JOSEF STEINBACH
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WEIHNACHTSAMNESTIE Kriminalroman
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Alle Rechte vorbehalten © 2016 Berenkamp Buch- und Kunstverlag Wattens–Wien www.berenkamp-verlag.at ISBN 978-3-85093-342-1 Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische – 4http://dnb.ddb.de – Daten sind im Internet über abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
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Vorausgeschickt
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Der BP geht ins Gefängnis
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Je später der Abend
34 Rücktrittsreif? 40
Frieren im Lungau
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Frantischek ermittelt
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Weihnachtsflüchtlinge
70 Neujahrskonzert 75
So stolz auf unser kleines Land
78 Nachwort 79
Anhang Erlass vom 14. September 2006 betreffend die Durchführung einer Gnadenaktion aus Anlass des Weih–5– nachtsfestes
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Vorausgeschickt Der Bundespräsident unterzeichnet jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit Begnadigungsgesuche – im Jahr 2015 zum Beispiel öffneten sich für 20 Häftlinge vorzeitig die Zellentüren. Der Justizminister unterbreitet nach einem detailliert geregelten Verfahren dem Bundespräsidenten Vorschläge, welche Gefangene in den Genuss einer Begnadigung kommen sollen. Dafür kommen nur Personen infrage, die wegen leichterer Delikte wie Diebstahl, Betrug, fahrlässige Körperverletzung oder Verletzung der Unterhaltspflichten verurteilt wurden und deren Strafe fünf Jahre nicht übersteigt. Zudem muss ein bestimmter Teil der Haft bereits absolviert sein.
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Der BP geht ins Gefängnis
Der Bundespräsident kämpfte mit dem Schlaf. Was war das heute für ein Tag gewesen! Gleich in aller Früh eine „Sub auspiciis“-Promotion an der TU. Feierlich wie immer, und auch genauso langweilig. Von den Lobesreden verstand er höchstens die Bindewörter und die persönlichen Fürwörter. Dann der Staatsempfang für den Fürsten von Dunkelstein, dessen Justiz verdächtigt wurde, Verfahren gegen prominente österreichische Steuerflüchtlinge zu behindern. In der Pressekonferenz der übliche Austausch von Scheinheiligkeiten, halben Wahrheiten und halben Lügen, dann das unvermeidliche Mittagessen. Schon wieder Tafelspitz! Die ganze Zeit ging dem Staatsoberhaupt der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass man das Finanzministerium dazu bringen sollte, die österreichischen Unternehmen des Fürsten einer genauen Steuerprüfung zu unterziehen. Gleich nach dem Fürsten marschierte – quasi zum Drüberstreuen – sogar ein echter König durch die Prunkräume der Hofburg. Sogar der penible Pressesprecher konnte nicht herausfinden, wie viele Frauen der Despot aus dem südlichen Afrika derzeit sein eigen nannte. Aber es gab bestimmt gute Gründe dafür, warum sie der Monarch allesamt zu Hause gelassen und nicht einmal eine First Lady mitgebracht hatte. –9–
Beim Kaffee – schon wieder Sachertorte! – plauderte man über den politischen Wandel in Schwarzafrika und fasste diverse Möglichkeiten zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen ins Auge, vieles davon wohl nicht so richtig ernst gemeint. Gott sei Dank schien es dem König zu pressieren. Er verabschiedete sich, sobald es das Protokoll zuließ, und stieg mit seinem ausschließlich männlichen Gefolge in die wartenden Limousinen. Aber erst, nachdem sich der Adjutant dezent erkundigt hatte, wie man denn in Wien zu erstklassigen Mädchen käme. Der Preis spielte keine Rolle. Mit dem Abgang des afrikanischen Potentaten war der Tag eigentlich gelaufen, aber der Bundespräsident verspürte keine Lust auf seine leere Wohnung in der Mahlerstraße. Außerdem begann ihm der unerledigte Aktenberg über den Kopf zu wachsen. Vor allem die Weihnachtsamnestie duldete keinen Aufschub. Wie jedes Jahr hatte die Gnadenabteilung des Justizministeriums eine Reihe von Vorschlägen erarbeitet und der Präsidentschaftskanzlei die Akten der in Frage kommenden Häftlinge übermittelt. Diese wurden vom Büro für rechtliche Angelegenheiten durchgesehen und kommentiert. Aber seine Mitarbeiter wussten genau, dass der Bundespräsident jeden einzelnen Fall überprüfte und manchmal auch recht eigenwillige Entscheidungen traf. Was ihm aber keiner übel nahm: „Wenn der Chef ausnahmsweise einmal etwas selbst bestimmen darf, so soll er es doch in Gottes Namen tun. Sonst hat er ohnehin nicht viel zu reden.“ So saß das Oberhaupt der Republik an seinem RokokoSchreibtisch, den großen Spiegel im Rücken, der ihn von Tag zu Tag mehr irritierte, zeigte er doch unerbittlich, wie sehr er sich in den fünf Jahren seiner Amtszeit verändert hatte: Das Gesicht immer runder, die Hüften ebenso (viel zu viele Tafelspitze und Sachertorten), dafür das Haar immer dünner. Er studierte die Untaten von kleinen Gaunern und Betrügern, von jugendlichen Straftätern, denen ihre Vergehen hun– 10 –
derte Male im Fernsehen vorgemacht worden waren, bis sie diese zur Abwechslung einmal selbst begangen hatten, von Gewalttätern, die ihre Opfer nicht gleich um die Ecke, sondern nur für Wochen ins Krankenhaus gebracht hatten, von sogenannten „Fahrlässigkeitstätern“, die etwa Verkehrsunfälle mit Personenschaden (Tote ausgenommen) auf dem Kerbholz hatten – im Land der Heurigen durften sie für eine Begnadigung sogar alkoholisiert unterwegs gewesen sein, unter der Voraussetzung, dass sie zum ersten Mal erwischt worden waren –, bis hin zu den Postlern mit Burn-out-Syndrom, die ihre Briefe einfach in die Kanalisation entsorgt hatten. Alle gemeinsam hatten bestimmt nur einen Bruchteil des Schadens verursacht, den ein korrupter Banker oder ein in Finanzgeschäften ahnungsloser Kommunalpolitiker in wenigen Tagen oder gar nur in wenigen Stunden anrichten konnte – allerdings ohne große Sorge, von der Justiz ernsthaft belästigt zu werden. An diesem letzten Oktobertag waren draußen bereits Nebel und Dunkelheit eingefallen. Wenn der müde Präsident einen Blick aus dem Fenster auf den Heldenplatz warf, bevor er den nächsten der grauen Ordner aufschlug, konnte er die Reiterfiguren des Erzherzogs und des Prinzen kaum mehr erkennen, und jenseits der Ringstraße war die von ihren Generälen umgebene Erzherzogin längst in der Dämmerung verschwunden. Dem Staatsoberhaupt gelang es kaum noch, das Gähnen zu beherrschen. Ein Fall noch, dann sollte es für heute genug sein. Aber dieser letzte Akt hatte es in sich. Er veränderte alles. v Der Präsident fuhr zusammen, saß einige Augenblicke lang regungslos da, griff dann zum Telefon. Helga, die treue Seele, – 11 –
war bestimmt noch im Haus. Sie ging nie vor dem Chef, hatte ihn, obwohl deutlich jünger als er, vom Anfang an bemuttert. Seit dem ersten Mann im Staat die First Lady abhandengekommen war, nervte ihn ihre Obsorge von Tag zu Tag mehr. Aber wenigstens befolgte sie seine Anordnungen sofort, ohne Widerspruch und ohne lästige Nachfragen. Also: ein Termin in der Justizstrafanstalt Josefstadt, etwa in einer halben Stunde! Das Staatsoberhaupt wünschte die Vorführung eines der Häftlinge: Brunner Franz, wegen Autodiebstahls zu vier Jahren verurteilt. Ein Gespräch ohne Zeugen, ohne jede Dokumentation, weder audio noch video. „Das ist ja nicht so weit. Wie ich dich kenne, gehst du bestimmt zu Fuß? Durch den Volksgarten.“ Seit sie ein einziges Mal miteinander geschlafen hatten – war es beim Staatsbesuch in Buenos Aires gewesen oder erst ein paar Tage später in Santiago de Chile? – duzten sich der Präsident und die Chefsekretärin im vertraulichen Gespräch: „Ich ruf’ die Pforte an und sag’ dem Pospischil Bescheid.“ v Draußen hatte es zu nieseln begonnen. Der Inspektor trat mit aufgestelltem Mantelkragen aus der Pförtnerloge, zog sich den Hut, nachdem er ihn zum Gruß gelüftet hatte, ins Gesicht. „Jetzt geht’s ab ins Gefängnis, Pospischil!“ „Na endlich! Wird auch langsam Zeit.“ Die beiden kannten einander lange. Der alte Polizist hatte schon zu den Bewachern des Sonnenkönigs gehört, von dem der Bundespräsident – damals, als ganz junger Spund, der unterste in der Rangordnung der Kanzlersekretäre – nach Strich und Faden schikaniert worden war. Bis heute verstand der Pospischil nicht, wie ein wirklicher Mann so etwas ertra– 12 –
gen konnte. Aber wirkliche Männer brachten es vermutlich gar nicht bis zum Staatsoberhaupt. Wie an praktisch jedem Tag im Jahr fegte der Wind über den Ballhausplatz, vom Westen, vom Parlament und vom Rathaus her. Die beiden Männer stemmten sich gegen die kalten Böen, spürten den Regen im Gesicht, der Inspektor wenige Schritte hinter seinem Schützling. In einiger Entfernung würde ihnen ein weiterer Beamter folgen. „Süßes oder Saures?“ Vor dem Theseustempel im Volksgarten wurde der Präsident von einem Rudel kleiner Zombies und Vampire gestellt. Ach ja, 31. Oktober, Halloween! Aber auch daran hatte Helga gedacht und ihm ein Sackerl mit Süßigkeiten in die Manteltasche gesteckt. Die Mütter brauchten eine Weile, bis sie realisierten, was für ein seltenes Exemplar ihrem Nachwuchs in die Fänge gegangen war. Dann wurden die Handys gezückt und Selfies gemacht. Der Bundespräsident posierte geduldig mit den Kindern – ein großer Zombie unter den vielen kleinen, überlegte sich der Pospischil aus sicherer Entfernung. Der Eingang zur Justizstrafanstalt lag etwas unter dem Niveau der Wickenburggasse. Zwei große, fest verschlossene Eingangstore, daneben eine kleinere Pforte, vor der fast ein halbes Dutzend Türsteher in Uniform Aufstellung genommen hatten. Sie salutierten zackig, als der Bundespräsident die Strafanstalt betrat. Seit dem Shitstorm, den das Staatsoberhaupt im Internet ausgelöst hatte, als er mit einem Staatsgast unterwegs war und die Limousine durch eine von seinen Untertanen ausnahmsweise einmal gebildete Rettungsgasse rasen ließ, beachtete er jede Vorschrift auf das Genaueste. Er bestand auf einer ganz normalen Sicherheitskontrolle, legte brav Telefon, Uhr, Gürtel, Schlüssel und Kleingeld in die dafür vorgesehene Tasse, und der in aller Eile aus seiner Stammkneipe herbeigerufene Vizedirektor der Strafanstalt konnte gerade noch verhindern, dass er vor dem Durchschreiten – 13 –
des Scanners auch die Schuhe auszog. Wäre der nicht aufgetaucht, hätte er sich wahrscheinlich sogar bis auf die Unterhose freigemacht: Der Pospischil hatte nicht vor, es dem Chef gleichzutun, dazu trug er auch viel zu viel Metall am Leib. Er beschloss, bei der Torwache zu warten. Der Vize führte den Bundespräsidenten durch den breiten, hell erleuchteten Flur zu einer Tür mit dem Schild: Sitzungsraum 2, in dem das Gefängnispersonal seine Besprechungen abhielt. Im Normalfall hatten hier Häftlinge wohl keinen Zutritt. Aber wahrscheinlich sollten sich auch ihre Wärter nicht allzu wohl fühlen: keine Fenster, nur vergitterte Schächte der Klimaanlage unter der weiß verputzten Decke, die Wände im hellgrünen Pastell, der Kunststoffboden fast schwarz und peinlich sauber. In der Mitte stand ein großer, rechteckiger, völlig leerer Tisch aus Metall, auf dessen stahlgrauer Platte sich das Licht der Neonröhren spiegelte. Die Sitzgelegenheiten waren – bis auf zwei – in eine Ecke geräumt, in der anderen lagerte elektronisches Equipment, keines der Geräte eingeschaltet, soweit man erkennen konnte. An der hinteren Querseite des Tisches saß Franz Brunner auf einem harten Sessel aus Plastik. Auf der anderen Seite – durch die nicht unbeträchtliche Länge des Tisches getrennt – stand ein bequemer Stuhl aus Holz, hohe Lehne, breite Armstützen, Rattangeflecht im Sitz- und Rückenbereich. Franz Brunner erhob sich nicht, als das Staatsoberhaupt eintrat. Groß und schmal, fast hager wie in seiner Jugendzeit, saß er leicht vorgebeugt, die Hände auf dem Tisch ausgestreckt, den Kopf gesenkt. Er sah den Besucher nur kurz an, wandte den Blick aber gleich wieder ab und starrte auf die glänzende Tischfläche. Abgesehen von seiner Figur konnte man ihn nur wiedererkennen, wenn man wusste, wer da vor einem saß. Die eingefallenen Wangen mit den tiefen Falten, die schmalen, nach unten gezogenen Lippen hatten das einst freundli-
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che Gesicht ins Gegenteil verwandelt. Waren die Augen nicht einmal größer gewesen? Jedenfalls wirkten sie glanzlos und traurig. Sein volles Haar besaß der Franz noch immer, es war aber grau, ja fast weiß geworden. Keiner sprach. Der Präsident blieb für einige Augenblicke unschlüssig hinter dem Stuhl stehen, nahm schließlich Platz, verschränkte die Arme und fixierte den ehemaligen Freund. Aber der Brunner reagierte nicht, saß nur da, regungslos mit gesenktem Kopf. Und wie früher war es der Präsident, der als Erster nachgab. Er senkte den Blick und stellte die Frage, auf die er seit seiner Jugend keine Antwort wusste. „Warum?“ Da hob der Brunner den Kopf mit einem Ruck und blickte ihm in die Augen: „Warum, fragt er! Warum! Der Arme, er weiß es nicht! Bis heute weiß er es nicht!“ Blanker Hohn. v
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Der Bundespräsident darf jedes Jahr zum Weihnachtsfest ein paar kleine Gauner begnadigen (die großen laufen ja immer noch frei herum) und prüft daher die Sündenregister der Kandidaten. Dabei stößt er auf einen längst vergessenen Jugendfreund und sucht ihn kurz entschlossen in der Strafanstalt auf. Aber der will sich partout nicht begnadigen lassen und hat, wie sich später herausstellt, auch gute Gründe dafür. „Was? Unglaublich! So eine Impertinenz! Da gibt’s nur eins: Freilassen, und wenn er nicht raus will aus dem Knast, auf der Stelle wieder verhaften. Widerstand gegen die Staatsgewalt!“, sagt der Aufpasser des Präsidenten dazu. Die Hintergründe der – eigentlich geringfügigen – Straftat seines ehemaligen Freundes zwingen das Oberhaupt der Republik jedoch fast zum Rücktritt und veranlassen ihn dazu, seine in der Verfassung festgelegten Befugnisse bis zum Äußersten auszunutzen. Dem Staat droht eine der schwersten Krisen in seiner jüngeren Geschichte und dem Präsidenten der endgültige Bruch mit der Tochter, die eben erst in sein Leben getreten ist. Josef Steinbach Dr. phil., Univ.-Prof., lebt mit seiner Familie in Klosterneuburg bei Wien. 1941 in Wien geboren, Studium an der Universität Wien, bis 1982 Dozent an der TU-Wien, bis 2006 Professor an der Universität Eichstätt in Bayern. Seine wissenschaftliche Arbeit mit den Schwerpunkten Stadt- und Regionalplanung, Globalisierung und Tourismus hat in einer Reihe von Büchern, Aufsätzen und thematischen Karten ihren Niederschlag gefunden. Nach seinem Abschied von der Universität findet er endlich Zeit, auch seinen literarischen Neigungen nachzugehen. Der 2014 publizierte Kriminalroman „Atterkill – global denken, lokal morden“ spielt im Salzkammergut. 2016 erschien die Erzählung „Tibor im Glück“.
ISBN: 978-3-85093-342-1
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