Was wir sehen wollen Seite 22
Biweekly Printed Inspiration
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EDITORIAL April 2018
Liebe Leser_innen
Letztes Jahr interviewten wir die bekannte Journalistin Michéle Binswanger, die in Rickenbach aufgewachsen ist. Fotografiert hatte sie Roshan Adhihetty, ein junger Fotograf aus Solothurn. Selten hat jemand aus seiner Gilde in so jungen Jahren ähnlich viel Aufmerksamkeit erhalten. Zuerst war da sein Projekt über das Phänomen des Nacktwanderns. Adhihetty begleitete und fotografierte Menschen in der Schweiz, Österreich und Deutschland, die beim Wandern gerne nackt sind. Medien im In- und Ausland zeigten die Bilder der Nackten in Wanderschuhen. Und dann hätte der junge Fotograf einen der wichtigsten Schweizer Fotopreise erhalten sollen. Warum die Jury innerhalb von Stunden entschied, ihm den Preis doch nicht zu verleihen, lest ihr auf Seite 22. Und ihr lest auch, wie Roshan Adhihetty damit umging, dass die gleichen Medien über eben diese Schmach berichteten. Viel Spass mit dem neuen KOLT! Nathalie Bursać
IMPRESSUM VERLAG / HERAUSGEBER Verlag 2S GmbH, Leberngasse 17, 4600 Olten, verlag@v2s.ch, www.v2s.ch VERLAGSLEITUNG Yves Stuber (ys) REDAKTIONSLEITUNG Nathalie Bursać (nb), redaktion@kolt.ch FINANZEN Matthias Gubler INTERNETAUFTRITT Roger Burkhard LAYOUT / SATZ Christoph Haiderer REDAKTIONELLE MITARBEIT Kilian Ziegler, Marc Gerber, Daniel Kissling, Pierre Hagmann, Ueli Dutka (ud), Rhaban Straumann, Fabio Lüdi ILLUSTRATION Petra Bürgisser, Anna-Lina Balke FOTOGRAFIE Janosch Abel, Yves Stuber KORREKTORAT Mirjam Läubli, Karola Dirlam LESERBRIEFE leserbriefe@kolt.ch, www.kolt.ch/leserbriefe AGENDA agenda@kolt.ch, www.kolt.ch/agenda ABO Jahresabonnement CHF 99.—(inkl. MwSt), Gönnerabonnement CHF 170.— (inkl. MwSt), abo@kolt.ch, www.kolt.ch/abo INSERATE inserate@kolt.ch, www.kolt.ch/inserieren KONTAKT www.kolt.ch, hallo@kolt.ch AUFLAGE 1'800 ISSN 1664-0780 DRUCK Dietschi AG Druck und Medien, Ziegelfeldstrasse 60, CH-4600 Olten. © 2018, Verlag 2S GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung. Die Urheberrechte der Beiträge bleiben beim Verlag. Keine Gewähr für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen.
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Cover fotografiert von Roshan Adhihetty
Seid ihr mit jemandem befreundet, von dem ihr denkt, dass er ein ausserordentliches Talent besitzt, ja, vielleicht sogar ein Genie ist? Und wisst ihr, dass es andere Menschen gibt, die diesen jemand nicht im gleich guten Licht sehen wie ihr? Albert Cartier befindet sich in einer solchen Situation. Er war ein Förderer und Freund des Oltner Künstlers Hans-Peter Zünd, auch in schwierigen Zeiten. Und schwierige Zeiten erlebte der vor drei Jahren verstorbene Zünd so einige. Nicht alle Oltner_ innen hätten Zünd so erleben dürfen wie er, sagt Cartier. Und nicht alle hätten ihn in gleich guter Erinnerung wie er. Deshalb begann Cartier vor zwei Jahren damit, das Gesamtwerk von Zünd zu sammeln, mit Weggefährten zu reden – all das, um mit einem Film über Hans-Peter Zünd dessen künstlerisches Genie aufzuzeigen. Lest auf Seite 10, wer Zünd war und wie sich einer seiner engsten Vertrauten an ihn erinnert.
INHALT
6 Im Gespräch
GENUSS
Franziska Müller isst gerne gut und schreibt darüber
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KOLUMNEN 32 Kilian Ziegler
Film
10 Ins Licht gerückt
Er war kein einfacher Mensch. Vor drei Jahren starb Hans-Peter Zünd. Nun hat sein langjähriger Freund Albert Cartier einen Dokumentarfilm über ihn gemacht.
«Der Beobachter»
Die Welt an einem Tag
19 Musik Rocksound aus Olten
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Petra & Jürg «Weisheit und Missverständnis»
Literatur Fiebriges Bild
STADT
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Der koltige Monat Von Realität und Unwirklichem
Meinung Was Online-Shoppen mit Autofahren zu tun hat
22 Wirklichkeiten
Was darf Reportage-Fotografie? Wo fängt Kunst an? Roshan Adhihetty hat mit seinen Bildern von Nacktwanderern grosse Erfolge gefeiert – und einen Misserfolg.
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DAS GESPRÄCH
«Ich lasse mich gerne überraschen» In schönen Hotels übernachten und Gourmet-Essen geniessen, dies sind ihre Leidenschaften. Auf ihrem Blog schreibt Franziska Müller seit knapp zehn Jahren darüber, was sie erlebt. In Städten fernab der Schweiz, oder auch hier im überschaubaren Olten und seinen Restaurants. Interview von Nathalie Bursać Foto von Janosch Abel
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ranziska Müller, Essen ist ein Trendthema, und die Masse an Food-Channels in den sozialen Medien und FoodbloggerInnen ist schier unüberschaubar. Macht das Ihre Tätigkeit nicht schwierig? Natürlich gibt es jede Menge Leute, die über Essen und Restaurants bloggen. Oft tun sie das aber nicht besonders kritisch und auch nicht umfassend. Ich versuche, mich von der Menge abzuheben, indem ich über Restaurants und Hotels aus dem gehobenen Preissegment schreibe. Wie sind die Reaktionen auf Ihre Reviews? Die GastronomInnen haben meistens Freude an meinen Reviews. In der Facebook-Gruppe «Olten» bin ich aber schon ein paar Mal angegangen worden. Wieso das? Die Leute sind gegenüber gehobenen Restaurants etwas misstrauisch. Hinzu kommt, dass nicht alle 150 Franken für ein Nachtessen ausgeben können. Einmal schrieb ich in einer Restaurantkritik über die Pouletflügeli, für die das alte Restaurant National so bekannt war. Der neue Wirt hatte trotz Gourmetküche die Flügeli auf der Karte behalten. Und ich fand, dass Chicken Wings in der Gourmetküche nichts zu suchen haben. Das kam nicht bei allen gut an. Kritik stört Sie nicht? Ich kann gut mit Kritik umgehen. Es gibt viele Leute in meinem Umfeld, die nicht verstehen, warum ich blogge. Laut Facebook-Daten sind es primär die 25- bis 35-Jährigen, die meine Beiträge lesen. In meiner Altersgruppe ab 50 Jahren werden Blogs einfach nicht gelesen. Einige Bekannte haben Mühe damit, dass ich mich online so exponiere. Muss gehobene Küche immer teuer sein? Nicht unbedingt. Ein gutes Restaurant bietet ein Erlebnis, ist innovativ und verwendet selbstverständlich nur frische Zutaten. Grundsätzlich ist es Geschmackssache, was ein gutes Restaurant ist. Und die Spitzengastronomie wandelt sich: Heute darf ich auch in Turnschuhen in ein gutes Restau-
rant gehen. Das ist so. Das Thema «Casual Fine Dining», also die entspannte Gourmetküche, ist in aller Munde. Früher waren die Gäste piekfein angezogen. Mit der jungen, wilderen Generation von KöchInnen ändert sich das nun. Das Essen ist unverändert spitze, aber das Ambiente und der Umgang untereinander ist lockerer geworden. Gefällt Ihnen das? Ja, sehr! Ich finde das eine gute Entwicklung. Es kommt auf die Qualität des Essens an und nicht darauf, ob mit weissen Handschuhen serviert wird. Ein weiterer Vorteil bei diesen jungen Restaurants ist, dass es meistens ein einziges Menü gibt, was alles ein wenig günstiger macht. Die DurchschnittsschweizerInnen mögen das ja nicht so, sie haben gerne die Wahl. Doch ich lasse mich gerne überraschen.
«KöchInnen kochen auch nur mit Wasser.» Trotzdem: Wird das alles nicht langweilig mit der Zeit? Auch die Gastroszene ist von Trends bestimmt: Die Teller sehen überall ähnlich angerichtet aus, sei es in Kopenhagen oder Berlin, die Speisen ähneln sich, die Art der Zubereitung auch. Man stumpft schon ab. Aber ich bin immer wieder erstaunt, was sich Neues entwickelt. Manchmal ist es auch nicht gut, dass man immer Neues erwartet. KöchInnen kochen auch nur mit Wasser. Es gibt schon gewisse Aspekte, die man verändern kann, andere bleiben einfach gleich. Sie könnten in Olten ein Restaurant bauen: Wie sähe es aus? Das wäre ein modernes Casual-Restaurant, also mit Holztischen und ohne weisse Tischtücher. Lockeres Service-Personal, offene Küche, kleine Karte. Von der Grösse her sollte es im kleineren Rahmen sein, sodass die Lautstärke ange-
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nehm ist. Ich finde die sogenannte Fusionsküche nach wie vor faszinierend. Also die asiatisch-europäische oder orientalisch-europäische Fusionsküche. Und die Portionen sollten eine Grösse haben, die ermöglicht, dass sich der Geschmack entwickeln kann. Mögen Sie also keine 20-gängigen Menüs mit Mikro-Portionen? Zehn Gänge sind für meinen Geschmack das Maximum. Ansonsten bin ich einfach überfordert, und ich kann mich an nichts mehr erinnern, weil keine Zeit blieb, das Essen auf sich wirken zu lassen. Ich mag es nicht, wenn die Portionen so winzig sind, so dass man keinen bleibenden Eindruck bekommt. Sie essen in den besten Restaurants der ganzen Welt. Müssen Sie immer ein Jahr im Voraus buchen? Ich finde, man muss nicht immer alles planen. Zum Glück gibt es mittlerweile viele Restaurants, die in der Mitte des Raumes einen grossen Tisch frei lassen, wo sich Gäste zusammen mit anderen spontan hinsetzen dürfen. Gewisse Restaurants muss man drei Monate im Voraus buchen, andere noch früher. Wenn man beispielsweise beim weltbesten Koch, dem Schweizer Daniel Humm in New York, essen will, muss man wie bei einem Konzert während eines bestimmten Zeitfensters Tickets kaufen. Das macht es spannend, aber auch mühsam. Am besten informiert man sich vorab, wie die Tischreservation funktioniert, dann hat man gute Chancen auf einen Platz.
Franziska Müller (*1963), wuchs in Olten auf und schreibt seit 2009 auf ihrem Blog swisstraveler.net über die Restaurants und Luxushotels, die sie zusammen mit ihrem Ehepartner besucht. Über neue Restaurants informiert sie sich vor allem im Internet oder zum Beispiel in der New York Times. Die studierte Betriebs- und Sozialwissenschaftlerin lebt in Olten und widmet ihre Zeit voll und ganz dem Bloggen.
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LESERPOST
OFF THE RECORD
Die Stadtkanzlei, das Fass und die Dummen im Gemeindeparlament
«Mario Batković hat einen vorzüglichen Musikgeschmack. Aber entweder ist das eine neue Band oder sie heisst korrekt Emerson, Lake und Palmer und nicht Emerson, Lake und Parker.»
Eine aufmerksame Leserin macht uns auf einen Fehler in der Rubrik «Die 5 Alben meines Lebens» des FebruarKOLT aufmerksam. Feedback zu unserem Magazin nehmen wir übrigens gerne unter redaktion@kolt.ch entgegen.
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as Kuvert mit der Einladung zur Gemeindeparlamentssitzung misst ungefähr fünf Zentimeter Dicke und auf dem ersten Blatt Papier steht (wie schon die Monate zuvor) für die Sitzung vom 21. März eine sehr lange Traktandenliste. Gehen wir davon aus, das Parlament kann die Diskussion aller zehn parlamentarischen Vorstösse erledigen und erreicht den heiklen Punkt 5 zum Thema «Mobilitätsplan» und «Parkierungsreglement», dann kann die Bevölkerung nur hoffen, dass wirklich alle ParlamentarierInnen das Dossier gut studiert haben. Denn schliesslich handelt es von einem wichtigen Teil des künftigen Verkehrsmanagements der Stadt Olten. Wenn sich die Stadtkanzlei aber wieder einmal anstellt, ein Projekt zu kommunizieren, dann wähnen sich die LeserInnen auf die Schulbank zurückversetzt. Die erfolgreiche Lektüre zum Beispiel eines «NZZ»- oder «WOZ»-Artikels sollte einen in nüchternem Zustand des Lesens und Verstehens problemlos dazu ermuntern dürfen, sich an einen Text aus der städtischen Feder heranzuwagen. Schon nach den ersten paar Zeilen aber fühlen sich geübte LeserInnen dumm. Dies hat die Stadtkanzlei endlich bemerkt! Zu Beginn des neuesten stadträtlichen Antrags versucht der städtische Schreiber den ParlamentarierInnen nun auch visuell ein wenig auf die Sprünge zu helfen, in Bezug darauf, was der wichtigste Paradigmenwechsel im städtischen Verkehrs- und Parkplatzregime bedeuten soll: Die erlösende, erklärende Zeichnung folgt nach dem üblichen Geschwurbel vom Wechsel von «nachfrageorientierter zu angebotsorientierter Planung für den motorisierten Individualverkehr (MIV)», über eine typologische Unterteilung, notwendige «Mobilitätskonzepte für Arealentwicklungen» bis zu Push- und Pull-Faktoren
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und der Erklärung, dem Stadtrat sei durchaus bewusst, dass die Verkehrsmittelwahl durch den Menschen (uns, die dumme Bevölkerung) eben nicht nur rational, sondern auch emotional getroffen werde. Wie gesagt: zum Glück. Die Zeichnung! Ihr erinnert euch an die Lösungen im hintersten Teil der Schulunterlagen? Sie zeigt die metaphorische Erklärung des wichtigsten Grundsatzes des Mobilitätsplans am Beispiel eines mit Wasser überlaufenden Holzfasses! Zusätzlich steht darunter wortwörtlich: «Droht das Fass – sprich das Strassennetz – beim motorisierten Individualverkehr zu überlaufen, bestehen die Möglichkeiten, Wasser herauszuschöpfen (Umlagerung von bestehendem Verkehr auf andere Verkehrsmittel) und/oder nur kleine Tropfen hinzuzufügen (sprich Neuverkehr aus den Entwicklungsgebieten in Richtung andere Verkehrsmittel zu steuern). Wichtig ist auch die laufende Pegelkontrolle via Monitoring zur Gesamtentwicklung.» Ab sofort bieten wir in unserer Stadt nicht mehr Platz für alle Autos, die es auf der ganzen Welt gibt, sondern nur noch für so viele Autos, wie wir uns wünschen. Und wir wünschen uns nur noch eine beschränkte Menge an Autos, damit der Verkehr in und um unser Städtchen weiterhin flüssig funktionieren kann, du Trottel! Wir, die Regierung, wissen, wie viele Autos dies genau sein dürfen, weil wir unsere Experten täglich damit beschäftigen. So ungefähr hätte das jede und jeder auch ohne Kinderzeichnung, die Autos durch Wasser und das Strassennetz durch ein Fass ersetzt, verstanden.
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MEINUNG Daniel Schneider (*1964), betreibt seit 1989 in Olten ein Planungsbüro. Denkt darüber nach, die «Stadtgespräche» wieder aufleben zu lassen.
Autofahren und Online-Shopping
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ussten Sie, dass Menschen innerhalb von wenigen Sekunden mutieren können? Vom seelenruhigen Fussgänger zum nervigen, drängelnden, hupenden Autofahrer? An der Autotüre muss eine Art unsichtbare Schleuse eingebaut sein, die uns verwandelt. Jeweils beim Aussteigen und Einsteigen. Das ist natürlich nur der erste Teil dieser kurzen Kolumne. Den zweiten Teil – ich höre jetzt noch das trockene Knack-Geräusch, als mein Kiefer bis zum Anschlag nach unten sauste – haben wir einem Beitrag aus einer dieser klugen Sendungen wie «Terra X» oder «Galileo» zu verdanken. Die Sache, die meinen Kiefer strapazierte, war meine eigene Naivität in Bezug auf das Thema OnlineShopping. Bislang dachte ich – etwas einfältig nur an Textilien denkend – dass das Kleidungsstück, welches nicht passt, wieder in die Schachtel kommt, gratis zurückgesandt und bei der Firma Z ausgepackt wird und dann bei gutem Zustand wieder in den Verkauf zurück geht. Alleine schon diese gratis Hin- und Her-Versenderei nervt mich gewaltig. Aber es kommt noch schlimmer! Das Gros der Retouren gelangt gar nicht zurück an die Verkaufsfirmen, sondern geht direkt an eine Retouren-Management-Firma. Dort werden die Artikel sortiert und in alle Welt verfrach-
tet. Oft auch deshalb, weil die Produkte nicht mehr im europäischen Markt erscheinen und der eigentlichen Verkaufsfirma nicht Billig-Konkurrenz sein sollen.
«Alleine schon diese gratis Hinund Her-Senderei nervt mich gewaltig. Aber es kommt noch schlimmer!» Und was hat das jetzt mit Autofahren zu tun? Sie ahnen es, ein Gratis-Päckli ist also vier bis fünf Mal auf unseren Strassen unterwegs und verstopft diese noch mehr! Das müsste der Auto-Lobby zu denken geben. Da bleibt nur eines: Steuern auf Gratis-Päckli (sprich Online-Shopping). Und wenn wir schon dabei sind: Eine fette Steuer auf Verpackungsmaterial (um zu einer
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Tranche Schinken zu kommen, muss man sich mittlerweile durch zwei Schichten Plastik vorarbeiten) und auch für alle SchnellverpflegerInnen, deren Servietten und Einweggeschirr die halbe Stadt bedecken. Lieber wieder beim Suter Remo die guten Schuhe flicken lassen, bei der Schneiderin an der Neumattstrasse den Mantel einkürzen lassen oder Wolle bei Pinguin kaufen, selber stricken und dabei noch gesellige Treffen geniessen. Nein, ich bin nicht (mehr) beim Gewerbeverband – dort zählt man derzeit zu gerne von morgens bis abends Parkplätze…
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Er war exzentrisch, wild, vielen bekannt, nicht bei allen beliebt. Drei Jahre nach seinem Tod feiert ein Film über den Künstler Hans-Peter Zünd Premiere. Die Idee dazu kommt von Albert Cartier, einem langjährigen Förderer und Freund von Zünd. Der Film ist sein Herzensprojekt.
Text von Rhaban Straumann Bilder zVg
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In der Bodenstruktur sah er Rosen, die er später zu einem Tryptichon verarbeitete: Zünd mit Polaroid-Kamera vor dem Hotel National in Luzern.
Ein Selbstporträt aus dem Kopiergerät der Oltner Papeterie Köpfli: Hans-Peter Zünd.
«Hans-Peter Zünd – der Göttliche (1950-2015).» Ein irritierender Titel? Unter Umständen. Irritierend wie der Mensch selbst vielleicht. Querulant, Querkopf? Genie oder Wahnsinniger? Aktionskünstler, Selbstdarsteller und Kunstfigur? Liebevoller Lebemensch. Vater einer Tochter und eines Sohnes. Grafiker, Künstler und Art-Creative-Consulting-Director. Mitglied des Schachklubs Olten. Und mit Sicherheit ein Stadtoriginal, das schmerzlich vermisst wird. Ein Mensch, gemäss dessen Auffassung alles in der Welt von Gott erschaffen war, somit also göttlich – und damit natürlich auch er selbst. Aufgewachsen in Reiden, ausgebildet in Luzern, gearbeitet in Basel, gelebt, geliebt, gewirkt, geschätzt und verkannt in Olten. Verwahrt in Solothurn. Der Versuch eines Porträts dieses vielseitigen, nur schwer zu beschreibenden Charakterkopfes.
Jugenderinnerung an die frühen neunziger Jahre. Ein Mann spaziert, schlendert, nein, schreitet durch die Hauptgasse, nicht in der Mitte, eher der Häuserzeile entlang. Blick ins Schaufenster – ob der ausgestellten Ware wegen oder weil es spiegelt? Keine Ahnung. Schulterlanges, gerades Haar, strenger Mittelscheitel, schwarz die eine Hälfte der Frisur, wasserstoffblond die andere, der Mantel lang, farblich ebenso geteilt, nur umgekehrt. Manchmal mit ausgefallenem Hut. Zünd. Das war er. Solche oder ähnliche Erinnerungen an ihn haben viele Menschen in der Stadt. «Ich, der Erfinder der induktiv-deduktiven Kunst», lässt sich an der Wand in seinem ehemaligen Zimmer im alten Spittel in der Oltner Altstadt entziffern. Hier lebte Hans-Peter Zünd während einer Handvoll Jahre als Gast von Albert und Paquita Cartier. «Ich lebe in Liebe» steht da auch. Das tat er. Liebe war sein Lebenscredo, viel Menschenliebe erfuhr er durch die Freundschaft mit den Cartiers und weiteren Weggefährten. Das gastfreundliche Paar bot dem ungewöhnlichen Menschen Zünd nicht nur ein Dach über dem Kopf, sie feierten gemeinsam Geburtstage, Ostern und
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Verstreut sind seine Porträts, verteilt die Skizzen, verschenkt die Zeichnungen und verschwunden viele seiner Skizzenbücher. Weihnachten; auch als Zünd wieder weiterzog, besuchten sie zusammen mit ihm Ausstellung in der weiten Schweiz. Das Paar half ihm durch Krisen und veranstaltete in den ehrwürdigen Mauern des alten Hexenturms in Oltens Altstadt immer wieder Künstlertreffen. Lange Abende seien das gewesen im eigenhändig restaurierten ersten Oltner Gefängnis und ebensolche Nächte mit feinem Essen, feinen Feiern, Gesang und ungezwungener Atmosphäre, erzählt Albert Cartier. In die kleine Privatgalerie eingeladen wurden Menschen, Paare mit Interesse am Zusammensein mit interes-
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Martin Lang, der ehemalige Wirt des Ratshauskellers.
Porträt mit dem schlichten Titel «Brenda».
santen Kunstschaffenden. Die Hoffnung war, das eine oder andere von Zünds Werken verkaufen zu können. Denn der Künstler selber habe seine Zeichnungen aus purer Nächstenliebe oder für ein kleines Entgelt jeweils verschenkt. Viele von Zünds Arbeiten seien in Ermangelung eines Atelierraumes auf der Gasse entstanden. Das nächtliche Olten war ihm Heimat und Wirkungsort zugleich. Ein grosser Teil seiner Arbeiten ist in heute noch existierenden oder längst verschwundenen Lokalen entstanden. Terminus, Valentino, Ring, Löwen, Kreuz, Isebähnli und ein paar Beizen oder Bars mehr. Und traf er in den Gassen auf ein passendes Gesicht, porträtierte er es gerne sogleich vor Ort. Dabei zeichnete er mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln. Kaffee, Bier, Wein, Zucker, Asche, Tusche, Salz und Pfeffer, das, was halt grad so in Griffnähe war. Begegnet waren sich Hans-Peter Zünd und sein Förderer Cartier erstmals in den neunziger Jahren, selbstredend am Oltner Bahnhof. Grafiker
«Ich habe mich mit Farben und Formen ausgelebt, das Sehen geübt.» Zünd war auf dem Weg nach Basel, Bildübermittler Cartier gen Zürich. Näher kennen lernten sie sich in der Folge in einem ehemaligen Oltner Spanier-Treffpunkt. Weitere Verabredungen führten sie in diverse Oltner Restaurants und Bars. Aus einer zufälligen Begegnung zweier Menschen wurde eine tiefe Freundschaft. Bald fanden regelmässige Besuche beim Freigeist Zünd statt, in seiner Wohnstatt, einem feuchten und kalten Keller in einer Villa an der Martin-Disteli-Strasse. Aufgrund persönlicher Schicksalsschläge litt Zünd mitunter
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an sich selber, die Wahl des Daheims sei nicht nur unbewusst getroffen worden, erzählt Cartier. Der Umzug in eine frei gewordene Mansarde desselben Hauses verhiess Besserung, jedoch nicht nur. In einem düsteren Moment warf der sensible Zweifler und Menschenfreund Zünd einen Teil seines Hab und Guts auf die Strasse. Die Folgen waren Polizeibesuch und schliesslich fürsorglicher Freiheitsentzug mit Einweisung in die Psychiatrie in Solothurn. Es sollte nicht bei diesem einen Mal bleiben. Nach seiner ersten Entlassung aus der Psychiatrie zog Zünd ins ehemalige Kinderzimmer des Uroltners Albert Cartier, dessen Mutter übrigens die letzte Glöcknerin des Oltner Wahrzeichens, des Ildefons-Turms, war. Es ist dem engagierten Bestreben von Albert Cartier zu verdanken, dass HansPeter Zünd nach einer weiteren Einweisung wieder aus der Psychiatrie «befreit» werden konnte. Straucheln und Stolpern, sein empfindlich -empfindsames Wesen blieben dennoch Zünds stete Begleiter, ebenso wie die Freundschaft und Fürsorge
Aus einer Serie von Pflanzenbildern stammt der verdorrene Pflanzenstock.
Cartiers. Ihn nannte Zünd: «Der alleinige Alleinverkäufer meiner alleiniger Kunst.» Auf das Drängen des Alleinverkäufers hin, endlich einmal eine Ausstellung zu machen, erwiderte Zünd: «Ig ha nüt. Es isch alles scho gmacht und id Wält gstreut.» Wie wahr. Verstreut sind seine Portraits, verteilt die Skizzen, verschenkt die Zeichnungen und verschwunden viele seiner Skizzenbücher. Letzteres ist traurig, denn sie wurden entwendet, bei Ausstellungen oder aus einem der vielen, kleinen Lager mit Zünds gesammelten Objekten. Zünd war ein exzentrischer Künstler, der sich selber als Kunstfigur sah. Er inszenierte sich mit farbigen Gewändern, Hüten und viel Glitzer. «Sein Leben war fast immer eine Performance», sagt Künstlerkollege Urs Borner. Doch hinter der schillernden Fassade des Oltner Künstlers verbarg sich ein sehr herzlicher, beseelter Mensch, welcher gemäss seinen Freunden in Olten oft missverstanden wurde. War es die Unberechenbarkeit dieses einzig-, eigenartigen bunten Lebenskünstlers, die dazu führte,
Eines von vielen Porträts, die Zünd für ein paar Franken verkaufte oder gar verschenkte.
Er zeichnete mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln. Kaffee, Bier, Wein, Zucker, Asche, Tusche, Salz und Pfeffer, das, was halt grad so in Griffnähe war. dass sich manche ZeitgenossInnen vor ihm fürchteten? War seine äussere Erscheinung dem offiziellen Olten ein Graus? «Eine Woche lang lief er mit einem Verkehrshut auf dem Kopf herum», lässt
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sich Jörg Binz, ein weiterer Künstlerkollege, zitieren. «Er wurde missverstanden, weil viele Menschen nicht auf ihn eingegangen sind», sinniert Albert Cartier, «nie kam ein böses Wort über seine Lippen. Dennoch hatten manche Leute Angst vor ihm, dachten, er sei gefährlich, weil sie ihn nicht einschätzen konnten.» Künstlerschicksal? Zu eigenwillig? Fern der Norm mit Sicherheit. Der Künstler selbst sagte über sich: «Ich habe mich mit Farben und Formen ausgelebt, das Sehen geübt.» Zum Teil habe er das Malen und Zeichnen auch als Seelenhygiene oder als Konfliktbewältigung gebraucht. Klingt nicht nur fremd in des Autors Ohren. Albert Cartier war Zünd während rund 25 Jahren ein verlässlicher Weggefährte und ist es ihm über den Tod hinaus geblieben. Nun widmet er seinem seelenverwandten Freund in Zusammenarbeit mit dem mehrfach preisgekrönten Fotografen und Filmer Markus Eichenberger aus Aarau einen Film. Möglich wurde das Filmprojekt nur dank enorm viel Eigenleistung und etlicher Freundschafts-
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Zünd verstreute seine Werke «in alle Welt». Und ein guter Freund sammelte sie wieder ein: Albert Cartier, hier im alten Hexenturm der Oltner Altstadt.
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Filmpremiere «Hans-Peter Zünd – der Göttliche (1950-2015)» Capitol Olten 28. April 2018 20 Uhr www.cartier-art.ch
Rosen waren Zünds Lieblingsblumen, auch die vertrockneten.
dienste. Das Leben und Wirken des Kunstmalers und Grafikers Zünd soll in einem anderen Licht erscheinen, als vermutlich die meisten es sehen wollten. Den passenden Soundtrack dazu liefern der Cellist Adam Mital und der Saxofonist Roland Philipp. Auch kommen Wegbegleiter des Künstlers Zünd in Interviews zu Wort, sei es der berühmte Plakatkünstler und Gründer des Willisauer Jazz-Festivals, Niklaus Troxler, mit welchem er die Kunstgewerbeschule in Luzern besuchte, oder die erwähnten Künstlerkollegen wie Jörg Binz und Urs Borner. Der Bestseller-Autor Martin Suter war einst Chef des Grafikers Zünd, damals, als beide für die Basler Werbefirma GGK tätig waren. «Eine ungewöhnliche Firma», sagt Suter im Film, und: «Hanspi prägte die ausgeflippte Stimmung auf der Etage wie kein anderer.» Im Interview trägt Suter zwei Krawatten, «zu Ehren Hanspis», erklärt er. Nur Hanspi hätte das mit Stil tun können. Er sei ein hochbegabter und sehr kreativer Gestalter und Werber gewesen sowie «der absolute König am Töggelikasten», trotz selbst auferlegten Handicaps, damit die Gegner auch eine Chance gehabt hätten. Schöne Erinnerungen, auf feinfühlige Art
«Ich will zeigen, dass auch das Sterbende, Verdorrende, nicht nur das Blühende, eine Schönheit in sich trägt.» festgehalten, mit grossem Aufwand. Während der letzten drei Jahre sammelte Albert Cartier Werke, Zeichnungen, Skizzen und Bilder von Hans-Peter Zünd, um sie digitalisieren zu lassen, klopfte sich von Tür zu Tür und telefonierte sich die Ohren wund. Das tat er im Übrigen auch, um den Film finanzieren zu können. Leider waren letztere Bestrebungen nicht mit demselben Erfolg gekrönt. Selbst zahlreich besuchte, gut betuchte OltnerIn-
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nen liessen sich, obwohl BesitzerInnen von Zünds feinfühligen, bezaubernd eigenwilligen Werken, nicht für die Idee erwärmen. Als fürchteten sie einen Kratzer durch Zünds Ruf – selbst über seinen Tod hinaus. Hört man seinen ehemaligen Weggefährten zu, ist das kaum nachvollziehbar. Der Oltner Kunstmaler Jörg Binz beschreibt Zünd folgendermassen: «Durch seine exzentrische Art ist er aufgefallen. Hinter seiner Fassade sah es anders aus: Er war sensibel, hochintelligent, kreativ und gesellschaftsfähig. Er ist nie auf die schiefe Bahn geraten, als Genie bleibt er den OltnerInnen auf ewig erhalten.» Als Zünd in Reiden lebte, entstanden viele seiner Pflanzenbilder. Unter ihnen findet sich ein verdorrender Pflanzenstock. Er sagte dazu: «Ich will zeigen, dass auch das Sterbende, Verdorrende, nicht nur das Blühende, eine Schönheit in sich trägt.» Hans-Peter Zünd verstarb am 30. April 2015. Lungenkrebs hiess der letzte Feind. Es bleiben verstreute Werke, der Film und Erinnerungen seiner Freunde, Kinder, Wegbereiter und -gefährtinnen. Und ihre eigenen Bilder. Im Kopf.
SERIE
FILM
Die Welt an einem Tag Nach elf Jahren kommt das Sequel der berühmten BBC-Dokumentation «Earth» ins Kino. von Pierre Hagmann
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ndlich hat jemand Güzin Kar dafür bezahlt, dass sie eine Serie schreibt! Die Tagi-Kolumnen der Autorin und Filmemacherin sind witzig, menschenfreundlich und immer dann gnadenlos direkt, wenn es gilt, gegen die Intoleranz anzuschreiben. In «Seitentriebe» wiederum schafft Kar ganz unauffällig den Spagat zwischen Kommerz und Anti-Klischee. Sie zeigt die Schweiz, die es gibt und die manche Grossstadtmenschen vielleicht ausblenden, sie zeigt aber auch die Schweiz, die am hiesigen TV selten zu sehen ist, obwohl sie existiert. In dieser Schweiz heisst das Schulgspänli des Buben eben nicht NoahLeon, sondern Hassan. Es sind solche kurzen Sätze im Skript, die heutzutage selbstverständlich sein sollten. Ah, und die eigentliche Story? Drei Ehepaare kämpfen mit den üblichen Problemen: Langeweile, Lustlosigkeit, Kinder. Im Zentrum stehen Nele und Gianni, Ende dreissig, sie Künstlerin, er Laborant (vermutlich für «Kassensturz»), kinder- und sexlos und auf der Therapie-Couch sitzend (definitiv bei «Paare» von Arte geklaut). Schnelle aber gesunde Kost! Noch ein paar Tage online abrufbar, los! (nb)
Seitentriebe
1 Staffel, 8 Episoden, Dramedy SRF & Langfilm/2017
DIE
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as hat das Leben für einen Sinn, müssen sich die Eintagsfliegen fragen, nachdem sie Ende Nachmittag geschlüpft sind, drei Jahre als Larven im Flusswasser der Theiss hinter sich. Wer nicht sofort gefressen wird, trifft sich zum Paarungstanz, legt Eier und stirbt. Bis zu fünf Millionen Fliegen sind es an diesem kleinen Flussabschnitt in Ungarn, die ein paar Stunden vor Sonnenuntergang schlüpfen, und wenn die Nacht Einzug hält, sind alle wieder tot. Alle drei Jahre wiederholt sich das Spektakel, und wo es auf diesem Planeten ein Naturspektakel gibt, das ist BBC meist nicht fern. Die renommierte «Earth Films»-Produktion der öffentlichrechtlichen TV-Anstalt aus Grossbritannien bringt mit «Earth: One Amazing Day» (Deutscher Titel: «Unsere Erde 2») den Nachfolger der preisgekrönten Dokumentation «Earth» (2007) heraus. Diesmal spricht nicht der Brite David Attenborough, sondern der Amerikaner Robert Redford. Die Erde ist keine andere geworden in der Zwischenzeit, die Technik aber schon. Die Bilder sind schärfer, die Kameras noch näher dran, wenn sich zwei Giraffen balgen und die langen Hälse ineinander verhaken, wenn der Bär sich mithilfe eines Baumstamms den Rücken kratzt und danach laut furzt. Wenn der fast blinde Hai die gut versteckte Beute findet, weil sein elektronischer Radar den
ALBEN MEINES LEBENS
Manu Chao Clandestino Songtexte in drei Sprachen, einfache Songstrukturen und 8-Bit-Sounds: Kaum ein Album hörte ich zu Beginn meiner Teenie-Jahre so oft.
Herzschlag der Fische wahrnimmt. Oder eben, wenn die ungarische Eintagsfliege ihr kurzes Leben geniesst, wenn sie denn nicht nach wenigen Sekunden von einem fliegenden Fisch geschnappt wird. Es sind fabelhafte Aufnahmen, für die sich der Gang ins Kino zur grossen Leinwand lohnt. Das Leben auf der Erde ist ein grosses Wunder, und wie es der Mensch mittlerweile schafft, dieses zu dokumentieren, ist selbst wiederum ein kleines Wunder. Wie der Filmtitel sagt, begleiten wir dieses Leben während eines Tages, vom ersten Zucken vor Sonnenaufgang bis tief in die Nacht. Der Filmtitel bringt aber auch zum Ausdruck, was das einzige Problem des Films ist: Das Wort «amazing», englisch für fantastisch oder wahnsinnig toll etwa, ist in diesem Kontext inhaltlich zwar treffend – aufgrund seines vor allem im Amerikanischen völlig inflationären Gebrauchs zeugt es aber von wenig Subtilität, dieses in einen Filmtitel zu packen – und genauso plump ist die dramatische Orchestermusik, die den ganzen Dokumentarfilm wie eine unappetitliche Portion Zucker überzieht. Als ob die Wunder der Erde nicht genug wären.
«Earth: One Amazing Day»/ «Unsere Erde 2» Seit dem 29. März in den Kinos
von Ralph und Tizian von One Lucky Sperm
Børns Dopamine Feel-Good-Musik, die mir ein Grinsen ins Gesicht zaubert. Beschwingt auf nostalgisch-moderne Art dank einem Mix aus 60er-, 70er- und 80er-Sound.
Nick Waterhouse Never Twice Ein kräftiges Soul-, Jazzund R'n'B-Gemisch, das einen direkt in die 1940er/1950erJahre befördert. Gespickt mit Uptempo-Nummern, die in verrauchten Spunten zum Tanzen zwingen.
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Jurassic 5 Quality Control Wenn Chali 2na seinen Bariton zum Besten gibt, dreh ich durch. Erst recht, wenn ich daran denke, was momentan im Rap-Zirkus so läuft – aber das ist wohl auf mein nicht mehr so jugendliches Alter zurückzuführen.
The Strokes This Is It Mit seinen messerscharfen Gitarrenarrangements und einer Sound-Ästhetik direkt aus der Garage hat dieses Album meinen Entscheid, Indie-Rock machen zu wollen, stark beeinflusst. Ein guter Song braucht nicht mehr als ein Dutzend Spuren!
MUSIK
ICH TRAGE B A RT L O M E .
Heiss und dirty Die Oltner Band Roamer präsentiert ihr erstes Album – endlich.
von Marc Gerber
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ie heisst es so schön: Das Wandern ist des Müllers Lust. Wir wandern aber nicht auf den Weissenstein, sondern durch die Musiklandschaft. Okay, dieser Übergang war billig, aber es wird noch billiger: Die Band im April heisst Roamer. Zu Deutsch: Wanderer oder Vagabund. Roamers Alternativ-Rock ist aber definitiv nicht zum Davonlaufen. Bleiben wir beim Thema Wandern. Roamer hat sich nämlich offensichtlich irgendwo auf dem Weg zum Debüt-Album verlaufen. Ganze zehn Jahre, ich wiederhole, ZEHN JAHRE!, brauchten Sämi, Simon, Chrigu und Dinu für ihre erste Scheibe. Alle Majorlables hätten wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch erlitten, doch manchmal ist es bei Musik wie bei einem Wanderschuh: Der muss auch zuerst eingetragen werden, sonst gibt es Blasen an den Füssen. Auf seiner Scheibe «What the Hell» liefert das Oltner Quartett eine Landkarte (okay, ich weiss, langsam wird es peinlich mit dem Wandervokabular voller musikalischer Ausflugsziele. Roamer selbst bezeichnen in ihrem Presstext «What the Hell» als einen einzigen, feurigen Brunftschrei, mit einem Beat so schmutzig wie eine
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Fetischausrüstung. Ich bezeichne «What the Hell» schlicht als extrem abwechslungsreich: als hätten Muse, IAMX und Placebo während einer musikalischen Gang-Bang einen Schweizer Bastard gezeugt. Hört euch auf «What the Hell» unbedingt den gleichnahmigen Titeltrack an. Ich kann mir nur vorstellen, welche Soundwand wir überklettern werden müssen, wenn Roamer Ende Monat ihr 10-Jähriges und ihre erste Platte feiern werden. Neben brutalem Alternativ-Rock sind darauf auch Songs wie «Today» zu hören, der sich auch bei langsamer Gangart geniessen lässt. Roamer präsentieren auf ihrem Erstling eine Gratwanderung zwischen Ballade und Rock, untermalt mit ruhigen Piano-Parts, so dass auch Muse ihre Freude hätten. «What the Hell», ich sage: I want more, liebe Roamer, und ich hoffe, ihr setzt auch in Zukunft zum Gipfelsturm an!
Release und Plattentaufe von «What the Hell» 28. April / Coq d’Or roamermusic.ch
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..................... KOLT liest .....................
BUCH
von Daniel Kissling
ALL YOU NEED IS EARS
Die Rache der Frauen
von George Martin
George Martin ist vor allem dafür bekannt, der fünfte Beatle zu sein. Er war der Produzent der Band und hinterliess in all seinen Produktionen eine eigene Note. Wie es dazu kam, dass ein Produzent überhaupt eine eigene Note hinterlassen konnte und so das heutige Verständnis eines Musik-Produzenten prägte, erfahrt ihr in seinen Memoiren aus dem Jahr 1979. Ueli Dutka, KOLT-Musikkolumnist
DRAFT ANIMALS von Phil Gaimon
Phil Gaimon mag Schokokekse, ausserdem war er bis vor kurzem Rennradprofi und schreibt in seinem dritten Buch in sehr ungeschönter und humorvoller Weise über das Leben im "Peloton". Ein sehr empfehlenswerter Einblick in den Radsport. Christoph Haiderer, KOLT-Grafiker
MEIN EUROPA von Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk
Wer sich in den Weiten Osteuropas verliert, macht Bekanntschaft mit Engeln, Dämonen und – sich selbst. Die Geister des Ortes erschrecken und verzaubern. Und sie gehen einem nicht mehr aus dem Sinn. Isabel Hemp, Journalistin
Bret Easton Ellis und die anderen Hunde von Lina Wolff
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anchmal reicht ein einziges Bild, eine Szene, damit einem ein Buch nicht mehr aus dem Kopf geht. Eine schäbige, enge, feuchte Wohnung zum Beispiel, erfüllt von der sommerlichen Hitze Barcelonas. Und eine alleinerziehende Mutter und ihre Teenager-Tochter Araceli, welche aus ebendieser Wohnung heraus beinahe obsessiv ihre neue Nachbarin, eine junge Schriftstellerin namens Alba, bespitzeln und alle ihre veröffentlichten Kurzgeschichten, die sie in die Finger kriegen können, verschlingen. Und sich damit immer tiefer in die von Gewaltfantasien erfüllte Gedankenwelt ihrer schreibenden Nachbarin begeben, sodass irgendwann die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verschwimmen drohen. So spannend das klingt, so muss ich doch gestehen, «Bret Easton Ellis und die anderen Hunde» nicht in einem Zug verschlungen zu haben. Ein paar Dutzend Seiten angelesen, musste ich den Debütroman der schwedischen Schriftstellerin Lina Wolff, 2012 im Original erschienen, aber erst letztes Jahr ins Deutsche übersetzt, aus Zeitmangel für ein paar Wochen liegenlassen. Doch dieses fiebrige Bild, die modrige Wohnung, die obsessive Mutter und die nicht minder neugierige Tochter, blieb haften, hatte sich in meinem Kopf festgeklebt wie ein verschwitztes T-Shirt an einem Körper im Hochsommer. Und kaum hatte ich den Roman wieder aufgeschlagen, war ich wieder mittendrin.
Die beinahe körperliche Eindringlichkeit, mit welcher Wolff solche Szenen zu schildern vermag, ist eine der grossen Qualitäten von «Bret Easton Ellis und die anderen Hunde», sodass man alsbald mit den Figuren mitliebt und -leidet, als wäre man sie selber, und sich so plötzlich dabei ertappt, wie man es ganz okay findet, dass Blosom, die schwarze Haushälterin der Schriftstellerin, in einer ihrer Kurzgeschichten aus Rache eine Katze in kochendes Wasser wirft. «Ich muss mich mit dem identifizieren können, was ich lese», hat der ansonsten aufgeschlossene Mann einer befreundeten Schriftstellerin einmal als Erklärung dafür gegeben, warum er ihr Buch noch nicht gelesen habe. Natürlich handelt es sich dabei um eine (oft vorgebrachte) Ausrede, und das Debüt von Lina Wolff in all seiner bis zur Brutalität reichenden Plastizität ist ein grandioses Beispiel dafür. Oder um es mit den Worten von Schriftstellerin Alba zu sagen: Was denn falsch daran sei, über geschändete Männerkörper zu schreiben, wenn die Literatur sich andauernd über weibliche Körper hermache?
Lina Wolff
Bret Easton Ellis und die anderen Hunde
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2017 304 S. ISBN: 978-3-455-00107-5
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AM TRESEN
«I never realized / How happy you made me oh Mandy / Well you came and you gave without taking», sang einst Barry Manilow. 13 Jahre nach der Veröffentlichung seines Megahits ertönte in einer TV-Reklame die gleiche Melodie, nur die Lyrics waren minim anders: «Ein Fenster lädt dich ein / Du gehst und erlebst dann Kaffee du / dieses Lächeln am Tag kommt von Tchibo». Den Clip gibt’s auf Youtube. Ein blonder Teenager begegnet in einem Tchibo-Shop der Schulkollegin, in die er verknallt ist. Sie trinken ihren Kaffee aus Tassen, die man heute nicht einmal mehr in der Brocki findet, und lachen und umarmen sich, Happy End. Der Tchibo-Shop im
Sälipark ist, gemessen an den besetzten Stühlen, immer noch ein Ort des Glücks. Pensionierte Männer quatschen zu sechst an einem der Bistrotische, Ehepaare schweigen sich lächelnd an, zwei Freundinnen schieben ihre Einkaufswagen (inkl. Schosshunde in Hundetaschen mit Netzfenster) in den Shop, um die neusten Aktionen abzuchecken, andere stehen an für den Oster-Latte-Macchiato (Haselnuss-Aroma) und den Cheese-Cake. «Ausschankgetränke» gibt’s ab 3.20 (Espresso). Auf dem Pappbecherchen to go steht selbstbewusst «heissbegehrt». Heiss ist der Espresso. Und so stark, dass das Herz ein wenig zu rasen beginnt. Man will von dannen hüpfen, wie die beiden verliebten Teenies 1987. (Schaut selbst: www.tinyurl.com/y9vf3q9q)
Tchibo-Shop
im Sälipark-Einkaufscenter, hinten bei der Rolltreppe
Solothurnerstrasse 17
4600 Olten
WO SPIELT DIE MUSIK?
Diesmal geht es um zwei Bands aus Frankreich. Zunächst wäre da einmal Baston aus Rennes in der Bretagne. Auf ihrer zweiten EP «Gesture» bleiben sie ihrem GarageSound treu, zeigen aber zunehmend Einflüsse von Shoegaze. Cooler Sound und definitiv ein Geheimtipp. Weiter geht es mit der Band La Femme. Ihre Musik zieht mehr Richtung Psychedelic-Pop. Die Gruppe wurde in Biarritz gegründet und hat einen unverkennbaren Surf-Einschlag. Aber auch Yéyé, Wave, und Punk ist erkennbar. Das Ganze ist in viel Charme und französische Texte verpackt. Mit dem Song «Sur La Planche» aus ihrem ersten Album zeigen sie auch Potenzial, Hits zu schreiben – trotz der Eigenartigkeit ihrer Musik. Auf ihrem zweiten Album landen sie mit «Où Va Le Monde» einen weiteren Hit. Inspiriert von den Gegensätzen zwischen grosser Stadt und hübschen Stränden, bleibt ihre Musik weiterhin sehr kreativ und kaum kategorisierbar. Genau das macht sie sexy. (ud)
MOST WANTED
Jugendbibliothek «Minecraft» ist ursprünglich ein PC-Spiel. Wer es verstehen will, hat drei Optionen: 1. sich durch viele Erklärungsvideos auf Youtube schauen, 2. einen sehr langen Wikipedia-Eintrag lesen oder 3. folgendes Handbuch durcharbeiten: . Es ist für 9 bis 11-Jährige gemacht, Erfolgsaussichten: bestens!
«Minecraft – Meister der Konstruktion»
Stadtbibliothek
«Olga»
wird bereits jetzt als weiteres Meisterwerk aus der Feder von gefeiert, der ja berühmt ist für seinen Roman «Der Vorleser», mit dem er seit 1995 ein paar ziemlich wichtige internationale Preise abgeräumt hat. Mal sehen, wie weit es «Olga» schafft. Den Preis des beliebtesten Buches in der Stadtbibliothek hat er jedenfalls schon einmal gewonnen. Gratulation! (nb)
Bernhard Schlink
062 213 94 44
info@schuhlerch.ch
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«Für meine eigenen Arbeiten brauche ich immer zwei Dinge: Liebe und Hass»
Text von Fabio Lüdi Fotos von Roshan Adhihetty Porträts von Yves Stuber
Roshan Adhihetty ist noch keine Dreissig und blickt auf eine turbulente Zeit zurück. Seine Fotos von Nacktwanderern erhielten international Aufmerksamkeit. Doch dann wurde Adhihetty der Swiss Photo Award aberkannt, weil er seine Reportage-Bilder bearbeitet hatte. KOLT traf den Solothurner und sprach mit ihm über Erfolg und Misserfolg und darüber, was Fotografie in seinen Augen eigentlich ist.
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Arbeiten aus der Serie «Die Nacktwanderer»
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oshan Adhihetty, deine Karriere kannte früh nur einen Weg: nach oben. 2015 warst du noch bei der JKON dabei, letztes Jahr dann bereits bei den Swiss Photo Awards. Dort hast du prompt einen Skandal verursacht. Wie bist du als Branchenneuling mit dem ganzen Lärm umgegangen? Das finde ich lustig, ich sehe meine Karriere überhaupt nicht als konstante Kurve nach oben. Letztes Jahr habe ich sogar daran gedacht, mit dem Fotografieren aufzuhören. Es ist ein Auf und Ab, überhaupt kein konstantes Bergauf. Der ganze Skandal hat mir sogar geholfen, er hat mich noch einmal so richtig gepusht. Danach bin ich aber in den Zivildienst und habe mit
«Dass ich den Preis nicht gewonnen habe, ist zweitrangig. Die Anklage, ich hätte beschissen, beschäftigte mich sehr.» Kindern gearbeitet, und ich musste aufhören zu fotografieren. Zwei, drei Monate lang habe ich mich dann gefragt, warum ich mir das antue mit dieser Fotografie.
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Zu welchem Schluss bist du gekommen? Während dieser Zeit mit den Kindern dachte ich: Wow, ich mache hier etwas wirklich Sinnvolles. Ich ging jeden Tag nach Hause und fand, dass ich etwas Gutes gemacht habe, etwas für die Welt und nicht nur für mich. Während dieser Zeit war ich mir eigentlich sicher, dass ich eine Ausbildung als Zeichnungslehrer beginnen würde. Nach einem halben Jahr Zivildienst war ich mir dann aber wieder sicher, dass ich doch fotografieren will. Das war eine wichtige Entwicklung. Jetzt habe ich wieder verdammt Lust auf Fotografieren. Das klingt nach einer ziemlich impulsiven Beziehung zur Fotografie.
Die Sache mit dem Retuschieren Am Abend der Preisverleihung des Swiss Photo Awards 2017, an dem Roshan Adhihetty den ersten Preis in der Kategorie «Reportage» hätte erhalten sollen, antwortete der Fotograf während eines Rundgangs durch die Ausstellung auf die Frage eines Besuchers, wie stark FotografInnen denn in die Bilder eingreifen würden, wahrheitsgetreu, dass er bei einem seiner 15 ausgestellten Bilder einen Nacktwanderer weg retuschiert habe. «Ich wollte, dass die Bilder malerisch wirken und habe unglückliche Anschnitte verschönert und zugunsten der Komposition besser lesbar gemacht», sagt Adhihetty heute. Weil diese Art der digitalen Bildmanipulation, eine sogenannte Pixelveränderung, gemäss Veranstalter in der Reportage-Fotografie nicht zulässig ist, wurde Adhihetty der Preis aberkannt.
«Für mich ist jede Fotografie eine Interpretation der Wirklichkeit. Sie ist nie nur pure Dokumentation.» Ja, die ist schon so ein bisschen schwankend, je nach Stimmung. Womit ich bei den Swiss Photo Awards letztes Jahr wirklich zu kämpfen hatte, waren die Emotionen. Ich hatte so viel in mein Projekt mit den Nacktwanderern reingesteckt und mich unglaublich über den Preis gefreut. Und gleichzeitig hatte ich noch eine Buchvernissage zu feiern. Und plötzlich stand ich als Betrüger da. Das hat mich persönlich verletzt. Dass ich den Preis nicht gewonnen habe, ist zweitrangig. Die Anklage, ich hätte beschissen, beschäftigte mich sehr. Trotzdem hast du dieses Jahr wieder eine Arbeit bei den Swiss Photo Awards eingereicht. Diesmal hast du sogar gewonnen.
Ich hatte das Gefühl, ich müsse diese Erfahrung verarbeiten. Am Anfang war da viel Frust und Wut. Ich las dann viel über den Wahrheitsgehalt der Fotografie. Meine diesjährige Serie beschäftigt sich auch genau mit dieser Thematik. Dass ich sie bei den Swiss Photo Awards eingereicht habe, war aber eher Zufall. Es war nicht so, dass ich gedacht habe, «jetzt muss ich es denen noch zeigen». Ich musste die ganze Sache für mich verarbeiten. Auslöser des Ganzen war deine Bildmanipulation. Wo ziehst du da die Grenze? Meine Linie ist sehr weit. Wenn ich ein Porträt von dir mache, dann interpretiere ich bereits, wie du aussiehst. Finde ich, zu dir
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passt Kaffee, dann stelle ich eine Kaffeetasse mit aufs Bild, wenn ich finde, du siehst aus wie ein Mate-Trinker, dann nehme ich die Tasse nicht mit aufs Bild. Also passiert Manipulation bereits im Vorfeld. Ich wähle ja aus, was aufs Bild soll. Für mich ist jede Fotografie eine Interpretation der Wirklichkeit. Sie ist nie nur pure Dokumentation. Es gibt nie ein echtes Bild von dir, sondern nur meine Interpretation. Das ist mein Grundsatz. Die Interpretation muss aber im Sinne des Inhalts sein, da ziehe ich durchaus die Grenze. Wenn du nicht rauchst, stecke ich dir auch keine Zigarette hinters Ohr. Ob ich allerdings nachher etwas wegretuschiere oder
«Meistens müssen die Leute deinen Namen vier Mal lesen, bis sie denken: Der hat vielleicht schon was drauf.» vorher etwas ins Bild stelle, spielt keine Rolle. Weil ich eben davon ausgehe, dass ich lüge, sobald ich anfange zu fotografieren. Warum dann nicht gleich so lügen, dass es der Wahrheit entspricht? Die Unterscheidung, ob du vorher oder nachher etwas aus dem Bild entfernst, ist für dich also eine rein technische, vielleicht sogar ein wenig heuchlerische?
Ja, mega heuchlerisch. Aber ich sehe, dass man nicht einfach sagen kann: Ab jetzt können alle FotografInnen machen, was sie wollen. Allerdings habe ich nun ein Jahr lang über diese Problematik nachgedacht und noch immer keine Lösung gefunden.
gentlich mehr Geld gefressen, als sie eingebracht hat. Foto-Preise erlauben mir, auch mal zwei Monate nur an eigenen Projekten zu arbeiten, das gibt Rückhalt. Ausstellungen sind ausserdem super, um den eigenen Namen zu promoten.
Wie wichtig sind Foto-Preise in der Branche überhaupt? Unglaublich wichtig. Wo ich heute bin, da bin ich dank dieser Preise. Meine Kunst, also meine eigenen Sachen, die ich neben den Auftragsarbeiten mache, hat bisher ei-
Du hast also auch etwas davon, wenn du nicht gewinnst, solange da ein Täfelchen mit deinem Namen draufsteht? Meistens müssen die Leute deinen Namen vier Mal lesen, bis sie denken: Der hat vielleicht schon was drauf. Nach dem ersten
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Preis hat mich noch niemand gekannt, nach dem zweiten und dritten fängt man an, ein wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es ist überhaupt nicht so, dass man einen Preis gewinnt und dann nur noch machen kann, was man will. An dem Punkt bin ich auch jetzt noch nicht, obwohl ich super Aufträge erhalte und Preise bekommen habe. Ich habe noch immer das Gefühl, dass ich am Anfang stehe. Aber dieser Punkt kommt irgendwann, daran glaubst du noch? Nein, nicht, wenn ich mir meine älteren BerufskollegInnen so anschaue. Das passiert in der Schweiz vielleicht zwei Leuten. Solange man im Beruf ist, ist es, glaube ich, immer ein Kampf. Selbst renommierte FotografInnen haben einfach mal einen Monat lang ein
«Ich bin einfach unglaublich schlecht im Antworten geben, und sehr gut im Fragen stellen.» Tief, wenn kein Geld reinkommt. Was ich aber weiss, ist, dass ich es mit der Zeit lockerer nehme. Am Anfang, wenn du das erste Jahr selbständig bist, der Kontostand immer weiter sinkt, keine Jobs reinkommen, du die Miete zahlen musst, da drehst du fast durch. Trotzdem hast du es geschafft, dir einen Namen zu machen. War das nur Glück,
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oder hast du dies bewusst provoziert? Sicher ein bisschen von allem. Glück auf jeden Fall. Das mit dem Skandal, das kannst du nicht planen. Ehrlichgesagt wäre es sehr übel, so etwas zu provozieren, und der Typ dafür bin ich jetzt echt nicht. Aber es ist schon so, dass ich zum einen sehr hohe Risiken eingehe, zum anderen fahre ich auch sonst überall ein bisschen an der Grenze. Ich interessiere mich generell für Sachen, die hart an der Grenze sind, die polarisieren. Auch wenn ich schaue, welche KünstlerInnen mir gefallen, sind das die heiss Diskutierten, die, welche etwas wagen und Risiken eingehen. Welche Risiken meinst du? Dein Nacktwanderer-Projekt? Genau. Das Buch, das daraus entstand,
Der Bezug auf die Ereignisse bei den Swiss Photo Awards ist unübersehbar: Adhihettys aktuellste Arbeit heisst «Konstruktion der Wirklichkeit».
hat mich insgesamt 28 000 Franken gekostet. Die Hälfte davon konnte ich mit Fördergeldern stemmen, die andere Hälfte habe ich selber beigesteuert. Finanziell hat sich das noch lange nicht ausgezahlt, das Geld hole ich nicht einmal dann rein, wenn ich alle Bücher verkaufe. Aber es ist eine Basis für später. Es ist eine Investition, von der ich hoffe, dass sie sich in fünf Jahren oder so auszahlt. Ich lebe auf sehr bescheidenem Niveau. Da einfach so viel Geld in ein Projekt zu stecken und nicht genau zu wissen wofür, braucht Mut. Aber für mich hat es sich bisher immer gelohnt, Risiken einzugehen.
Gibt es davon noch mehr? Eine Ausstellung mitzumachen ist auch immer ein Risiko. Ich weiss beispielsweise, dass ich keine Bilder verkaufe. Ich arbeite irgendwo zwischen Kunst und Journalismus. Die Leute finden die Bilder in der Galerie cool, aber sie kaufen sie nicht für ihre eigene Stube. So war das auch mit den Nacktwanderern. Die habe ich über ein Dutzend Mal ausgestellt und dabei gerade einmal zwei Bilder verkauft. Üblicherweise leben KünstlerInnen vom Bilderverkauf, bei mir ist das aber nicht der Fall. Wegen deiner Sujets? Wegen meines Stils, der ist den Leuten dann
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«Ich interessiere mich generell für Sachen, die hart an der Grenze sind, die polarisieren.» doch zu konkret. Man sieht eben irgendwie, das sind der Peter und der Fritz. Und wer will schon Peter und Fritz bei sich in der Wohnung? Ich arbeite zu wenig ästhetisch oder abstrakt. Darum ist für mich eine Ausstellung jedes Mal ein Abwägen. Ich muss meine Bilder drucken, aufziehen und rahmen. Hinzu kommen der Transport, das Hängen und Lagern. Das kostet mich jedes mal 2000 bis 3000 Stutz. Im Kunstmuseum Olten habe ich ein einziges riesiges Bild ausgestellt, das ist 2.5 auf 1.75 Meter gross. Es steht jetzt bei meiner Mutter im Keller.
«Für mich ist jede Fotografie eine Interpretation der Wirklichkeit. Sie ist nie nur pure Dokumentation.»
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Ginge das nicht eine Spur kleiner? Wenn ich meine Werke präsentiere, dann richtig. Die Grösse spielt aber absolut keine Rolle. Form und Inhalt müssen stimmen. Da darf ich keine Kosten scheuen, um die umzusetzen. Grösse, Form und Material ergeben sich aus dem Konzept der Arbeit. Bei den Nacktwanderern beispielsweise war für mich klar, dass die Bilder wie Malerei aussehen sollen. Darum gehörten sie klassisch gerahmt. Das Riesenbild im Kunstmuseum zeigte eine Tierkadaversammelstelle. Das Foto wirkt wie ein Muster, es hat keine Tiefe, nur Fläche. Geht man aber näher heran, ist da plötzlich das Ohr einer Sau, hier ein Fisch und dort
«Ich bin nicht der Typ, der etwas zeigt und sagt: Schaut, so ist es.» eine Leber eines Tiers. Da hat es Sinn ergeben, mit der Grösse zu spielen. Worum geht es dir bei deinen Bildern? Für meine eigenen Arbeiten brauche ich immer zwei Dinge: Liebe und Hass. Ich muss etwas verabscheuen, und gleich-
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zeitig muss es eine krasse Anziehungskraft auf mich ausüben. Das Tierkadaverbild ist ein gutes Beispiel dafür. Bei meinen Bildern geht es mir aber nicht darum, etwas zu beweisen. Ich bin nicht der Typ, der etwas zeigt und sagt: Schaut, so ist es. Ich bin mehr der Typ, der Fragen aufwirft. Du willst also Möglichkeiten und Zugänge aufzeigen? Ich bin einfach unglaublich schlecht im Antworten geben, und sehr gut im Fragen stellen. Für mich ist die Welt auch nicht einfach schwarz-weiss. Ich kann mich sowieso nie für eine Antwort entscheiden. Die Vielschichtigkeit interessiert mich,
«Im Kunstmuseum Olten habe ich ein einziges riesiges Bild ausgestellt, das ist 2.5 auf 1.75 Meter gross. Es steht jetzt bei meiner Mutter im Keller.» beim Nacktwanderer-Projekt ist das gut sichtbar. Einerseits sind das nackte, alte, dicke Männer – nicht unbedingt schön anzuschauen mit ihren Schnäbis. Andererseits ist das doch inspirierend und hat was sehr Schönes, dieser Anblick von nackten Menschen in der Natur. Ich weiss oft nicht, ob ich jetzt eine Frage stellen oder drei Botschaften senden will. Oder ob aus drei Botschaften für die BetrachterInnen einfach eine Frage wird.
Fotografen, eine Fotografin aus? Je länger desto wichtiger wird es, als FotografIn fähig zu sein, Bilder lesen zu können, also spüren zu können, wovon das Bild handelt. Aber FotografInnen müssen auch die richtigen Bildsprachen sprechen und visuell kommunizieren können. Wichtig ist etwa, zu spüren, welches Bild welche Stimmung vermitteln kann. Oder, vor allem für journalistisch geprägte FotografInnen, welcher Bildstil zu welchem Medium passt. Ich glaube, die Zeit der klassischen Agentur-FotografInnen, die mit ihrer Kamera in den Krieg ziehen und einfach abbilden, was passiert, ist vorbei. Es geht darum, eine eigene Bildsprache zu finden, eben auch in den Medien, nicht nur in der Kunst. Was kommt für dich als nächstes, wo zieht es dich hin? Ich habe den Entschluss gefasst, dass ich die nächsten drei Jahre sowohl im journalistischen als auch in meinem künstlerischen Schaffen weiterkommen möchte. Vor allem in Richtung Kunst will ich mich komplett austoben. Mein Ziel ist es, so künstlerisch wie möglich schaffen zu können und trotzdem noch redaktionell gebucht zu werden, als Magazinfotograf etwa.
Heute hat jeder die Möglichkeit, zu fotografieren. Aber was macht für dich einen
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Der 27-jährige Roshan Adhihetty graduierte 2014 von der Ecole cantonale d’art de Lausanne ECAL mit einem Bachelor in Fotografie. 2013 holte er sich bereits den Anzeiger-Kulturförderpreis aus Solothurn, im Jahr darauf den Bieler Prix Photoforum PasquArt und 2015 schliesslich den Förderpreis der Hans-undBeatrice-Maurer-Billeter-Stiftung an der Jungen Kunst Olten JKON. 2017 wurde dem in Zürich lebenden Fotografen der mit 15‘000 Franken dotierte Förderpreis Fotografie des Kantons Solothurn verliehen. Im gleichen Jahr erkannte der Swiss Photo Award dem gebürtigen Lausanner aufgrund Bildmanipulation schliesslich den 1. Platz in der Kategorie Reportage ab und katapultierte den Fotografen damit ins nationale Bewusstsein. Vom Skandal hat Adhihetty sich gut erholt und gewann an den diesjährigen Swiss Photo Award schliesslich den 1. Platz in der Kategorie Free. Roshan Adhihetty ist seit 2016 selbständiger Fotograf und nebenbei Dozent für Fotografie an der Schule für Gestaltung St. Gallen.
KILIAN ZIEGLER
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Der Beobachter
von Jonida Thaqi
Katja stellt den Waschkorb aus grünem Plastik aufs Bett. Sie zieht das erste T-Shirt raus, schüttelt es, faltet die Ärmel nach hinten und die eine Hälfte auf die andere. Sie wiederholt den Vorgang beim nächsten und beim übernächsten. Beim überübernächsten hält sie inne. Sie schaut auf die Uhr und entscheidet, dass was anderes wichtiger ist, und so bleibt die restliche Wäsche im Waschkorb, die T-Shirts und Pullover und Hemden, und erst ein paar Stunden später denkt Katja wieder daran und daran, dass noch eine zweite Ladung Wäsche, die Sachen, die sie immer mit 60 Grad wäscht, die Hosen, die Unterhosen und die Socken, also alles für die untere Hälfte des Körpers, im Tumbler im Keller, also im Untergeschoss liegt und jetzt wohl trocken wäre, bereit wäre, nach oben getragen und zusammengefaltet zu werden, doch der Waschkorb ist noch voll und der Tag sowieso schon lange, und so lässt es Katja bleiben, macht dagegen was anderes, was, das ihr angenehmer erscheint. Niemand wird es erfahren, höchstens die alte Türkin ein Stockwerk höher, die wäscht immer mittwochs.
Jonida Thaqi (*1996) wohnt in Bern, studiert in Lausanne, ist Teil der Autorengruppe «Die Familie» und schreibt u.a. fürs Narr. www.dasnarr.ch
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llzu oft sitze ich ja nicht in Cafés. Das heisst nicht, dass ich die meiste Zeit in Cafés stehe. Bloss, dass ich meinen Kaffee auch gut zuhause oder im Zug trinken kann. Doch wenn ich dann mal in Cafés einkehre, dann bin ich gern da, geniesse das Ambiente – die Kaffeemaschinen sind italienisch bekolbt, die Milch schweizerisch bekalbt. Und bevor ich zu verstehen versuche, was das bedeutet und ich vergesse, wo ich mit dieser Kolumne hin will, erzähl ich einfach weiter. Ich beobachte gerne, dazu sind Cafés speziell geeignet. Die Kundschaft auskundschaften, als harmlosester Spion der Welt. Wenn einer hereinkommt, die Magazine durchblättert und dann die Bedienung fragt, ob sie den Beobachter haben, dann zeigt sie auf mich. Im Wort beobachten steckt «Obacht», so bin ich immer auf der Hut, als Autor ist das wichtig, es könnte eine neue Geschichte auf mich warten. (Und als studierter Soziologe bin ich es mir gewohnt, zu observieren, schliesslich nimmt ein Soziologe die Gesellschaft gründlich unter die Lupe, er beobachtet Menschen ganz genau – ein Soziologe ist quasi ein Stalker mit Diplom.) «Schau zu, dass du zuschaust», sage ich mir und hoffe, dass Spannendes meine Augen trifft. Da fällt es mir auf, ein besonders schönes Exemplar Mensch. Ich fühle mich ein wenig wie bei Netz Natur, nur, dass ich kein Baseldeutsch spreche wie Kollege Moser und ich mich nicht im Dickicht verstecke, sondern hinter Kafi und Gifpeli. Da sitzt dieser Mann, etwa vierzig Jahre alt, Glatze, Massanzug, an einem Tischchen. Allein. Das ist immer verdächtig. Schon spinnt mein Hirn
Stories. Unruhig blickt er umher, nervös wie ein Jazz-Solo. Ich komme nicht drum herum, seine Erregung ergründen zu wollen. Wartet er? Erwartet er? Hat er Sorgen? Oder Angst? Er schwitzt. Und wirkt so, als stünde er vor einer unangenehmen Aufgabe. Ist er kurz davor, mit jemandem Schluss zu machen? Oder ist er Schauspieler und übt für eine Rolle, so à la Method Acting? Oder er arbeitet als Kaffeetester, macht gerade Überstunden (Neudeutsch: er stundet über), hat seine Tagesdosis Koffein überschritten und kann deswegen kaum stillsitzen. Vielleicht will er jemanden um die Ecke bringen. (Nicht im Sinne von: „Gnädige Frau, nehmen Sie meinen Arm, ich begleite sie um die Ecke, dann können sie von dort aus weitergehen“. Eher so Profikiller.) Vielleicht hat er eine Bombe? Unwahrscheinlich, ich weiss, aber was, wenn? Mein Körper reagiert mit einer Gänsehaut, ich bekomme Angst, beginne zu schwitzen, blicke unruhig umher, nervös wie ein Jazz-Solo. «Geht es ihnen gut?», fragt mich eine Frau, die plötzlich an meinem Tisch steht. «Ich habe sie beobachtet», sagt sie lächelnd, «wie sie hier alleine an diesem Tisch sitzen und zappeln. Man könnte meinen, sie hätten eine Bombe.» Ich zeige zum nervösen Mann am Tischchen, doch er ist weg.
«Unruhig blickt er umher, nervös wie ein Jazz-Solo.»
Schauen sie zu (sich) Kilian Ziegler PS: In Madrid, das las ich irgendwo, leben die meisten Spanner. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass ich mich verlesen hatte, eigentlich stand: In Madrid leben die meisten Spanier.
www.bijouterie-maegli.ch
AnziehungskrAft
liegt in unserer nAtur.
PETRA & Jürg
Weisheit und Missverständnis
von Jürg Halter (Text) und Petra Bürgisser (Illustration)
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in alter Mann, sein Name ist mir nicht bekannt, schritt mit dem Enkel, mir ebenso unbekannt, nach einem Fussball-Probetraining, das er diesem zum achten Geburtstag geschenkt hatte, über den Rasen und verkündete: «Fussball ist wie Schach, nur ohne Würfel.» Der Junge wusste nicht, was ihm der Grossvater damit sagen wollte, aber es klang sehr weise und richtig. Als die beiden im Restaurant «Zum Goldenen Schlüssel» sassen, fügte der Grossvater nach einem grossen Schluck Bier an: «Die Breite an der Spitze ist dichter geworden.» Abermals war der Enkel beeindruckt, sah bewundernd zum Alten auf. Bei ihrer nächsten Verabredung hatte der Grossvater eine Angelrute dabei. An einer Wasserschwelle fragte ihn der Enkel: «Papi hat gesagt,
hier gebe es gar keine Fische. Sag, stimmt das?» – «Weisst du, wenn ich übers Wasser laufe, dann sagen meine Kritiker, nicht mal schwimmen kann er.» Wieder machten die Worte den Enkel sprachlos. Zwei Stunden später, als noch immer kein Fisch angebissen hatte und der Grossvater das enttäuschte Gesicht des Jungen sah, beruhigte er diesen: »Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in
den Kopf stecken.» Der Enkel erwiderte entschieden: «Ja, wir müssen gewinnen, alles andere ist primär.» Der Alte klopfte dem Jungen anerkennend auf die Schultern: «Du hast recht, Kleiner, Fischen ist Ding, Dang, Dong. Es gibt nicht nur Ding. Und unter dem Strich ist das Chancenplus ausgeglichen.» Der Enkel rief: «Zuerst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu! Aber jetzt kommt es gut!» Und beide lachten sie laut heraus.
Jürg Halter, geb. 1980 in Bern, Schriftsteller und Performancekünstler. Zahlreiche Buch- und CD-Publikationen, Auftritte in ganz Europa, den U.S.A, Russland, Afrika und Japan. Zuletzt erschienen: «Mondkreisläufer» (Verlag der gesunde Menschenversand, 2017). Im Herbst erscheint Halters erster Roman.
THOMAS MÜLLER Inhaber/CEO
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DER KOLTIGE MONAT
Liebe und Hass Seite 22
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etztes Jahr durfte ich alle zwölf Trägerinnen und Träger der Förderpreise des Kantonalen Amts für Kultur und Sport porträtieren. Roshan war einer von ihnen. Eines seiner Bilder, das auf unserem aktuellen KOLTCover zu sehen ist, wurde auch im Oltner Kunstmuseum ausgestellt. Wir entscheiden immer erst in der Schlussphase der Heftproduktion, welche Geschichte mit welchem Bild und welchem Titel auf dem Heftcover platziert wird. Bei Roshan hatten wir zwei Optionen. Die Tierkadaversammelstelle oder eben dieses Bild mit den Heissklebepistolen, welches auf dieser Seite hier abgebildet ist. Als ich Roshan in seiner Zürcher Wohnung besuchte, arbeitete er gerade an der Produktion genau dieses Bildes. Die Pistolen wollten irgendwie nicht richtig, wie er wollte, und fielen in sich zusammen. Er erzählte mir, dass dieses Nicht-Funktionieren eigentlich der
Witz sei, und fragte, ob ich das Schweizer Künstlerduo Fischli/Weiss kenne. Ich bejahte und er erzählte mir davon, dass er an einer Serie arbeite und dieses eine Sujet vor mir an die Idee dieser Skulpturen von Fischli/Weiss angelehnt sei. Diese Idee beschäftigt sich auch mit der erfundenen Realität, in der sich die balancierende Skulptur nur ungefähr in dieser fotografischen Hundertstelsekunde im Gleichgewicht befand. Ein eigentlicher Trick, um die Wahrnehmung respektive die Bildinterpretation des Betrachters zu manipulieren. Die Konstruktion wird zur Wahrheit. Mit diesem Hintergrund fallen diese Heissklebepistolen plötzlich in einen kunsthistorischen Kontext. Roshan hat für KOLT letztes Jahr die Journalistin Michèle Binswanger fotografiert. Wir wollen mal nicht übertreiben, aber im Vergleich findet er selbst sich wohl eher bei den Künstlern Fischli/Weiss als bei der Journalistin Binswanger wieder.
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Innerhalb der Fotografengilde wird die Gestaltung der Wirklichkeit teilweise absurd eng betrachtet. Die klassischen Reportage-Fotografen würden keine Manipulation anerkennen, wobei sich doch zugegebenermassen auch in der in einem bestimmten Moment wahrgenommenen Realität durchaus ein Bild abspielen kann, das über die wahren Gegebenheiten hinweg erzählt. Die Diskussion ist lanciert. Die Grenzen sind unklar. Die Möglichkeiten grenzenlos. Die Auseinandersetzung entspricht natürlich auch dem Zeitgeist. Was ist noch wahr? Welche Information wurde manipuliert? Die neuen Fragen von Roshan heissen vielleicht: «Hat die Manipulation recht?» und «Ist die Lüge wahr?». Ich wünsche viel Spass bei der eigenen Meinungsbildung und der künftigen Interpretation von Bildern. Koltige Grüsse aus der Bildredaktion Yves
Trau dich und lebe ohne Brille oder Kontaktlinsen.
r e s a nl e g u .– A 0 5 7 F1 H C ab ) , PRK uge A o r (p
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KOLT
April 2018
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