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Heimatmusik
HEIMATMUSIK
2018 hatte Riccardo Chailly gleich doppelten Grund zu feiern: Er wurde 65 Jahrealt und gab vor genau 40 Jahren in seiner Heimatstadt Mailand sein Debütan der Scala. Inzwischen ist er ihr Musikdirektor. Und auch als Chefdirigentder Filarmonica della Scala widmet Chailly sich einmal mehr – wie jetzt live imKonzerthaus – einem seiner absoluten Lieblingskomponisten: Gustav Mahler.
Er ist das beste Beispiel dafür, dass man sein musikalisches Erweckungserlebnis nicht früh genug haben kann. Auf das Jahr genau kann Riccardo Chailly zwar auch nicht mehr sagen, wann er zum ersten Mal Musik hörte, die ihm sofort in Blutbahnen und Herzmuskel schoss. Es war auf jeden Fall Anfang der 1960er-Jahre. Dementsprechend war der kleine Riccardo gerade einmal acht oder neun Jahre alt, als ihn sein Vater kurzerhand in eine Orchesterprobe des RAI-Orchesters setzte. Als Direktor für klassische Musik bei der RAI in Rom durfte Luciano Chailly das nämlich. Und so saß der Sohnemann still und leise in der letzten Reihe und hörte, wie der junge Zubin Mehta die 1. Sinfonie von Mahler einstudierte. Wie sich Chailly heute noch allzu gut erinnern kann, wurden nicht nur seine Augen und Ohren bei diesen Klängen immer größer. »Ich war von dieser Musik derart überwältigt, dass ich nicht wusste, ob ich weinen oder schreien soll. Und wenn ich heute Mahlers Erste dirigiere, steigt wieder dieses merkwürdige Gefühl von damals in mir auf.«
Die von Mahler so erschütternd und aufwühlend in Klang übersetzten Lebens- und Schicksalswelten, sie haben bei Riccardo Chailly ihre Spuren hinterlassen. Menschlich und vor allem künstlerisch. Denn der gebürtige Mailänder gilt längst als Mahler- Instanz. Und überall, wo er als Chefdirigent über viele Jahre eine Ära prägte, bildete das Universum Mahler einen strahlend hellen Fixstern in den Saisonprogrammen. 1986, während seiner Amtszeit beim Berliner Radio-Sinfonieorchester, läutete er mit Mahlers 10. Sinfonie die Einspielung aller Sinfonien ein, die ab 1988 an schon fast heiliger Mahler-Stätte ihre Fortsetzung fand. Für die nächsten 16 Jahre war Chailly Chef des Amsterdamer Concertgebouw Orchestra und damit eines Klangkörpers mit Mahler-Gen. Immerhin war der Komponist hier Stammgast und dirigierte in Amsterdam, das er sein »Bayreuth« nannte, den Großteil seiner Werke. 2005 wechselte Chailly schließlich zum Gewandhausorchester Leipzig, das nicht zuletzt dank des Mahler-Freundes Bruno Walter gleichfalls zu einer ersten Adresse für die Musik dieses Visionärs geworden war. Und auch an diese Tradition knüpfte Chailly an und setzte sie mit einer Mischung aus detailverliebter Durchleuchtung des Notenbildes und völliger emotionaler Hingabe fort.
»Mahlers Sprache ist superdirekt«, so Chailly einmal im Interview mit der Wochenzeitung »Die Zeit«. »Was er zum Ausdruck bringt, attackiert den Hörer geradezu körperlich. Du hast das Gefühl, die Musik springt dir an die Kehle, um dir den Atem zu rauben. Das ist meiner Meinung nach der Grund, warum die Publikumsreaktionen am Ende einer Aufführung fast jedes Mal einer Explosion gleichen.«
Einen wichtigen Einfluss auf Chaillys Mahler-Bild sollte aber auch ein Dirigent ausüben, ohne den seine Karriere, sein Musikdenken wohl andere Züge angenommen hätte. Es war Claudio Abbado, der 1972 als damaliger Chef der Mailänder Scala seinen jungen Landsmann zum Assistenten machte und ihm das Tor zur großen Oper öffnete. Zugleich lernte Chailly von dem Mahler-Dirigenten Abbado, wie man diese Klangpanoramen mit Herz und Verstand zum Glühen, Leuchten und Atmen bringt. Mehr als nur eine Abschiedsgeste war es daher für Chailly, als er 2014 an der Mailänder Scala Verdis Requiem zum Gedenken des kurz zuvor verstorbenen Freundes und Förderers dirigierte.
Das künstlerische Erbe Abbados führt Riccardo Chailly inzwischen auch als Chefdirigent fort. 2016 übernahm er die Leitung des einst von Abbado ins Leben gerufenen Lucerne Festival Orchestra. 2015 ging bereits mit dem Musikdirektoren-Job bei der Scala auch noch der Chefdirigentenposten beim Orchestra Filarmonica della Scala einher, das 1982 sein Mentor zusammen mit Musikern des weltberühmten Opernhauses gegründet hatte. »Manchmal muten sich die Musiker extreme Arbeitsbelastungen zu«, so Chailly, »wenn sie sich entscheiden, parallel zu einer Opernproduktion auch noch Konzertprogramme einzustudieren. Aber sie machen es bewusst, um der Sache willen«. Die Doppelbelastung hat sich längst ausgezahlt. So ist die Zahl der Abonnenten von anfänglich 80 auf heute 1400 Abos angewachsen. Und zu den regelmäßigen Gastdirigenten gehören etwa Daniel Harding, Daniele Gatti und Valery Gergiev.
Nun aber führt Riccardo Chailly seine Filarmonica ins Ruhrgebiet, ins Konzerthaus. Im Gepäck hat man die abendfüllende 6. Sinfonie von Mahler, die 1906 in Essen uraufgeführt worden ist. Und wenngleich Chailly dieses auch als »Tragische« bezeichnete Bekenntniswerk wie all die anderen Sinfonien schon unzählige Male dirigiert hat, stellt er doch immer wieder fest: »Das Phänomenale an Mahler ist: Die Musik selbst gibt dir als Interpreten immer wieder neuen Input – und das Werk erscheint in einem neuen Licht.«