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Morgens um zehn bei seiner PR-Agentur in Berlin-Mitte: für einen Bariton eine fast unchristliche Zeit. Aber Benjamin Appl, der neue Stern am Himmel der Liedsänger (das »Gramophone«-Magazin spricht vom »Spitzenreiter der neuen Generation«), muss ja nicht singen. Noch nicht: Am Abend ist er in Brittens »War Requiem« im Dom zu hören, sein Lieblings-Oratorium des 20. Jahrhunderts, wie er sagt. Er steht auf der Opernbühne, singt in Oratorien – aber zumindest im Augenblick liegt sein Fokus ganz klar auf dem Lied. Er war letzter Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau. Appl spricht mit sonorer, angenehmer Stimme. Ein leichter süddeutscher Einschlag (geboren in Regensburg) schwingt mit. Manchmal verwendet er englische Vokabeln: »außerhalb der box« etwa für Dinge jenseits des Tellerrands. Benjamin Appl lebt in London. Ende Februar gibt er seinen ersten Liederabend im Konzerthaus.
Hat das Programm Ihres Liederabends mit den Komponisten Ullmann, Brahms, Gál, Korngold und schließlich Mahlers »Urlicht« aus der Sinfonie Nr. 2 einen besonderen Hintergrund?
Zunächst fand ich einfach die Lieder von Viktor Ullmann mit ihren alten östlichen Texten von Hafis in der Übersetzung von Hans Bethge sehr spannend. Zurückblickend auf die großen Meister des Liedes kam ich zu Johannes Brahms, der Hafis in Übersetzungen von Georg Friedrich Daumer vertont hat. Innerhalb des schönen fünfteiligen Zyklus von Hans Gál sind zwei Lieder von Bethge aus dem Chinesischen übersetzt worden. Von Erich Wolfgang Korngold habe ich bislang nur eine Arie aus »Die tote Stadt« gesungen; ein genialer Komponist, finde ich, den man selten in Liederabenden hört. Nach der Pause ist der Krieg ein Aspekt in Liedern verschiedener jüdischer Komponisten: Mahler mit der Kriegsthematik in den »Wunderhorn«-Liedern und dann, was mich seit einigen Jahren sehr beschäftigt, Kompositionen aus Theresienstadt. Ullmann war dort ja auch. Als Art Versöhnung oder Vorausschau auf bessere Zeiten findet sich Mahlers »Urlicht« ans Ende gestellt.
Kann man die Lieder aus Theresienstadt auch Komponisten zuordnen?
Der »Terezín Song« ist das gleiche Stück wie »Komm mit nach Varaszdin« aus der Operette von Kálmán und wurde anonym umgeschrieben zu einer Art Arbeiter- oder Lagerlied. Ilse Weber hat für die Kinder in Theresienstadt und dann in Auschwitz gesungen, und als sie mit ihnen in die Gaskammer ging, soll sie ihr berührendes Wiegenlied »Wiegala« angestimmt haben. Schließlich das im Habanera-Stil komponierte »Ich weiß bestimmt, ich werd dich wiedersehen« von Adolf Strauss: Für jemanden, der den Hintergrund nicht kennt, ist es ein Stück, das sehr positiv und vertrauensvoll in die Zukunft blickt. Strauss hat es für seine Frau und sein Kind geschrieben, wenige Wochen bevor auch er in Auschwitz starb. Nachdem es auf meiner »Heimat«-CD erschienen ist, habe ich viele Anfragen für Aufführungen bekommen. Gleich ob in Amerika oder Asien, welche Nationalität oder Kultur auch immer – es ist offenbar eine Musik, die die Menschen direkt anspricht. Das finde ich faszinierend.
»Heimat« ist gerade ein viel diskutierter Begriff…
Und ein viel missbrauchter! Ich wollte 2010 ursprünglich für ein Jahr zum Studium nach London gehen, aber ich blieb noch ein Jahr und noch eines... Als freischaffender Sänger kann man eigentlich überall leben, Hauptsache nahe an einem Flughafen. In mir reifte über lange Zeit die Frage: Wo gehöre ich hin, wer ist mir wichtig, was ist mir wichtig? Während dieser Suche wollte ich mein erstes Album aufnehmen, eine CD mit persönlicher Note und Handschrift. Aus diesem Grund habe ich sie »Heimat« genannt, auch auf die Gefahr hin, dass das Wort missbraucht wird. Ich verstehe es universeller, finde es spannend, das Programm außerhalb Deutschlands aufzuführen und zu versuchen Heimat erklären. Jeder hat seine eigene Definition, aber vielleicht kann Musik da helfen – durch die Lieder und Texte, die ich ausgewählt habe, die Heimat für mich bedeuten und in gewissen Lebenssituationen sehr wichtig für mich waren.
Sie stehen auf der Opernbühne, sind im Oratorium zu erleben – aber im Zentrum steht bei Ihnen das Lied?
Seit zwei, drei Jahren ist es der Schwerpunkt. Neben dem grundsätzlichen Interesse weil mich die BBC als »New Generation Artist« ausgewählt hatte und in Folge jeder Liederabend in England live mitgeschnitten wurde. Dann natürlich durch die Arbeit mit Fischer-Dieskau. Schließlich die Tour der ECHO-»Rising-Stars«, in deren Rahmen ich ja auch schon an einem Abend in Dortmund als Liedersänger war. Es wird heute noch viel in »boxes« gedacht und leider immer noch sehr zwischen Konzert, Lied und Oper unterschieden. Wenn man an früher denkt mit Schwarzkopf, Prey, Fischer-Dieskau, Ludwig, die Karriere in allen Sparten machen konnten – so etwas gibt es heute nicht mehr. Durch die neue Bach-CD liegt mein Fokus jetzt auch wieder mehr auf dem Oratorium, aber das heißt nicht, dass Oper ganz außen vor ist. Stimmlich wie darstellerisch bereichert es sehr, Opernpartien zu singen, aber auch vom Lied nimmt man viel mit in die Oper hinein.
Was hat Dietrich Fischer-Dieskau Ihnen mitgegeben?
Ich hatte mich für einen Meisterkurs in Schwarzenberg angemeldet. Man musste zehn Schubert- Lieder einsenden, die man mit ihm erarbeiten wollte, ich schickte 30 Lieder, und zurück kamen vier, alle vier waren nicht Teil meiner Liste. Am Ende des Kurses bot er an, mit mir privat zu arbeiten. Seitdem kam ich regelmäßig bis drei Wochen vor seinem Tod im Mai 2012 zu ihm nach Hause und wir arbeiteten vier, fünf Stunden am Tag, zwei oder drei Tage am Stück – ein großes Privileg, für das ich dankbar bin. Es war Arbeit am Werk und er war auch als Mentor sehr wichtig. Letztendlich ging es um die Ernsthaftigkeit, mit der man sich mit Musik auseinandersetzt, darum, immer tiefer zu gehen – Wissen über Dichter, Komponist, Hintergrund des Stücks, Tonalitäten, Harmonien, Strukturen – und dass man nicht müde wird nach über 50 Jahren auf der Bühne und immer noch den Hunger hat, nicht zu reproduzieren, sondern zu kreieren.
Wie fühlt es sich an, eigentlich gänzlich nackt ohne Kulissen, ohne umgebendes Orchester, immerhin mit einem Partner am Klavier auf der Bühne zu stehen?
Was ist Ihr glücklichster Augenblick?
Es ist eine Herausforderung und letzten Endes ein unglaubliches Glück, das man erfährt: dieser direkte Kontakt zum Publikum. Auf dem kurzen Weg auf die Bühne fühlt man innerhalb von drei Sekunden die Stimmung. Wie der Abend verlaufen wird, wie man selbst agiert, wie der Dialog funktioniert – es gibt da eine nonverbale Kommunikation. Manchmal täuscht man sich auch total. Einmal bei »Die schöne Müllerin«, als ich eine Stunde ohne Pause gesungen hatte, dachte ich: Das Publikum mag es nicht, die finden es ganz schlimm! Und erst am Ende war dann zu merken, dass ich mit meiner Einschätzung glücklicherweise falsch lag. Aber grundsätzlich, das hat mit Erfahrung zu tun, erspürt man die Stimmung sehr schnell.
Wenn ich so im Moment bin, wenn es den Dialog gibt, ein Auf-einander-Einlassen. Das ist solch ein Moment, der irgendwie fast »eingepackt« ist, beschützt. Ich gehe dann oft von der Bühne und hab den Eindruck, es waren auch das nur drei Sekunden. Das kann süchtig machen.
Das Interview führte Jan Boecker.