in Langenthal statt – eine Zwischenlösung, wie die Organisatoren sagen.

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ie Trendmesse und Verkaufsausstellung „In & Out“ hat sich in der Schweizer Designszene etabliert und gilt als bedeutendste im Mittelland. 100 Ausstellerinnen und Aussteller zeigen an der Messe ihre Neuheiten aus den Bereichen Mode, Accessoires, Möbel, Wohnaccessoires, Schmuck, Textil, Keramik und Papeterie. Auch in diesem Jahr erwarten die beiden Messemacherinnen Maja Baumann und Brigitte Hürzeler rund 6000 Besucher. Die „In & Out“ findet in diesem Jahr vom 25. bis 27. Oktober statt – und erstmals

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nicht am Stamm-Standort Schönenwerd, sondern neu in Langenthal.

DIE NEUE HEIMAT Der Grund dafür ist simpel: Der bisherige Standort, die Eventhalle im Bally Lab, wird mittlerweile anders genutzt. Deshalb mussten die Organisatoren ausweichen. Mit der Westhalle des Parkhotels in Langenthal wurde eine neue Heimat für die Designmesse gefunden. Allerdings, das sagen Baumann und Hürzeler jetzt schon, soll „In & Out“ „möglichst

schnell wieder in die Region Aarau und Olten zurückkehren“. Die Westhalle sei gleichwohl eine ideale Zwischenlösung und die Ausstellungsfläche ist unverändert gross. Auch das Konzept ist dasselbe geblieben: Ausgestellt werden ausschliesslich in der Schweiz entwickelte und hergestellte Designprodukte. So kommen sie denn aus dem ganzen Land, die Ausstellerinnen und Aussteller – aber auch aus der Region: Schon seit Jahren dabei ist Sabine Gysin aus Läufelfingen. Gysin arbeitet seit 2003 als freischaffende Steinbild-

hauerin. „Messepräsenz ist wichtig“, sagt Gysin. Unter ihrem Label „dschodo“ verkauft sie unter anderem eine eigene Lavabo-Kollektion. Daneben fertigt sie auch Kunst-Skulpturen her und in ihrem Atelier bietet sie Steinbildhauerkurse an. „Stein“ sagt sie, „ist ein Gegengewicht zur seelenlosen Massenware“. Gysins Lavabos sind vollständig von Hand hergestellt, jedes Stück ist somit ein Unikat. ph In & Out: 25.-27. Oktober, Westhalle Langenthal. www.in-out-design.ch www.dschodo.ch

Oktober 2013

KOLT


IM RAMPENLICHT

"Diesmal wird niemand getötet" Olten erhält ein temporäres Outdoor-Lesezimmer: Vom 17. bis zum 20. Oktober macht das Projekt "StadtLesen" in der Kirchgasse Halt und lädt zum Schmökern ein. Auf dem Programm steht auch eine Lesung der Erfolgsautorin Milena Moser. Wir trafen sie in ihrem Aarauer Schreibatelier zum Gespräch. Interview von Fiona Gunst Foto von Yves Stuber

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esegenuss ermöglichen und Lesezeit schenken will das Projekt "StadtLesen". Und das geht so: Nach einer Idee des Österreichers Sebastian Mettler wird in allen beteiligten Städten ein "Lesewohnzimmer" eingerichtet, eine mobile Bibliothek mit Readers Corner unter freiem Himmel, Sitzgelegenheiten und über 3000 Büchern. So wird ein eigentlich privates Vergnügen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. "StadtLesen" bringt Literatur zu den Lesern, gratis. Seit 2009 ist das Projekt jeden Sommer auf Tour, zunächst nur in Österreich, später auch in Norditalien und Deutschland, 2012 erstmals in der Schweiz. Heuer ist Olten die einzige Schweizer Stadt, die sich erfolgreich als Gastgeberin um das "Lesewohnzimmer" beworben hat. Als "bibliophiles Highlight" im Programm kündigen die Organisatoren eine Lesung von Milena Moser an. Die erfolgreiche Autorin liest am Starttag aus ihrem neuen Roman "Das wahre Leben". Milena Moser, worum geht es in "Das wahre Leben"? Ich erzähle zum ersten Mal eine Liebesgeschichte mit Happy End! Bisher ist mir das nie gelungen: Immer dann, wenn es so aussah, als würde sich für zwei Menschen dauerhaftes Liebesglück einstellen, ist jemand gestorben. Diesmal wird niemand umgebracht. Unkompliziert ist die Liebesgeschichte trotzdem nicht: Nevada, eine Yogalehrerin, die an Multipler Sklerose erkrankt ist, verliebt sich in einen Mann, der an einem Gehirntumor leidet. Der Tumor drückt derart auf das Sprachzentrum des Mannes, dass er nicht lügen kann, und als er sich einer Operation unterzieht, ist die Angst bei Nevada natürlich gross, dass er danach zu lügen beginnen könnte… Nevada gehörte bereits in Ihrem letzten Buch, "Montagsmenschen", zum

KOLT

Oktober 2013

Personal. Ja, damals liefen alle Fäden bei ihr zusammen, diesmal kreuzt sich ihre Geschichte mit der von Erika. Erika ist eine reiche, links-alternativ gesinnte Zürcherin, die ein perfektes Leben führt, in das einzig ihre masslos dicke Tochter nicht hineinpasst. Erika bricht aus ihrem alten Leben aus und zieht in die Gegend, in der auch Nevada lebt – ein kulturell und sozial durchmischtes Viertel. Ihre Tochter, Suleika, begleitet Erika zu deren Erstaunen und wird als Teilnehmerin eines Sommerprogramms für schwierige Mädchen zu einer von Nevadas Schülerinnen. Wieso haben Sie die Figur Nevada weitergeschrieben? Nevada hat sich einfach aufgedrängt. Ich habe sehr wenig Kontrolle darüber, welche Figuren in meinen Romanen auftauchen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass meine Lieblingsfigur aus "Montagsmenschen", Poppy, sich wieder zu Wort melden würde, aber sie blieb still in meinem Kopf. Nevada dagegen hat mit Vehemenz danach verlangt, dass ich weiter von ihr erzähle. Erika will es immer allen recht machen, perfekt sein. Dieser Drang, den Vorstellungen der anderen zu entsprechen, hat mich schon immer fasziniert. Ich erlebe das auch in meinen Schreibkursen: Die Teilnehmer kommen mit fixen Vorstellungen davon, was ein guter Text ist, wie man einen Roman schreibt. Wenn sie mit ihren Ideen scheitern, wenn sie glauben, dass ihre Geschichte nicht dem entspricht, was andere von ihnen lesen wollen, dann kommen sie zu mir. Und Sie bringen ihnen bei, auf die Stimmen im Kopf zu hören? Grundsätzlich kann ich den Teilnehmern nur meine eigenen Strategien vermitteln, ja. Die meisten brauchen Hilfe damit, Schreibblockaden abzubauen. Und zuzulassen, dass sich eine Figur

Ich glaube wirklich, dass jeder, der schreiben will, auch schreiben kann. durchsetzt, ihren Weg geht, der vielleicht nicht dem ursprünglichen Plan entspricht, das hat sich für mich immer bewährt. Ich glaube wirklich, dass jeder, der schreiben will, auch schreiben kann. Aber wenn man mit einem fertigen Konstrukt beginnt und dieses dann nur noch ausfüllen will, dann setzt man sich einerseits stark unter Druck, andererseits nimmt man sich mit so strukturiertem Schreiben nach einen grossen Teil des Spasses. Dieser liegt für mich genau darin, dass ich am Anfang meist nicht weiss, wo meine Geschichte hingehen, wie sich eine Figur entwickeln wird. Deswegen finde ich, man sollte auch mal Szenen niederschreiben, die man vorerst für vollkommenen Blödsinn hält. Im Nachhinein erkennt man meistens, warum es diese Szene eben vielleicht doch brauchte.

Nicht nur in Ihren Schreibkursen, sondern auch in Ihrem Blog lassen Sie sich von der Leserschaft gewissermassen über die Schulter schauen… …und verfolge damit eigentlich dasselbe Ziel, wie in meinen Schreibkursen. Ich möchte zeigen, dass auch bei gestandenen Autoren die ersten Entwürfe keine vollständig durchdachten, druckreifen Elaborate sind. Ich stelle hoch und berichte über das, was den gängigen Vorstellungen vom Schriftstellerdasein zuwiderläuft.

Lesung von Milena Moser am 17. Oktober ab 18 Uhr in der Oltner Kirchgasse; bei Regen im Christkatholischen Kirchgemeindehaus (Kirchgasse 15). Das gesamte Programm von StadtLesen finden Sie in unserer Online-Agenda oder auf www.oltentourismus.ch/de/stadtlesen Vernissage von NaRrgenda: Am 18. Oktober ab 20 Uhr wird das Erscheinen der NaRgenda im Coq d'Or gefeiert. Die NaRrgenda 2014 ist eine Sonderausgabe vom Literaturmagazin NaRr. Sie bietet Kurzgeschichten, benennt wichtige Ereignisse und ist zugleich eine persönliche Agenda. Vernissage mit Lesung und Musik.

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FREAKS BRAUCHT DAS LAND

Oben: Anpräparierte Muschel von Anwil. Rechts: Abguss eines Oviraptorembryos (Dinosaurier) aus der Inneren Mongolei. Dieses äusserst seltene Fossil ist Stück eines ganzen Nestes mit gegen 24 Eiern und wurde beim Sprengen für eine neue Strasse in die Luft gejagt.

Ungebrochene Begeisterung: Beat Imhof.

„Das war eine geile Grabung!“ Fossilien sind in. Zu den spektakulärsten gehören Dinosaurierüberreste. Sogar Hollywoodstars schmücken sich gerne mit Saurierskeletten. Für den Trimbacher Beat Imhof, der die Oltner Mineralientage organisiert, sind Versteinerungen indes viel mehr als Dekoration.

Text von Rolf Strub Fotos von Yves Stuber

Fossilien/Mineralien Gebrüder Imhof Geowisseschaftliches Atelier Baslerstrasse 8 CH-4632 Trimbach Mineralientage Olten im Kulturzentrum Schützi 2. – 3.11.2013 Sa. 2. Nov. 13 – 17 Uhr So. 3. Nov. 10 – 17 Uhr Eintritt: 5 CHF Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre freier Eintritt Sonderschau: Der Strahler Bruno Müller, Attinghausen, zeigt alpine Mineralien der Sonderklasse.

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uf die Frage: Beat bist du ein Freak? folgt die Antwort: diese Beurteilung überlasse ich anderen. Nun denn, also: Beat Imhof trägt ein T-Shirt mit Cartoon-Aufdruck. Darauf zu sehen sind zwei Dinosaurier, die einen herabstürzenden Kometen entdecken. Sprechblase: „Schau mal, dieses Jahr gibt’s sogar ein Neujahrsfeuerwerk!“ Bildunterschrift „Neujahrsnacht vor 65 Millionen Jahren“. Macht ihn das zum Freak? (Ausgeflippter, Hippie, Blumenkind, Aussteiger, Alternativer, Aussenseiter?) Eher nicht. Allenfalls wären vielleicht Sammler zu den Freaks zu zählen. Hamsternde Sonderlinge mit Spezialgebiet. Und doch beschäftigt sich Imhof mit dem Besonderen. Mit den Überbleibseln dieses „Feuerwerks“ nämlich hat er unter anderem zu tun. Bergung, Präparation und Bestimmung von Fossilien. Da kennt er sich aus. Das Studium der Geologie (Sedimentologie Lias) lenkte sein Interesse auf die Hinterlassenschaften der Erdgeschichte. Aus ethischen Gründen

konnte er sich nicht vorstellen, für die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) oder ein Ölunternehmen zu arbeiten. Was heute noch ein Betätigungsfeld mit gesichertem Einkommen für Geologen wäre.

AM ANFANG WAR DER SEESTERN Angefangen hat alles sozusagen vor einem Bruchteil einer Sekunde, Erdgeschichtlich betrachtet. Nämlich vor fast 40 Jahren. Damals fand die erste Grabung auf dem Weissenstein (ausserordentliches Vorkommen fossiler Seesterne) in Zusammenarbeit mit dem Naturmuseum Solothurn, noch unter dem Namen Meyer und Imhof statt. Anschliessend dann der Startschuss für die Geschäftsgründung, Gebrüder Imhof, Geowissenschaftliches Atelier, mit seinem Bruder Thomas Imhof. Zuerst nur „Kleinvieh“, dann das erste komplette Saurierskelett der Schweiz in Frick. Dieser Plateosaurus ist heute im Sauriermuse-

um Frick zu bestaunen. Im Lauf der Jahre ging schon so einiges durch die kompetenten Hände der Imhof-Brüder: Psittacosaurier, Dromeosauriden, Urkrokodile, fossile Fische und Pflanzen. Alles einzigartige Zeugen der sich stetig verändernden Evolution. Eigentlich fast unglaublich was da in den Erdschichten zum Vorschein kommt. Naja, die Kreationisten glauben ja immer noch, die Erde sei erst sechstausend Jahre alt. Seis drum. Das wertvollste Stück, das von den Gebrüdern Imhof bisher präpariert wurde, war ein ca. 145 Millionen Jahre alter, drei Meter langer versteinerter Hai aus Solnhofen, mit Hauterhaltung und komplettem Revolvergebiss, der in einem Museum in Houston, Texas (Sammlung Dr. Burkhard Pohl) untergekommen ist.

TEURE HINTERLASSENSCHAFTEN Die spektakulärsten Fossilien sind und bleiben die Dinosaurier. Vor allem die Fleischfresser unter ihnen

Oktober 2013

KOLT


BARTLOME OPTIK IM NEUEN KLEID

Imhof an der Arbeit in seinem geowissenschaftlichen Atelier in Trimbach.

scheinen alle in ihren Bann zu ziehen. Auch die Superreichen kaufen zunehmend nicht mehr moderne Kunst oder alte Meister, sondern alte Knochen. Hollywoodstars zum Beispiel schmücken sich gerne mit Saurierskeletten. Etwa mit einem kompletten 10 Meter langen Allosaurus für 1,5 Mio, Euro. So ein Kaventsmann passt eben auch nur in eine grosse Stube. Ein fleischfressender Raubsaurier in der eigenen Eingangshalle, das ist in Hollywood möglicherweise ein passendes Sinnbild für die Beständigkeit eines steinernen Abbildes und die vorherrschende Mentalität in der Filmbranche. Für weniger Begüterte – mit vielleicht etwas skurrilerem Humor – sind übrigens ganz besondere Hinterlassenschaften schon ab ungefähr 30 Dollar zu haben: versteinerter Dino-Kot. Aber eben, Geschäft ist Geschäft, wie man so schön sagt. „Jurassic-Park“ lässt grüssen.

GEHEIME GRABUNG Über die aktuelle Grabung darf an dieser Stelle leider nicht berichtet werden. Denn die echten Freaks, die Raub-Sammler, könnten sich ermuntert fühlen, mal nachschauen zu gehen, was denn da so zu holen wäre. Nur so viel: Es wird eine Menge Erde bewegt. Da wird gebuddelt, was das Zeug hält. Eine ziemliche Tortur für Hände und Rücken. Einiges wird ans Tageslicht kommen, vielleicht sogar alte Knochen. Obwohl die Knochen

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auch bei Imhof älter werden, ist seine Begeisterung immer noch ungebrochen. Bei seinen enthusiastischen Erzählungen kommt das immer wieder durch. Über eine Grabung im Jahr 2011 bei Anwil BL sagt er etwa: „Das war eine geile Grabung“. Der weinrote Eisenoolith von Anwil brachte wohlerhaltene Ammoniten (prähistorische Kopffüsser, wie der heute noch lebende Nautilus) zu Tage. Auch Belemniten, Muscheln, Schnecken, Austern, Seeigel und Brachiopoden (sehen aus wie Muscheln, sind aber Armfüsser). Ein reich gedeckter Tisch mit steinharten Meeresfrüchten aus einem Ozean der Vorzeit sozusagen.

EINKAUFEN MIT STIL

ANDERE FRONTEN Beat Imhof widmet sich seiner Leidenschaft auch an anderen Fronten: So ist er auch Initiant der Mineralientage Olten (Anfang November, siehe Kasten links). Seit 20 Jahren finden diese statt und locken zahlreiche Aussteller und Besucher an. Dort wird verkauft, gekauft und ausgetauscht. Auch Informationen. Zu sehen gibt es da glitzernde Mineralien, eindrückliche Fossilien und schmucken Schmuck. Imhof organisiert zudem geführte Exkursionen für Fossilieninteressierte nach Wildegg, Holderbank, Frick und Hauenstein, gibt Kurse („Fossilien: Suchen/Präparieren/ Bestimmen“) an der Volkshochschule und widmet sich dem An- und Verkauf von Fossilien und Mineralien. Wohl doch ein bisschen ein Freak.

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DAS LIEBSTE ZUM SCHLUSS

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Collage von Gaia Giacomelli

Oktober 2013

KOLT


„Brille weg - volle Sehkraft mit Augenlaser und Implantaten“ Dienstag, 22. Oktober 2013, 18 Uhr

Öffentlicher Vortrag zum Thema: Operative Sehkorrektur Anmeldung unter 0800 000 903 oder akademie@klinik-pallas.ch

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