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Wie ein Schiff auf dem Meer
WIE EIN SCHIFF AUF DEM MEER
Ihre Ahnväter hießen Yves Nat, Samson François und Alfred Cortot. Die französische Pianisten-Elite hat inzwischen wieder ihren festen Platz im internationalen Musikgeschäft erobert. Heute begegnet man Protagonisten wie Bertrand Chamayou, Éric Le Sage oder ihm: Klangzauberer Alexandre Tharaud.
Er ist der Pianist ohne Instrument. Zuhause, bei ihm in Paris, gibt es kein Klavier. Schon seit rund zwei Jahrzehnten nicht. Alexandre Tharaud hat mit dieser ungewöhnlichen Maßnahme beste Erfahrungen gesammelt: »Eine gewisse Distanz tut mir gut.« Manchmal, wenn er heimkehrt, möchte er Klavier spielen – doch es gibt keines. »Dann bin ich frustriert. Doch genau dieser Frust steigert meine Motivation. Umso mehr freue ich mich aufs Üben.« Natürlich muss ein so akribischer Musiker wie Tharaud auch üben. Freunde haben ihm daher ihre Wohnungsschlüssel überlassen. Dort kann er sich an die unterschiedlichsten Instrumente setzen: »Diese Vielfalt ist mir sehr willkommen, denn kein Klavier ist gleich, und auch bei den Konzertreisen bin ich auf wechselnde Instrumente angewiesen.« Außerdem steigert die Aushäusigkeit beim Üben die Konzentration. »Ich liebe die Ausschließlichkeit des ›Jetzt im Moment‹.«
Tharaud plant vieles minutiös. Erst vor kurzem hat er sich erstmals mit einem Beethoven-Album zu Gehör gemeldet: erstmals Beethoven, erstmals dessen Sonaten – und zwar ausgerechnet die letzten drei. »Die Gruppe dieser drei Sonaten bildet den Königsweg, um in Beethovens Universum zu gelangen und dort zu hören und zu empfinden, was das menschliche Leben ausmacht.« In den späten Sonaten arbeitet Beethoven – typisch für sein Spätwerk – oft mit langen Trillerketten. Sie dienen nicht als nette Verzierungen, sondern als dramatische Stilmittel. Hier kommt Tharauds Grundausrichtung, die ganz auf Clarté bedacht ist, wunderbar zur Geltung. Er dosiert den Pedaleinsatz, um die Musik so transparent wie möglich klingen zu lassen. Tharaud deutet die Triller nicht im Sinne von Aufladung und Dramatik, sondern als etwas Ahnungsvolles, fast Jenseitiges.

Marco Borggreve
Tharaud, Jahrgang 1968, stammt aus Paris. Dort wurde er geboren, dort hat er studiert, dort lebt er. »Ich hatte nicht vor, Pianist zu werden«, gesteht er. »Als Kind wollte ich Zauberer werden. Die vielen Tricks, die ein Magier beherrscht, wenn er Münzen oder Karten durch seine Hände gleiten lässt, haben mich fasziniert.« Doch ist seine heutige Tätigkeit so viel anders? »Nicht wirklich. Man arbeitet mit den Fingern, wendet Kunstgriffe an, spielt mit dem Publikum, da eine ständige Wechselwirkung besteht. Man präsentiert etwas und bringt die Menschen zum Träumen.« Als Student dachte Tharaud gutgläubig, wenn er einmal ausgebildeter Konzertpianist sei, müsse er nicht mehr arbeiten. Heute weiß er, dass eher das Gegenteil zutrifft. »Es kommt mir so vor, als müsse ich immer mehr arbeiten. Morgens wache ich manchmal mit dem Gefühl auf, dass ich nichts weiß und alles ausprobieren muss. So bin ich direkt mit Energie vollgepumpt.«
Obwohl er viel Barockes gespielt hat, ist Tharaud immer dem modernen Konzertflügel treu geblieben. Doch hat er im Vorfeld dieser Interpretationen immer wieder den Cembalisten gelauscht, »um einen eigenen Weg am Flügel zu finden. Die heutigen Klaviere verfügen über mehr Klangfarben als ein Cembalo, sie sind wie ein Orchester«. Zumal die Musikgeschichte einem permanenten Wandel unterliegt. Daher versteht Tharaud die Diskussionen nicht, warum Barockmusik nicht auch auf modernen Instrumenten authentisch klingen könne. »Bei Chopin ist das ähnlich. Zu seinen Lebzeiten machte das Klavier eine dramatische Entwicklung durch und wurde zum Konzertflügel, der einen größeren Umfang hat und mehr Lärm erzeugt.« Was nichts daran ändert, dass Chopin sich und seinem leisen, diskreten Spiel treu geblieben ist. Für Tharaud geht es darum, den Geist des jeweiligen Komponisten zu erfassen, und in dem Moment stellt sich die Frage nach dem Instrument nicht mehr.

Sein Leben vergleicht er mit einem Bach-Präludium, das er gern als Zugabe spielt: »Die Musik ist ganz einfach, sie hat eine einfache Form und entwickelt sich ganz sacht. Erst am Ende, wenn sie plötzlich am Ziel angekommen ist, merkt man, wie viel doch bis dahin passiert ist.« Das mag – auf ihn selbst gemünzt – untertrieben wirken, denn Tharaud ist unglaublich vielseitig. Er schreibt Filmmusik, liebt Barock, begleitet Chansons, schwelgt in der Romantik. Tharaud liebt Vergleiche: »Schauen Sie aus großer Entfernung aufs Meer. Dann sehen Sie ein Schiff und denken: Es bewegt sich unglaublich langsam. Doch in Wirklichkeit hat es durchaus Tempo. So ist es mit mir – ich wirke oft ruhig, aber gleichzeitig gehen mir hundert Ideen durch den Kopf.« Alexandre Tharaud überrascht uns immer wieder. Wie breit er aufgestellt ist, haben bereits seine ersten Aufnahmen gezeigt. Da findet man Neue Musik ebenso wie ganz alte.
Die Musik von Chopin hat ihn sehr stark geprägt, sie »war der geheime Garten meiner Jugend«. Entsprechend hat er eines seiner Alben mit »Journal intime« (Tagebuch) übertitelt: 16 Werke unterschiedlicher Gattungen. Tharauds Anschlag spiegelt die Geheimnisse Chopin’scher Komponierkunst auf mal filigrane, mal fast burschikose Weise, aber – auch hier – stets unter dem Signum ungetrübter Klarheit. Tharaud tritt uns immer sehr direkt gegenüber und lässt auf sensible Weise sein lyrisches Ich erzählen.
Tharaud, der stets freundlich auftritt, verbindlich, höflich, ist in allem sehr akribisch. »Ich bereite meine CDs bis zu zehn oder 20 Jahre vor. Natürlich kann ich ein neues Werk auch in ein paar Wochen einstudieren.« Doch bevor er mit seinem neuen Repertoire ins Studio geht, stellt er eine Woche lang jegliches Spielen ein. »Wenn ich dann ins Studio komme, ist es wirkliche Leidenschaft, ich habe Hunger auf mein Instrument.« Die Proben, das Feilen und Abwägen sind jedoch für ihn der eigentliche Kern des Geschäfts und daher fast wichtiger als Aufnahmen und die Live-Aufführung. »Denn ein Konzert soll die Proben vergessen machen.«