Programmheft-Vorschau Identitti

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nach dem Roman von Mithu Sanyal

MIT

X-CHANGE

Nachhaltigkeit durch Austausch

In der Spielzeit 2022/23 lanciert das Schauspiel Bern ein neues Format: Gemeinsam mit dem Theater Freiburg im Breisgau und dem Theater an der Winkelwiese in Zürich entsteht unter dem Label x-change ein Austausch von Produktionen: Statt jede Inszenierung maximal zehn bis zwölf Mal zeigen zu können, versuchen die drei Theater, einzelnen Stücken ein zweites Leben in einer anderen Stadt zu ermöglichen – und dafür eine Inszenierung weniger zu produzieren.

In diesem Sinne freuen wir uns, die Produktion von Theater Freiburg Identitti nach dem Roman von Mithu Sanyal und in der Regie von Jessica Glause in Bern zeigen zu können.

Merci – Die Initiative für mehr Nachhaltigkeit in den Kulturinstitutionen wird gefördert von m2act, dem Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für Darstellende Künste.

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THEATER.FREIBURG.DE

nach dem Roman von Mithu M. Sanyal

Eine Produktion des Theaters Freiburg

Vidmar 1

Schweizer Erstaufführung

Dauer der Vorstellung

ca. 1 Stunde, 50 Minuten, keine Pause

Aufführungsrechte

Rowohlt Theater Verlag, Hamburg

3 Berner Premiere Fr
24.02.2023
IDENTITTI
Karin Yoko Jochum // Charlotte Will // Anja Schweitzer // Alina Sokhna MʼBaye // Laura Angelina Palacios

IDENTITTI

von Mithu M. Sanyal

Bühnenfassung von Jessica Glause und Anna Gojer

Nivedita Karin Yoko Jochum, Alina Sokhna MʼBaye, Laura Angelina Palacios, Charlotte Will

Saraswati Anja Schweitzer

Kali Janna Horstmann

Lotte Charlotte Will

Priti Laura Angelina Palacios

Oluchi Alina Sokhna MʼBaye

Raji Karin Yoko Jochum

Regie Jessica Glause Bühne und Kostüme Mai Gogishvili Musik Clara Pazzini

Licht Dorothee Hoff Ton Achim Vogel Dramaturgie Anna Gojer

Outside Eye Miriam Ibrahim Regieassistenz und Abendspielleitung Camilla Dania

Inspizienz Arno Fliegauf Ausstattungsassistenz Franics Butler Requisite Gerda Schromm

Mit herzlichem Dank an Phönix e.V.

Leitungen der Abteilungen des Theaters Freiburg

Technische Direktion Beate Kahnert Werkstätten Alexander Albiker Referentin der Technischen Direktion Anne Kaiser Bühnentechnik Günter Fuchs Beleuchtung Dorothee

Hoff, Michael Philipp Dekoration Martin Grosser Malsaal Christoph Bruckert

Maske Michael Shaw Requisite Eva Haberlandt Rüstmeister Raphael Weber

Schlosserei Bernd Stöcklin Schneiderei Jörg Hauser Schreinerei Wolfgang Dreher

Theaterplastik Dario van de Meulenreek Tontechnik Jonas Gottschall

Team Bühnen Bern

Regieassistenz und Abendspielleitung Joel Mähne Inspizienz Hasan Koru

Kommissarischer Bühnenmeister Andy Hohl Tontechnik Peter Tészás

Requisite Gabriela Hess, Cora Liechti Maske Alexandra Lampart, Anja Wiegmann

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DER WEG ZUR VERSÖHNUNG EIN INTERVIEW MIT MITHU M. SANYAL

Dein Roman IDENTITTI ist auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet, er ist mittlerweile in der 13. Auflage erschienen, er wurde ins Englische übersetzt – und am Theater Freiburg entsteht gerade die bereits dritte Inszenierung. Was glaubst du, war Deutschland reif für einen Roman über being mixed race?

Ich glaube, der Roman ist genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen, denn wir haben in Deutschland erst vor etwa fünf Jahren damit angefangen, überhaupt gesamtgesellschaftlich über race zu sprechen. Wir haben davor immer die Augen verschlossen und uns gesagt: Es gibt keine Menschenrassen (was ja auch stimmt), also kann es auch keinen Rassismus geben. Rassismus war eine Sache der Nazis, das ist vorbei. Da hat sich in den letzten Jahren wirklich viel verändert. Ich glaube, es hat auch mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts zu tun: Wir sind vom Blutrecht zum Bodenrecht übergegangen. All jene, die in Deutschland geboren sind und hier ihren Lebensmittelpunkt haben, können Deutsche werden. Das hat zu einer neuen Definition von Deutschsein beigetragen. Gleichzeitig haben viele Menschen wie ich ganz selbstverständlich gesagt, unsere Stimmen müssen in den Medien, dem Buchmarkt usw. repräsentiert werden. Zudem waren in der Corona-Krise alle zu Hause, haben ins Internet gestarrt, wo junge Menschen plötzlich Debatten über Identitätspolitik führten. Als

ich mit dem Roman begonnen habe, hatte ich mich für den Titel IDENTITTI entschieden, weil für mich Identität oder Identitätspolitik so schöne angestaubte Wörter waren. Das drehte sich, während ich den Roman schrieb, total... Ich glaube, all diese Entwicklungen haben zum Erfolg des Romans beigetragen.

Mixed-race-Hauptfiguren wie Nivedita findet man in der deutschen Literatur und Dramatik selten. Woraus entstand für dich die künstlerische Notwendigkeit, eine solche Romanfigur zu schreiben und hattest du literarische Vorbilder?

Eine mixed-race Ich-Erzählerin, eine nicht weiße Ich-Erzählerin, gab es in der Form in der deutschsprachigen Literatur nicht. Also natürlich gab es das, aber es ist nicht breit wahrgenommen worden. Thomas Mann z. B. war mixed-race, seine Mutter war Brasilianerin. Grade die Nazis haben ihn als den N-WortSchrift steller bezeichnet. Heute sehen wir Thomas Mann aber als den deutschesten aller deutschen Schriftsteller. Die Selbstwahrnehmung der deutschen Literatur ist also weiß , abseits davon gibt es noch ein paar Ausnahmen, wie z. B. die Literatur des Ankommens. Aber für die Geschichten der zweiten Generation gab es kein Bewusstsein, weil das politisch lange gar nicht denkbar war. Man dachte, die Menschen gehen wieder dahin zurück, woher sie gekommen waren, sie sind nicht richtig deutsch und deshalb sind es nicht unsere

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Geschichten. Aber genau diese Geschichten haben gefehlt und werden jetzt in der Literatur repräsentiert. Ich wollte also die Art von Roman schreiben, nach der ich mich gesehnt habe, als ich Anfang 20 war. Nivedita ist natürlich überhaupt nicht autobiografisch, aber ich wollte explizit über „Menschen wie wir“, über diese spezifischen Erfahrungen schreiben und deshalb ist ganz viel emotionale Wahrheit in der Figur. Gleichzeitig denke ich, dass die Frage „Wo gehöre ich hin?“ eine universelle ist. Dafür muss man nicht braun sein. Oder die Frage, was man über die Geschichte seiner Eltern weiß ... Das sind also einerseits Fragen, mit denen wir uns alle beschäftigen, und gleichzeitig geht es aber auch um die spezifische postmigrantische Erfahrung, für die wir bisher in Deutschland wenig literarische Sprache hatten. Deshalb habe ich meine literarischen Vorbilder vor allem in der britischen, postkolonialen, postmigrantischen Literatur gefunden, z. B. bei Hanif Kureishi oder Meera Syal.

Wenn wir schon bei Vorbildern sind: Rolemodels sind in deinem Roman ein zentrales Thema. Saraswati ist das wichtigste Vorbild, ja eine Art Übermutter für die Protagonistin Nivedita, denn sie gab ihr eine Sprache für ihre Lebensrealität. Nun stellt sich gleich zu Beginn des Romans heraus: Saraswati hat nur vorgegeben, eine Person of Colour zu sein. Ist damit alles, was sie Nivedita gelehrt hat, hinfällig? Und – wie umgehen mit einer so ambivalenten Figur, mit einer so tiefgreifenden Verletzung?

In dem Verhältnis von Nivedita und Saraswati wirken viele Ebenen. Es passiert häufig, dass ein Mensch dem Bild, das wir uns von ihm/ ihr gemacht haben, nicht gerecht wird. Wir sehen immer auch unsere Projektion dieses

Menschen, gerade wenn es ein Vorbild ist. Deshalb gibt es in jedem Mentor_innen-MenteeVerhältnis irgendwann den Moment der Entzauberung. Saraswati geht aber natürlich weit über ein solches Verhältnis hinaus. Für mich hatte ihr Fall auch viel mit meiner eigenen Auseinandersetzung mit Autor_innen zu tun, die für mich Vorbilder sind. Wie zum Beispiel Hannah Arendt. Ich habe ganz lange ihre rassistischen Stellen beim Lesen übersprungen und mich nicht gefragt, was das bei mir bewirkt. Und natürlich machen diese Stellen etwas mit mir, aber es entwertet ihre Arbeit nicht. Aber im Gegensatz zu Saraswati ist Hanna Arendt tot. Es gibt eine historische Distanz. Deshalb ist die Auseinandersetzung zwischen Nivedita und Saraswati viel intensiver. Für mich war es aber weniger interessant Saraswatis Verhalten mit richtig oder falsch zu bewerten. Mir war wichtig zu zeigen, dass alles, was wir tun, Auswirkungen auf andere Menschen hat, mit denen wir umgehen müssen, vor denen wir uns nicht drücken können. Aber ich brauchte Saraswati auch als Katalysator, als Gegenüber, um Niveditas Geschichte erzählen zu können. Und ich brauchte auch gerade dieses Gegenüber, das diesen Betrug begangen hat, weil Nivedita selbst immer das Gefühl hat, sie sei eine Mogelpackung, sie habe gar kein Anrecht auf Identität: Sie sei weder deutsch, noch indisch und erst recht nicht polnisch genug. Während Saraswati das Gefühl hat, sie könne sich jede Identität aneignen, was sie de facto ja auch tut. Beide Figuren bewegen sich von unterschiedlichen Richtungen auf dasselbe Thema zu und das führt zu diesem Zusammenstoß. Ich glaube tatsächlich, dass nahezu alle Verletzungen geheilt werden können, egal wie groß sie sind. Deshalb war es mir so wichtig, dass Saraswati immer anwesend bleibt, dass sie nicht den Kontakt abbricht, denn das

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macht Versöhnung überhaupt erst möglich. Und doch ist es kein Buch, in dem es bloß um Versöhnung geht, sondern es geht vielmehr um den Weg dahin, um die Wut und was alles sonst noch nötig ist, um dahin zu kommen.

Für die Versöhnung braucht es in deinem Roman die Göttin Kali, Begleiterin von Nivedita. Sie versucht eine Versöhnung von Saraswati und ihrem Adoptivbruder Raji, aber auch zwischen Nivedita und Saraswati herbeizuführen ...

Kali spielt natürlich eine ganz zentrale Rolle, denn Versöhnung würde in der Kürze der Zeit nicht stattfinden. Kali ist ein Art Brandbeschleuniger, manchmal ist sie auch Psychotherapeutin, oder sie durchbricht den Rahmen, so dass alle sich neu positionieren müssen, wie etwa in der Exorzismus-Szene am Ende. In unseren politischen Diskussionen, die gefühlt immer polarisierter werden, ist es hingegen häufig so, dass wir Argumente austauschen –These, Antithese – aber zu einer Synthese kommt es selten. Am Ende einer Debatte sind alle meist so antipodisch wie zu Beginn. Ich würde mir für den politischen Diskurs auch eine Instanz wünschen, die eingreifen und wieder eine Verbindung herstellen könnte.

Das komplette Programmheft ist am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.

Könnte das auch mit der Rhetorik des Internets zusammenhängen? Denn dort kommt es zu keinen menschlichen, empathischen Begegnungen. Jeder bleibt in seiner DiskursBubble und es findet kein echter Dialog statt. Auch über Saraswati und Nivedita bricht ein „Twitter-Gewitter“ herein...

Ja und nein. Wenn man sich die Tweets im Roman genauer anschaut, werden sie im Verlauf des Romans persönlicher und differenzierter, einfach weil der Aspekt Zeit hinzu

kommt. Es wirkt vielleicht so, als ob die sozialen Medien den Diskurs verschärfen, ich denke aber, dass sie nicht die Ursache sind. Zum einen wurde der Algorithmus verändert, es werden einem nur noch die Nachrichten gezeigt, die für einen relevant sind. Dadurch entsteht das Gefühl, alle sind meiner Meinung, oder alle sehen die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise. Abgesehen davon sind weniger als 2 % aller Deutschen auf Twitter. Es ist kein Spiegel der Welt. Zum anderen funktioniert, wie schon gesagt, unsere gesamte politische Rhetorik so. Wie lernen gar nicht, wie man einen Konsens herstellt, wie wir unser Gegenüber wahrnehmen und verstehen können, wie man einen produktiven Diskurs miteinander führt. Das ist ein Bildungsauftrag, den weder die ÖffentlichRechtlichen noch die Schulen wahrnehmen.

Einer der Gedanken in deinem Roman, der mich am meisten bewegt und zum Nachdenken angeregt hat, ist folgender: Menschen, die unterdrückt werden, wird beigebracht, dass sie nicht liebenswert sind. Und Menschen, die nicht liebenswert sind, erhalten demnach auch weniger oder keine Empathie ...

Das Buch ist extrem beeinflusst von „love politics“, von dem, was bell hooks, James Baldwin sowie Martin Luther King über Liebes-Politik geschrieben haben. Dabei geht es um die Notwendigkeit, unser Gegenüber immer als Mensch zu sehen. Liebe war in den 1960er-Jahren in den meisten Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zentral, oder noch davor bei Gandhi. In unseren heutigen Diskursen fehlt ein wirkliches Konzept von Liebe jenseits von „Liebe als Warenform“. Davor warnt Eva Illouz mit Recht. Ich denke, wenn Liebe nicht Teil unserer politischen Prozesse ist, können wir nicht über Utopien nachdenken, darüber, wo wir hinwollen, wie

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