kulturstiftung des bundes
april 2007 Hortensia Völckers Jedem Kind ein Instrument Armin Zweite Pflegefall Kunst Wilhelm Genazino Momentweise betäubt. Über das Betteln Kathrin Röggla Die Wiedergänger Nikola Richter Die Kinder vom Arbeitslosenstreichelzoo Otfried Höffe Europäische Wertegemeinschaft? Polnische Wunder Martin Pollack Adel Peter Oliver Loew Lumpex Radek Knapp Hans Kloss Pawel Dunin-Wasowicz Na Saksy Emir Imamovi´c Denkmäler im Straßenkampf Hanns Zischler Vorstoß ins Innere Nico Bleutge Luft Meldungen Gremien 4 9 12 14 19 23 27 29 29 31 32 37 38 42 43
Schwerpunktsetzungen im Bereich zeitgenössischer Kunst und Kultur setzen die Bereitschaft zum Widerspruch und zur Kontroverse voraus. Es ist gewiss nicht der Anspruch der Kulturstiftung des Bundes, Positionen zu vertreten oder zur Geltung zu bringen, die unumstritten sind. Die vorliegende Ausgabe unseres Magazins setzt allerdings ausnahmsweise einen Akzent auf Vorhaben, die sofort einleuchten, denen niemand ernstlich widerspricht, die aber trotzdem des einen letzten Anstoßes bedurften, um auf den Weg gebracht zu werden. Ein früherer Bundes präsident sprach von dem ‹Ruck›, dessen unsere Gesellschaft bedürfe. Angesichts der unbestrit tenen Misere, in der sich die kulturelle Bildung in Deutschland befindet, dürfte der Impuls, mehr als zweihunderttausend Kindern in den nächsten Jahren das Erlernen eines Musikinstrumentes nahe zu bringen, ein solcher ‹Ruck› sein, der — so hoffen wir — weit über das aus Anlass der Wahl zur europäischen Kulturhauptstadt adressierte Ruhrgebiet hinaus wirkt. Denn ohne die Vermittlung kultureller Leistungen und Fertigkeiten an nachfolgende Generationen, ohne de ren Befähigung, dieses Erbe anzunehmen und in die eigene Praxis zu übersetzen, könnten sich die Debatten über den Erhalt unserer traditionsreichen kulturellen Institutionen ganz schnell von selbst erledigen [ Seite 4 ] .>>> Im Schatten einer dynamisch wachsenden Unterhaltungs- und Event-Ökonomie, deren Handlungslogik zunehmend auf kulturelle Institutionen wie Theater und Museen übergreift, droht aber nicht nur der Kompetenzverlust der Menschen im Umgang mit Kunst und Kultur. Die Dinge selbst kommen uns abhanden. Noch zu langsam dringt es ins öffentliche Bewusstsein, dass nicht nur Objekte des kulturellen Erbes aus vergangenen Jahr hunderten in einem bedenklichen Zustand sind, sondern auch vergleichsweise junge Kunst kon servatorischer Rettungsmaßnahmen bedarf. Armin Zweite führt eindrucksvolle Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst an, die diesen Sachverhalt nicht nur aus gewissermaßen handwerk licher Perspektive beleuchten. Angesprochen ist auch das zeitgenössische ‹Ethos› der Restaurierung von Kunstwerken, nicht erst dann, wenn deren begrenzte Lebensdauer geradezu intendiert erscheint [ Seite 9 ] . Die Kulturstiftung des Bundes will mit einem Programm zur Restaurierung mobiler Kulturgüter hierauf aufmerksam machen und Signale setzen, dass und wie abgeholfen werden kann. >>> In der kunstinteressierten Öffentlichkeit blieb das kulturelle Erbe, das in den Naturkundesammlungen und -museen geborgen ist, weitgehend unbeachtet. Mit seinem Vorstoß ins Innere unternimmt Hanns Zischler den Versuch, diese Schätze in einem interaktiven Medium zu heben, das neue Expeditionen in die geheimnisvolle Welt der Museen er möglicht [ Seit e 37 ] . >>> Alle Zeichnungen in diesem Magazin von Maciej Sienczyk sind im Zusammenhang der deutsch-polnischen Kulturprojekte im Büro Kopernikus entstanden. Sie illustrieren das Reich der Polnischen Wunder, die polnische und deutsche Autoren in einem Glossar zusammengestellt haben. Auf den Seiten 27 31 finden Sie eine Probe von köstlichen Miszellen. >>> Als Erstveröffentlichungen dürfen wir Ihnen auch die literarischen Texte von Wilhelm Genazino und Kathrin Röggla präsentieren, die sich im Auftrag der Kulturstiftung des Bundes und des Suhrkamp Verlags Gedanken zur Arbeit in Zukunft gemacht haben [Seite 12 ] . Welche Vorstellungen Jugendliche davon haben und wie sie sie in Kulturprojekte umsetzten, er fahren sie auf Seite 19 von Nikola Richter, die das ‹Prekariat› aus eigener Erfahrung kennt. >>> Gar nicht prekär — wie Wolfgang Reinhard in seinem Beitrag in unserem letzten Magazin — , sondern recht optimistisch beurteilt der renommierte Philosoph Otfried Höffe die Voraussetzungen für die Gestaltung einer europäischen Wertegemeinschaft, die auf einem Kongress der Kulturstiftung des Bundes diskutiert werden [ Seite 2 3 ] . Liest man den Bericht von Emir Imamovi ´ c über die Auseinandersetzungen um die Errichtung eines Denkmals im Zentrum von Sarajevo, erkennt man, wie steinig der Weg dorthin ist — und nicht zuletzt, welch hoher Wert der kultu rellen Bildung in einer demokratischen Gesellschaft zukommt.
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Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz [Vorstand Kulturstiftung des Bundes]
jedem kind ein
von hortensia volckers w
andel durch Kultur — Kultur durch Wandel: Unter diesem Slogan wird nicht nur die Bewerberstadt Essen, sondern das ganze Ruhrgebiet, 53 Städte und Kommunen — neben der ungarischen Stadt Pécs und Istanbul — im Jahre 2010 Kulturhauptstadt Europas sein. Die ‹Leuchttürme› — Theater, Museen, Ruhrfestspiele, Triennale, Kurzfilmtage, Zeche Zollverein — zahllose On- und Off-Events, soziokulturelle Projekte und multikulturelle Institutionen werden vom explosionsartigen Wachstum und vom langen Niedergang des alten Ruhrgebietes künden, die Mühen und den Glanz seiner Transformation demons trieren und von seinen Zukunftsplänen und Visionen erzählen. Kulturhauptstadt — was soll das überhaupt? fragen die Skeptiker. Ha ben wir nicht längst genug Spektakel, Festivals, Glitzerkram und lan ge Museumsnächte? Brauchen wir noch mehr unterirdische Erlebnislandschaften, schwimmende Kulturinseln, zu Konzerthallen und Ateliers umgewidmete Kohlengruben? Was bleibt davon, was stärkt die Kultur, was wirkt weiter? Ich antworte mit einem Traum:
An einem Sommertag im Jahre 2010 füllt sich das größte Fußballstadion des Ruhrgebietes bis zum letzten Platz mit Schülern der ersten vier Grundschulklassen. Der Rasen reicht nicht aus, sie besetzen die Ränge, die Treppen, die Gänge, so dass für die Eltern und die Honoratioren kaum Platz bleibt. Sie packen ihre Segeltuchhüllen und Instrumentenkoffer aus, und dann bringen sie ein Musikstück zur Pre miere, für das sie drei Jahre lang gearbeitet haben: eine Rhapsodie für 200 000 Kinder, eine Melange aus Etüden und Improvisation, die zum Klingen bringt, was Grundschüler in drei Jahren von phantasie begabten Lehrern im Musikunterricht lernen können, eine Suite aus Etuden und Improvisation, die sich aus der Erfahrungswelt dieser Kinder speist: Aus den Liedern, die sie von ihren Großeltern gelernt haben, die aus Italien, Spanien, Kurdistan und Anatolien stammten oder bereits vor 100 Jahren aus Galizien in die Kohlenstädte wan derten. Dazu die Gassenhauer der Gegenwart, die Radioschnulzen und a cappella-Gesänge der Migrantenküchen, Turk-Rock und klas sische Fetzen, Shakira und Grönemeyer, neuesten Teenie-Rap und den Rock’n Roll ihrer Eltern. Die Lieder, die sie im Kindergarten ge meinsam gelernt und die merkwürdigen Melodien, die sie selbst er funden haben. Und dazu, gezirpt und geblasen, gerasselt und gesun gen, die Klänge ihres Alltags: die Schmalzviolinen der Werbung, der anschwellende Jubel der Stadien, die Geräusche der Straße, das Quä ken der Comics und die Musik aus den Nachbarwohnungen, die Polizeisirenen und das Klopfen, wenn die allerletzte alte Fabrik im Vier tel demontiert wird, die Rufe auf dem Hof, die Schiffspfeifen der Binnenhäfen, die Muzak der Shopping Malls, das Ploppen der Bälle und das Schlurfen in den U-Bahnhöfen, darunter das Gesumm aus offenen Kirchentüren und der Ruf der Moscheen — alles durcheinander, eine Collage aus Traditionen, aus Klassik und Pop, aus Ord nung und Chaos. Ein Konzert wäre das, wie es noch keines gegeben hat, eine gigantische fète de la musique, ein Ereignis, von dem sie und die Region noch lange zehren würden, weil sie drei Jahre daran gear beitet haben.
Das ist ein Traum, mein Traum, aber es könnte auch ganz anders sein. Die zweimal Hunderttausend könnten auch beschließen, stattdessen auf allen Plätzen und in allen Parks des Ruhrgebietes zu spielen, in tausenden von kleinen Gruppen, alle gleichzeitig, an einem Tag, auf ein Kommando, oder an vielen Tagen, selbstorganisiert und dezent ral. Es ist alles offen. Sie haben es in der Hand.
Denn der Traum ist zum Projekt geworden. Und weitgehend finanziert. Jedem Kind im Ruhrgebiet ein Instrument — diese Initiative ist so groß, dass alle, die sie angestoßen haben, immer wieder einmal in Schreckstarre verfielen. Nicht nur wegen der 50 Millionen Euro, die das Ganze am Ende kosten wird. Die logistischen, rechtlichen, didak tischen Probleme, die wir damit geschaffen haben, sind eine große Herausforderung für Kulturämter, Grundschulen und Musikschu len. Woher kommen Musiklehrer in ausreichender Zahl und Quali tät? Wer redet mit den Eltern in den von Soziologen ‹bildungsfern› genannten Schichten, um sie zu überzeugen, dass der kleine Eigenbei trag im Monat gut ‹investiert› ist? Wie erweitern wir das Instrumen tensortiment, so dass auch die migrantischen Klangfarben vertreten sind? Wie stimmen wir Schuldirektoren um, die vor zusätzliche Orga nisationsprobleme gestellt werden, wie begeistern wir Lehrer so, dass sie in ihren Bereitschaftsstunden mit geschulten Instrumentalisten der Musikschulen zusammenarbeiten? Brauchen wir eine Kampag ne für Eltern und Nachbarn, die drei Jahre lang — und hoffentlich auch danach — die ersten Klangteppiche posaunender, blockflötender und fiedelnder Kinder aushalten müssen?
Mein Traum von der klingenden ‹Sozialen Skulptur› eines ganzen Land strichs löste sich auf in eine Serie mittlerer Albträume, wüssten wir nicht schon, dass es prinzipiell möglich ist. Denn dieser Traum hat ei ne Vorgeschichte. Sie begann vor fünf Jahren, als Manfred Grunen berg, der Leiter der Musikschule Bochum, das Besprechungszimmer der ‹Zukunftsstiftung Bildung› betrat, eine Gründung der ‹Gemein schaftsbank für Leihen und Schenken› (GLS ), die als Pionierin der ethisch-ökologischen Banken in Deutschland gilt. Er suchte eine hal be Million Euro für das Projekt Jedem Kind ein Instrument, mit dem bis zum Jahre 2010 — «durchaus als Gegenbild zum Plan der Deut schen Telekom, bis 2006 jedem Grundschulkind einen Computer an
die Hand zu geben» — alle Grund- und Sonderschulkinder in Kooperation mit den Musikschulen der Stadt Musikunterricht an einem Instrument ihrer Wahl erhalten sollten. Die halbe Million wurde bewilligt, die Stadt Bochum, eigentlich klamm wie alle Kommunen, geneh migte Mittel für einen Ausbau der Musikschule, und seitdem wächst das musikalische Netz, getragen von einer Koalition von Stadt, Zu kunftsstiftung (sie finanziert den Instrumentenkauf, märchenhafter weise aus dem Verkauf einer gestifteten Privat-Stradivari), den Fami lien der Kinder, die 15 oder 25 Euro monatlich beisteuern, und schließ lich und nicht unwichtig, den Lehrer/innen der Grundschulen, die am ersten, einführenden Unterrichtsjahr teilnehmen. Die Zusammenar beit von staatlichen Institutionen und Bürgergesellschaft funktioniert gut, aber jeder, der schon etwas Ähnliches unternommen hat, weiß, wie schwierig, zeitraubend und konfliktträchtig solche Konstruktio nen sind. Aber das Netz hält und wird größer.
Und nun soll es das ganze Ruhrgebiet überziehen. Wie kam es dazu? Ich will hier nur meinen Teil erzählen: Im letzten Frühjahr, von März bis Juni, ging ich mit meiner Mitarbeiterin Antonia Lahmé auf meh rere Recherche-Reisen ins Ruhrgebiet. Wir wollten herausfinden, ob es einen sinnvollen Beitrag der Kulturstiftung des Bundes zur ‹Kul turhauptstadt Ruhr 2010› geben könnte. Wir trafen auf Kulturdezernenten, die seit Jahrzehnten von einem ‹systematischen Ansatz in der kulturellen Bildung› träumen und nach Dienstschluss in ihrem Chor singen. Wir fuhren im Polizeiwagen durch Essen-Katernberg, nicht w eil es dort so gefährlich ist, sondern weil der Bereichsbeamte alle Jugendlichen mit Namen kennt, auch die mit den schwer aus sprechbaren Namen; wir liefen über stillgelegte Zechengelände mit Gegenwartskunst und hörten uns nostalgische Taxifahrersprüche über die künstliche Beatmung von Orten an, an denen er und seine Kollegen noch geschuftet, gelitten und gelebt haben. In Linoleum fluren backsteingotischer Kulturämter stolperten wir über Fachkom petenzstreitigkeiten und in einem Universitätsbüro ließen wir uns vom kostenlosen Kleingruppenförderunterricht erzählen, in dem Studenten mit 800 Kindern aus 46 Nationen arbeiten; unter den funktions los gewordenen Fördertürmen der Zeche Carl trafen wir einen Pfarrer, der noch unter Windmühlen am Niederrhein aufgewachsen war und nun hier seit 25 Jahren nach Arbeit für Jugendliche sucht — und kein Ende seiner Arbeit sieht; wir sprachen mit einem Schulleiter, der Hoff nung auf die ‹neue Religiosität› setzte und mit Theaterleiterinnen, die mit ehrenamtlichen Streetworkern Kids von der Straße holen und mit ihnen an einem säkularen, theatralischen ‹Kanon für Städtebewoh ner› arbeiten; wir saßen zwischen nervösen Eltern in der Essener Philharmonie, deren Kinder — Italiener, Russen, Türken, Deutsche — sich im Labyrinth der Hinterbühne blind auskennen. Wir wanderten durch die künstliche Sohle des Bergbaumuseums und durch Duis burg-Marxloh, wo man in einer Straße alles kaufen kann, was man für eine türkische Hochzeit braucht und wo eine Handvoll höchst ak tiver Frauen Geld für die größte Moschee Deutschlands zusammen gesammelt hat. In Duisburg fragten wir uns vor einem halbfertigen Glaskomplex, ob diese Stadt wirklich «das größte Casino Deutsch lands» brauche. Und auf einem Plastiksofa in einem alten Ringlok schuppen, der von fern an griechische Theater erinnert, hörten wir, dass in Mülheim die Architektur genau so gemischt ist wie die Bevöl kerung und dass es deshalb so schwer sei, ein kulturelles Angebot für alle zu machen.
Wir haben auf der Suche nach einem Projekt schätzungsweise mit 200 Menschen gesprochen. Und dabei haben wir uns — das ist wohl nicht verborgen geblieben — in das Ruhrgebiet verliebt, an dem noch im mer so viele alte Urteile haften: in die spröden zusammengewürfelten Städte, denen man all ihre Industrieepochen ansieht, in die grünen Inseln der Südstädte mit ihren neubürgerlichen Joggern und die her untergekommenen Winkel der Nordstädte mit ihren alten Idiomen («ich glaub, mir platzt die Fontanelle...»), die zusammengebastelten Kleingärten und die Kultur der Kioske an jeder zweiten Ecke. Vor allem aber waren wir zutiefst beeindruckt von der Vielfalt der bürger schaftlichen Initiativen, der Stiftungen, der kommunalen Einrich tungen, die, in besseren Zeiten entstanden, mit großem Engagement bewahrt werden. Wir fanden, wonach so oft in diesem jammernden Land gerufen wird: «Exzellenz». Wir begegneten ihr in Schulen mit 80 % Migrantenanteil, in denen alle Kinder exzellentes Deutsch spre chen, in Bibliotheken auf dem modernsten Stand mit freundlichen und hilfreichen Mitarbeitern, bei Intendanten und Orchesterleitern, die der Kunst verpflichtet sind und gleichermaßen dem Gedanken, dass sie ein Privileg geschenkt bekommen haben und eine Pflicht zum ‹Zurückgeben› verspüren.
So stießen wir schließlich in Bochum auf JeKi mit seiner erstaunlich gut funktionierenden Kooperation von Staat und Bürgergesellschaft, von Mäzenatentum und Musikern, ein Modell auch dafür, dass ohne diese Art der Zusammenarbeit keine haltbaren, dauerhaften Neue rungen entstehen. Jedem Kind ein Instrument im ganzen Ruhrgebiet — das kann nicht einer schaffen. Aber mit dem politischen Fokus und den entsprechenden Mitteln, mit engagierten Schulen und Kommu nalpolitikern, mit der Hilfe des Landes und Sponsorgeldern wurde es möglich. Diese Stiftung soll, so steht es in ihrer Satzung, innovative Projekte der Kunst und Kultur fördern und anstiften, möglichst im
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internationalen Kontext. Aber ist es die Aufgabe einer nationalen Kulturstiftung, sich um die musikalische Alphabetisierung einer Re gion zu kümmern? Niemand hat in unserer Vorbereitungszeit ernst haft diese Frage gestellt. Merkwürdig — oder vielleicht auch nicht. Denn alle wissen: dass uns die großen kulturellen Traditionen und die ‹nationalen Schätze›, die kulturellen Leuchttürme, die weit über die Grenzen leuchten — das Theatertreffen, die documenta, die Musik festivals —, dass uns die vielen Institutionen und Orte, an denen das Logo ‹Weltkulturerbe› klebt, nichts nützen, wenn wir nicht zu den Erben gehen, wenn die Strahlen der Leuchttürme nicht in die Vor städte reichen, wenn wir die Schätze nicht immer wieder umschmel zen in unsere Zeit hinein. In der Kultur — so ist es tausendfach ge schrieben und beschworen — wird die gemeinsame Welt, in der wir leben, beredet, erzählt, besungen und überschritten, wird die Frage gestellt, wie wir miteinander leben wollen, über die in der Politik ent schieden wird — im Idealfall auch: miteinander. Dieses Gespräch der Gesellschaft über sich selbst und über ihre Möglichkeiten aber setzt voraus, dass die Sprachen gelernt werden: die der Öffentlichkeit, die der Politik — aber auch die der Künste.
Vielleicht ist das ja die größte und teuerste Innovation, die wir uns leis ten müssen, die Arbeit an den ästhetischen ‹basics›. Mit dem Tanzplan Deutschland (einer Kooperation von Kommunen, Ländern und Bund), mit dem Netzwerk Neue Musik, aber auch mit vielen kleineren Pro jekten gibt die Kulturstiftung Impulse in die Breite. Aber auch nach PISA -Schock, Rütli-Schwur und Rhythm is it! Euphorie ist es noch lange nicht selbstverständlich und getan, dass alle Kinder in Deutsch land in unsere zerklüftete, multidimensionale, nationale und globali sierte Kultur eingeführt, dass sie ästhetisch so gebildet werden, dass sie wissen, was aus ihren iPods und PC s kommt, dass sie analysieren und bewerten können, mit welchen Symbolen sie wozu überredet wer den sollen, dass sie wissen, wie die Töne, die Bilder, die Geschichten zustande kommen, in denen sie leben, dass sie lernen, wie man das machen kann. «Nicht musikalisch zu sein, ist erlernt» — das sagte Zoltan Kodály, der Begründer der großen ungarischen Kindergarten- und Schulmusiktradition. Fürwahr, es muss viel geschehen, da mit Kinder — und Erwachsene — nicht singen, keine Lust haben, ein Instrument zu lernen, lieber in Second Life ihre Phantasien solitär le ben, statt sie mit anderen zu schaffen.
Wir lehren die Nachwachsenden zu schreiben und zu lesen, damit sie ih ren Willen ausdrücken und miteinander reden können, wir lehren sie Mathematik, wir unterrichten sie in Naturwissenschaften, damit sie die Welt begreifen und gestalten können. Niemand fragt da nach einer Begründung, alle rufen nach einer Optimierung, und die Politiker be mühen sich um Vollzug. Aber immer noch mühen sich Musiker, Ma ler und Schriftsteller, Kulturpolitiker und Eltern mit Begründungen für ästhetische Bildung ab. Müssen wir immer wieder — vom 3. Buch der Politeia über Rousseau und die Reformpädagogiken der 1920 er und 1970 er Jahre begründen, was wir wissen: dass Kultur und Kunst Teil des öffentlichen Lebens sind, so unverzichtbar wie Politik, wie Ökonomie und wie Architektur? Müssen Kulturpolitiker immer wie der begründen, was seit biblischen Zeiten bekannt ist? Die erste Stadt, so steht es im Buch Genesis, brauchte vier Berufe: den Städtebauern, den Landmann, den Schmied und den Sänger. Damit sind — wenn wir vom Gebären und Kochen einmal absehen — alle menschlichen Tätigkeitsbereiche genannt, die der einzelne wie eine ganze Gesell schaft beherrschen müssen, um zu überleben und zu leben: Bauen, Landwirtschaft, Industrie — und Kultur: Die Vergewisserung über die Herkunft und die Projektion in die Zukunft, die Kultivierung der Gefühle und die Feier der Gemeinschaft. Alles das muss gelernt und geübt werden. Denn es ist im Laufe unserer Geschichte ebenso ar beitsteilig, so komplex und so schwierig geworden wie Molekularbiologie, Systemtheorie, Unschärferelation und Informatik. Die wissen schaftlichen Revolutionen der Evolutionstheorie, der Astrophysik, der Psychologie mit ihren kontraintuitiven Erkenntnissen sind zur Grundlage unserer Zivilisation geworden. Sie setzen lange Lernpro zesse voraus. Und so auch die Kunst: ihre Befreiung von den Bin dungen des Kultus, die nachlassende normative Kraft der idealisti schen Systeme, Bilder, Klänge, den Weg der ‹autonomen› Kunst in die Spezialisierung und fort vom Massenpublikum; und andererseits die mit den technischen Reproduktionsmöglichkeiten einsetzende Kom merzialisierung der Bilder und Harmonien, die kulturindustriell ver breitete Perfektion — all das zu erkennen und zu verarbeiten erfordert ausgebildete Augen und Ohren. Und verlangt komplexe Lern prozesse. An deren Anfang aber steht die Alphabetisierung. Und De mokratie heißt niemanden von ihr auszuschließen.
Es ist, so heißt es immer, seit PISA einiges in Bewegung gekommen auch in dieser Hinsicht. Aber eben: «seit PISA ». Ich begrüße die BildungsAllianzen, die zurzeit an vielen Orten Deutschlands entstehen, die — etwa unter dem Einfluss des unbestreitbar inspirierenden Films Rhythm is it! — den Tanz in die Lehrpläne der Schulen einschleusen wollen. Und es kann auch nichts schaden, dass uns Gehirnforscher noch einmal mit bunten Scans beweisen, was wir schon lange wuss ten: dass die Ausübung von Musik zu den komplexesten Leistungen unseres Gehirns (und unseres Körpers!) gehört: Ein Musiker liest vom Blatt, transformiert die Notenschrift in Anweisungen an eine
Vielzahl von Organen, Muskeln, Sehnen, muss gleichzeitig auf die Anweisungen des Dirigenten oder des Lead-Gitarristen achten, auf die Mitspieler hören und in Bruchteilen von Sekunden seine Leistung an sie anpassen. Das ist Megamultitasking von Gehirn, Feinmotorik, Wahrnehmung. Musik — so schreibt es Manfred Spitzer in seinem von Musik zur Liebe ebenso wie unerschöpflicher Wissbegier getra genen Buch Musik im Kopf (Schattauer 2005) — ist der einzige Vor gang, bei dem buchstäblich das ganze Gehirn gleichzeitig tätig ist, von der Großhirnrinde bis zum limbischen System, vom Hippocam pus bis zum Stammhirn.
Wer Musik macht, steigert seinen Intelligenzquotienten, seine sozialen Kompetenzen und seine Mathematiknoten — dergestalt tröpfeln sol che Erkenntnisse der Neurophysiologen irgendwann in die Zeitungen. Wer junge Menschen an ihren Körpern packt und zu einem an spruchsvollen Gemeinschaftsprodukt motiviert, der festigt ihren Teamgeist, ihre Leistungsbereitschaft, ihr Selbstbewusstsein. Wer Kinder zum Chorsingen bringt, so die ‹Lehre› aus dem sentimentalen Block Buster Die Kinder des Monsieur Mathieu, der hat einen Integrations hebel für die Resozialisierung schwer erziehbarer Ghettorandalierer. Tanzen im Betrieb ist gut — vielleicht wird auch das noch kommen: BMW und RWE haben ihren Managern Rhythm is it! vorgeführt (Motivation!), Mercedes bereits tausende von Kopien des Sacre du Print emps-Events der Philharmoniker mit ihren Neuköllner Tänzern an ihre Kunden verschickt.
Es ist eine frohe Botschaft, dass eine humanistische Erziehung zur ‹ganzen Person› auch in der computerisierten Wissensgesellschaft die beste Grundlage ist — aber brauchten wir Unternehmensberater und Manager, um das zu lernen? Kinder, die musizieren, sind ausgegli chener, haben bessere soziale Kompetenzen und einen höheren IQ — das ist richtig und wichtig. Aber vor allem ist ihre Sprache wirklich universal. Die älteste Flöte, die Palöontologen fanden, ist so alt wie die ersten Höhlenmalereien und Werkzeuge. Wahrscheinlich ist Mu sik älter als Sprache und deren Grundlage: die körperlichste, bis ins Innere der Zellen dringende Kommunikationsform, am nächsten an den animalischen Lauten der Lust und des Kampfes. Ihr Rhythmus ist verankert in den Bewegungen unseres Leibes und die Grundlage des Zeitempfindens. Musik ist die Tätigkeit, mit der wir, anders als in der bildenden Kunst und tiefer wirkend als Theater und Poesie, uns transzendieren: in die Tiefe unserer Gefühle hinein und in den Zu sammenklang mit anderen. Sie ist die abstrakteste Kunst, die die stärksten Bindungen schafft: durch ihre physikalische Wirkung, durch das Zusammenspielen mit anderen, das Musizieren. Musik macht nicht zu besseren Menschen, sie ist eine Weise, Welt zu empfan gen und uns in die Welt zu setzen, beglückend und ausbeutbar, weswe gen Platon die Fürsten vor ihr warnte und die Musikindustrie eine der stärksten Wirtschaftsbranchen ist. Sie kann erregen und besänftigen, heilen und narkotisieren, sie kann der Katalysator sozialer Emanzi pationen sein («We shall overcome») und Weltbrände begleiten («… bis alles in Scherben fällt»). Auch deshalb sollten wir ihr Alphabet, ihre Semantik und ihre Grammatik so grundlegend lernen wie die der Wörter und der Zahlen.
Ich habe mich weit entfernt von den Schulkindern, die demnächst mit viel zu großen Gitarrenkoffern und Posaunenfutteralen in ihre Schu len gehen werden. Die Mischung der Instrumente, die angeboten wer den — Geige, Cello, Kontrabass, Trompete, Posaune, Querflöte, Kla rinette, Horn, Gitarre, Mandoline, Akkordeon, Blockflöte — lässt alles zu: Kindersymphonieorchester, Streichquartette, Jazzbands, Punkrock-Formationen und Volksmusikensembles. An der Ergän zung durch Musikinstrumente aus anderen Kulturen wie z.B. die türkische Langhalslaute Saz oder die russische Balalaika wird gearbeitet. Aller Erfahrung nach wird Jedem Kind ein Instrument — Ruhr 2010 seine kleinen Stars produzieren, und — nach der Gauß schen Normalverteilungskurve ist das wahrscheinlich — viele KleinKlampfer, die über «Dona dona» oder das «House of the Rising Sun» nie hinauskommen. Es ist wie mit der ‹anderen› Alphabetisierung: Die einen werden lebenslang Gedichte schreiben und die anderen nur SMS , die einen werden Joyce lesen und die anderen BILD oder nicht einmal das. Die musikalische Alphabetisierung wird die einen in die gesteigerte Individualität Beethovenscher Quartette führen, andere in die ewigen Harmonien der Schlagermusik und wieder an dere zu Experimenten mit Klängen anregen, zur Mischung von Tra ditionen und Stilen und zu neuen Klangräumen.
200 000 Schüler werden entdecken können, dass man zusammenspielen kann, und viele werden merken, dass das in Second Life nicht geht. In 1 000 Grundschulen wird der Lehrplan ergänzt um eine Tätigkeit, die nicht an Lernmaschinen zu erwerben ist, sondern nur durch Üben, individuell und miteinander. Um ein Medium, mit dem sich Sechs jährige, die nicht über den gleichen Grundwortschatz verfügen, un mittelbar verständigen können, um eine ‹Kunst›, die man uno actu lernt und ausübt. Um ein Geräusch, das man gerne hört, wenn man an diesen merkwürdigen Gebäuden vorbeigeht, in denen unsere Zu kunft gestaltet wird. Jedem Kind ein Instrument ist das wertvollste Projekt, an dem ich in den vergangenen fünf Jahren mitwirken durfte. Hortensia Völckers ist Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes.
instrument
kulturelles erbe
storische a usstellungen
In ihrer 10. Sitzung am 9. und 10. November 2006 hat sich die Jury der Kulturstiftung des Bundes für die Förderung von 51 Projekten mit einer Gesamtfördersumme von 7, 4 Mio. Euro ausgesprochen. Unter den geförderten Projekten befindet sich eine Reihe von Ausstellungen zu kulturhistorisch bedeutsamen Themen. Wir stellen Ihnen im Folgenden einige vor. Eine Gesamtübersicht finden Sie auf unserer Website www.kulturstiftung bund.de unter dem Menüpunkt Themen /Ergebnisse 10. Jurysitzung.
schätze der liao — chinas vergessene nomadendy nastie Archäologische Ausstellung Künstlerische Leitung: Adele Schlombs Konzeption und Inhalt: Shen Xueman (CHN) I Veranstaltungsorte und -zeitraum: Museum für Ostasiatische Kunst, Köln, 27 1 22 4 07 I Museum Rietberg, Zürich (CH), 13 5 – 15 7 07
Um 1000 n. Chr. brachte das nomadische Reitervolk der Kitan Nord china unter seine Herrschaft. Ihr Territorium erstreckte sich von der Mandschurei über die Mongolei bis in das Gebiet des heutigen Pe king. Sie nannten ihre Dynastie ‹Liao›, die mit ihrer militärischen Schlagkraft die chinesische Song Dynastie in Angst und Schrecken versetzte. Von der chinesischen Geschichtsschreibung als ‹Barbaren Dynastie› abgetan, zeugen die Schätze der Liao jedoch vom überwäl tigenden Glanz dieser Dynastie, in der sich nomadische und chine sische Traditionen zu einer unverwechselbaren Synthese verbinden. Im 10. und 11. Jahrhundert waren die Liao die beherrschende Groß macht Ostasiens und unterhielten Handelsbeziehungen bis an die Ostsee. Zum ersten Mal werden in Europa rund 200 Kunstobjekte gezeigt, die in den letzten Jahrzehnten im Gebiet der Autonomen Re gion Innere Mongolei ausgegraben wurden. Zu den eindrucksvolls ten Exponaten gehören neben der Totenausrüstung der 1018 n.Chr. verstorbenen Prinzessin von Chen und ihres Gemahls Kostbarkeiten aus dem Schatz der Weißen Pagode.
eine freundschaft macht geschichte Ausstellung zum Thema preußisch russischer Beziehungen im 19 . Jahrhundert Kuratorin: Wasilissa Pachomova Göres (RUS/D) I Mitwirkende /Künstler: Burkhardt Gö res, M. Dedinkin (RUS), S. Androsov (RUS), N. Vernova (RUS) I Veranstaltungsorte und zeitraum: Staatliche Eremitage Sankt Petersburg, Oktober 2007 – Januar 2008 I Mar tin Gropius Bau, Berlin, März – Juni 2008 Die Ausstellung knüpft an die in den Jahren 1997 und 2002 gezeigten großen Ausstellungen Moskau-Berlin, Berlin Moskau an. Während es in jenen um die wechselvollen deutsch russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert ging, liegt nun der Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen Preußen und Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahr hunderts. Die engen dynastischen Beziehungen zwischen den Häu sern Hohenzollern und Romanov hinterließen in nahezu allen gesell schaftlichen Bereichen ihre Spuren und begründeten eine Blütezeit des kulturellen Austausches. Herausragende Kunstwerke aus dieser Zeit werden für die Ausstellungen in Berlin und St. Petersburg erst mals von einem Ort zum anderen verbracht und im direkten Vergleich gezeigt. Darunter werden auch Werke sein, die nach ihrer Rückgabe aus der U dSSR noch nie öffentlich gezeigt wurden. Das Ausstellungs projekt hat für beide Seiten aktuelle kulturpolitische Implikationen, zeigt es doch eine historische Perspektive auf, wie der Kulturtransfer politische und gesellschaftliche Beziehungen günstig beeinflussen kann. Die aktuelle Zusammenarbeit zwischen der Eremitage St. Petersburg sowie anderen russischen Kultureinrichtungen und der Stiftung Preu ßische Schlösser und Gärten Berlin Brandenburg soll zur Konsolidie rung der deutsch russischen Kooperationsbeziehungen zwischen deutschen und russischen Museen beitragen.
ursprünge der seidenstraße Kulturhistorische Ausstellung zur Seidenstraße Kuratoren: Christoph Lind, Alfried Wiecorek I Mitwirkende / Künstler: Wang Bo (CHN), Mayke Wagner, Zhang Yuzhong (CHN) I Veranstaltungsorte: Martin Gropius Bau, Berlin I Reiss Engelhorn Museen, Mannheim I Überseemuse um Bremen I Veranstaltungszeitraum: 1 1 07 Juni 2008
Die Ausstellung gibt anhand von etwa 180 außergewöhnlich gut er haltenen Funden aus Gräbern der Wüste Taklamakan im äußersten Westen der Volksrepublik China Zeugnis eines historisch beispiel losen Kulturtransfers von Zentralasien bis in den Mittelmeerraum. Für die Bewohner jener unwegsamen Kontinentalregion war das Zu sammenwirken zwischen den Kulturen des eurasischen Kontinents von erstaunlicher Selbstverständlichkeit. Das Wissen um diese Region und ihre interkulturell geprägte Zivilisation ist hierzulande spär lich, wenngleich die Seidenstraße als einer der großen Handelswege der Welt den meisten ein Begriff ist. Die kulturhistorische Ausstel lung beruht auf der großen Kooperationsbereitschaft chinesischer Archäologen mit den Kollegen der Curt Engelhorn Stiftung und den Reiss Engelhorn Museen in Mannheim. Erste Station der Ausstel lung ist der Martin Gropius Bau in Berlin.
confrontation and dialog: german art of the cold war 1945 1989 Ausstellung Kuratoren: Stephanie Barron (USA), Eckhart Gillen I Künstler: Gerhard Altenbourg, Georg Baselitz, Joseph Beuys, Anna und Bernhard Johannes Blume, Carlfriedrich Claus, Lutz Dammbeck, Hanne Darbo ven, Felix Droese, Hartwig, Ebersbach, Hans Haacke, Bernhard Heisig, Peter Herrmann, Werner Heldt, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer, Martin Kippenberger, Astrid Klein, Gustav Kluge, Mark Lammert, Wolfgang Mattheuer, Harald Metzkes, Marcel Odenbach, A. R Penck, Sigmar Polke, Nuria Quevedo, Raffael Reinsberg, Gerhard Richter, Katha rina Sieverding, Rosemarie Trockel, Werner Tübke, Günther Uecker, Wolf Vostell u.a. I Veranstaltungsorte und -zeitraum: Los Angeles County Museum of Art (USA), 11 1 5 4 09 I Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Mai Juli 2009 I Neue Nationalgalerie Ber lin, September Dezember 2009
Die Ausstellung umfasst ca. 180 kunstgeschichtlich herausragende Werke der Malerei, Skulptur, Grafik, Fotografie und Installations kunst, die zwischen 1945 und dem Ende der deutschen Teilung 1989 in der Bundesrepublik und der DDR entstanden sind. Sie handelt von der Auseinandersetzung um konkurrierende Menschenbilder und ideologische Konzepte in Konfrontation und Dialog der unter schiedlichen politischen Systeme in Deutschland. Gemeinsam kura tiert von der amerikanischen Chefkuratorin des Los Angeles County Museums of Art, Stephanie Barron, und dem deutschen Ausstel lungsmacher Eckhart Gillen, ist es die erste Ausstellung in den USA , die die deutsche Kunstgeschichte zu Zeiten der deutschen Teilung in ihrem gesamtdeutschen Zusammenhang präsentiert. Sie hat in Los Angeles ihre erste Station zu Beginn des Jahres 2009, wenn sich der Fall der Mauer zum zwanzigsten Mal jährt. In der 2. Hälfte des Ge denkjahres wird sie im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und schließlich in der Berliner Nationalgalerie zu sehen sein.
die tropen — ansichten von der mitte der weltkugel. oder: das paradies gleich um die ecke. Ausstellung und Begleitveranstaltungen Kurator/innen: Alfons Hug, Viola König, Peter Junge, Anette Hulek I Künstler/innen: Rachel Berwick, Mark Dion, Candida Höfer, Beatriz Milhazes, Julian Rosefeldt, Thomas Struth, Pascale Marthine Tayou, Guy Tillim u.a. I Kooperationspartner: Goethe Institut, Haus der Kulturen der Welt, Centro Cultural Banco do Brasil (BR) I Veranstaltungsort und -zeitraum: Martin Gropius Bau, Berlin, April Juni 2008
Die Objekte aus den ethnologischen Sammlungen gewähren einen Blick auf die Tropen, wie sie sich verstanden, bevor sie sozialgeogra phisch der sog. ‹Dritten Welt› zugerechnet wurden. Der Begriff ‹Tro pen› weckt beim Betrachter aus westlichen Kulturkreisen Bilder von üppiger Exotik, die uns nicht zuletzt durch traditionelle Kunst aus den Zonen entlang des Äquators überliefert sind. Die Wahrnehmung ihrer ästhetischen Qualität geriet gegenüber der Würdigung ihres hohen spirituellen Gehaltes und ihrer starken Emotionalität ins Hin tertreffen. In jüngster Zeit ist eine Hinwendung der zeitgenössischen Kunst zu den Tropen zu entdecken, die das mythisch aufgeladene Sujet der Tropen zum Spiegel unserer westlich geprägten Wahrneh mungsmuster macht. Die Ausstellung stellt 25 Positionen zeitgenös sischer Künstler/innen ausgewählten Werken aus den Sammlungen des Ethnologischen Museums gegenüber, um so die künstlerische Komplexität und den ästhetischen Überschuss der Tropen aufzuzei gen und neue Ansätze im kulturellen Nord-Süd-Dialog zu ermöglichen.
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Der Zustand vieler Objekte in den Sammlungen der Museen ist alarmierend. Zumeist können die vom Zerfall bedrohten Kulturgüter den Museumsbesuchern nicht mehr gezeigt werden. Die Kulturstiftung des Bundes hat in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung der Länder ein Programm zur Sicherung und Restaurierung von mobilem Kulturgut aufgelegt. Damit sollen in den nächsten fünf Jahren modellhafte Projekte zur Erhaltung von Objekten gefördert werden. Ein wesentliches Ziel dieses Programms ist es, dieÖffentlichkeit auf die dramatische Lage aufmerksam zu machen und anhand ausgewählter Beispiele neue Lösungen für die Rettung des kulturellen Erbes vorzustellen. Zu den Problemfällen gehören nicht nur jahrhundertealte Werke, sondern auch Objekte der Gegenwartskunst, wie der Kunsthistoriker Armin Zweite im Folgenden eindrucksvoll belegt.
or einigen Wochen wechselte ein 1991 entstandenes Werk von Damien Hirst, der Leitfigur von YBA (Young British Art), für einen exorbi tanten Preis von über 20 Millionen Dollar den Besitzer. The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living besteht aus einem großen Glascontainer, in dem sich das Präparat eines Tigerhais in einer Formaldehyd Lösung befindet. Der neue Besitzer stellte frei lich unzureichende Konservierungsmaßnahmen fest. Deutliche Auf lösungserscheinungen des Kadavers zwingen Hirst nun, einen weiteren Tigerhai zu fangen und ein Remake herstellen zu lassen.
Nicht einmal zwanzig Jahre hatte das Original unversehrt überstanden. Wenn auch als spektakulärer Einzelfall einzuschätzen, ist das angedeutete Phänomen symptomatisch für das, was sich auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kunst abzeichnet — eine Fülle konservatorischer und restauratorischer Probleme, deren ganze Tragweite die öffentlichen Sammlungen erst seit etwa zehn Jahren im Hinblick auf ei nen internationalen Erfahrungsaustausch zu analysieren beginnen. Die prekäre Lage hat eine ihrer Ursachen offensichtlich darin, dass heute alles gleichzeitig möglich zu sein scheint, und das betrifft nicht nur Darstellungsformen, Motive und Stile, sondern eben auch die Verwendung heterogener Materialien und die Anwendung ganz un terschiedlicher, oft experimenteller Techniken.
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass neben der Malerei viele andere Gattungen die derzeitige Situation bestimmen. Plastik und Fotogra fie begegnen uns in Sammlungen aktueller Kunst ebenso wie Video arbeiten, konzeptuelle Werke, Environments, Readymades, Installationen, kinetische Objekte usw. Das alles wird unter dem Etikett ‹Kunst› propagiert, vermarktet und gesammelt, und zwar durchaus mit der Maßgabe, die Jetztzeit zu überdauern und nach Möglichkeit auch in Zukunft Geltung zu beanspruchen und ästhetisch gewürdigt zu werden.
Einer immer weiter reichenden Ausweitung des Kunstbegriffs scheint nach Duchamp, Warhol und Beuys buchstäblich keine Grenze gesetzt, wobei ein hoher Prozentsatz dessen, was heute hervorgebracht wird, ins Museum drängt bzw. dort seinen häufig endgültigen Standort fin det. Nun gehört es seit jeher zu den besonderen Pflichten öffentlicher Sammlungen, die Werke zu bewahren, zu pflegen, zu erforschen und zu vermitteln. Darüber wäre kein Wort zu verlieren, wenn nicht mit immer größerer zeitlicher Nähe die Probleme unproportional rasch anzuwachsen scheinen. Wie das eingangs zitierte Beispiel der Arbeit von Damien Hirst anschaulich macht, sehen wir uns heute mit einer qualitativ anderen Situation konfrontiert als noch vor zwei oder drei Generationen, als man in der Regel davon ausgehen konnte, dass ein vollendetes Werk nicht alsbald zum Pflegefall werden würde.
Die Gründe für diesen problematischen Wandel sind vielfältig. So regis trieren wir in jüngster Zeit immer häufiger Arbeitsverfahren, die be wusst herkömmliche Praktiken unterlaufen und sie manchmal sogar ad absurdum führen. Ständig werden neue Ausdrucks und Gestal tungsmöglichkeiten sowie ungewöhnliche Materialien erprobt, um etwas nie Gesehenes hervorzubringen. Wie auch immer die inhärente Botschaft eines Werks ausfällt, sie muss möglichst eindringlich, origi nell und unverwechselbar übermittelt werden, damit sie überhaupt in dem babylonischen Sprachengewirr des überhitzten aktuellen Kunst geschehens wahrgenommen werden kann.
Nennen wir einige Beispiele. Anselm Kiefer verwendet für seine häufig wandfüllenden Werke die unterschiedlichsten Stoffe, darunter Asche, Blei, Sonnenblumen, keramische Elemente, Draht, Fotos, Haare, Glas, getrocknete Blätter und Ähnliches. Handhabung und Installation derartiger Werke sind wegen ihrer Größe, der komplexen Oberflä chen, ihrer großen Empfindlichkeit und nicht zuletzt wegen des Ge wichts von etlichen Hundert Kilo bereits derart problematisch, dass man sich beispielsweise im Guggenheim Museum Bilbao nach der
Präsentation neu erworbener Werke entschloss, sie nicht ins Depot zu bringen, was bereits als viel zu riskant angesehen wurde. Man beließ sie an Ort und Stelle. Hinter einer eigens vorgeblendeten Wand schuf man eine spezifische Depotsituation für diese unbeweglichen Unge tüme, was allerdings mit einer deutlichen Verminderung der eigent lichen Ausstellungsfläche erkauft wurde. Kiefers Œuvre mag einen Grenzfall darstellen, aber ein ausufernder Materialfetischismus mit unabsehbaren Risiken hinsichtlich seiner Konservierbarkeit erscheint geradezu ubiquitär.
Materialfetischismus? Nein, darum geht es zumeist nicht, weder bei Kiefer noch bei vielen anderen, denn es ist nicht zu bestreiten, dass die Kenntnis der Absichten eines Künstlers, warum er welches Material wie benutzt, häufig entscheidend ist, um überhaupt zu verstehen, wor um es bei solchen Konglomeraten aus verschiedenen Stoffen geht. An sich bedeutungslosem Zeug wird Bedeutung zugeschrieben und es bestimmt damit die Botschaft des Werkes maßgeblich. Man denke nur an die Arbeiten von Beuys (Fett, Filz, Honig, Speck, Blumen, Zeitungen), Dieter Roth (Schokolade, Gewürze, Käse, Wurst, Schim mel), Wolfgang Laib (Reis, Bienenwachs und Pollen), Kounellis (Kohle, Käfer, Ruß, Kaffee, Jute), Mario Merz (Obst, Reisig, Zeitungen). Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Es ist häufig der Schaueffekt vieler dieser Arbeiten, der über eine ephemere Geltung kaum hinaus reicht (und oft auch gar nicht hinausreichen soll) und der nach Wo chen oder Monaten, manchmal auch erst nach Jahren verblasst und im Schwinden umso nachdrücklicher die problematische Kondition derartiger Arbeiten kenntlich macht. So sollen sie auf einmal zeitliche Dauer beanspruchen, obwohl das bei ihrer Konzeption und Realisie rung zumeist gar nicht intendiert war.
Bei kinetischen Werken, die nur dann als Kunstwerke zu würdigen sind, wenn sie sich bewegen, klappern und klimpern, liegen die Gefahren im Versagen der Antriebsaggregate, im Verschleiß obsoleter Stoffe, dem Ausleiern der Lager, dem Bruch von Verbindungen verschie dener Stoffe durch Vibration, in der Vergänglichkeit der eingebauten objets trouvés usw. Über kurz oder lang werden Reparaturen erforder lich und Dinge müssen ersetzt werden. Wieweit dürfen jedoch präven tive Maßnahmen gehen und welche restauratorischen Maßnahmen sind überhaupt gerechtfertigt, ohne den Charakter des Werks zu ver ändern und seine Integrität und Authentizität zu gefährden?
Solche Fragen betreffen auch jene Arbeiten, die sich in einem bestimmten zeitlichen Rahmen vollenden, das heißt Dia Film oder Video projektionen. Hier gilt es unter anderem zu entscheiden, inwieweit die Authentizität des Werks von den entsprechenden Vorführgeräten und ihrer spezifischen Anordnung im Raum abhängt. Aber welchen Sinn macht es, die Identität einer Arbeit an Dinge zu binden, die sich auf Dauer nicht erhalten lassen? Ist die entsprechende Hardware nur technisch relevant oder spielen konzeptuelle, ästhetische und historische Aspekte eine entscheidende Rolle?
Begnügen wir uns an dieser Stelle damit, auf die anderen Gattungen bzw. Medien nur kursorisch hinzuweisen. In der Fotografie stellen sich seit etwa 20 Jahren mit den etliche Quadratmeter großen Farb aufnahmen kaum absehbare Konservierungsfragen, wenngleich ein zelne Hersteller eine Farbechtheitsgarantie von 100 Jahren annoncie ren. Darüber hinaus evoziert die irreversible Verbindung des Fotos mit Acryl und das inzwischen weit verbreitete Diasec Verfahren Skep sis. Und wie sieht es etwa mit den großen Leuchtkästen aus, wie sie Jeff Wall und etliche andere Künstler/innen hervorbringen. Das Ver blassen der entsprechenden Dias ist bei der Stärke der Leuchtmittel unvermeidlich und ob das digitale Datenmaterial auf Dauer ausreicht, um entsprechende, identisch aussehende Neuanfertigungen zu gewährleisten, muss zumindest hinterfragt werden. Eine der mög
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lichen Folgen dieser Technik liegt offenbar darin, dass der Originali tätsbegriff angesichts der Tatsache obsolet zu werden beginnt, dass in Ausstellungen bereits häufig außerhalb der Auflage hergestellte Ausstellungskopien gezeigt werden — eine Praxis, die offenbar auch für frühe Neonarbeiten von Bruce Nauman schon seit längerem gilt.
Aber es gibt selbstverständlich auch Fortschritte zu verzeichnen. So hat erst kürzlich ein auf Anregung von Wulf Herzogenrath gestartetes Projekt der Bundeskulturstiftung im Hinblick auf Konservierung und Restaurierung früher Videoarbeiten nicht nur wichtige Erkennt nisse gezeitigt, sondern auch ermöglicht, zumindest eine Auswahl herausragender Arbeiten dieses Genres aus den 60 er und 70 er Jahren so aufzubereiten und zu digitalisieren, dass sie vor dem absehbaren endgültigen Verfall bewahrt werden konnten und nun wieder zugäng lich sind (40jahrevideokunst.de — Teil 1, hg. v. Rudolf Frieling und Wulf Herzogenrath, Ostfildern 2006).
Halten wir jedoch insgesamt fest, dass die Karenzzeit für präventive Maßnahmen der Bestandssicherung in extremen Fällen manchmal gegen Null zu tendieren scheint, will heißen, dass gleichsam mit dem Abschluss eines Werkes nicht nur die konservatorischen, sondern manchmal sogar schon restauratorische Maßnahmen einzusetzen haben. Ob von den Künstlern intendiert, mag dahingestellt bleiben. Diejenigen jedoch, die solche Arbeiten zeigen, vertreiben und bewah ren, handeln sich über kurz oder lang Probleme ein.
Die hier nur knapp skizzierten Schwierigkeiten potenzieren sich indes sen bei Installationen. In dieser Gattung vermischen sich nämlich die den verwendeten Materialien und Stoffen inhärenten Probleme mit denen, die aus dem offenen und potentiell variablen Charakter sol cher vielteiligen Arbeiten resultieren. Häufig erst aus Anlass einer Ausstellung realisiert, beginnen die Komplikationen spätestens mit der notwendigen Verlagerung derartiger Werke in andere Räumlich keiten, zumal dann, wenn der Künstler nicht in der Lage ist, die not wendige Umsetzung selbst vorzunehmen. In einem solchen Fall gibt es neben konservatorischen, ästhetischen, historischen und pragma tischen Problemen auch solche rechtlicher Natur (droit d’auteur und droit moral), die sich mit der Neuinszenierung komplexer Environ ments verknüpfen. Die kontroverse Diskussion, wie mit dem Darm städter Block von Beuys angesichts der bevorstehenden Sanierung und Renovierung des Museums zu verfahren ist, führt ins Zentrum der Auseinandersetzung. Wie definiert sich in diesem Fall die Rolle und Verantwortlichkeit des Museums? Auf welche gesicherten Para meter kann es gegebenenfalls zurückgreifen?
Ist nicht bei einer neuen Konfiguration des Ambientes die Identität des Werks gefährdet oder sogar grundsätzlich in Frage gestellt? Kommt die Neuinszenierung eventuell seiner partiellen oder gänzlichen Zer störung gleich? Oder haben wir es möglicherweise mit alternativen Versionen und Erscheinungsweisen eines Werks zu tun, dessen Bedeu tung sich trotz augenscheinlicher Veränderungen des anschaulichen Charakters im Kern nicht wandelt? Ist das vom Kurator und Restau rator eingerichtete Werk noch als authentisch anzusehen oder verla gert sich der Werkbegriff aus dem physischen Befund in das Konzept?
Auf jeden Fall scheint es notwendig, die Künstler möglichst zeitnah nach ihren Absichten zu befragen, nach verwendeten Materialien, Arbeitstechniken, intendierter Botschaft bzw. Bedeutung usw. Max Doerner und Ralph Meyer haben das zu ihrer Zeit getan, in neuerer Zeit sind ihnen Heinz Althöfer, Erich Gantzert Castrillo, Carol Mancusi Ungaro und andere gefolgt und konnten damit wertvolle Vorarbeiten leisten, erhellende Befunde zusammentragen und Grund lagen sichern. Alle diese Ansätze und profunden Resultate blieben indessen an Institutionen und Personen gebunden und konnten oft nur mit großer zeitlicher Verzögerung und dann häufig nur in be
grenztem Umfang veröffentlicht werden. Erst relativ spät hat ein in ternationaler Erfahrungs und Datenaustausch eingesetzt, der es län gerfristig erlauben dürfte, für anstehende Maßnahmen und Entschei dungen eine verlässlichere Basis zu finden als das bisher der Fall war. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang vor allem darauf, dass das Netherlands Institute for Cultural Heritage 1997 in Amsterdam ein richtungweisendes Symposium veranstaltete, dessen Resultate seit 1999 auch als Buch vorliegen. (Modern Art: Who Cares? An interdisciplinary research project and an international symposium on the con servation of modern and contemporary art, ed. Ijsbrand Hummelen & Dionne Sillé. The Foundation for the Conservation of Modern Art and the Netherlands Institute for Cultural Heritage, Amsterdam 1999)
1999 wurde dann mit dem International Network for Conservation of Contemporary Art ( INCCA) eine Plattform geschaffen, wo die hier nur umrissenen Probleme in internationalem Rahmen erörtert wer den können (www.incca.org). Zu den institutionellen Gründungsmit gliedern gehörten das bereits erwähnte Netherlands Institute for Cul tural Heritage, die Tate Gallery, das Restaurierungszentrum der Lan deshauptstadt Düsseldorf sowie eine Reihe von Museen in Spanien, Italien, Österreich, Belgien, Dänemark, Polen und den USA . Mit glieder des Network gewähren einander Zugang zu unpublizierten Materialien. Bislang sind Daten von über 180 Künstlern erfasst wor den. Nach dem erwähnten Symposium in Amsterdam hat es inzwi schen eine Reihe weiterer Konferenzen gegeben, allerdings scheint es im Moment eher noch so, dass ständig neu auftauchende Fragen und Probleme sich umgekehrt proportional zu den Lösungsansätzen ver halten.
Die elektronischen Medien und vor allem das Internet erlauben jetzt zumindest den raschen Informationsaustausch, der überhaupt die Voraussetzung schafft, sinnvolle Maßnahmen gegen den Verfall zeit genössischer Kunst auf internationaler Basis zu erörtern und entsprechende Strategien für Prävention, Konservierung und gegebe nenfalls Restaurierung, Revision oder sogar Neuinszenierung zu er greifen.Vor allem jedoch wird es möglich, das Bewusstsein für ein Konglomerat von Problemen zu schärfen, die man nicht generell der Vergänglichkeit von Materialien oder der Unachtsamkeit bzw. technischen Inkompetenz der Künstler/innen zuzuschreiben hat, sondern die auch zu einem Teil jedenfalls der zeitgenössischen Kunst inhärent sind, ihre ästhetische Erscheinung und ihren Charakter prägen, ja gewissermaßen zu ihrem Wesen gehören. Mit einem Wort: Fragilität und offene Struktur aktueller ästhetischer Produktion unterlau fen das Ewigkeitspostulat, das das idealistische Konzept von Kunst propagiert hatte. Angesichts einer Befindlichkeit, in der Endzeitszenarien in manchen Bereichen wie Ökologie und Ökonomie heute eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen, kann das nicht wirklich überra schen. So spiegeln der vertrackte materielle Befund und die kompli zierte konzeptuelle Struktur aktueller Kunstproduktion möglicher weise eine den Werken eingeschriebene Polarität wider: einerseits das Bemühen um Aufklärung und andererseits das Abdriften in spiritistischen Synkretismus, einerseits die Evokation von Emanzipations horizonten und andererseits die Regression in Mythisches und Mys tisches. Ob angesichts dieser zwiespältigen Situation der Beruf des Konservators das letzte aristokratische Metier darstellt, das in der Moderne überlebt (so Jean Clair), kann man eigentlich nur als müßige Frage ansehen.
Prof. Dr. Armin Zweite ist seit 1990 Direktor der Kunstsammlung NRW (K20), die er 2002 um das K21 (Kunst des 21. Jahrhunderts) erweiterte. Er war mehrmals Kom missar für die Biennale in São Paulo. Armin Zweite ist Kuratoriumsmitglied für das Programm zur Sicherung und Restaurierung von mobilem Kulturgut.
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momentweise betaubt. uber das betteln
von wilhelm genazino
der Regionalzug stand im Hauptbahnhof und wartete auf seine Abfahrt. Es war Frühabend, noch immer hasteten Arbeiter und Angestellte in den Zug. Sie hatten müde Gesichter und suchten nach einem stillen Winkel. Das war nicht ganz einfach, weil der Zug schon fast überfüllt war. Die Leute hatten einen viel zu langen Arbeitstag hinter sich und zeigten ihre Erschöpfung. Viele von ihnen fingen an zu essen und zu trinken. Sie holten kleine Pizzastücke, Brezel und belegte Brote aus ihren Taschen. Vermutlich hatten die Menschen keinen richtigen Hunger, aber das Essen und Trinken tröstete sie, dass sie nach dem langen Tag jetzt auch noch in einem stinkigen Zug sitzen und wertvolle Zeit für die Heimfahrt hinopfern mussten. Endlich ruckelte der Zug los. Die meisten Heimkehrer schauten aus dem Fenster, obwohl es außer Baukränen, verkommenen Stellwärterhäuschen und grau gewordenen Gleissträuchern kaum etwas zu sehen gab.
In dieser Situation öffnete sich die Schiebetür und ein Bettler trat ein. Es war ein Mann Mitte vierzig und er machte einen nicht einmal sehr heruntergekommenen Eindruck. Sein finsteres Gesicht allerdings zeigte die lange Konfrontation mit dem Mangel und der Scham. Es war mager, grau, bitter, durchfurcht von Falten. Ernst und starr hielt er seinen Pappbecher jedem Fahrgast vor die Brust. Ich wunderte mich nicht, dass der Mann erfolglos blieb. Kein einziger Reisender fuschelte in seiner Hosentasche nach einer Münze. Am abwesendsten waren die Frauen. Sie wendeten ihre Gesichter ab und sahen noch eine Spur beleidigter auf die öden Bilder draußen. Als Erklärung drängte sich auf: Der Bettler hat die Leute zum falschen Zeitpunkt erwischt. Er stellte sich nicht vor, dass sie einen Arbeitstag vergessen wollten und dass die Heimfahrt für sie vielleicht die ersten ruhigen Minuten des Tages brachte. Ausgerechnet dieser kümmerliche Rück zug wird von einem Bettler und seinem aufdringlichen Gehabe ge stört.
Seine verächtliche Miene zeigte deutlich, dass er die Angebettelten für schuldig hielt. Sie hatten einen Arbeitsplatz, er hatte einen Pappbe cher. Sie durften müde sein, er war nur gereizt. Der gewöhnliche Bett ler glaubt, dass die anderen an seinem Schicksal heimlich mitgewirkt haben. Weil er nicht herausfinden kann, was die anderen haben und was er nicht hat, wirkt sein Habitus besonders unangemessen. In ih rem Ressentiment wollen viele Bettler nicht wahrhaben, dass auch die Angebettelten knapp bei Kasse sind. Die Angebettelten haben teure Kinder, sie müssen überhöhte Mieten zahlen, die Ratenzahlungen drücken, der nächste Urlaub ist schon mal gestrichen; da bleibt für Bettler nicht viel übrig. Die Erfolglosigkeit macht viele Bettler an griffslustig; wenn sie nichts oder zu wenig kriegen, werden sie pampig. Die Folge ist, dass sie ihrerseits geschmäht werden. Viele Bettler kla gen darüber, dass sie beschimpft werden, auch von Menschen, die sie gar nicht angebettelt haben.
Der Affekt gegen Bettler geht, fürchte ich, in seinen Wurzeln noch heute auf die Art und Weise zurück, wie die Nationalsozialisten das Bettlerproblem ‹gelöst› haben. Am 23. Februar 1937 ordnete SS Chef Himmler an, dass Personen, deren «asoziales Verhalten die Allge meinheit gefährdet», in Schutzhaft zu nehmen sind. Betroffen waren damals hauptsächlich kleine Ladendiebe, Landstreicher, Zigeuner, Hausierer, Arbeitsscheue, Prostituierte, Raufbolde, Querulanten,‹Müßiggänger› — und eben auch Bettler. Schon ein knappes Jahr später, am 16. Januar 1938, verschärfte Himmler seinen Erlass dahingehend, als der genannte Personenkreis im Rahmen von «überraschenden Zugriffen» von der Straße weg verhaftet und sofort ins Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert werden musste. Bemerkenswert erscheint, dass Himmlers Erlasse zwar einerseits die ‹öffentliche Ord nung› sichern helfen sollten, dass sie andererseits unverhüllt dazu dienten, dem System fehlende Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Es gab in den dreißiger Jahren einen eklatanten Landarbeitermangel, den Göring mit Hilfe eines Vierjahresplanes beseitigen wollte.
In einem Vortrag des SS Oberführers Greifelt, der seinerzeit Chef der ‹Dienststelle Vierjahresplan› im ‹Persönlichen Stab des Reichsführers SS› war, heißt es: «Bei der angespannten Lage am Arbeitsmarkt war es ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin, alle Personen, die sich dem Arbeitsleben der Nation nicht einpassen wollten und als Arbeits scheue und Asoziale dahinvegetierten und Großstädte und Landstra ßen unsicher machten, auf dem Zwangswege zu erfassen und zur Ar beit anzuhalten». Unangenehm berührt uns noch heute die NS Pra xis, dass mit Verhaftung rechnen musste, wer trotz ärztlich bescheinigter «Einsatzfähigkeit…in zwei Fällen…die angebotenen Arbeits plätze ohne berechtigten Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar auf genommen, aber nach kurzer Zeit ohne stichhaltige Gründe wieder aufgegeben» hatte.
Der heutige Gesetzgeber droht zwar nicht mit Verhaftung und Arbeits lager beziehungsweise KZ , sondern ‹nur› mit Reduzierung oder Ent zug der finanziellen Unterstützung. Zurückgeblieben ist von der NS Praxis eine gewisse, in der Regel verheimlichte Sympathie für die Härte des staatlichen Durchgriffs. Das heißt, verheimlicht wird diese
Sympathie durchaus nicht immer. Es gibt Zeitgenossen, die Bettler darauf hinweisen, dass sie bei den Nazis längst in einem Arbeitslager wären. Die in Düsseldorf erscheinende Obdachlosen Zeitung ‹Fifty fifty› zitiert einen Streetworker mit den Worten, dass es demzufolge «die Grundidee von Obdachlosenzeitschriften» sei, «dass Menschen nicht betteln müssen, und so ihre Würde wieder erhalten». Das heißt, das beschämende Faktum soll nicht schon die Armut und nicht die Obdachlosigkeit sein, sondern erst das daraus hervorgehende Betteln. Nicht das Elend macht würdelos, meinen die Ethiker des Mangels, sondern erst der Schritt in die Elends Selbstdarstellung. Folgerichtig betont die Zeitschrift ‹Fiftyfifty› denn auch: «Bitte kaufen Sie nur bei VerkäuferInnen mit Ausweis, die nicht betteln». Steckt in diesem Vorbehalt nicht immer noch, zumindest anteilig, ein Zipfel der Verun glimpfung der Nazis?
Unter jugendlichen Bettlern hat sich ein besonders auffälliger Ausweg aus der Selbstdarstellung herausgebildet. Sie umgehen das Problem des isolierten Auftritts, indem sie sich zu Bettlergruppen zusammen schließen. Sie liegen und sitzen zu sechst oder siebt in den Eingängen der U Bahnhöfe, neben sich halbvolle Bierflaschen, Hunde, Schlafsä cke und Schaumstoffunterlagen. Sie gröhlen herum, erzählen Witze, lachen laut, auch über Leute mit zu bravem Outfit, von denen sie sich doch Hilfe erhoffen. Sie geben sich Mühe, eine künstliche Lustigkeit hervorzubringen. Das Herausklackern von Münzgeld im Geldrück gabeschlitz der Fahrkarten Automaten ist ihr Signal. Einer der Ju gendlichen steht auf und geht zum Automaten. Er hofft, der Passant werde das Kleingeld, das der Automat zurückgibt, in der Rückgabe mulde zurücklassen. Nimmt der Fahrgast das Geld an sich, hakt der Jugendliche nach: Sorry, kann ich bei dir ein bisschen Geld schnor ren? Das soll cool oder lustig klingen, kommt aber nicht gut an. Der ‹normale› Angebettelte sieht in diesem Betteln eine Verletzung der Form, er fühlt sich habituell vereinnahmt. Man sollte, denkt er, aus dem Betteln doch bitte keine schräge Nummer machen.
Warum gehen wir so schnell auf Distanz zu Hilfsbedürftigen? Wegen mangelnder Demut vor der eigenen Niederlage gehen auch die meis ten tätowierten und gepiercten Bettler leer aus. Mit derartig Entstell ten will der an sich spendierfreudige Bürger nichts zu tun haben. Die selbstentstellten Bettler werden nachträglich für ihre Formfehler be straft. Am härtesten sind verwahrloste, ungepflegte, betrunkene oder verwirrte Bettler betroffen. In den Augen der Wohlmeinenden haben sie noch nicht einmal verstanden, wie ernsthaft der Beruf ist, den sie ausüben, und wie viel Disziplin er fordert. In der Erwartung des Spen ders hat auch das Betteln ein Ethos. Wird dieses Ethos sichtbar ver letzt, muss der Bettler mit Aggressivität rechnen. Er hört dann die üblichen Belehrungen: Suchen Sie sich eine anständige Arbeit! Schma rotzer kriegen von mir nichts! Putzen Sie sich erstmal die Zähne! Kaum jemand möchte wahr haben, dass Bettler einen ähnlich kom plizierten Sozialhintergrund haben wie die meisten Nichtbettler.
Ein nicht sehr vertrauenswürdig aussehender Bettler hat mir auf die Frage nach seinen Verhältnissen geantwortet: Ich bin zu neunzig Pro zent behindert, ich habe offene Beine und zwei Bypässe, ich kriege 103,30 Euro Rente, ich würde gerne arbeiten, aber ich darf nicht. Der Mann trägt Tag für Tag dieselbe angeschmuddelte Trainingshose, dasselbe olivgrüne, ebenfalls angeschmuddelte T Shirt, dieselben ausgefransten Turnschuhe und dieselben ehemals hellgrauen, jetzt dunkelgrauen Bundeswehr Strümpfe. Wer ihm etwas Geld gibt, muss augenblicksweise seine Nähe ertragen, die nicht gut riecht.
Ist es möglich, dass ihn nicht nur sein sozialer Niedergang benachteiligt, sondern auch seine Erscheinung, was dem unkomplex denken den Mann nicht bewusst ist? Man wird die Frage bejahen, wenn man die Vorgehensweise eines anderen Bettlers beobachtet, der gar nicht weit entfernt in einer gut beleumundeten Fußgänger Passage arbeitet. Hier gibt es teure Geschäfte und das dazu passende Publikum. Auch der Bettler passt in die bessere Umgebung. Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Bettler. Er wohnt in einer etwa siebzig Kilometer weit entfernten Kleinstadt, und er kommt nur samstags in die Großstadt, weil er von Montag bis Freitag ‹normal› arbeitet, wenn auch viel zu schlecht bezahlt: eben das ist sein Problem. Er ähnelt den jungen Angestellten, die hier mit ihren Familien umhergehen, ihren Kindern ein Eis ausgeben oder einen Capuccino trinken. Man schaut den gut gekleideten Bettler ein bisschen verwundert an und mag nicht glau ben, dass er ‹das› nötig hat. Er geht ein hohes Risiko ein. Wenn ihn Leute aus seiner Heimatgemeinde zufällig in der fremden Großstadt betteln sehen, ist es um seinen Ruf geschehen. Er ist auch in anderer Hinsicht ungewöhnlich. Normalerweise sind Bettler nicht gesprächig. Sie erleben ihr Schicksal als schweren Schock und verhalten sich ent sprechend schamhaft, geduckt und verschlossen.
Aber der aus der Provinz angereiste Samstagsbettler gibt auf Fragen bereitwillig Auskunft. Er hat nur eine Halbtagsstelle; mit seiner Frau, die ihr zweites Kind erwartet, bewohnt er eine kleine Zwei Zimmer
12 arbeit
schicht! arbeitsreportagen fur die endzeit
Im Rahmen des Programms Arbeit in Zukunft wurden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, Expeditionen in die Arbeitswelten der Gegenwart zu unternehmen und über sie zu berichten. Wilhelm Genazino und Kathrin Röggla [ vgl Seite 1 4 ] erzählen auf sehr unterschiedliche Weise über ihre Begegnungen mit Menschen, die auf die eine oder andere Art zu Konkursverwaltern der untergehenden Arbeitsgesellschaft ge worden sind. Wir danken den Autoren für die Erlaubnis zur Erstveröffentlichung. Im August 2007 erscheint im Suhrkamp Verlag der Band Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit, der die Beiträge von Bernd Cailloux, Dietmar Dath, Felix Ensslin, Wilhelm Genazino, Peter Glaser, Gabriele Goettle, Thomas Kapielski, Georg Klein, Harriet Köhler, André Kubiczek, Thomas Raab, Kathrin Röggla, Oliver Maria Schmitt, Jörg Schröder und Barbara Kalender, Josef Winkler, Feridun Zaimoglu und Juli Zeh versammelt. [ ca 300 Seiten, Frankfurt 2007 , ISBN-N r. 978-3-518 1 2508-3 ]
Sozialwohnung. Mit den gewöhnlichen Bettlern will er nicht in einen Topf geworfen werden. Er sieht sich nicht einmal als Bettler, sondern als einen Notleidenden, der in einer prekären Situation zum äußers ten Mittel greift, um das Familieneinkommen aufzubessern. Er er klärt: Mit seinen zusätzlichen ‹Einnahmen› wird er seine Monatskar te für die S Bahn bezahlen, ohne die er nicht zur Arbeitsstelle kommt. Die Hauptbelastung ist für ihn nicht das Betteln selbst, sondern das hohe Maß der Vergeblichkeit. Oder, anders gesagt: Die Hauptarbeit ist eine psychische: Nicht die Selbstpreisgabe, sondern der Leerlauf ist mit seiner Psyche schwer vereinbar. Der Provinzbettler sagt: Das Betteln ist eine vorübergehend notwendige Selbstbetäubung. Sie ge lingt ihm, weil er hundertprozentig davon überzeugt ist, dass er sich lediglich in einer zeitlich begrenzten Notphase befindet. Seine Frau, erzählt er, hat erheblich weniger Widerstandskraft als er. Während er hier bettelt, sitzt sie zu Hause auf dem Bettrand und heult. Früher oder später wird er wieder eine Ganztagsstelle finden, daran glaubt er. Es ist für ihn nicht das erste Mal, dass er zu ungewöhnlichen Mit teln greift. Als Schüler bekam er kein Taschengeld und musste deswe gen früh morgens, noch vor Schulbeginn, Zeitungen austragen. Wäh rend er mir von seiner Jugend erzählt, tritt er immer mal wieder zur Seite und spricht Leute an, die er für verheißungsvoll hält. Der Ne benjob als Zeitungsausträger war seinerzeit ungewöhnlich, weil ihn seine gut versorgten Mitschüler deswegen hänselten. «Ich bin Diskriminierung von Kindheit an gewohnt», sagt er. Dann hat er plötz lich Erfolg mit seiner kommunikativen ‹Methode›: Eine elegante Rentnerin, mit der er sich in ein kurzes Gespräch einlässt, gibt ihm ei nen Fünf Euro Schein. Damit kann er ein Viertel seiner Monatskar te bezahlen. Kurz danach schaut er ein wenig pikiert auf einen ‹Kollegen›, einen Schwarzen, wahrscheinlich einen Afrikaner. Der Mann sitzt mit den Knien auf der Straße: mit nach vorne gebeugtem Ober körper. Er berührt mit dem Gesicht fast den Boden. Seine Hände um klammern den Kopf, dicht daneben steht der Pappbecher. Man kann den Mann nicht ansprechen und nicht anschauen. «Soviel Demut stößt ab», kommentiert der Provinzbettler.
Am anderen Ende der Stadt ist ein großes Straßenfest im Gange. Das Wetter ist heiter, die Leute sind guter Laune. Sie sitzen auf Holzbänken dicht nebeneinander, sie trinken Wein, sie reden viel und sind voller Weltvertrauen. Das kriegen auch die Bettler zu spüren, die es (natürlich) auch hier gibt. Das heißt, nicht wenige gehen auch hier leer aus. Inmitten des breiten Flanierboulevards zwischen mehreren Tischreihen steht ein einsamer, stark gehemmter Bettler. Er ist zwi schen dreißig und fünfunddreißig und macht einen normal unge pflegten Eindruck. Er sieht zwar gut aus, versteht es jedoch nicht, aus seinem attraktiven Gesicht irgendein Kapital zu schlagen. Im Gegen teil, er steht eingeschüchtert und halb gebückt wie ein ausgeschimpftes Kind in der Mitte der breiten Fußgängerpassage und schaut in meh rere Richtungen gleichzeitig. Das Schlimmste an ihm ist ein selbstge maltes Schild, das er sich vor die Brust hält. Das Schild ist aus weißer Pappe und so groß wie der Deckel eines Schuhkartons. Ein einziges Wort füllt das Schild aus: BITTE , in Großbuchstaben, mit der Hand geschrieben, in roter Farbe. Es ist mit Händen zu greifen, dass es dieses Schild ist, das den Bettler erfolglos macht.
Es ist nicht ganz einfach, den Grund dafür zu finden. Offenkundig ist, dass die lustigen Volksfestbesucher höhnisch auf ihn herabschau en. Einige Leute schmähen ihn beim Vorübergehen, sie zischen ihm scheußliche Schimpfworte entgegen, die den Mann sichtbar hart treffen. Wahrscheinlich empfindet er die unpassende Konfrontation auch noch als Mutprobe. Er verlangt von sich, dass er die Demüti gung überlebt. Anders ist kaum zu erklären, dass er nicht einfach weggeht. Sogar Kinder springen um ihn herum und lachen über ihn, weil er der einzige ist, der nicht trinkt und nicht lacht. Das Ki chern der Kinder ist vielleicht der Schlüssel zum Verständnis der Situation: Der Bettler ist erfolglos, weil er sich als Einziger gegen die herrschende Laune stemmt. Die Leute strafen ihn ab, weil er ihre Stimmung stört. Sein Versuch, sein Elend zu verallgemeinern, schlägt auf ihn zurück. Die anderen sind weit davon entfernt, solche meta physischen Winkelzüge zu erkennen oder gar zu belohnen. Der mora lisierende Feldzug des Bettlers wird zu einem Fiasko. Der Mann bleibt christusmäßig vereinsamt zurück. Vermutlich ist ihm noch nie aufge fallen, dass ein einzelner Bettler vor einer großen Menschenmenge immer erfolglos ist. Es müsste ihm jemand erklären, dass zum Auftritt des Bettlers nicht nur seine Vereinzelung gehört, sondern auch die Vereinzelung des Angebettelten.
Nur als singuläre Erscheinung kann der Bettler eine Art Besinnungsinstanz werden: Wenn es ihm gelingt, einen Passanten durch die Er schütterung, die sein Bild auslöst, zu einem spendierfreudigen Men schen zu machen. Auf diese Weise sind der (erfolgreiche) Bettler und der (erfolgreiche) Spender aufeinander bezogen; sie gehören als Er lebniseinheit zusammen. Denn der freudig gestimmte Geber ist min destens so sensibel wie der gebeutelte Bettler. Ich kenne keinen Spen
der, der sich nicht durch die Epiphanie der momentweisen Gleichset zung seines Lebens mit dem Leben des Bettlers zum Spenden aufge fordert fühlte. Es ist die plötzlich auftauchende Möglichkeit, dass auch er, der Wohlhabende, mit einigem Lebenspech auf der Seite der Hilfsbedürftigen hätte landen können. Genau diese glücklich abge wendete Katastrophe bringt den Spender dazu, seine Dankbarkeit auszuleben.
In diesem Sinne ist leicht beobachtbar, wie und an wen sich die Gunst der Leute verteilt. Es zeichnet sich folgende Tendenz ab: Bettler, die nur ihr Elend ausstellen, rühren die Spenderlaune kaum an. Andere hingegen (es sind wenige, und sie fallen durch ihre andere Technik so fort auf), die Anschluss an die herrschende Stimmung finden, kom men sehr gut weg. Und wenn es nur die kärglichen Künste sind, die ein Jongleur mit drei Bällchen vorführt. Man dankt es ihm mit einer großzügigen Spende, die nicht ihm und seiner Not gilt, sondern die gute Laune des Spenders ausdrückt. Am meisten Erfolg hat ein jun ger Akkordeonspieler. Er spielt nicht gut, aber schmissig und rasant. Und er spielt das, was die Leute kennen und mögen. Seine Auftritte sind kurz, damit er vor möglichst vielen Trinkergruppen aufspielen kann. Man könnte sagen: Der Akkordeon spielende Bettler hat das beste Marketing. Er sieht vollständig davon ab, dass er in Bedrängnis ist. Diese Ausblendung macht ihn erfolgreich.
Es überrascht mich, dass mein Text (ungeplant) auf eine Kritik der Bett ler (nicht des Bettelns) hinausläuft. Es ist die Sache selbst, die zu dieser Kritik geführt hat, das heißt die Unfähigkeit vieler Bettler für das Betteln, ihre Einfühlungsarmut sowohl in ihren Job als auch in die Psyche derer, von denen sie sich Hilfe erwarten. Es liegt deswegen nahe, sich für den Beruf des Bettlers eine Art institutionelle Handreichung auszudenken. Wie könnte eine solche Unterstützung aus sehen? Es gibt bisher keine Zahlen, wie viel Menschen bei uns ganz vom Betteln leben oder ihren Normalverdienst durch Betteln aufbes sern müssen. Die Latenzzeit, die bei uns vergeht, bis ein Problem politisch wahrgenommen wird, beträgt etwa zehn bis zwanzig Jahre. Bis ein als existierend erkanntes Problem politisch bearbeitet wird, verge hen in unserer wahrheitsabweisenden Gesellschaft noch einmal rund zehn Jahre. Genau so lange wird es dauern, bis unsere Parteien, Ar beitsagenturen, Volkshochschulen begreifen, dass es sich beim Bet teln um einen Beruf handelt, den man umso effektiver ausüben kann, je besser man dafür ausgebildet ist. Wer oder was hindert uns eigent lich, Bettlerschulen ins Leben zu rufen? Die Klientel dafür steht, sitzt und liegt überall herum.
An zentraler Stelle eines Bettler Unterrichts müsste die Aufforderung stehen, sich eine kurzweilige Publikumsunterhaltung anzueignen. Ein Bettler sollte lernen, etwas vorzuführen, irgendein mobiles Ta schentheater, und wenn es nur drei Plastikringe sind, die er in die Höhe wirft und wieder auffängt. Das Kunststück hilft, den Blick des Betrachters auf das Elend des Bettlers zu mildern. Ein weiterer wich tiger Punkt des Unterrichts für Bettler wäre die Aufhebung seines Lügenzwangs. Warum kann ein Bettler nicht sagen: Ich bin in einer scheußlichen Lage und brauche dringend ein paar Euro? Warum muss er stattdessen sagen: Ich habe gerade meinen Geldbeutel mit dreihundert Euro verloren und brauche ein bisschen Kleingeld für eine Fahrkarte zu meiner Mutter? Man möchte, wenn man schon angebettelt wird, nicht auch noch so durchschnittlich angeflunkert werden. Leider glauben Bettler, sie bräuchten einen guten Grund zum Betteln. Von diesem Vorstellungszwang müsste man sie heilen.
Der politische Effekt von Bettlerschulen wäre enorm. Die Bettler könnten aufatmen, weil ihre ultimative Verlassenheit aufgehoben wäre. Na türlich wird es Bettlerschulen bei uns nicht geben. Die Verliebtheit der Republik in ihr tadelloses Selbstbild kann Bettlerschulen nicht dul den. Lieber gewöhnen wir uns an schlecht ausgebildete Bettler und quälen sie mit hilflosen Unterschichtdebatten.
den Kranichsteiner Literaturpreis des Deutschen Literaturfonds e.V [vgl. auch S eite 38 in diesem Magazin] und 2004 den be deutendsten Preis für deutschsprachige Literatur, den Georg Büchner Preis der Deut schen Akademie für Sprache und Dichtung. Vor kurzem erschien im Hanser Verlag sein Roman Mittelmäßiges Heimweh (2007). Wilhelm Genazino lebt in Frankfurt.
Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, arbeitete zunächst als freier Jounalist, später als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (u.a. für Pardon). Sein Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm 1977 mit der Abschaffel Trilogie. Genazino erhielt viele Auszeichnungen, darunter
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die wiederganger
[ ... ] 2. berlin
von kathrin roggla
auch katastrophen müssen erst hergestellt werden, weiß ich aus der ka tastrophensoziologie. das ist oft eine arbeit von jahrhunderten, und zwar gesellschaftliche arbeit. eine ordentliche pockenepidimie bei spielsweise kommt nicht von irgendwo her, sie muss organisiert wer den, ein ziemlicher arbeitsaufwand ist notwendig, vernachlässigung an den richtigen, investition an den falschen stellen, und jede menge expertentum, auf das man sich zu sehr verlässt. doch nicht nur von den großen katastrophen kann man das behaupten, auch die kleinen individuellen, die alltagskatastrophen, von denen man behauptet, sie seien «katastrophen im übertragenen sinn», sie finden nicht im luft leeren raum statt, brauchen vorbereitung, ein setting, sind ohne den kontext der ökonomischen, politischen und rechtlichen organisations form der sie umgebenden gesellschaft nicht zu denken. womöglich holen sie ihre kraft nicht unbedingt aus den jahrhunderten, obwohl sie ebenfalls in diesen justiert sind. es reichen kürzere zeitspannen aus, um den notwendigen rahmen abzugeben, ja oftmals sind es gerade die kleinen, unscheinbaren veränderungen, von denen sie abhängen, wie z.b. die einführung der kreditkarte 1968 oder die der ratenzahlung in den 60er jahren.
ja, der bankrott eines einzelnen menschen zum beispiel, bzw. der finan zielle bankrott einer privatperson, an dem zwar andere bankrott formen dranhängen mögen, der aber mal hier für sich genommen sein soll, ist wie der bankrott größerer juristischer einheiten einer, der durch gesellschaftliche wie individuelle arbeit gleichermaßen herge stellt werden muss. und das ist ein haufen arbeit. ich spreche nicht allein von verträgen, die geschrieben werden müssen, von institutio nellen rahmenbedingungen, von gesprächen mit bankangestellten, filialleitern, von lektüren der werbebroschüren, finanzierungsmodel len, noch nicht einmal von betriebswirtschaftlichem versagen, das in die situation hineinfließen muss. zunächst muss eine gesellschaft grundsätzlich den gedanken hervorbringen, dass schulden zu machen sind. man muss die idee des fiktiven geldes hervorbringen, neben einer gewissen rechenhaftigkeit, einer ökonomischen rationalität in verbin dung mit mehrwertproduktion und profitstreben. man muss zukunftshorizonte auf eine weise in die geschäftliche kalkulation mit einbezie hen können, als lägen sie schon längst in der gegenwart. die produktion der armut muss genauso vorangetrieben werden wie die produk tion moralischer kategorien, die den jeweils verschuldeten noch tiefer in seine verschuldung reintreiben. eine unsicherheitsproduktion muss genauso vorliegen wie die von gewissen neoliberalen wertvorstellun gen. dass menschen den investitionsgedanken per se positiv besetzen, ist ja keine allzu alte angelegenheit, der abwegige gedanke, sicherheit entstünde dann, wenn man nur permanent in sich investierte, in die eigene zukunft. dazu kommt die koppelung von selbstwert und besitz, wie sie sich aus sehr unterschiedlichen historischen quellen speist vom protestantismus bis zur werbeindustrie. und dann setzt das ein, was auch bei der produktion großer katastrophen so hilfreich ist: jede menge vernachlässigung — betriebswirtschaftliche kalkulationen, gesellschaftliche sicherheiten, datenschutz, psychische standfestigkeit, damit jene juristischen grauzonen entstehen können, jene vorstellun gen durch die luft geistern von letzten chancen, von schnellem gewinn, von gerade-noch-glück-gehabt, von «blühenden landschaften im os ten». dann setzt ein, wofür aufgeblähte immobilienblasen ebenso hilf reich sind wie spielbanken, und doch meist schlicht und einfach der gemeine kreditunfall als auslöser zu nennen ist wie er im botanikbuch der schuldnerberater zuerst auftritt: arbeitslosigkeit, scheidung, krankheit. es setzt ein der weg zum individuellen bankrott.
die westlichen gesellschaften, also europa, japan und die usa, sind sehr erfolgreich im herstellen dieser «katastrophen im übertragenen sinn». man könnte sogar von einer überproduktion sprechen, obwohl diese produktion strenggenommen keinen profit verspricht und insofern gegen das in diesen gesellschaften vorherrschende prinzip arbeitet. ja, hier wird kapital regelrecht stillgestellt, abgetötet, vernichtet, in jene minusblöcke verwandelt, die große bevölkerungsteile vom freien ver kehr der waren ausschließt, von jenem segensreichen selbstregulationsmechanismus adam smithscher provenienz. deswegen wurde es an einem bestimmten punkt notwendig, dieser krisenüberproduk tion zu begegnen, ihr grenzen zu setzen, also entschuldungsmöglich keiten zu eröffnen. es wurde die bankrotterklärung in den usa und in europa und japan das insolvenzverfahren für privatmenschen aus der taufe gehoben, ein verfahren, das bisher nur größeren juristischen einheiten wie firmen, staaten etc. vorbehalten war — was wiederum eine vermittlungsinstanz erforderlich machte, die schuldnerberatung.
da sitzen sie nun, die kleinkrämer des bankrotts, dies kleinwesen der in solvenz, dessen prominentester vertreter womöglich immer noch balzac ist, weil er in seinen schriften den kleinen bankrotteur mit einem selbstbewusstsein ausstattete, wie es heute noch immer selten vor kommt. die privatbankrotteure, die niemand als vorhut sehen möchte, als vorreiter einer gesamtgesellschaftlichen situation, die privatbank rotteure, die immer neben den geldverschlingungsgrößen der new economy, den industriebankrotteuren, staatsbankrotteuren verblas sen, obwohl sie die basisarbeit erledigen, ohne die kein großer bank rott denkbar ist — doch was soll das für arbeit sein? könnte man ein wenden — doch wie soll man diese krisenproduktion und ihre nach herige abarbeitung nicht als den haufen arbeit sehen, der er ist? absur derweise geht es in beiden prozessen oft gleichermaßen darum, geld zu gewinnen. es sind nur sehr unterschiedliche richtungen, die das nimmt. ob es um sonderangebote geht, mit denen ursprünglich geld gespart werden sollte, einen günstigen umschuldungskredit, der einen erst recht reingeritten hat, um angebote in spielbanken oder an der börse, immobilienspekulation, bei der man sich doch so sicher gewe sen ist, oder aber um die daran anschließenden mühseligen vertei lungsvorgänge, abstottervorgänge, stundungsvorgänge. die gründe, warum man überhaupt einen kredit annimmt, der einen dann in wei terer folge zum kreditunfall bringen wird, haben nicht selten mit pro fitdenken zu tun.
der erste schritt auf individueller ebene ist natürlich der, geld zu verlie ren. da aber auch in dieser gesellschaft nur ein kleiner prozentsatz der menschen mit geld zugeschissen wird, stellt das kein großes problem dar. schulden zu machen, das fällt heute schnell ein, das wird einem ja auch permanent nahegelegt in all dem investitionsfuror dieser zeit. doch wenn wir in die große hamburger straße nummer 18 in berlin mitte gehen, zu «dilab e.v.» in der friedrichshainer rigaerstraße, oder in kö penick in der «julateg finsolv» sitzen, dann haben wir längst diesen ersten teil hinter uns, das geld ist bereits verloren. wir sitzen da und warten erstmal eine ganze weile ab. wartezeiten über ein halbes jahr können entstehen, haben wir gehört, obwohl die einzelnen angestell ten motiviert sein sollen. die von trägervereinen betriebenen und öf fentlich finanzierten schuldnerberatungsstellen sind meist überlaufen, das haben wir auch schon bemerkt, denn bei einem erstinformations termin können schon 40 bis 70 neue schuldner auftauchen, die hoff nung auf ein insolvenzverfahren haben, das nur manche dann durch führen können.
doch wer weiß, wen man hier antreffen wird? ist es eine mischung aus beamtentum und strafendem gott, oder aus mitarbeiter und anklä ger? man hört ja heute so viel von mitarbeitern, die mit einem an einem strang ziehen sollten, und findet sie dann nie. man hört so viel von kundenbetreuung und sieht sich dann doch nur mit schalterhygi ene konfrontiert. ja, wir haben all die hoffnungen hinter uns gelassen, wir haben all die tricks hinter uns gelassen, doch nicht die wartezeiten. nicht hinter uns gelassen haben wir auch die unzähligen gespräche, in denen sitzen wir noch drin, den unterhaltungen, die man geführt hat, um sich weißzumachen, da gebe es noch einen weg, man könnte da ir gendwie noch raus.
soviel ist klar, niemand will hier zu den schmuddelschuldnern gehören, von denen man gehört hat, ja, von denen nahezu andauernd zu hören ist. die schmuddelschuldner, die permanent um einen sein sollen, das hartz4-personal, das uns sozusagen zu den ohren rausstinkt. und auch nicht zu denen, von denen bekannt ist, sie verdienen nicht das geld, das sie verdienen: sie verdienen es einfach nicht, da können sie machen was sie wollen.
manche von uns sind zumindest berliner originale, die können dann im merhin sagen: «da war ick so kleen, da bin ick unter de teppich geloo fen, so kleen war icke». oder: «det hab ick verkackeiert» oder «versau baselt», doch anderen wie beispielsweise mir steht nicht einmal das zur verfügung. aber ich sitze ja sowieso auf der anderen seite des ti sches, ich sehe mir ja die situation von vorne an oder, wie ich jetzt ent decke, vielmehr von oben.
von oben gesehen sind es erstmal büroräume, zu büroräumen umfunk tionierte eigentumswohnungen. es sind unauffällige räumlichkeiten im ersten stock einer plattenbausiedlung in köpenick, mit topfpflan zen versehene räume und gänge. es sind büroräume in einem altbau der caritas in berlin-mitte, mit blick auf die remise von ben becker, zu büros umgebaute hinterhofwohnungen in friedrichshain im erdge schoss, da, wo niemand wohnen mag, oder ein schlichter verwaltungs bau. jedenfalls räumlichkeiten, die früher anderen zwecken dienlich waren, umgewidmete räumlichkeiten, manchmal mit einem warte
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[ auszu g]
zimmer wie bei einer zahnarztpraxis, manchmal ist es nur ein kleiner flur, in dem sich trotzdem ein zahnarztgefühl einstellen kann. hier ist es der plural, der einen beschäftigt hält. die vielzahl der kleinen geschichten, die hereindonnern, die vielzahl an alltagsgeschichten, die sich gegenseitig nach kürzester zeit nivellieren, die nach kürzester zeit schon durchzurauschen scheinen als das immergleiche. wie schnell das geht, habe ich mir gerade eben noch gedacht — wie oft kann man sich ähnelnde geschichten anhören von fehlkalkulationen, vom ewig gleichen pech, von unglücksfällen und scheidungen, von vergessenen unterhaltszahlungen, arbeitslosigkeiten, und jetzt bin ich schon wie eine x-beliebige journalistin hinter den ausnahmeerzählungen her. das ist es ja, was die leute interessiert, sagt man, die ausnahmeerzählung, die besondere geschichte, die den routinierten abläufen ein bein stellt, die den alltagserfahrenen schuldnerberater hochfahren läßt, ihn an ders erreicht, trifft, irgendwie. die, die er dann mit nach hause nimmt und dort erzählen wird. weil sich an ihr etwas zeigt. nur was? natürlich, es gibt sie, die geschichte von den 4000 euro. gleich zu beginn wird mir die geschichte von den 4000 euro stromschulden erzählt, den stromschulden, die sich niemand erklären konnte. wie kann das auch sein? eine sozialhilfefamilie mit 4000 euro stromschulden ohne ent scheidendes stromschuldengerät, wie soll das gehen? ein stromschul dengerät, das dann doch in form eines badeofens aufkreuzte. denn, wie sich herausstellte, badete die ganze familie jeden abend einzeln da, quasi als ausgleich, als ausgleich für den fehlenden luxus in einer sozi alhilfefamilie. oder die 20 handyverträge, die bei einem neuköllner ju gendlichen schon mal auflaufen konnten, also als das noch möglich war, als sich die mobilfunkbetreiber noch nicht gegenseitig absicher ten. die 20 handyverträge, die einem neuköllner jugendlichen ermög lichten, eine ganze weile gratis zu telefonieren und dazu seine kumpels mit neuen handys zu versorgen, bis es für alles zu spät war. oder die geschichte von dem u-bahnfahrer, der schon sechs mal jemanden überfahren hat, und dem das sechste mal zum verhängnis wurde, weil es ein sechsjähriger junge war, der ihn direkt angesehen hat, als er nicht mehr bremsen konnte. diesen kinderblick sei er nicht mehr los geworden, der habe ihn dann sozusagen hierhergebracht. er stellt ei nen draht zum tragischen her, zum außergewöhnlichen, zu dem die verbindung trotz routine nie ganz abreißen kann. müßig zu sagen, dass in meinen vier tagen schuldnerberatung sowas nicht vorgekommen war, da waren nur arme schlucker, die sich ver kalkuliert hatten, da war nur das zu wenige geld, der wunsch nach selbständigkeit etc. die armen schlucker, die ihren unterhaltszah lungen nicht nachkommen wollten oder konnten, die sich krankheiten zugezogen hatten, und solche, die schrecklich organisiert waren, einnahme- und ausgabenrechungen immer bei sich zu tragen schie nen, notizbücher, vollgekritzelt mit zahlen. oder menschen, die ihr immobilienpech mal gefasst, mal zerknirscht vor sich hertrugen. die ein zelheiten verblassten jedenfalls bald, womöglich zu nah an unserem alltag, um sich von ihm abzuheben, nur der plural, der hier alles re giert, bleibt jetzt zurück. ja, es ist der plural, der regiert. der plural der firmen, der betrügerfirmen, der briefkastenfirmen, der legal handelnden firmen, der firmen im graubereich, der abzockerfirmen, der arglosen gläubiger, der ganz normalen gläubiger, ja, ich glaube mich an ganz normale geschäftsbeziehungen zu erinnern, die auf sol che weise zum ausdruck kommen können. und schon fallen sie, die namen, es fallen «rbb», «quelle», «drei pagen», «schneider», «bertels mann», «UGV », «citibank» und «telekom». sie fallen, und meist fal len sie schnell wieder auf ihre listenplätze zurück. denn es gibt die liste der firmen, die immer wieder vorkommen, die liste, die von den zehn typischen angeführt wird. das sind die abc-banken, die versicherungen, die versandhäuser, die mobilfunkbetreiber. der plural ist immer schon vor einem da. es gibt aber auch den anderen plural, der jetzt gegen diesen ersten losge schickt wird: «da geht was», «können sie mir das später schriftlich ge ben?», «334 euro wohnkostenanteil», «beantragt den bescheid?», «wieso weiß ich das nicht?», «da geht was», «beantragt den bescheid, muss bald kommen.», «17.000», «hab ich mal durchs internet gejagt», «dann lassen sie das unterschreiben!», «muss ich noch anrufen», «da warten wir erstmal ab», «gibt’s sowas wie eine wohnbescheinigung?», «da geht was». der plural der leisen gespräche, der gedämpften stimmen, der vorneübergebeugten und zurückgelehnten körper. dazu werden zettel gereicht, dinge in ein spezielles computerprogramm getippt, darin äu ßern sich die bilanzierungsfragen, die terminfragen, fragen nach do kumenten und familienstand. aus diesem miteinander und gegeneinander der unterschiedlichen plu ralmodi erfolgt das tagaus-tagein, und nur meine vorstellung von po
litischen gefühlen, die entstehen müssten, die da doch eigentlich ent stehen müssten, stellt sich davor. meine vorstellung von der einen richtung, die das nehmen müsste, zerrt an diesem plural und bringt mich zurück auf die andere seite des tisches, dort, wo der abstand re giert, dort, wo die eingangsfragen liegen, dort, wo die sitzen, die nicht wissen wollen, was in diesen wiederholungen geschieht.
nach zwei tagen des zusammenseins erste geheimrezepte. nach zwei ta gen zusammensein die nlp-technik, eine technik der spiegelung, der angleichung, der vorstellung, den klienten abholen zu müssen in sei nen programmierungen. wie ein schauspieler mache er das, erzählt der engagierte schuldnerberater aus berlin-mitte, ein schauspieler vor schauspielern, denke ich mir, weil er mir anfangs erzählt hat, er habe einige theaterleute, wohl um sich mir anzunähern. «das wird doch ein theaterstück, was sie da machen?» — wie ein schauspieler mache er das, wiederholt er aber jetzt, diese technik gehe in die tonlagen, kör perhaltungen rein, in die wortwahl und in die satzmelodien. den anderen abholen, wo er steht, und hineinführen in seine betriebswirt schaftliche erdung, in ein verständnis seiner situation, in eine hand lungsbereitschaft. doch doch, es sei schon so, dass sie reden würden, hätten sie erstmal die schwelle überwunden. das sei nicht das problem, nur, ob sie sich sor tieren wollen, ob sie der situation ins auge sehen wollen, ob sie einem alles erzählen, ob sie wissen, worum es eigentlich geht, das sei nicht klar. das sei ja auch ein prozess, das dauere seine zeit, bis einer das könne: die karten auf den tisch legen. bis einer dem bankrott ins auge sehen könne. manchmal sei es reine abwehr, manchmal müsse man eine ganze weile durch schichten dieser abwehr durch. insofern müsse man die vorstellung fallen lassen, dass menschen, die hier ankommen, sich anhören wollten, sie seien bankrott. dass menschen, die hier an kommen, insolvenzmöglich seien. im gegenteil, oft sähen sie seine ar beit erstmal als möglichkeit, noch einmal davonzukommen. nach zwei tagen des zusammenseins erste geheimrezepte. nlp-wellen, die über ihm zusammenschlagen, wenn er darüber spricht. nlp aus gut mütigkeit, überlege ich, das habe ich noch nicht erlebt. aber sieht er nicht ein klein wenig aus wie ein gutmütiger clown? das sei eine mi schung aus gestalttherapie, pearles, hypnose, trance, kommunikationswissenschaft, sprachtraining und dramatherapie, fährt er aber schon fort. ja, eine mischung, die hier in eigenartiger mechanik zum einsatz kommt. er spricht weiter von den drei optionen, die man im leben im mer haben müsse. die drei optionen, von denen ich doch schon mal gehört haben müsse. jeder fußballer habe doch drei optionen, und so könne es auch im richtigen leben sein, wenn man sich nur ein wenig bemühe. zum beispiel er, er habe seine drei optionen und sei deswegen schon automatisch zielorientiert, das laufe bei ihm jetzt ganz anders als früher, als er noch nicht so zielorientiert gewesen sei. er sei ja ein ängstlicher mensch gewesen, müsse ich wissen, er habe ängstlichkei ten gekannt. und jetzt sei er durch nlp ein anderer mensch geworden, einer, der pressekonferenzen im roten rathaus leiten könne, ohne dass es ihm viel ausmache. doch der völlig andere mensch bleibt in seinem gesicht ein wenig stehen, als er mir von einer schufatagung erzählt, bei der eine von der telekom finanzierte studie über jugendliche und handykonsum vorgestellt wurde. wachteleier und kaviar habe es dort gegeben, und rausgekom men sei, dass der handykonsum mit der jugendverschuldung nicht das geringste zu tun habe.
der völlig andere mensch tritt ein wenig auf der stelle, als er erzählt von dem neuen gesetz, das sie vorhaben, das neue gesetz, das die situation der armutsschuldner einzementiert, weil deren prozesskosten nicht mehr gezahlt werden, d.h. gestundet, d.h. vorgestreckt. der völlig andere mensch bewegt sich aus seinem gesicht ein wenig raus, als er plötzlich sagt, er könne sich ja auch fragen, was aus ihm gewor den sei, aus dem durch hausbesetzermilieu und autonome szene sozi alisierten kreuzberger zum schuldnerberater bei der caritas, da könne er sich ja auch fragen — aber nicht doch, winke ich ab, will seinem vorgetragenen zweifel, sofern es einer ist, entgegenarbeiten. denn ich brauche ihn ja als reinkultur, als schuldnerberaterisches selbstver trauen. «und sie? was treibt sie an?» werde ich in diesem bemühen un terbrochen.
t (S.
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Kathrin Röggla, 1971 in Salzburg geboren, lebt in Berlin. Schreibt Prosa, Hörspiele und Theatertexte. Zuletzt wurden disaster awareness fair (droschl, 2006) und wir schla fen nich
Fischer, 2004) publiziert und draussen tobt die dunkelziffer (2005) uraufgeführt.
an einem Roman, der im nächsten Frühjahr bei S. Fischer erscheinen wird. Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus einem längeren Bei trag für das Buch Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit, Suhrkamp 2007
work in progress
[ f ilmreihen im p r o gramm ‹a rbeit in z ukunf t›]
Die Kulturstiftung des Bundes hatte zusammen mit den Freunden der Deutschen Kinemathek e V. Berlin ei nen Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem sich Kinos mit selbst zusammengestellten Filmreihen bewerben konnten. Diese sollten einen Bezug zum Wandel der Arbeitsgesellschaft und zu dessen spezifischen Voraus setzungen und Auswirkungen im lokalen oder regionalen Umfeld aufweisen. Bundesweit werden 43 Film reihen in diesem Programm gefördert [vgl die Übersicht unten ]. Einige der Projekte stellen wir Ihnen im Folgenden detaillierter vor. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website www.kulturstiftung bund.de
Eine dreimonatige Filmreihe in Osnabrück beschäftigt sich mit dem Wandel vom Industriestandort (Stahl, Bergbau, Textil, Fahrzeugbau) zur Dienstleistungsmetropole. Mittels mobiler Projektionstechnik wird pro Woche jeweils ein Filmprogramm an einem (ehemaligen) ‹Ort der Arbeit› vorgeführt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Zusammenspiel zwischen Film und Präsentationsort. So dient das Zechengelände Piesberg als Spielort für eine englische Komödie über den Arbeitskampf in einer Kohlegesellschaft (Brass Off von Mark Herman). Im nahe gelegenen Steinbruch geht es mit Michael Glawoggers Workingman’s Death um körperliche Schwerstarbeit und auf dem Betriebsgelände der NordWestBahn erzählt Ken Loachs The Navigators von den Folgen der Privatisierung der britischen Ei senbahn. In der Osnabrücker Innenstadt werden abends nach Ge schäftsschluss Kurzfilme im Rahmen eines geführten Rundgangs an geeignete Hausfassaden projiziert und in einem leerstehenden La denlokal dokumentiert der Film Die Billigheimer von Mirko Tomic die Wirtschaftsgeschichte von Discountern. Auch Fritz Langs Metropolis, jene berühmte Dystopie der fordistischen Industriestadt, ver spricht als Vorführung in der Osnabrücker Lutherkirche ein besonderes Film-erlebnis.
Die Geschichte des Kurorts Bad Tölz ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts eng mit den Jodquellen und dem Badebetrieb verbunden. Seine größ te Blütezeit erlebte er in den Jahren des Wirtschaftswunders mit dem Aufkommen der ‹Sozialkur›, die die Arbeitskraft der Industriearbei ter (insbesondere aus dem Ruhrgebiet) wiederherstellen sollte. Mit den Gesundheitsreformen der 1990er Jahre sank die Zahl der Über nachtungen und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Gäste um die Hälfte, seitdem stehen viele Sanatorien, Kliniken und Pensi onen leer. Den Industriebrachen in den Ballungsräumen entsprechen hier die Rekreationsbrachen in der idyllischen Kleinstadt (wie sie z.B. in der Fernsehserie Der Bulle von Tölz gezeigt wird). Auf einem drei tägigen Filmfestival im Sommer 2007 geht es um das Wechselverhält nis zwischen Arbeit und Erholung, Produktion und Rekreation, so wohl mit historischem Filmmaterial aus Bad Tölz und dem Ruhrge biet als auch mit Aktionstagen zur Zukunft der Kur. Die Filmvorfüh rungen finden im Schwimmbad, in der Wandelhalle und im Park des Jodquellenhofs statt.
Ein lokales Bündnis für Film im Zeichen der Arbeit bilden in Bremen das kommunale Kino 46, die Universität, die Handelskammer, die Arbeitnehmerkammer sowie diverse Betriebe und Betriebsräte. In elf Filmprogrammen und einem umfangreichen Begleitprogramm wer den Antworten gesucht auf Fragen wie: Was lesen Zukunftsforscher aus Science Fiction Filmen? Wie lebt die ‹digitale Bohème›? Gelingt Selbstverwirklichung besser ohne oder besser trotz Einkommen und wie sehen die Berufe der Zukunft aus? Mit kabarettistischen Beiträ gen, einer Ausstellung, mehreren Talkshows, Lesungen und Semi naren werden zusätzliche Perspektiven auf das Thema Arbeit gebo ten. Den Auftakt zu dieser viermonatigen Reihe bildet eine theatra lische Prozession für San Precario
In der Sowjetunion definierte das Kommunistische Manifest die Arbeit als einzige Schöpferin aller Bildung und aller Kultur. Um zur Arbeit zu motivieren, wurden nach militärischem Vorbild Orden und Titel wie z.B. ‹Held der Arbeit› vergeben. Alle Gebiete menschlicher Tätig keit wurden zur Arbeit an der Front deklariert, an der es unaufhörlich zu kämpfen gelte, Parolen wie ‹Kampf mit der Natur› und ‹Kampf gegen Schwäche› prägten den Alltag. Die Herkunft und die allmäh
liche Auflösung dieses gesellschaftlichen Selbstverständnisses ab den 1970 er Jahren untersucht eine Filmreihe, die das Kino Krokodil in Berlin realisiert. Sie umfasst 20 russische Filme, die zwischen 1930 und 2006 entstanden, darunter auch Der helle Weg (1940) von Grigorij Aleksandrow, in dem die Legende vom Produktionsrekord einer We berin im Textilindustriegebiet Iwanowo erzählt wird. Passend dazu zeigt eine Begleitausstellung die heutigen Folgen des Strukturwan dels in Iwanowo und ein Vortrag erläutert die damalige Vermittlung von Arbeiteridolen durch Filme wie Der helle Weg
Das Filmhaus Nürnberg realisiert zusammen mit dem Kulturzentrum K4 eine umfangreiche Filmreihe zu unterschiedlichen Aspekten des Wandels der Arbeitsgesellschaft. Am Beispiel des örtlichen AEG Streiks geht es unter anderem um die Folgen der Globalisierung, zu denen lokale Akteure und Filmemacher Stellung nehmen. Anhand des Filmwerks von Harun Farocki wird die Technisierung mensch lichen Handelns erkundet und am Beispiel von Dokumentarfilmen des Nürnberger Filmemachers Thomas Schadt das Thema Langzeit arbeitslosigkeit diskutiert (mit Begleitveranstaltungen der Agentur für Arbeit). Um Utopien von der Freiheit mit und ohne Arbeit geht es bei den Filmmärchen von René Clair und Aki Kaurismäki, mit Filmwerken von Mábety und Edina Kontsek wird Kinderarbeit the matisiert. Das Thema ‹Frauen & Arbeit› wird in Zusammenarbeit mit Nürnberger Frauenprojekten entwickelt und ‹Arbeit als Krank heitsrisiko› mit Betriebsärzten und dem Nürnberger Forum für Psy choanalyse konzipiert. Den Abschluss des Projekts bildet eine große Diskussionsveranstaltung zum Thema ‹Zukunft der Arbeit in Nürn berg› mit Experten aus Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik. Der Arbeitskreis Film in Regensburg begibt sich in der zwölfteiligen Reihe «Erst die Arbeit und dann» auf eine Spurensuche der anderen Art: Neben einer vielseitigen Bestandsaufnahme über das aktuelle ‹Elend der Arbeit› (G. Seeßlen) wird in Kooperation mit der Friedrich Ebert Stiftung, dem Evangelischen Bildungswerk, der BMWAG u.a. danach geforscht, wie Arbeit als Element eines gelingenden Lebens aussehen müsste. Es geht um filmische Momente der Besinnung, der Lust, der Verweigerung und der Solidarität. Den utopischen Gehalt vom Nachdenken über Arbeit illustrieren Klassiker wie Themroc von Claudio Faraldi (1973), Charly Chaplins Modern Times (1936), aber auch aktuelle Werke wie Ultranova von Bouli Lanners (2004) oder Aki Kaurismäkis Wolken ziehen vorüber (1996). Neben der Filmreihe werden in der Eröffnungswoche mit Vorträgen, Podiumsgesprächen und der Dokumentarfilmproduktion Regensburg denkt über Arbeit nach regionale Bezüge geschaffen.
Bei Movement — das bewegende Filmfestival in Erfurt wird das Thema Arbeit in Bezug zu Mobilität gesetzt. Diesem Fokus entspricht nicht nur die Zusammenstellung der Filmreihe, sondern auch die Spielflächen selbst werden räumlich voneinander getrennt und lose im öffentlichen Raum verankert: Installationen, Filmvorführungen und theatrale Aktionen verdichten sich zu einem Netz, das die Stadt durchzieht und per Straßenbahn erfahrbar wird. Diese ist dabei ei nerseits Transportmittel für die Zuschauer und andererseits Austra gungsort für überraschende Performances, mit denen Fahrgäste in das Festival involviert werden. Eine begleitende Ausstellung präsen tiert Ergebnisse einer Foto Aktion, in der Erfurter Bürger mittels Einwegkameras die Veränderungen von ‹Arbeit› in Schnappschüssen aus ihrer Umgebung festhalten.
vera nsta ltungen 2007
Bad Tölz
Kurhotel Jodquellenhof 13 17 7
Berlin Künstlerhaus Bethanien 3 4 3
Eiszeit Kino 8 15 3
Regenbogenkino 14 18 3
Kino Krokodil 15 30 3
Kino Central, Kino Acud, Haus Schwarzenberg 10 16 5
Kino Babylon Mitte 18 21 5
Moviemento Kino 10 5 6 6
Braunschweig Kulturinstitut ‹Die Brücke› Mai
Bremen Kino 46 März – Juni
Erfurt Movement (im Stadtraum), März Café Togo 30 5 13 6
Frankfurt/Main Filmforum Höchst 16 28 3
Frankfurt/Oder Europa Universität Viadrina April – Juli
Freiburg Kommunales Kino, Universität Juni – Juli
Gera Filmclub Comma 30 5.– 13 6
Görlitz KulTourSaal Juni – Juli
Hamburg Internationales Kurzfilmfestival, B Movie 6 11 6
Hannover Kino am Raschplatz, Kino im Sprengel März – Juli
Jena Kino im Schillerhof, Café Wagner 30 5.– 13 6
Köln Kino in der Brücke, Filmclub 813 14 27 5
Leipzig naTo 10.– 30 5 CineMuro (im Stadtraum) April August
Leverkusen Kommunales Kino April – Mai Magdeburg Festung Mark 2 5 8 Marburg / Lahn Traumakino 26 4 1 5 München Kulturzentrum Gasteig, Kulturzentrum Einstein, DGB Haus 9 24 5
Münster Kino Cinema & Kurbelkiste Mai – Juni Nauheim Ried Casino Nauheim, Opel Areal Rüsselsheim 16 28 3
Nürnberg Kommunales Filmhaus 26 4 31 5 Oldenburg cine k 13 23 6
Osnabrück in Stadt und Umland Juni – August Passau Scharfrichter Kino, Promenade Lichtspiele 4 5.– 29 6 Potsdam Filmmuseum Potsdam, FH Potsdam April – Juni
Regensburg Kino Wintergarten Juni Juli
Rudolstadt Jugendzentrum Saalgärten 30 5.– 13 6
Sindelfingen Kommunales Kino, Cinemaxx Juni Singen/Reichenau Kulturzentrum Gems 11 3.– 18 4
Suhl Kulturverein Alte Schule 30 5 13 6
Villingen Kommunales Kino Guckloch Mai Juli Schwenningen
Weimar Lichthaus Kino 30 5.–13 6
Weiterstadt Kommunales Kino 26 4.– 2 5 Zollhaus / Kreml Kulturhaus März – Aug. Hahnstätten
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die kinder vom arbeitslosenstreichelzoo
Insgesamt 100 000 Euro standen Jugendlichen zwischen 16 und 26 Jahren zur Verfügung, die sie auf Projekte ihrer Wahl zum Thema Arbeit verteilen durften. Sie stimmten per Mausklick darüber ab, welche Projekte, die sie mit Un terstützung des Projektteams 100.000 euro job entwickelt und auf der Website www.100.000 Euro Job.de veröf fentlicht hatten, ihren Vorstellungen von der Arbeit (heute und) in Zukunft entsprachen. Dieses bisher einmalige Verfahren fand großen Anklang: Aus insgesamt 306 eingereichten Projektideen wählten die Jugendlichen 47 Pro jekte aus, die durch eine Förderung der Kulturstiftung des Bundes verwirklicht werden. Nikola Richter hat sich einige der Projekte angeschaut und berichtet von ihren Eindrücken.
von nikola richter m
aja, David, Joy und Max sind sehr beschäftigt. Sie sind schwer zu errei chen, weil sie rund um die Uhr was zu tun haben. Christian im bayerischen Eichstätt ist gar überhaupt nicht zu erreichen. Er ist «von 9 30 bis 16 30 bezüglich der Schule unterwegs», wie er schreibt, und nachmittags müsse er schlafen und erst nachts könne man ihn errei chen, dann aber auch nur mobil, und eigentlich überhaupt nicht, weil es bei seinem «momentanen Lebenswandel» schwer sei, einen Termin auszumachen. Dann hat er zwar irgendwann Zeit, um 8 30 Uhr mor gens, aber er schickt seine Nummer nicht. Dabei wollte ich mich ei gentlich bloß ein bisschen mit ihm über seinen Film Staubexplosion unterhalten. Darin bringen Auftragskiller einen Staubsauger um — eine Anklage gegen Unternehmen, die durch Billigproduktion die Menschenrechte verletzen.
Christians Film ist eines von 47 Projekten, gefördert vom 100 000 euro job : Im Sommer 2006 wurden Jugendliche zwischen 16 und 26 Jah ren aufgerufen, auf welche Weise auch immer über das Thema Arbeit nachzudenken. Man wollte wissen: Wie will die nächste Generation arbeiten? Was bedeutet Arbeit für sie? Denkt sie an die Riester Rente, an Hartz IV , Emigration, Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Billiglohnländer? 306 Projektideen wurden eingereicht. Die Jugend lichen stimmten basisdemokratisch selbst darüber ab, wie die insge samt 100 000 Euro verteilt und welche Idee finanziell unterstützt wer den sollte. Von Oktober 2006 bis Januar 2007 wurden die ausgewähl ten Projekte mit den entsprechenden Geldbeträgen ausgestattet und umgesetzt. Auffällig ist, wie viele sich mit dem Elend des arbeitenden Menschen beschäftigen. Der Arbeiter an sich ist da ein bemitleidens wertes Wesen, das ausgebeutet wird, das unter dem Druck, Zwang und Knüppel der Kapitalisten leidet, das sich nicht entfalten kann. Also eher eine passive Figur, der geholfen werden muss. Der aber ge holfen werden kann. Idealistisch sind die Projektmacher nämlich zum Großteil auch. Und das macht Hoffnung—und überrascht. Laut Shell Jugendstudie 2006 schauten nämlich nur 38 Prozent der Hauptschüler und 57 Prozent der Gymnasiasten zuversichtlich in die Zukunft. Die persönliche Perspektive schränkt scheinbar den Wunsch nicht ein, dass gesamtgesellschaftlich mehr Idylle möglich wäre.
Da ist etwa Maja, 17 Jahre, die gerade in Berlin ihr Abitur macht — die aber gleichzeitig als Praktikantin der HumanVital-Klinik auftritt, hübsch im Schwengauer Park bei Leipzig gelegen. Die Klinik bietet Arbeitsentwöhnungskurse für Workaholics an: den Astrono mie Kurs, bei dem der Patient das Weltall erkundet und sich seiner eigenen Nichtigkeit bewusst wird; den Nachruf auf den Beruf Kurs, in dem die Arbeitsutensilien beigesetzt werden, um die eigene Identität nicht mehr über den Beruf zu definieren. Die Kurse kosten 8 000 bis 10 000 Euro pro Woche — was eigentlich voraussetzt, dass die Patienten vorher ordentlich geschuftet haben. Bei der Leipziger Pres sekonferenz im Dezember 2006 sitzt Maja auf dem Podium und schläft getreu dem Klinik Motto ‹chillen› erstmal ein. Als ich ihr sage, dass ich Schwierigkeiten haben würde, meine Miete zu bezahlen, wenn ich mich in einem Liegestuhl mit Massagevibratoren und Duft stoffen entspannen würde, wenn ich also von meinem Arbeitswahn geheilt wäre, weiß sie nicht so recht, was sie sagen soll. Zumindest hat Maja bei der Umsetzung des «Wellness Bla Blas», wie sie es selbst nennt, viel gelernt: Sie hat per Anzeige das Klinikpersonal gesucht, gecastet und gefunden, sie hat formelle Anfragen geschrieben, eine Pressekonferenz organisiert und eine Webseite mit Inhalt gefüllt. Sie ist nun perfekt auf den Arbeitsalltag — hoffentlich nicht nur als Praktikantin — vorbereitet: «Wer optimistisch durchs Leben geht, hat mehr Chancen, was zu erreichen», weiß sie.
Dieses positive Fazit verwundert. Denn die arme Arbeitskreatur Mensch, die nur durch eine Entzugsklinik befreit werden kann, müsste doch eigentlich eher deprimieren. Auch Davids Projekt, der Arbeitslosen streichelzoo, schlägt in die Mitleidskerbe. Der Zivi in einem Behinder tenwohnheim will Sympathie und Verständnis für Arbeitslose erzeu gen. David kommt aus Hohenschönhausen — einem Plattenbau «Ghetto», wie er sagt, in Ost Berlin. Seine Mutter, eine ausgebildete Schneiderin, ist trotz Fortbildungen und Umschulungen seit fast zehn Jahren arbeitslos. Einen fehlenden Erfahrungskontext kann man David immerhin nicht absprechen. Er will «auf jeden Fall was kritisieren»: Seine Zoo Aktion soll die Leute erreichen, «die beispiels
weise am Ku’damm, am Hackeschen Markt, am Potsdamer Platz herumlaufen». Sie sollen «von ihrem hohen Ross aus» Arbeitslose nicht pauschal als faul aburteilen. In vier umzäunten Gehegen, mit Stroh ausgelegt, erfüllen die unechten Arbeitslosen — gespielt von David und seinen Freunden — ‹sinnlose› Aufgaben wie etwa Boden wischen. Sie nehmen jeden Beschäftigungsvorschlag an, den die Pas santen ihnen machen, und halten Schilder mit der Aufschrift «100 Cent/eine Stunde deines Lebens» hoch. Als ich David frage, ob seine Mutter sich denn seine Performance anschaut, muss er lachen: «Das ist ja mal eine nette Frage. Kann sein, dass sie was anderes zu tun hat.» Als ich frage, warum, antwortet er: «Sie hat sich damit abgefunden. Sie sieht da kein Land mehr.»
Viele der 100.000 euro job Projekte erinnern mich an das Prosa Ge dicht Holy Saturday des amerikanischen Lyrikers James Tate. Der Erzähler legt sich darin mit einem Mann im Osterhasenkostüm an, der in einer Shopping Mall Schokoladeneier verteilt. Ein sinnloser Job, bei dem man sich hinter einer Tiermaske versteckt, unsichtbar, austauschbar bleibt — aber einer, der den Lebensunterhalt finanziert. Der Erzähler fängt an, den Hasen zu beschimpfen. Auf einmal tut ihm der Mann leid und er bietet ihm an, ihn nach Hause zu fahren. Kurz vor dessen Haustür fragt er ihn: «Was machen Sie eigentlich im richtigen Leben?» «Ich bin arbeitslos», antwortet der Hase, «immer wenn ich einen Job habe, geht der Laden pleite. Als ob ich ein Todes stoß wäre.» Als der Hase über den Kiesweg hoppelt, bemerkt der Erzähler, dass er weder das Gesicht des Mannes gesehen hat noch sei nen Namen kennt. Ihm ist alles schrecklich peinlich. Er hat mit seiner überheblichen Art dem Hasen einen erneuten ‹Todesstoß› versetzt. Er hat ihn einfach nur aufgrund seines albernen Auftritts verurteilt, ganz egoistisch, weil er genervt war. Nun weiß er, dass der Mann sich nicht zu schade war, sich auf welche Art auch immer, und sei sie noch so lächerlich, immer wieder aus der Arbeitslosigkeit herauszuboxen. Dass er wahre Größe hat. Und dass er eigentlich stolz seinen Namen sagen müsste. Der Erzähler aber bedauert bloß sein eigenes Fehlver halten. Und schaut dem Hasen hilflos hinterher. Als ob Mitgefühl ausreichen würde. Ihn und den Hasen trennen Welten.
David hätte das, was er kennt, was ihn umgibt, noch stärker beim Na men nennen können. Er hätte versuchen können, seine Umgebung zu dokumentieren und zu kommentieren. Wäre das interessanter gewe sen als die Nachbildung der Wirklichkeit durch die Schauspieler auf dem Bürgersteig? Mit seiner Performance als Zoo Direktor will er aufrütteln, was seiner Meinung nach die nüchternen Zahlen schon längst nicht mehr tun: Die Arbeitslosenquote in Lichtenberg, dem Bezirk, zu dem Hohenschönhausen gerechnet wird, betrug im No vember 2006 fast 17 Prozent. David hat schon gelernt, dass «Arbeitslose zum Kapitalismus gehören». Und dass es immer jemanden gibt, «der die Arbeit für weniger Geld macht». Und er gehört zur ‹H Town Posse ›, einer Gruppe aus dreißig Skateboardern in Hohenschönhau sen. Der harte Kern heißt wiederum TWA (From Thoughts to Words to Action) und besteht aus 15 Leuten. Sie machen «konkrete politische Arbeit», organisieren zusammen mit Lokalpolitikern in Hohen schönhausen auf öffentlichen Plätzen «kleine spontane Festivals ge gen rechts». Immerhin sitzen drei NPD Mitglieder in der Bezirksversammlung von Lichtenberg. Eigentlich soll ich den Namen TWA nicht erwähnen, weil sie dann Ärger von ‹rechten Köpfen› bekommen können. Aber dann sagt David, realistisch wie er ist, dass die, die ihm Ärger machen könnten, ja wohl sehr wahrscheinlich nicht das Magazin der Bundeskulturstiftung lesen.
Für die meisten Projektmacher und Projektmacherinnen ist ihr Ver ständnis von Arbeit nicht von Freunden, Interessen und Familie zu trennen. Alles ist eins. Und damit sind die Projekte recht aktuell. Peter Wippermann, Chef des Hamburger Trendbüros, erklärte in der FAZ im Dezember 2006 die Trends der Arbeit. Einer davon ist ‹Crowd sourcing›: Arbeit findet in der Freizeit statt — der Kunde baut etwa seine Ikea Regale selbst zusammen und spart dadurch Geld. Weiter: Der Arbeiter der Zukunft ist ein Einzelkämpfer, der sein Wissen, sei ne Kreativität, sein Potenzial in wechselnde Teams einbringt. Arbei ten wird unstrukturiert, kaum vorhersagbar, zeitlich schwer zu be grenzen und ergebnisoffen. Der 100.000 euro job zeigt also nicht nur, was die nächste Generation bewegt, sondern vor allem, wie sie jetzt schon arbeitet. Kollektiv, flexibel und technisch bestens gerüstet.
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Ohne das Internet geht gar nichts mehr. Programmieren, schneiden, digitalisieren —aus dem Effeff. Bleibt bei aller technischen Versiert heit der Inhalt auf der Strecke? Sebastian Sooth, der Projektleiter des 100.000 euro job , freute sich besonders über das große Spektrum und die vielen Ausdrucksmöglichkeiten der Projekte. Manchmal hät te er sich noch deutlichere Stellungnahmen gewünscht. Dann näm lich, wenn die Jugendlichen sich darauf zurückziehen «andere Leute zu zeigen, die was denken».
Aber die Stellungnahmen sind da, sie sind subtil in der Themenauswahl versteckt. Die Projekte wirken nur deshalb manchmal naiv, weil die Durchführung mit sehr viel missionarischem Gehalt beladen wird. Es könnte daran liegen, dass die meisten Teilnehmer sich noch im Umfeld der Schule bewegen oder gerade aus der Schule entlassen sind. Sie orientieren sich noch — trotz der globalen Reichweite des www — an einer Arbeitswelt mit einem recht überschaubaren Radius. Wenn sie arbeiten, dann als Pressevertreter im Jungjournalistenverband, Kellnerin bei Familienfesten oder Aushilfe in der Anwaltskanzlei des Vaters. In solchen Teilzeitjobs zur Aufbesserung des Taschengeldes geht es nicht um transnationale Netzwerke, um die Finanzierung des Sozialstaats oder Stellenabbau, sondern um alte Werte, an die die meisten — auch trotz anderer Erfahrungen — noch glauben. Und die sie wahrscheinlich in der Schule vermittelt bekommen. Bei Maja fängt Arbeit «mit Verwandten an, die Rückenschmerzen haben, und hört bei Freunden auf, die zu spät zu einer Party kommen, weil sie noch Zeitungen austragen mussten». Diese sentimentalen, romantischen Konzepte einer Gesellschaft, in der jeder nur so viel arbeiten soll, wie er möchte, und dann auch nur das, was er mag und kann, am besten ohne Orts und Arbeitsplatzwechsel, schön stabil, zeugen zu mindest von Optimismus — aber auch von konservativen, bürger lichen Vorstellungen. Dabei ist Projektarbeit das beste Beispiel für eine produktive Mischung aus Anstrengung und Vergnügen, für Fle xibilisierung, für eine hohe Eigenverantwortung, für Selbstvermark tung — aber auch für Selbstausbeutung, Unsicherheit und Verzicht auf Konsum.
Das ist das Thema von Joy, Mitte zwanzig, Mitglied des Kollektivs (e)atwork, das 2006 etwa in Schweden, Polen, Finnland, Deutschland und in der Schweiz mit Performances über die Arbeit des Künstlers aufgetreten ist. «Warum tendiert der Künstler dazu, sich selbst fertig zu machen: extrem wenig Schlaf, extrem wenig Geld, extrem viel Ar beit?», fragt Joy. Ihr eigenes Projekt Trash and Narration will mit aus gestelltem Müll, den sie an verschiedenen Orten der Welt gesammelt hat, zeigen, «dass Dinge wichtig werden, sobald ich mich mit ihnen beschäftige». Die Aktion kann als eine Art Antwort darauf ge lesen werden, was der Künstler eigentlich davon hat, sich freiwillig der Prekarität auszusetzen. In einer Berliner Galerie hat die Theaterwissenschaftlerin den internationalen Krempel aufgebaut und katalogisiert. Auf einer Wand wird die Herkunft des Wortes ‹Müll› etymologisch abgeleitet. Eine Archivarin mit weißen Handschuhen gibt Auskunft über die Exponate. Besucher können sich mit ihrem Lieblingsmüll im ‹Denkraum› inszenieren und sich zu den Dingen in Beziehung setzen. Eine britisch irakische Künstlerin fotografiert sich etwa mit einem sechs Meter langen, schwarzen Gummischlauch, den sie sich wie eine Burka um den Kopf gewickelt hat. Die Dinge erzählen auch selbst Geschichten: Da ist etwa das braune Medizin fläschchen aus Glas, das Joy am Ganges gefunden hat. Es stammt vom weltweit größten Pharmakonzern Pfizer. Pfizer hat einen seiner deutschen Unternehmenssitze in Feucht — daher wiederum kam ei ne blaue Hülle, die Joy in Schweden gefunden hat. In Wirklichkeit geht es in Joys Ausstellung um Beziehungen. Der Müll, scheinbar wertlos oder gerade noch Rohstoff, ist Transmitter. Es geht darum, wie Sinn durch Zeit, die man mit etwas oder jemandem teilt, geschaf fen wird. Durch Austausch, Intensität. Und damit ist Joys Projekt ein ziemlich produktiver Kommentar zu all den ‹überflüssigen› Men schen, wie Richard Sennett sie einmal bezeichnet hat, die sich vom Arbeitsmarkt und daher von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht fühlen. Joy selbst ist es egal, ob sie irgendwann mal von Sozialhilfe leben muss, denn sie kennt, «so viele Leute, die tolle, wichtige Arbeit machen, die mit ihren Kindern aufs Arbeitsamt laufen», Leute, die sich nicht über ihr Monatsgehalt definieren.
Einer, der sich mit dem aussterbenden Phänomen ‹linearer Lebenslauf› beschäftigt, ist dagegen Max in Leipzig. Sein Projekt Galerie am Kör per produziert in Handarbeit Anstecker. Im März 2006 haben der 20 jährige und sein 19 jähriger Geschäftspartner Johannes Abitur ge macht. Aus Geldmangel gründeten sie ihre Firma Buttonrausch, die «gerade erfolgreicher denn je» ist, wie Max in perfektem PR Jargon angibt. Im letzten halben Jahr stellten sie 25 000 Buttons her — so lukrativ, dass das Unternehmen im Jahr 2007 expandieren will. Jetzt engagieren die beiden Jungmanager für niedere Tätigkeiten schon stundenweise bezahlte Helfer. Sie selbst kümmern sich um Marke ting, Logistik, Verwaltung. Damit sie nicht als ‹ Schülerfirma› wahr genommen werden — was ihrer Erfahrung nach dem Geschäftsima ge schadet und was sie ja auch gar nicht mehr sind — sagen sie den Kunden vor dem ersten Treffen, dass sie ihren Praktikanten vorbeischicken werden. Und gehen selbst hin. Dieser ‹Trick› ist nur eine der gewieften Strategien, die ihnen die Realität beigebracht hat. Jetzt sitzen sie nicht mehr eine halbe Stunde vor jeder Kundenmail. Son dern Max weiß: «Nicht zu verspielt, direkt antworten, direkt alles sagen» bringt am meisten. Im 100.000 euro job wurden die beiden für ihre Idee ausgewählt, eine Kollektion herzustellen, die ‹Kom plexsysteme› zeigt: Mehrere Buttons können wie eine Galerie am Körper getragen werden. Sie begleiten etwa ein Produkt über die Welt oder thematisieren die Dienstleistung als Ware mit Sätzen wie «Ich Ware», «Du Ware», «Wir Ware».
Wieder ist das Projektergebnis eher simpel, aber der Kontext des Pro jekts spiegelt die Arbeitsrealität wider: Die beiden Leipziger haben sich ihre Arbeit selbst geschaffen, ihre Arbeitsutensilien (der Computer für das Design und die Handpresse für die Herstellung) sind Allerweltsgeräte. Den Umgang damit brachten sie sich selbst bei. Und die Jungunternehmer sind zuversichtlich, dass ihre Firma in einem Jahr, wenn sie ihren Zivildienst beendet haben, ihr Studium finanziert. Damit unterscheiden sie sich in ihrer Selbsthilfe von vielen ihrer ehe maligen Mitschüler, wie Max zugibt: «Von meiner alten Schule gibt es viele, die was machen wollen, aber nicht wissen wie. Die denken, dass man viel Geld braucht.» Max weiß, wie man an Fördergelder kommt. Und er weiß auch, dass «einer dieser bekannten Spätaussied ler» wie er, der vor zehn Jahren aus Nowosibirsk nach Deutschland kam, es schaffen kann. Ich solle unbedingt mal nach Apfelfront goog len, sagt er mir. Das ist ein anderes Projekt, in dem er mitarbeitet, ge gen rechts. «Du scheinst ja recht viel zu arbeiten», stelle ich fest. Worauf er ganz schlicht entgegnet: «Ich arbeite gerne mit Leuten zusam men.» Und damit ist man auch bei einer Crux solch motivierter Pro gramme wie dem 100.000 euro job , der auf die Eigeninitiative der Teilnehmer abzielt. Wen erreicht man? Wer macht mit? Der Groß teil sind Gymnasiasten, Abiturienten und Studenten. Und von ihnen machen die mit, die sowieso engagiert sind. Das ist wie mit dem Auf räumen nach einer Party: Es bleiben immer dieselben da. Spannend wäre es sicherlich auch zu erfahren, wie sich zum Beispiel Haupt und Realschüler Arbeit in Zukunft vorstellen und was diejenigen denken, die sich normalerweise nicht engagieren.
Christian hat mir dann übrigens doch noch seine Telefonnummer ge schickt. Er war kaum zu Hause, saß immer im Schnitt und besuchte zudem Workshops in Hamburg. Ja, so sind sie, die jungen Projektma cher. Eine aktuelle Studie der Europäischen Kommission gab im No vember 2006 bekannt, dass Kultur mit einem Anteil von 2,6 Prozent mehr zum Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union beiträgt als die Chemie , Gummi und Kunststoffindustrie. Demnach arbei ten 5,8 Millionen Europäer im Kultursektor — also insgesamt 3,1 Prozent der Beschäftigten in den damals noch 25 Mitgliedsstaaten. Zwischen 1999 und 2003 sei das Wachstum dieses Sektors um 12,3 Prozent höher als das Durchschnittswachstum der europäischen Wirtschaft insgesamt gewesen. Kultur macht also Arbeit und schafft Jobs. Das wird uns weiter beschäftigen.
Nikola Richter wurde 1976 in Bremen geboren. Sie lebt und arbeitet in Berlin als freie Autorin und Redakteurin der Zeitschrift Kulturaustausch. Sie veröffentlichte bisher roaming (Lyrikedition2000, 2004), Oder mal wieder Halma (SuKultur, 2004) und Die Lebenspraktikanten (S. Fischer, 2006). Ihre Kurzgeschichten Schluss machen auf einer Insel erscheinen im Herbst 2007 im Berlin Verlag.
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p rojekte e uro paische k u ltur
Fragen zur kulturellen Identität und zur kulturellen Einigung Europas bestimmen etliche Vorhaben der Kulturstiftung des Bundes, die sie anlässlich der deutschen EU Ratspräsidentschaft fördert. [ vgl den Beitrag Europäische Wertegemeinschaft? auf Seite 23 ] Nachdem wir Sie im letzten Magazin über einige Kongresse in diesem Kontext informiert haben, stellen wir Ihnen hier in Kürze ein Musikprojekt und zwei Ausstellungen in diesem Rah men vor und außerdem ein europäisches Dramaturgentreffen, das die Jury der antragsgebundenen Pro jektförderung zur Förderung empfahl.
europäische ensemble-akademie Gründung mehrerer internationaler Ensembles und Konzerttournee durch Europa Deutscher Musikrat, Bonn, Gustav Stresemann Haus, 15 24 3 07
In einer Europäischen Ensemble-Akademie werden junge Musiker aus mehreren europäischen Staaten unter der Leitung hochkarätiger Lehrer in drei Ensembles — für zeitgenössische E Musik, für eu ropäischen Jazz und für Pop und Rockmusik — gemeinsam musizieren: In einem zweiten Schritt soll ein viertes Ensemble gegründet werden, das die drei genannten musikalischen Stile miteinander verknüpft und so nach einer neuen musikalischen Sprache sucht. Ne ben Musikstudierenden aus Deutschland sollen an der Akademie vor allem Nachwuchsmusiker aus Portugal und Slowenien beteiligt wer den, da der Deutsche Musikrat die Europäischen Ensemble-Akademie zu einer festen Veranstaltung im Rahmen zukünftiger EU Ratspräsi dentschaften durch die dann jeweils präsidierenden Länder machen möchte und Portugal und Slowenien nach Deutschland die EU Rats präsidentschaft übernehmen.
Im Rahmen der Akademie werden folgende Ensembles gegründet: a) Das ensemble perspektiv für zeitgenössische Musik, Künstlerischer Leiter: Maurizio Kagel
b) Jazz Goes Ahead! — European Movement Jazz Orchestra, Künstlerischer Leiter: Peter Herbolzheimer c) basement pop — Ensemble für Pop und Rockmusik; Künstlerischer Leiter: Udo Dahmen
d) ensemble trans als genreübergreifendes Ensemble
Das ensemble trans konstituiert sich aus jeweils 10 bis 12 Musikern aus dem ensemble perspektiv, aus Jazz Goes Ahead! und aus basement pop. Es erarbeitet gemeinsam mit verschiedenen Komponisten neue Werke, in die die unterschiedlichen musikalischen Stile der drei Ur sprungsensembles gleichberechtigt einfließen. Alle Ensembles erar beiten im Rahmen der Akademie Konzertprogramme, mit denen sie auf Europa Tournee gehen. Die vier Ensembles reisen vom 24. März bis 1. April und vom 25. bis 28. April 2007 als Botschafter durch Europa und geben Konzerte in Berlin, Bremen, Brüssel, Köln, Lissabon, Ljubljana und Zagreb sowie — mit Blick auf die Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 50 Jahren — auch in Rom und im Vatikan. Realisiert werden die Konzerte in Zusammenarbeit mit örtlichen Ver anstaltern und in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut. Die Euro päische Ensemble-Akademie wird als Beitrag zum Kulturprogramm der deutschen E U Ratspräsidentschaft durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert.
blicke auf europa Werke deutscher Malerei des 19 Jahrhunderts Ausstellung Brüssel, Palais des Beaux Arts I Paleis voor Schoone Kunsten, 8 3 – 20 5 07
Die Ausstellung Blicke auf Europa thematisiert die Wahrnehmung Europas in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Wie sahen die Deutschen im Zeitalter von Goethe bis Rilke Europa? Was sahen sie und was nahmen sie nicht wahr? Der Blick gen Süden — auf Grie chenland und Italien als Ursprungsländer der gesamten europäischen Kultur — sowie der Blick auf die französischen, holländischen und österreichischen Nachbarn erweist sich dabei als besonders ertrag reich. Andererseits gibt es auch zahlreiche Verbindungen zu anderen europäischen Staaten: So sind bedeutende Werke Caspar David Friedrichs von Landschaften in Böhmen und Schlesien inspiriert und Belgien hat der deutschen Historienmalerei wichtige Impulse gege ben. Mit dieser Ausstellung in Brüssel werden nicht nur die europä ische Perspektive deutscher Maler vorgestellt, die Verbindungslinien zwischen Nationen, Ländern und Regionen — im Geiste der heutigen Europäischen Union — gezogen, sondern es präsentieren sich zugleich auch die großen deutschen Museen, in deren bedeutenden Beständen sich diese Kunstwerke befinden, allen voran die Samm lungen von Berlin, Dresden und München. So spiegelt die Ausstel lung in Brüssel auch die Kulturgeschichte Deutschlands als eine Sammlungsgeschichte bildender Kunst in Kleinstaaten, die erst in ih rem Zusammenwirken eine kulturelle Einheit anbahnten. Das Spek trum der Künstler reicht von Karl Friedrich Schinkel und Karl Ble chen über Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge bis zu Adolph Menzel und Max Liebermann. Die Ausstellung Blicke auf Europa wird als Beitrag zum Kulturprogramm der deutschen EU Ratspräsidentschaft durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert.
made in germany Ausstellung Vorläufige Künstlerliste: Michael Beutler, Fernando Bryce, Björn Dahlem, Elmgreen / Dragset, Slawomir Elsner, Jeanne Faust, Christoph Girardet, Jeppe Hein, Andreas Hofer, Sabine Hornig, Ján Mancuška, Björn Melhus, Simon Dybbroe Møller, Jonathan Monk, Astrid Nippoldt, Henrick Olesen, Peter Piller, Daniel Roth, Michael Sailsdorfer, Florian Slotawa, Simon Star ling, Mathilde ter Heijne, Oliver van den Berg, Tobias Zielony. I Sprengel Museum Hannover, kestnergesellschaft und Kunstverein Hannover, 25 5 26 8 07 Vom 25. Mai bis 26. August 2007 zeigen das Sprengel Museum Han nover, die kestnergesellschaft und der Kunstverein Hannover eine große gemeinsame Überblicksschau zur jüngeren Gegenwartskunst in Deutschland. Die mehr als 50 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler — jeweils zur Hälfte deutscher und internationaler Herkunft — gehören zu einer jüngeren Künstlergeneration, die in Deutschland lebt und arbeitet. Der Ausstellungstitel Made in Germany ist pro grammatisch zu verstehen: Fragen der künstlerischen Identität wer den nicht an den Geburtsort und die Biografie der Künstler gebunden, sondern im Zusammenhang mit dem Produktionsort der Werke ver knüpft und die Bedingungen künstlerischen Arbeitens in Deutsch land thematisiert. Die Ausstellung Made in Germany wird als Beitrag zum Kulturprogramm der deutschen EU Ratspräsidentschaft durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert.
europäische dramaturgie im 21. jahrhundert Inter nationale Tagung zu zeitgenössischer Dramaturgie in Europa Tagung Tagungsleitung: Hans Thies Lehmann, Patrick Primavesi I Beteiligte /Künstler: Christian Biet (F), Gabriele Brandstetter, Geoff Coleman (GB), Tim Etchells (GB), Erika Fischer Lichte, Heiner Goebbels, Carl Hegemann, Marijke Hoogenboom (NL), Emil Hrvatin (SLO), Jean Jourdheuil (F), Stefan Kaegi, Marianne van Kerkhoven (B), Jan Lau wers (B), Matthias Lilienthal, Dea Loher, Gerard Mortier (F), Mike Pearson (GB), Tom Stromberg, Theodoros Terzopoulos (GR), Barbara Weber, Klaus Zehelein u.a. I Veranstaltungsorte in Frankfurt am Main: Johann Wolfgang Goethe Universität, Oper Frankfurt, schauspielfrankfurt, Künstlerhaus Mousonturm, sowie Staatstheater Darmstadt I Veranstaltungszeitraum: 26 30 9 07
Theater müssen heute immer größere Anstrengungen in der Entwick lung neuer Veranstaltungsformate unternehmen, um sich die Auf merksamkeit des Publikums im rasch wandelnden Kultur und Me dienbetrieb zu sichern. Gleichzeitig sollen sie aber einem Bildungs auftrag genügen, der ihre hohe Finanzierung durch die öffentliche Hand rechtfertigt. Dramaturgen stehen in dieser Situation vor vielfältigen Herausforderungen in der Entwicklung neuer Spiel und Produktionsformen, von Konzepten zur Vermittlung an neue Publikumsschichten, der Bildung von internationalen und spartenüber greifenden Netzwerken usw. Die Ausbildungswege im Bereich Dra maturgie berücksichtigen die entsprechenden Qualifikationen noch zu selten. Die internationale Tagung will eine stärkere institutionelle Zusammenarbeit von Theatern, Akademien, Universitäten usw. für eine den aktuellen Anforderungen angemessene Dramaturgenaus bildung anregen.
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au swahl ]
europaische wertegemeinschaft?
Als Beitrag zum Kulturprogramm während der deutschen EU Ratspräsidentschaft veranstaltet die Kulturstiftung des Bundes zusammen mit der Stadt Karlsruhe den internationalen Kongress Wert Urteile — Judging Values, bei dem es um gemeinsame und heterogene Wertvorstellun gen in Europa geht. Der Kongress findet vom 9. bis zum 11. Mai 2007 unter der Schirmherrschaft des Bundesverfassungsgerichts im Kongress zentrum Karlsruhe statt und wird über fünfzig nationale und internationale Experten aus den Rechts und Geisteswissenschaften zu Wort kom men lassen. An zwei viel diskutierten Beispielen, dem Wert ‹menschliches Leben› und dem Wert ‹Religionsfreiheit› soll die durchaus unter schiedliche Rechtsauffassung in den EU Ländern debattiert werden, wie sie sich zum Beispiel in den verschiedenen Embryonenschutzgesetzen, der (Nicht)Strafbarkeit der Sterbehilfe oder dem Verbot, religiös kulturell begründete Symbole wie das Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen, niederschlagen. Im Horizont dieser Themen steht die Frage, wie es um die viel beschworene europäische Wertegemeinschaft bestellt ist. Ohne einen weitgehenden Konsens in den Wertvorstellungen bleibt die kulturelle Identität Europas Wunschdenken. Der Philosoph Otfried Höffe entwirft in seinem Aufsatz Konturen einer europäischen Wertegemeinschaft, die auch unterschiedliche höchstrichterliche Urteile zu integrieren vermag, weil ihr Werte der politischen Kultur übergeordnet seien.
von otfried hoffe
wäre die höchstrichterliche Rechtsprechung das Maß, so erschiene eine europäische Wertegemeinschaft als höchst fragwürdig. Denn die Ur teile zum Konflikt von Privatsphäre und Presse- oder Kunstfreiheit, zum Streit um den Hejab, das Kopftuch muslimischer Frauen, und zu bioethischen Fragen wie dem Embryonenschutz und der Sterbehilfe fallen in den verschiedenen EU Staaten unterschiedlich aus. Werte sind aber keine Rezepte für konkrete Entscheidungen. Sie sind Orientierungsgesichtspunkte, an denen sich persönliches und öffent liches Handeln ausrichtet. Werte sagen, was man achtet und hoch schätzt, sei es tatsächlich, sei es sinnvoller Weise.
Im Rahmen der Wertschätzung gibt es unterschiedliche Stufen. Den untersten Rang nehmen funktionale Werte wie Tatkraft und Zielstre bigkeit, Sparsamkeit und Ordnungssinn ein. Im mittleren Rang fin den sich Werte, die dem Wohlergehen dienen, pragmatische Werte wie die Besonnenheit und die Gelassenheit oder für ein Gemeinwesen die Rechtssicherheit. Der höchste Rang gebührt den moralischen Werten wie der personalen Gerechtigkeit, auch Rechtschaffenheit genannt, wie der Hilfsbereitschaft, Wohltätigkeit und der Toleranz, nicht zu letzt der Menschenwürde, den Grund und Menschenrechten. Werte allein können schon deshalb kein konkretes Handeln definieren, weil dieses zusätzlich von Sachgesetzlichkeiten und der jeweiligen La ge bestimmt ist. Beispielsweise braucht finanzielle Not eine andere Hilfe als seelische Not. Ferner kommt es auf die eigenen Möglich keiten an: Ein Chirurg hilft einem Unfallverletzten anders, als wer nur in Erster Hilfe ausgebildet ist. Schließlich gibt es ein Recht, das im Fall Europas zu dessen Grundwerten gehört, ein Recht auf Eigen art und Differenz. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben sich unter den Wahlspruch ‹e pluribus unum› gestellt, sie wollen also aus Vielem eine Einheit schaffen. Europas gelebter Wahlspruch un terscheidet sich in einem einzigen kleinen Wörtlein: ‹ in pluribus un um›. Selbst wenn es einmal Vereinigte Staaten von Europa geben soll te, dürften sie diesen Wert nicht aufgeben, dass ihre Einheit in Vielheit existiere. Auch die Bologna Erklärung wollte ‹Unterschiede in kultu rellen Bereichen und zwischen den nationalen Hochschulsystemen› wahren. Dass Deutschland — wieder einmal — Werte aufgibt, hier die größere Interdisziplinarität und Flexibilität der Magisterstudien gänge, ist nicht Europa, sondern der eigenen, törichten Regulierungs sucht anzulasten. Zu den Grundwerten gehört jedenfalls ein Recht auf Differenz. Seinetwegen braucht sich Europa nicht von jedem Unterschied in der höchstrichterlichen Rechtsprechung irritieren zu lassen. Im übrigen folgen die unterschiedlichen Entscheidungen in der Regel nicht aus unterschiedlichen Werten, sondern aus denselben Werten, die aber unterschiedlich gegeneinander abgewogen werden. Die Pressefreiheit beispielsweise ist in den verschiedenen Staaten an erkannt, aber nicht als ein absoluter Wert. Sie ist vielmehr an die allgemeinen Gesetze gebunden, insbesondere an den Jugendschutz, an das Recht der persönlichen Ehre und an das Recht auf Privatsphäre.
Wie im Einzelfall die Pressefreiheit gegen ihre Grenzen abzuwägen ist, kann nicht mathematisch berechnet werden. Es braucht eine Urteils fähigkeit, die die infrage stehenden Gesichtspunkte unterschiedlich gewichten kann. Wenn das Bundesverfassungsgericht zu einem ande ren Entscheid als etwa der Bundesgerichtshof kommt und selbst in nerhalb der einschlägigen Senate unterschiedliche Ansichten vertreten werden, so folgt daraus nicht, die Richter gehörten unterschiedlichen Wertegemeinschaften an. Im übrigen können deutsche Richter von anderen Gerichten, namentlich dem Europäischen Gerichtshof eben so lernen wie diese von der deutschen Seite. Und diese wechselseitige Lernfähigkeit ist selber ein Zeichen der europäischen Wertegemein schaft. Denn wären die Werte der einzelnen Staaten verschieden, ein schließlich des Wertes fairer Prozessführung, so wäre der Entscheid eines anderen Staates nur ein Gegenbild, aber kein mögliches Vorbild.
europa kann sich einer reichen Palette gemeinsamer, sogar unverzichtbar gemeinsamer Werte rühmen. Sowohl historisch als auch rangmäßig beginnen sie mit der politischen Kultur. In scharfem Gegensatz zu den orientalischen Reichen setzt unser Kontinent schon vor mehr als
zweieinhalb Jahrtausenden auf eine freiheitliche Demokratie. Seit den Schlachten von Marathon und Salamis wird sie notfalls militärisch verteidigt und gegen vielfältige Rückfälle in Despotie wird sie nicht bloß immer wieder erneuert, sondern auch weiter ausgebaut: Gegen den absolutistischen Staat entwickelt sich der Vorrang des Rechts und die Verpflichtung des Rechts auf Prinzipien politischer Gerechtigkeit; gegen den Gedanken einer Herrschaft von Gottes Gnaden stellt sich der Gedanke der Volkssouveränität; und gegen die Gefahr des Machtmissbrauchs selbst von seiten demokratischer Herrschaft werden zusätzlich zu den Grund und Menschenrechten die Gewaltenteilung und eine kritische Öffentlichkeit eingeführt. Zu den politischen Grundwerten gehört ferner die Hochschätzung des Sozialstaats und einer facettenreichen Zivil bzw. Bürgergesellschaft. Deren Ort ist der Zwischenbereich und zugleich das Verbindungs glied zwischen der Privatsphäre von Familie, Vereinsleben und privat rechtlicher Ökonomie einerseits und andererseits den staatlichen Instanzen wie Parlament, Gericht, öffentliche Verwaltung und Parteien. Mit Bürgerinitiativen, Bürgerclubs und zahllosen Ehrenämtern, mit den Institutionen der wissenschaftlichen Selbstorganisation und mit sozialen, kulturellen und politischen, aber auch wissenschaftlichen Stiftungen wird die politische Sphäre erheblich ausgeweitet. Dabei finden eine teilweise Politisierung der angeblich entpolitisierten Ge sellschaft und spiegelbildlich dazu eine teilweise Entstaatlichung der Verantwortung fürs Gemeinwohl statt.
Wohlklingende Texte genügen für die Anerkennung politischer Werte allerdings nicht. Obwohl die Verfassung vom 20. September 1954 in Artikel 87 ‹den Bürgern der Volksrepublik China› «das Recht auf die Freiheit der Rede, der Presse, der Versammlung, des Zusammen schlusses, der Prozession und Demonstration» einräumt, wurde im Juni 1989 die Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Frie dens blutig niedergeschlagen. Oder: Die Türkei nennt sich einen ‹lai zistischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat›, trotzdem blei ben immer wieder so selbstverständliche Dinge einzufordern wie die vollständige Abschaffung der Folter und ein verlässlicher Schutz der ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten. Insbesondere in der Benachteiligung der christlichen Kirchen zeigt die Türkei, wie weit sie vom europäischen Wert der Religionsfreiheit entfernt ist.
Fast zur selben Zeit wie die politische Kultur beginnt in Europa die wis senschaftlich philosophische Kultur aufzublühen. In ihr spricht sich ein zweiter Strauß von Werten aus, zusammengehalten durch eine facettenreiche Neugier. Sie lebt sich in einer Entdeckungs und Erfin dungslust aus, stellt sich als Medizin und Technik in den Dienst menschlicher Zwecke und sucht darüber hinaus etwas, das erst heute, im Zeitalter der Merkantilisierung, bedroht ist: eine nutzenfreie Er kenntnis. Ein Teil, die weltweit bewunderten Geisteswissenschaften, pflegen etwas, das moderne Gesellschaften dringend benötigen und sich langfristig auch ökonomisch auszahlt: Verständnis für andere und anderes, das dem von Samuel Huntington voreilig beschworenen Kampf der Kulturen Offenheit und Toleranz entgegensetzt. Es ist da her töricht, dass die europäische Projektförderung die klassischen Geisteswissenschaften zu benachteiligen pflegen, obwohl sie der Ur sache vieler Querelen innerhalb Europas entgegensteuern: der Fixie rung auf die eigene Kirchturmsperspektive und auf einen Nationalis mus, der einerseits die eigenen Leistungen zu überschätzen, fremde Leistungen aber zu unterschätzen pflegt und der andererseits sich sel ber gern nur als Opfer, die bösen Nachbarn dagegen bloß als Täter wahrnimmt.
Ein weiterer Wert Europas: Damit die Wissbegier den sicheren Gang einer Wissenschaft einschlägt, wird sie methodisch betrieben. Die glückliche Nebenwirkung: Dass das Wissen lehr und lernbar wird, findet in der Einheit von Forschung und Lehre, der Universität, die bis heute weltweit vorbildliche Gestalt. Auf der Pflichtschule wird das Wissen allen angeboten, auf der Kürschule dagegen, von der Berufsakademie über die Fachhochschule bis zur Universität, steht es den entsprechend Begabten und Interessierten offen.
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Ob Pflicht oder Kür: Europa legt großen Wert auf gleiche Bildungschan cen für Männer und Frauen. Dass in manchen, mittlerweile aber längst wohlbekannten Einwanderergruppen gegen diesen Gleichheitswert krass verstoßen wird, hat sich die Europäische Union Jahre lang nicht einzuräumen getraut. Hier bedarf es einer korrigierenden Rechtspolitik. Ähnliches trifft auf das Thema Gewalt zu. Dass in den Frau enhäusern Deutschlands und bei der Gewalttätigkeit von Jugendlichen gewisse Kulturgruppen weit überproportional vertreten sind, beweist fehlende Anerkennung eines europäischen Grundwertes, der gewaltfreien Konfliktlösung. Zu Europa gehören auch pragmatische Werte, etwa die Kultur einer rationalen Verwaltung, die in Verbindung mit der liberalen Demokratie zu einem Wesensmerkmal des Rechts staates wird, zur korruptionsfreien, sogar streng unparteiischen Ad ministration.
Ein anderer pragmatischer Wert, die ökonomische Rationalität, erlaubt den effizienten Umgang mit jeder Art von Ressource. Weil er mittler weile vielerorts gepflegt wird, leider häufig mehr mit der Arbeitskraft als mit den natürlichen Ressourcen, ist ein globaler Wettbewerb ent standen, der die Frage aufwirft: Wie kann sich in der Verbindung von neuen Absatzmärkten mit neuen Arbeitsplatzkonkurrenten ein Stück europäischer Wertegemeinschaft ausbilden? Wer in den Verei nigten Staaten neben den reichen Wohngebieten die erschreckend ar men, überdies gewaltreichen Elendsviertel erlebt, wird bei aller Aner kennung der dynamischen US Wirtschaft die Sozialstaatlichkeit Eu ropas nicht missen wollen. Und wer Japan besucht, kann die vom Buddhismus und dem Schintoismus gepflegte Naturverbundenheit bewundern, nimmt aber mit Erstaunen zur Kenntnis, dass sich die Umweltschutzethik weniger von dort als von westlichen Quellen speist. Deshalb empfiehlt sich, die spezifisch europäische Wirtschafts und Arbeitswelt in einem ‹magischen Dreieck› fortzubilden: Die wirt schaftliche Rationalität verbinde man mit einem nachhaltigen Um weltschutz und mit einer Sozialstaatlichkeit, die aber nicht zu einem maternalistischen Fürsorgestaat degeneriere. Die Alternative, die Hilfe zur Selbsthilfe, lasse sich auf einen Sachverhalt von anthropologischem Rang ein: dass das Arbeits und Berufsleben, angefangen mit der vorlaufenden Ausbildung und der begleitenden Fortbildung, ein hohes Maß an Selbstverwirklichung, an Selbstachtung und an Ach tung durch andere enthält. Zu einem zeitgerechten Sozialstaat gehört auch die Gerechtigkeit gegen künftige Generationen, sichtbar außer im nachhaltigen Umweltschutz in einem Abbau der Staatsverschul dung und in Investition in die materielle, soziale und kulturelle Infra struktur.
Nicht das geringste Glied der europäischen Wertegemeinschaft liegt in der Aufklärung. Gemeint ist nicht bloß das Aufklärungszeitalter der Neuzeit, sondern weit allgemeiner und zugleich grundsätzlicher jener «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig keit», den einer der größten Denker europäischer Werte, Immanuel Kant, betont. Epochen der Aufklärung gibt es in vielen Kulturen. Im griechischen Mythos gilt der Regenbogen als Erscheinung einer Göt tin namens Iris. Dem hält der Philosoph Xenophanes entgegen: «Und was sie Iris nennen, auch das ist nur eine Wolke, purpurn und hellrot und gelbgrün anzuschauen.» Hier treten zwei Gestalten von Auf klärung zutage: die ‹rationale› Erklärung der Natur und eine Religionskritik, die das Verständnis der Gottheiten als sichtbarer Natur erscheinungen verwirft. Drittens wird die Aufklärung bei Xenopha nes konstruktiv; denn nach seinem ‹aufgeklärten›, schon monotheis tischen Gottesbegriff gibt es einen ‹einzigen Gott›, und der ist «unter den Göttern und Menschen der Größte, weder an Gestalt den Sterb lichen ähnlich noch an Gedanken». In ihrer europäischen Gestalt spart die Aufklärung selbst die Texte von Offenbarungsreligionen nicht aus. Was christlichen Theologen längst selbstverständlich ge worden ist, müssen sich muslimische Theologen noch erarbeiten — vorausgesetzt, sie wollen zur europäischen Wertegemeinschaft gehö ren —: die kritische Hermeneutik selbst heiliger Texte.
In der europäischen Aufklärungsepoche bildet sich als weiterer Wert ei ne europäische Gelehrtenrepublik aus, deren Bürger ‹Selbstdenker› sind, die die Gedankenfreiheit einfordern, in ihrem Rahmen sich das gleiche Rederecht einräumen, aber auch um den größeren Ruhm wetteifern. Wie in der Politik und in der Wirtschaft so herrscht auch hier die Konkurrenz. Wenn sich der englische Schriftsteller Julian
Barnes «seit jeher als Europäer» fühlt, dann denkt er «nicht an Wahlen, Referenden und eine Verfassung», sondern an das alternative Europa, an die «Europäische Republik des Geistes». Bei Barnes gibt sie ein spezielles Beispiel für die Einheit in Vielheit ab. Denn für ihn besteht die Europäische Republik des Geistes in einem «anarchischen, lärmenden und freundlichen Ort nie endender Fragen und Selbst zweifel».
Die Aufklärung schafft ein neues Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt, auch zu Gott, das durch vier Leitbegriffe bestimmt ist: [1] Die Vernunft gilt als ein Wesensmerkmal des Menschen, das ihn befä higt, allgemeingültige Maßstäbe für Erkennen, Handeln und Politik zu erarbeiten; [ 2 ] das Prinzip persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Handelns besteht in der Freiheit; [ 3 ] der Begriff des Fort schritts meint die Gesamtheit von Neuerungen, die zu besseren Rechts , Kultur , Wirtschafts und Sozialverhältnissen führen, auch wenn man negative Nebenwirkungen nicht unterschlagen darf; [ 4 ] die Kritik richtet sich auf alle Ansichten und Institutionen, die den Menschen in Unmündigkeit halten, einschließlich einem naiven Ver nunft und Fortschrittsoptimismus; zur gründlichen Aufklärung ge hört die Selbstkritik unaufgebbar hinzu.
Den Kern der europäischen Wertegemeinschaft bilden Werte, die über europäisch gültig sind. Es sind insbesondere drei: Dass der Mensch, bloß weil er Mensch ist, unveräußerliche Rechte hat: der Wert der Menschenrechte; dass die Menschen auch in ihrer Andersartigkeit wechselseitige Achtung verdienen: der Wert der Toleranz; dass nicht nur in einem Gemeinwesen, sondern auch zwischen den Völkern das Recht statt der Gewalt herrschen soll: der Wert eines mehr und mehr zu entwickelnden Völkerrechts.
Eine konkrete Gemeinschaft wie Europa lebt aber auch aus Gemein samkeiten, die ‹typisch europäisch› sind. Sie beginnen mit jener Spra che oder einer wohldefinierten Mehrsprachigkeit, in der die Rechtstexte formuliert und im Parlament sowie in der Öffentlichkeit debat tiert werden. In deren Hintergrund steht eine reiche philosophische, literarische, soziale und vor allem Rechtskultur. Mit der Wirtschaft verdient eine Gesellschaft ihren Lebensunterhalt, mit Recht, Men schenrechten und Demokratie genügt sie dem Leitwert der Gerech tigkeit. Ihren Zusammenhalt findet sie aber über die Sprache, über Wissenschaft und Philosophie, nicht zuletzt über Musik, Kunst und Architektur.
Zur europäischen Wertegemeinschaft gehören beide Seiten: eine Viel falt der Sprachen, der man durch Fremdsprachenkenntnisse entge gentreten kann, und ein hohes Maß an Gemeinsamkeit in Kultur und Wissenschaft. Hinzu kommt ein Drittes: Auch wenn die Europäer ei ner jeweils bestimmten Geschichte und Kultur, Sprache oder Mehr sprachigkeit, vielleicht auch Religion und Konfession zugehören und wegen dieser Zugehörigkeiten nach innen Gemeinsamkeiten, nach außen aber Grenzen schaffen, so dass viele dieser Zugehörigkeiten in innereuropäischem Wettbewerb stehen — in ‹eitel Liebe und Freund schaft› besteht Europa jedenfalls nicht —, so können sie durch ihr gemeinsames Menschsein derartige Grenzen auch relativieren. Infol gedessen finden sie in einer ersten Stufe zu einem gemeinsamen Europa, das sie in einer zweiten Stufe zu einem nicht alternativen, aber komplementären Weltbürgertum (Kosmopolitismus) relativieren.
Offensichtlich greifen die genannten Werte, genauer Gruppen von Wer ten, ineinander und bilden zusammen eine Gemeinschaft europäischer Werte: Die liberale Demokratie begünstigt die Wissbegier, diese die Aufklärung, die wiederum die liberale Demokratie und die Wiss begier sowohl zu begründen als auch fortzuentwickeln hilft. Der rationale Handelsgeist schließlich schafft einen materiellen Reichtum, der den Institutionen der Wissbegier und der Kultur im engeren Sinn
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Wert Urteile — Judging Values . International Congress on Human Values in Europe 9 11 5 07, Kongresszentrum Karlsruhe www.werturteile.de
zugute kommen kann und an dem dank einer sozialstaatlichen De mokratie samt korruptionsfreier Verwaltung alle Bürger partizipie ren dürfen.
Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie der Universität Tübingen. Im Jahr 2002 wurde er mit dem Karl Vossler Preis für wissenschaftliche Darstellungen von literarischem Rang ausgezeichnet. Zu letzt erschienen von ihm: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung (2004) und Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich? (2007), beide im Beck Verlag, München.
polnische wunder
von martin pollack b
Warum schaut der Adler im polnischen Wappen immer nach Westen? Was sind Schlach ta und was Lumpex? Antworten auf solche Fragen gibt das Alphabet der polnischen Wunder. In über hundert Stichwörtern von A(chtundsechzig) bis Z(willinge) werfen deutsche und polnische Autoren ungewöhnliche Blicke auf unser Nachbarland. Die Beiträge führen vom Vertrauten zum Abseitigen, versammeln historisches, alltagskul turelles, politisches und popkulturelles Wissen. Das Buch entstand im Rahmen der deutsch polnischen Kulturprojekte des Büro Kopernikus, einem Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes. Wir veröffentlichen vorab Auszüge aus dem Buch, das im Herbst 2007 im Suhrkamp Verlag erscheint.
adel
ei einem Gang durch polnische Buchhandlungen fallen einem die zahl reichen Werke auf, die man unter dem weiten Begriff ‹romantische Nostalgie› zusammenfassen könnte. Meist sind das reich illustrierte Bücher, so genannte Coffee Table Books, über polnische Schlösser und Landhäuser adeliger Familien, polnische Blankwaffen und Rüs tungen, Alben mit alten Photographien aus den Kresy, den ehemals polnischen Gebieten im Osten, die heute zu Litauen, Belarus oder der Ukraine gehören, Prachtbände über Wilna, Vilnius, und Lemberg, Lviv. Eine eigene kleine Abteilung in dieser romantischen Sammlung nehmen Wappenbücher ein, mit Abbildungen von Familienwappen, geordnet nach Namen und geographischer Herkunft.
Die Faszination des Adels, der Schlachta, die Suche nach adeligen Wur zeln hat in Polen breite Schichten erfasst, ein Hinweis darauf, dass die polnische Kultur bis heute wesentlich von der Schlachta Kultur geprägt ist. Das signalisiert nicht bloß der Handkuss, der sich in Polen länger erhalten hat als anderswo. Ihre wirtschaftlichen und poli tischen Positionen hat die Schlachta spätestens in den Zeiten der pol nischen Teilungen eingebüßt, nicht aber ihre geistige Vormachtstel lung, ihren Einfluss auf Denken, Kultur und Sitten. Von prägender Bedeutung war das Wertesystem der adeligen Gesellschaft. Diese stellte den Patriotismus, den Dienst an der Nation, den Kult der Ehre und des Opfermutes über alles. Den heldenhaften Kampf, und sei er noch so aussichtslos. Das heroische Blutopfer auf dem Schlachtfeld, im Kampf um die Unabhängigkeit des Vaterlandes. So genannte bür gerliche Tugenden, wie Sparsamkeit, Fleiß, Arbeitseifer, Ordnungs liebe und das schnöde Bemühen, Geld zu verdienen, galten in der ade ligen Gesellschaft hingegen nicht so viel. Das hat Spuren hinterlassen. Die polnische Adelsgesellschaft führte ihre Herkunft auf das mythische Reitervolk der Sarmaten zurück, was die Schlachta gleichsam gene tisch von den übrigen Ständen — voran die verachteten Bauern — ab hob. Ein wichtiges Element der Schlachta war die Gleichheit — alle Angehörigen waren ebenbürtig, ohne Rücksicht auf Titel und Besitz stand. Das klang sehr schön, doch in der Praxis existierte die Gleich heit nur auf dem Papier. In Wahrheit waren die Unterschiede enorm. Die einen besaßen riesige Ländereien mit zahlreichen Dörfern und prächtige Schlösser, andere lebten nicht besser als die missachteten Bauern, Kleinbauern sogar. Ein kleiner Hof, ein paar Stück Vieh, ein paar Hosenriemenfelder (so genannt, weil sie schmal wie Hosenrie men waren), das war alles.
Auf die Unterschiede im Besitzstand beziehen sich die zahlreichen Be zeichnungen, die das Polnische für die Schlachta kennt. Da gab es die szlachta zagrodowa (von zagroda: Bauerngut), die szlachta zagonowa (mit noch weniger Besitz), die szlachta czastkowa (deren Angehörige einen Teil eines Dorfes besaßen), die szlachta drakowa (der Angehörige dieses Standes besaß nicht einmal einen bequemen Sessel und musste sich mit einer Stange, drazka, als Sitzgelegenheit begnügen), die szlachta gołota (von goły, nackt, die überhaupt keinen Grund be saß) und schließlich die szlachta brukowa, die von einem übelwollenden Schicksal auf den bruk, das harte Straßenpflaster der Stadt, ge spült worden war.
Von den Kleinbauern oder dem städtischen Proletariat unterschieden sich die verarmten Angehörigen der Schlachta nur durch den Namen, den Besitz eines Wappens und den im patriotischen Andachtswinkel hängenden schartigen Säbel des Urgroßvaters, mit dem dieser bei Somosierra gekämpft hatte oder an der Beresina. Die Namen der Schlachten, in denen polnische Ulanen, Kürassiere, Husaren, Drago ner usw. in fremden Diensten, für Napoleon zumeist, tapfer gekämpft und ihr Leben gelassen hatten, sind Legion.
Die Erinnerung an die adelige Herkunft wurde sorgsam gepflegt, hin weg über alle Schicksalsschläge und Unbillen. Sogar noch in kommu nistischen Zeiten, obwohl da eine proletarische oder wenigstens bäu erliche Herkunft mehr Vorteile versprachen. Der polnische Autor Ja kub Karpinski beschreibt in dem Buch Taternictwo nizinne, was soviel wie Alpinismus der Ebene bedeutet, wie er im kommunistischen Polen, in den frühen sechziger Jahren, zur ‹ gesellschaftlichen Arbeit› in ein Dorf unweit von Warschau geschickt wurde. Dort fiel ihm auf, dass eine unsichtbare, aber umso strengere Teilung existierte: Auf der ei nen Seite der löchrigen Schotterstraße wohnten Bauern, die sich zur Schlachta zählten, auf der anderen die chamy, die gewöhnlichen Bau ern. Der einzige Unterschied zwischen den beiden bestand darin, dass die ‹adeligen› Bäuerinnen bei der Feldarbeit Handschuhe trugen — zu einer Zeit, als Arbeitshandschuhe im polnischen Dorf noch unbe kannt waren.
Das gibt es heute wohl nicht mehr. Aber ansonsten wird die Erinnerung an die Schlachta wieder eifrig belebt und poliert.
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Martin Pollack ist Slawist, Historiker, Schriftsteller, Journalist und Übersetzer aus dem Polnischen (insbesondere für die Werke von Ryszard Kapuscinski). Bis 1998 Re dakteur des Spiegel, seither freier Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien Sarmatische Landschaften, Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland (S. Fischer, 2006).
von peter oliver loew e
lumpex
hans kloss
von radek knapp
e
s ist eines jener Bilder, die zu Beginn der 1990 er Jahre die deutsch pol nischen Beziehungen spiegelten: Kilometerlang zogen sich die Auto schlangen vor den Grenzen durch die ostdeutsche Provinz. Schwertransporter, Kleinlaster, Personenwagen mit Anhängern, Kombis, Busse reihten sich in kaum enden wollender Folge westlich von Oder und Neiße aneinander.
Die meisten transportierten Gebrauchtes: Autos, Autoteile, Kleidung, Maschinen — der Ausschuss des Westens für den nach Westen lech zenden Osten. Die Geschichte des Gebrauchten in der polnischen Kultur ist so alt wie Polen selbst: Ganze Generationen haben sich heiß geredet über ‹Nachahmung› und ‹gedankenlose Übernahme› fremder (sprich: westlicher) Gedanken, Erfindungen, Moden, Pro dukte. Es gab einige Gegenkonzepte: die Adelsideologie des Sarma tismus, den romantischen Messianismus — und auch den Kommu nismus könnte man hier vielleicht anführen. Doch gegen die ökono mischen Realitäten war auf lange Sicht kein Kraut gewachsen, und so führte das wirtschaftliche West Ost Gefälle ganz automatisch zu einem Transfer von materiellen und geistigen Gütern. Vom Christen tum über das deutsche Recht, die Künste und Wissenschaften bis hin zu Mercedes, Coca Cola und Zivilgesellschaft. Alles entweder ge braucht oder zwar fabrikneu, aber doch schon anderswo seit einiger Zeit auf dem Markt.
Während sich die Intellektuellen ereiferten, stand das Volk meist im Bann der Westimporte, vor allem dann, wenn politische Verwerfungen den natürlichen Warenaustausch erschwerten. In ganz besonde rem Maße galt dies für die kommunistische Zeit: ‹Import› und ‹Ex port› waren Zauberwörter im kommunistischen Land, sie standen für Freiheit, Sehnsucht, aber auch für ganz viel Geld, das oft andere als die behördlich vorgesehenen Wege nahm. Die Verehrung kleiner und großer Einfuhrgüter war nicht nur in den Wohnungen zu besich tigen, deren Besitzer stolz leere Shampoo Flaschen, zerdellte Bierdo sen und Jeans zur Schau stellten, sondern auch im Stadtbild. Denn spätestens als in den 1980er Jahren die rechtlichen Möglichkeiten ge schaffen wurden, entstanden in Hülle und Fülle Firmen wie Rolim pex, Grill Impex, Polimpex, Tech Pro Impex und hunderte, tausen de weitere.
Alle diese verstümmelten Huldigungen an die Welt des freien Marktes standen in einer eigentümlichen Intertextualität zur sowjetrus sischen Abkürzungsflut der vorausgegangenen Jahrzehnte. Und in heimischen Gefilden hatten, onomasiologisch gesehen, alle zudem ei ne Urmutter. Sie hörte auf den Namen ‹Pewex›. So firmierte eine in den 1960 er Jahren entstandene Ladenkette, in denen man gegen De visen Westwaren oder polnische Exportprodukte kaufen konnte, die nie in den normalen Handel gelangten. Pewex — das war die Hoff nung auf ein besseres, ein schöneres Leben. Der Name der um 1990 Bankrott gegangenen Firma ist eine Abkürzung von ‹Unternehmen für Binnenexport›. In dieser abstrusen Bezeichnung sind all die Ab surditäten der Zentralverwaltungswirtschaft enthalten.
Auf Pewex folgte ‹Lumpex›: Auch dieser Name bezeichnet Geschäfte. Sie befinden sich in den Vorstädten oder auf den großen Märkten und verkaufen gebrauchte Kleidung, oft nach Gewicht. ‹Lumpex› ist die ironische Bezeichnung für eine Realität der armen Leute, die — dop pelte Ironie — ebenfalls vom Mythos des Westens erfüllt ist: ‹Lum pen› verweist auf die Herkunft der Klamotten, die zum Großteil aus Deutschland stammen, und lässt mit Lump und Lumpenproletariat ein auch im Polnischen semantisch negativ besetztes Feld mitklingen. Das ‹Ex› im Namen ist aus polnischer Perspektive natürlich falsch und der Parallele zum Pewex geschuldet.
Im Lumpex zu kaufen ist zwar vielfach, aber keineswegs durchweg ein Attribut der Armen. Nicht wenige Polen — meist jüngere Frauen — der Mittelschicht stöbern gerne in den Kleiderbündeln und präsen tieren dann stolz ihre Funde aus dem Ausschuss des Okzidents. Lum pex ist fast schon Mode, viele Läden präsentieren sich heute im Inter net, und eine der jüngsten kulturellen Strömungen Polens ist von der Wissenschaft zur ‹Generation Lumpex› ausgerufen worden.
Pewex. Lumpex. Impex und Exim. Sprachverstümmelungen für eine uralte Leier. Es wäre noch zu untersuchen, welche besonderen kultu rellen Energien oder Lähmungserscheinungen dieser seit Jahrhun derten wehende, bisweilen säuselnde, bisweilen peitschende Westwind ausgelöst hat. Was hat er nicht alles nach Polen, nach ganz Ostmittel europa gefegt! Er ist ein Signum des Alltags, des Lebens in semiperipheren Welten.
Peter Oliver Loew (*1967) ist Historiker. Er promovierte über die lokale Geschichts kultur in Danzig zwischen 1793 und 1997. Er ist wissenschaftlicher Assistent und stell vertretender Direktors im wissenschaftlichen Bereich am Deutschen Polen Institut Darmstadt. Langjährige Tätigkeit als Journalist und Übersetzer.
s klingt wie ein polnischer Witz, ist aber wahr: Lange Zeit war der Held polnischer Kinder und Erwachsener ein Offizier in einer perfekt sit zenden Uniform der deutschen Wehrmacht. Eines Abends Anfang der siebziger Jahre flimmerte über die polnischen Fernsehschirme die erste Folge einer Serie, die bald das ganze Land über Jahre in Atem halten sollte. Es war ein Spionagethriller, der in der Zeit des Zweiten Weltkriegs spielte, in der Hauptrolle der polnische Spion namens Hans Kloss (Deckname J 23). Der Originaltitel hieß Stawka wieksza niz zycie , doch nicht nur der Spannung wegen wollen wir den Titel lieber nicht übersetzen. Hans Kloss hatte ein makelloses arisches Aussehen (auf welches seine deutschen Feinde immer wieder herein fielen), er war gerissen, aber nie gemein, hatte Nerven aus Stahl, und wußte dennoch, was Angst war. Die Situation war ja von Anfang an nicht leicht. Es herrschte Krieg, Hans Kloss operierte ständig auf sich allein gestellt in der Höhle des Löwen, dem Hauptquartier der Wehrmacht. Er mußte in jeder Folge um sein Leben oder das eines anderen kämpfen. Sein überragender Intellekt und slawische Schläue halfen ihm immer wieder aus der Patsche. Es war nur eine Frage von wenigen Folgen, bis der blendend aussehende Hans Kloss zum Held der polnischen Nation wurde. Unzählige Frauen schrieben ihm Lie besbriefe, während ihre Ehemänner sich heimlich fragten, warum sie nicht als J 23 auf die Welt gekommen waren. Und wir, die polnischen Jungs, lernten endlich die ersten Sätze auf Deutsch: «Wo ist Sturmbannführer Stettke?» und «Hände Hoch!». Da wir damals dauernd im Hof Krieg spielten, war das eine ungemeine Bereiche rung. Das einzige, wovor sich der unbesiegbare Hans Kloss fürchten mußte, waren keineswegs die brutale SS oder die verschlagenen Kol legen vom Geheimdienst, sondern vielmehr eine Konkurrenzserie, die etwa um die gleiche Zeit im polnischen Fernsehen zu laufen be gann und, wie es der Zufall wollte, auch in der Zeit des Zweiten Krieges spielte. Der etwas groteske Titel — Vier Panzersoldaten und ein Hund (Czterej pancerni i pies) — zeigte schon, wohin es ging. Die vier Panzerfahrer waren etwas weniger fein gestrickt als Hans Kloss. Während der Spion Mikrofilme stahl, im letzten Moment Intrigen und Fallen durchschaute, stand den Panzerfahrern lediglich ein deso later russischer Panzer zur Verfügung (Rudy 102), den sie erstaunlich selten abfeuerten. Mit diesem Fahrzeug, dem vom eigenen Motorge triebe mehr Gefahr drohte als von den feindlichen deutschen Panzern namens Tiger oder Leopard, strebten sie in unzähligen Folgen auf Berlin zu. Der Traum der vier Panzerfahrer war es, die polnische Flag ge auf dem Brandenburger Tor zu hissen — was ihnen in der letzten Folge schließlich auch gelang. Doch ohne das fünfte Mannschafts mitglied, den Hund Scharik, hätten die vier Panzerfahrer es wohl nie so weit gebracht. Scharik war so etwas wie ein Hans Kloss auf vier Beinen. Unvergessen die Szene, in der Scharik fehlerlos die vergra benen deutschen Minen erschnüffelte. Außerdem konnte er deutsche Uniformen auf mehrere Kilometer weit riechen, was vielleicht nicht zuletzt daran lag, dass es sich bei Scharik um einen deutschen Schä ferhund handelte. Für die polnischen Zuschauer war eines schnell klar: Wenn Scharik und Hans Kloss sich zusammentun würden, wäre es um Deutschland geschehen. Warum sie es nie taten, war eines der großen Rätsel meiner Kindheit. Jahrelang trieben die beiden Serien nebeneinander auf demselben Kanal dem Ende des Zweiten Krieges entgegen. Uns, den polnischen Kindern, ging das irgendwann fürch terlich auf die Nerven. Soweit wir für Scharik Verständnis hatten — er war schließlich nur ein Hund — konnten wir Hans Kloss diesen Mangel an Kooperation nicht verzeihen. Die Erwachsenen hingegen verziehen Hans Kloss etwas anderes nicht: In der letzten Folge tauch te der Superheld Polens in einer russischen Uniform auf. Er hatte in Wirklichkeit die ganze Zeit für die brüderliche Armee der Sowjetunion gearbeitet.
Radek Knapp ist Schriftsteller. Er wurde 1964 in Warschau geboren und lebt seit 1976 in Wien. Für seinen Erzählband Franio (1994) erhielt er den Aspekte Literaturpreis, 2001 den Förderpreis des Adelbert von-Chamisso Preises. 2005 erschien Gebrauchsanweisung für Polen. Radek Knapp veröffentlichte Essays in der FAZ, im Spiegel, der Süddeutschen Zeitung und dem Standard.
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von pawel dunin -wasowicz
«
na saksy
ich war in Schweden auf Sachsy» heißt soviel wie: «Ich bin nach Schwe den gefahren, um dort vorübergehend eine einfache Erwerbstätigkeit aufzunehmen, mit der ich wegen der Unterschiede im Lebensstan dard unvergleichlich viel mehr verdiene als im gleichen Zeitraum in Polen.» Saksy kommt von ‹Sachsen›, wohin im 19. Jahrhundert polnische Bauern zur Saisonarbeit gingen. ‹Auf Sachsy› bedeutet nicht die Ausreise für immer. ‹Auf Sachsy› fuhren in Volkspolen unter an derem Menschen mit Hochschulbildung, um als Tellerwäscher, Putz frauen oder Fabrikarbeiter in einem Monat — durch den Kursunter schied der Währungen — das Geld für ein polnisches Auto zu verdie nen, auf das sie in Polen jahrelang hätten sparen müssen. Das Wort saksy bezieht sich auf Reisen nach Europa, nicht aber nach Amerika. Es kommt übrigens allmählich außer Gebrauch, und interessanter weise hat sich noch keine neue Bezeichnung für die Erwerbsmigration von zwei Millionen Polen eingebürgert, die nach dem polnischen EU Beitritt und der teilweisen Öffnung der Arbeitsmärkte einsetzte (hauptsächlich nach England und Irland). In Irland bilden die Polen heute die stärkste nationale Minderheit. Die geographischen Vorlie ben bei der Erwerbsmigration sind traditionell unterschiedlich — die Schlesier fahren nach Deutschland, die Bergler in die USA , die Be wohner Polesiens dagegen nach Frankreich und Belgien.
Mit Sachsen verbindet man außerdem die ‹sächsische Achse› in War schau — einen Gebäudezug aus jener Zeit, als August der Starke pol nischer Wahlkönig war — und den ‹Sachsenhort› (‹Saska Kepa›), ein Viertel, das ursprünglich von Holländern (die man irrtümlich für Sachsen hielt) besiedelt war.
Paweł Dunin Wasowicz (*1967) ist Journalist, Verleger und Herausgeber des in War schau erscheinenden, polnischen Literaturmagazins Lampa
maciej sienczyk
Für die Zeichnungen in diesem Magazin danken wir Maciej Sienczyk, einem vielseitigen jungen Ausnahmetalent unter den polnischen Künst lern. Die Kunstkritikerin Dorota Sajewska, Redakteurin im Feuilleton der Gazeta Wyborcza, Warschau, stellt ihn vor.
Eine von Zweifeln zerrissene, neurotische Persönlichkeit, schwarzer Humor und eine scheinbar unermessliche Distanz zu sich selbst — das sind die wichtigsten Eigenschaften, die diesen Künstler ausmachen. Maciej Sienczyk nimmt eine eigenständige Position in der polnischen Kunstszene ein. Seine Bilder und Erzählweisen schöpfen aus der Mas senkultur. Und doch würde ich die Wiener Sezession und den Jugend stil zu den stärksten erkennbaren Einflüssen in seiner Kunst rechnen. Sienczyks Erkennungszeichen ist die subtile Zeichnung und der satte, die Konturen ausfüllende Farbfleck. In seinen Zeichnungen scheinen alte Stiche durch: Illustrationen der englischen Ausgaben von Ander sens Märchen, Peter Pan, Alice im Wunderland oder aus dem Struwwelpeter.
Sienczyk wurde 1972 in Lublin geboren. 1996 debütierte er in der Literaturzeitschrift Ariergarda (Nachhut) mit einem Comic über einen Künstler, der aus heiterem Himmel zum Erfolg kommt. Nach dem Studium der Malerei an der Warschauer Kunstakademie arbeitete er ein Jahr lang als Zeichner innerer Organe für einen medizinischen Verlag. Sienczyk bot seine Comics verschiedenen Zeitschriften an, die davon in der Regel abgestoßen waren. Schließlich fand er seinen Platz als Zeichner beim Warschauer Literaturmagazin Lampa. Viele halten Sienczyks Comics für die besten in ganz Polen. Sienczyks Comics er schienen im Jahr 2005 in dem Album Hydriola beim Verlag Lampa i Iskra Boza. Sie erzählen phantastische Geschichten: Von einem Mann, dessen Körper in Form eines Kegels an den Strand gespült wird, von einem Matrosen, der an seinem eigenen Finger ein menschliches We sen namens ‹Teilchen› entdeckt, und einem kleinen Mädchen, das im Gebüsch auf zwei Eier stößt, gelegt von einer menschlichen Henne. Sienczyks Werk umfasst noch zwei weitere wichtige Bereiche: die Male rei und Buchillustrationen. Er hat unter anderem die Bücher der jun gen, bereits mehrfach preisgekrönten polnischen Schriftstellerin Do rota Masłowska illustriert. Maciej Sienczyk lebt in Warschau.
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Stefanie Peter (Hg.), Alphabet der polnischen Wunder Mit Zeichnungen von Maciej Sienczyk, Suhrkamp Verlag, erscheint im Herbst 2007. Die Zeichnungen in dieser Ausgabe des Magazins stammen ebenfalls von Maciej Sienczyk, über den Sie unten mehr erfahren.
Übersetzung: Stefanie Peter
von emir imamovic f
denkmaler im strassenkampf
In Nachkriegszeiten sind die Fragen: Wer erinnert was? Wessen Erinnerung wird mehrheitsfähig? von großer gesellschaftspolitischer Brisanz. Mit welchen künstlerischen Mitteln kann und soll die Erinnerung an die Kriegsereignisse und das Gedenken der Opfer angemessen gestaltet werden? Diese Fragen standen im Zentrum des Projekts De/construction of Monument im Rahmen von relations, einem Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes zu den Transformationsprozessen in Mittel /Osteuropa. De/construction of Mo nument schrieb 2005 einen bosnienweiten, öffentlichen Wettbewerb für ein neues Denkmal in Sarajevo aus.Die Beiträge der Künstler Braco Dimitrijevi´c, Nermina Omerbegovi´c/Aida Paši´c und Nebojša Šeri´c Šoba wurden aus 32 Einreichungen von einer internationalen Jury unter Berücksichtigung des Votums der Bevölkerung zur Realisierung ausgewählt. Am 18. November 2006 fand auf dem Platz vor dem Historischen Museum die Enthüllung des Denkmals für die Opfer des Krieges und des Kalten Krieges des aus Sarajevo stammenden, international renommierten Künstlers Braco Dimitrijevi´c statt. In Sarajevo gab es heftige Debatten über die neuen Monumente im öffentlichen Raum. Der bosnische Journalist Emir Imamovi´c, der in Sarajevo lebt, berichtet von den Turbulenzen vor Ort.
rau M. — weißhaarig, bucklig, klapprig — wurde unlängst vor dem Historischen Museum Bosnien Herzegowinas gesehen, wie sie die in ei nen großen weißen Quader gemeißelten Worte: «Unter diesem Stein befindet sich ein Denkmal für die Opfer des Krieges und des Kalten Krieges» aufmerksam las und lautlos weinte. Mit ihren paarundacht zig Lebensjahren hat sie in vier Staaten und drei Straßen gewohnt, ob wohl sie nie, wirklich nie aus ihrem Elternhaus ausgezogen ist, an des sen abgewohnten Wänden noch die alten Porträtaufnahmen hängen: von ihrem Großvater, früher ein bekannter Lederwarenhändler, der mit Kunden von Sarajevo über Dubrovnik und Venedig bis nach Wien gute Geschäfte machte; von ihrem Vater, der für den faschistischen Unabhängigen Staat Kroatien, Nezavisna Država Hrvatska (kurz: NDH ) als Beamter und für die Sarajever Dependance der Gestapo als kleiner Spitzel arbeitete; von ihrem Mann, dem jungen Partisanenleutnant, dem Tito per sönlich eine Luger mit Widmung zum Dank für den heldenhaften Einsatz bei der Befreiung der bosnisch herzegowinischen Haupt stadt im Zweiten Weltkrieg schenkte; von ihrem Sohn, den die Kugel eines Scharfschützen aus den ser bischen Stellungen im Sommer 1995 tötete; und von ihrem Enkel, der als Ingenieur in Stockholm Karriere macht, wo er wohnt, seit er die historische Regel in der Geschich te seiner Heimat verstanden hat: Hier wird Schlimmes stets von Schlimmerem abgelöst.
Die Sarajever Stadtverwaltung besitzt keine Dokumente, die die Exis tenz von Frau M. belegen würden. Das Feuer, das die Stadtbibliothek verschlang, nachdem das historische österreichisch ungarische Ge bäude von Granaten während der Belagerung der Stadt in Brand ge schossen worden war, hat auch die Unterlagen über den alten Lederwarenhändler, die Mitarbeiterlisten der Nazis und die ersten Aus gaben der Tageszeitung Oslobodenje vernichtet, die im Frühjahr 1946 ein Gespräch mit einem Partisanenleutnant über dessen Auszeich nung durch Josip Broz Tito veröffentlichte. Der Grabhügel des er mordeten Sohns von Frau M. auf dem städtischen Friedhof Lav ist unauffindbar, und ihr Enkel hat die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen, seinen Namen geändert und damit die Spur zu seiner Herkunft verwischt.
Man könnte also mit guten Gründen argumentieren, dass Frau M. gar nicht existiert, nie existiert hat und ihr ganzes Leben von einem Kopf erdacht wurde, der, wie die Engländer sagen würden, nicht zwischen fiction & faction unterscheidet. Doch Vorsicht: Wir erzählen von Sa rajevo und Bosnien Herzegowina, und dort hört die Geschichte nie auf, sie fängt stets an und immer aufs Neue. Beide — Stadt und Staat — gehörten in den letzten achtzig Jahren nacheinander zum König reich Jugoslawien, zum Unabhängigen Staat Kroatien ( NDH ) , einem der Satellitenstaaten des Dritten Reiches, sowie zur Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien mit Josip Broz Tito und seinen ge scheiterten Nachfolgern an der Spitze und befinden sich jetzt im neu en Bosnien mit Grenzen, die auf der amerikanischen Militärbasis Wright Patterson in Dayton, Ohio, festgelegt wurden. Fast alle Staats gründungen und Veränderungen konnte unsere Heldin, die hier zugegebenermaßen lediglich Tausende ähnlicher Schicksale verkörpert, von ihrem Fenster aus beobachten. Dieses Fenster geht auf eine Stra ße, die in ihrer Jugend nach Petar I Karadordevi ´ c benannt war, dem serbisch jugoslawischen König, der Belgrad fluchtartig verließ, kaum dass er das Brummen der deutschen Luftwaffe hörte. Dann hieß sie Dr.-Ante-Pavelic-Straße nach dem Führer der Balkan Abteilung von Hitlers Nazistaat, und heute ist Josip Broz Namensgeber der Maršala Tita, Marschall Tito, der Chef der südslawischen Partisanen und cha rismatische Leader auf Lebenszeit in einem sozialistischen Land, das qualvoll und tragisch verschied.
Vor drei Jahren, in den Wochen nach dem Tod des ersten Präsidenten des unabhängigen Bosnien Herzegowina — Alija Izetbegovi´c — sah
es so aus, als würde die Geschichte buchstäblich in der Maršala Tita enden. Nach den Trauerfeierlichkeiten und sozrealistischen Beschwö rungen eines Denkmals für den konservativen Führer schlugen seine Mitarbeiter vor, die Straße unter dem Fenster von Frau M. in Alija Izetbegovi ´ c Straße umzubenennen. Die euthanasierte bosnische Öf fentlichkeit — natürlich gespalten in Tito und Alija Anhänger — re agierte auf dieses Ansinnen ungewöhnlich heftig. Rasch zerstob jede Hoffnung, die Bürger hätten ideologische Monumente im öffent lichen Raum endlich satt. Die Wenigsten, wenn man einmal vom en geren Kreis der Intellektuellen wie dem Schriftsteller Ivan Lovrenovi´c absieht, hatten einen Blick für die Absurdität, das Wahrzeichen eines Stadtteils mit jedem Regime und Ideologiewechsel auszutauschen. Es ging in der erbitterten Diskussion nur darum, wer besser, wichtiger und verdienstvoller gewesen sei, ‹Genosse Tito› oder ‹Präsident Izetbegovi´c›. Der Streit wurde von Izetbegovics Sohn Bakir beendet: Sein Vater habe schließlich nicht für eine Straße gekämpft, sondern … Aber das ist eine andere, lange und nie bis zum Schluss erzählte Ge schichte.
Das Ende des ‹Straßenkampfs› fiel durch das Wechselspiel interessanter Zufälle zeitlich mit dem öffentlichen Startschuss für De/construction of Monument zusammen. Initiiert wurde dieses interdisziplinäre Pro jekt vom Sarajevo Center for Contemporary Art, kurz SCCA , das seit fast einem Jahrzehnt erfolgreich von der Kunsthistorikerin Dunja Blaževi´c geleitet wird, in Kooperation mit relations, einem Initiativ projekt der Kulturstiftung des Bundes. Die Wirklichkeit selbst insze nierte so das Stück zur Aktion, angestoßen, um das Recht auf den öf fentlichen Raum und die Kultur des Denkmals als der prägnantesten Form ideologischer Intervention im Raum zu hinterfragen, die Vergangenheit zu entmystifizieren und die Wirklichkeit auf andere Weise zu würdigen, ohne die Bürde von Transition und Nachkriegstraumata. Das SCCA gab De/construction of Monument zwei grundsätzliche Richtungen und nahm bereitwillig andere Strömungen auf, die in Reaktion auf das Behördenchaos durch die verschiedenen bosnisch herze gowinischen Verwaltungsebenen entstanden waren. Es veranstaltete einerseits Diskussionen und lud Künstler, Kritiker, Historiker und andere öffentliche Persönlichkeiten dazu ein. Parallel dazu schrieb es den Wettbewerb New Monument aus. Gesucht waren künstlerische Arbeiten, die den Begriff des Denkmals im bosnisch herzegowinischen und aus historischen Gründen unvermeidlich auch post jugoslawischen Raum neu definierten. Die Vergangenheit dieses Raumes muss auch mit Denkmälern aufgearbeitet werden, aber nicht im Zei chen neuer Ideologien, sondern durch ein freies Wirken im öffent lichen Raum. Das vergangene Jahrhundert, insbesondere die zweite Hälfte, brachte eine charakteristische Denkmalskultur hervor: Titos Regime übersäte das Land förmlich mit Monumenten zum Geden ken an Helden, Schlachten und Opfer, mehrheitlich von — das ist nicht unwichtig — den führenden Künstlern ihrer Zeit geschaffen. Am Ende des Jahrhunderts wurden die Monumente gesprengt und die Lunte hatte eine neue Politik gelegt; die Denkmäler endeten eben so wie die kulturhistorisch wertvollen Gebäude der vertriebenen Völ ker und wie Jugoslawien insgesamt: zersplittert und zerstört. Das En de der Balkankriege bedeutete indessen weder deren Wiederaufbau noch den nachträglichen Respekt vor dem Zerstörten, sondern eine strategische Ignoranz gegenüber den Problemen: Das alte System wurde für die Propagierung neuer Helden und (ihrer) Opfer genutzt. So aktiv SCCA und Projektteilnehmer waren, so passiv blieb die Öf fentlichkeit; die Institutionen reagierten mit Unverständnis. Erst der eine oder andere sophistische Gag — wie die Errichtung eines Denk mals für die Kung Fu Ikone Bruce Lee in Mostar oder die Aktion im öffentlichen Raum Odlukom Komisije: Svi na svoje (Die Kommission empfiehlt: Verlangt zurück, was euch gehört!) des Künstlerduos Kurt & Plasto, die Büsten von sich auf die Sockel der abgeräumten, ideolo gisch ausgemusterten Schriftsteller im Zentrum von Sarajevo stellten — verschaffte der Idee De/construction of Monument Aufmerksam keit. Natürlich ließ sich das SCCA von den Widrigkeiten nicht beir-
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po len, ungarn, tschechien
ren und wählte drei Künstler beziehungsweise deren ‹Neue Denkmä ler› aus. Es bot Sarajevo 1. einen weißen Quader an, mit der viersprachigen Inschrift Unter die sem Stein befindet sich ein Denkmal für die Opfer des Krieges und des Kalten Krieges von Braco Dimitrijevi´c, einem Künstler mit faszinie render Biographie,
2 Eglen-Park oder der Sockel zur Erinnerung (eine Arbeit, die an die Kultur der öffentlichen Kommunikation und freien Meinungsäuße rung in Parks erinnert, den einstigen Versammlungsplätzen der Bür ger) von Nermina Omerbegovi´c und Aida Paši´c sowie 3 Denkmal für die Internationale Gemeinschaft, ein Pop-Art-Denkmal für die Vereinten Nationen (eine Riesenkonservendose, deren Origi nalvorlage die Bürger von Sarajevo als humanitäre Hilfe erreichte und geschmacks und geruchslose Nahrungsmittel unbekannter Zu sammensetzung ohne Haltbarkeitsdatum enthielt) des derzeit in New York wohnhaften Künstlers Nebojša Šeri´c Šoba.
Am Ende des letzten Jahres kristallisierte sich indessen heraus, dass der Entwurf für ein Denkmal der leichteste Teil der Übung ist. Bis in den Herbst hinein kämpfte Dunja Blaževi´c mit der Stadtverwaltung, in vestierte ihre Zeit in die Einholung örtlicher Genehmigungen und versuchte, den politisierten Bürokraten den Sinn von De/construction of Monument zu erklären. Vor wenigen Wochen, am 18. Novem ber des vergangenen Jahres, als neben dem Historischen Museum un ter Reden und Rotwein Dimitrijevi´cs Arbeit in Sarajevo enthüllt wur de, hatte es Dunja Blaževi´c endlich geschafft, die Genehmigung er gattert und die Kommunikationshölle mit den verschiedenen Akteuren überlebt — die benahmen sich ungefähr so, wie wenn sich Finnen auf Chinesisch an sie gewandt hätten. Wenn Dunja Blaževi´c von all den unrühmlichen, in Einzelfällen auch mal erfolgreichen Treffen mit Ministern und Beamten erzählt, fühlt man sich an eine kafkaeske Ko mödie erinnert, in die sich Figuren aus dem legendären italienischen Comic Alan Ford verirrt haben. Es ist sicher nicht falsch zu sagen, dass
Dunja kapituliert oder in eine psychiatrische Anstalt hätte eingelie fert werden müssen, hätte sie nicht von Anfang an gewusst, dass die Irrwege durch die Verwaltung integraler Bestandteil des Projekts sind. Denn das Bewusstsein des neuen Regimes ist, was Monumente im öf fentlichen Raum betriff, identisch mit dem des vorherigen, es unter scheidet sich nur durch einige ästhetische Kriterien und das ideolo gische Profil. Weder Sarajevo noch Bosnien Herzegowina haben eine klar definierte Kulturpolitik, wohl aber ein ausgesprochen postkolo niales Bewusstsein. So wurde beispielsweise die Arbeit von Nebojša Šeri´c Šoba als Beleidigung der Vereinten Nationen aufgefasst (was auch die deutschen Diplomaten in Bosnien Herzegowina zum La chen brachte).
De/construction of Monument steht trotz allem vor dem erfolgreichen Abschluss. Es gibt Zusagen: Sowohl der Sockel zur Erinnerung als auch das Denkmal für die Internationale Gemeinschaft sollen in Kürze einen Platz erhalten, zwar nicht den optimalen, an dem sie zur Gänze mit den Bürgern und dem öffentlichen Raum hätten kommunizieren können, aber …
Bis dahin lohnt es sich, Dimitrijevi´cs Arbeit zu umschreiten, unter der «sich das Denkmal der Opfer des Krieges und des Kalten Krieges» befindet. Gewidmet allen alten Frau M.s und ihren Männern, die im Kalten Krieg abgemurkst und im echten Krieg umgebracht wurden, während sich die Geschichte in ihrer Straße abspielte, immer in der Hoffnung, dass der eine Krieg enden möge, immer voll Bangen, dass kein neuer beginnt.
Emir Imamovi´c (*1973 in Tuzla, Bosnien) arbeitet als Journalist fürs Fernsehen und für Printmedien. Seit 1996 schreibt er für das einflussreichste Nachrichtenmagazin in Bosnien Herzegowina, Dani, dessen Chefredakteur er zeitweilig war. Er berichtete als Reporter aus dem Kosovo, Mazedonien und Afghanistan. Derzeit publiziert Imamovi´c in Dani und in der in Sarajevo erscheinenden Zeitschrift Gracija, bereitet seinen ersten Roman vor und verfasst Drehbücher für Dokumentarfilme. Er lebt in Sarajevo.
Die Kulturstiftung des Bundes setzt ihre bilateralen Programme für den Kulturaustausch mit den Län dern des östlichen Europa fort. Während für Herbst 2007 der Start eines neuen Austauschprogramms — mit der Tschechischen Republik — geplant ist, laufen die deutsch-ungarischen Projekte von Bipolar, dem Nachfolgeprogramm des Büro Kopernikus [ vgl Seite 1 4 ] jetzt auf Hochtouren. 32 Projekte mit 70 beteiligten Institutionen werden in über 100 Veranstaltungen einiges dazu beitragen können, dass die deutsche und die ungarische Kulturszene mehr von einander erfahren.
Zum Beispiel in Auseinandersetzung mit Heiner Müllers Hamletma schine: «Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLA BLA , im Rücken die Ruinen Europas». Mit diesen Worten beginnt Heiner Müllers Text — eine aggressive Deformation der herkömm lichen Dramenform: keine Handlung, kein Dialog; was bleibt, ist die Abfolge «monologischer Blöcke» eines gescheiterten Intellektuellen, in denen Müller seine Erfahrungen der Aufstände vom Juni 1953 in der DDR und 1956 in Budapest verarbeitet — beides «ruinöse» Daten der jüngeren europäischen Geschichte. Kaum bekannt ist, dass der Hamletmaschine ein aus den 1960er Jahren stammendes Fragment zu grunde liegt: HiB — Hamlet in Budapest. Bei Bipolar bildet dieses Fragment den Ausgangspunkt einer Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft und der Budapester Workshop Foundation. In Berlin sind die Projektergebnisse Anfang Juni im Maxim Gorki Theater zu sehen, in Budapest wird die gesamte Stadt zur Bühne: Mit Kopfhörern auf den Ohren spazieren die Betei ligten zu historischen Brennpunkten der Stadt; dabei hören sie Heiner Müllers Dramentext, kombiniert mit Interviews, in denen junge Un garn ihre heutige Wahrnehmung der Aufstände schildern.
Übersicht zu ausgewählten Projekten von Bipolar: 21.4.07 Halbzeit!
Projektpräsentationen und Party im Radialsystem, Berlin I Bipolar stellt 32 Kooperati onsprojekte und die Projektmacher vor. Mehr als 100 Künstler und Projektbeteiligte aus Ungarn und Deutschland sind anwesend. Freier Eintritt. 30.4.07 HunD Link
Simultanes Konzert bei der MusikTriennale Köln und beim Mediawave Festival Györ I Zwei Festivalbühnen — ein vernetztes Konzert mit Mathias Muche, Sven Hahne, Ist ván Grencsó, Kornél Szilágyi u.a. 2.6.07 HiB — Hamlet in Budapest. Hamlet in Berlin Heiner Müllers Hamletmaschine im Maxim Gorki Theater, Berlin I mit andcompany& Co., SPACE, David Marton, Lutz Dammbeck, der Internationalen Heiner Müller Ge sellschaft und Workshop Foundation Budapest. 22.6 19.8.07
Kempelen — eine Randfigur der Geschichte Ausstellung mit aktuellen künstlerischen Positionen im ZKM, Karlsruhe I mit Werken von Attila Csörgo, Ken Feingold, Márton Fernezelyi, Péter Forgács, Severin Hofmann, György Jovánovics, Martin Riches, Robotlab, Zoltán Szegedy-Maszák, Tamás Waliczky und Georg Winter I Kurator: József Mélyi I Produktion: C3 Budapest I Die Ausstel lung ist noch bis zum 28.5. in der Mucsarnok, Budapest, zu sehen.
13.8.07 Helmut Oehring — Pál Frenák: Instinct Tanzproduktion in der Muffathalle München I in Koproduktion mit Sziget Fesztivál und Frenák Company I Uraufführung: 7 + 8.8. beim Sziget Fesztivál, Budapest.
Einer anderen europäischen ‹Mehrfach-Existenz› widmet sich die un garisch-deutsche Ausstellung zu Kempelen. In diesem Bipolar-Projekt begeben sich das Budapester Medienkunstzentrum C3 und das Zen trum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe auf die Spur eines philanthropischen ‹Projectemachers› am Hofe der österreichischungarischen Kaiserin Maria-Theresia. Wolfgang von Kempelen war ein Tausendsassa der Aufklärungszeit: technisches Genie, hoher Be amter, Übersetzer, Dichter und vor allem der Erfinder und Marke ting-Mann eines geheimnisvollen Schachautomaten, der nach um fangreicher Tournee durch Europa einen legendären Ruf erlangte. Eine Wirkung, die sich fortsetzt, wenn man betrachtet, dass dieses Projekt nahezu zwanzig Positionen der zeitgenössischen Kunst zu sammenbringt, die sich alle der Person Kempelen und dem bis dato konfliktreich gebliebenen Verhältnis von Mensch und Technik wid men. Bis Ende Mai 2007 ist die Ausstellung in Budapest zu sehen, im Juni eröffnet sie in Karlsruhe.
8. 9.+14. 16.9.07 Kommander Kobayshi, Staffel III Operasaga mit Samu Gryllus und Klaus Lang, Sophiensaele Berlin I 2 Kurzopern von Samu Gryllus und Klaus Lang unter Mitwirkung des Ensemble Mosaik I Koproduktion: NOVOFLOT mit Sophiensaele Berlin und Trafó Budapest I Weitere Aufführungen: 28.+ 29.9. im Trafó, Budapest.
13 10.07 Abschlusskonzert — In Memoriam György Ligeti Preisträgerkonzert an der Akademie der Künste, Berlin (Pariser Platz) I Uraufführung der drei preisgekrönten Werke des Kompositionswettbewerbs I Einreichungsfrist für Kompositionen: 15.5. I Jury: Péter Eötvös, Zoltán Jeney, Hanspeter Kyburz I In Koope ration mit Collegium Hungaricum Berlin und ‹Ungarischer Akzent›.
Besondere Termine in Ungarn: 26 – 27 4.07 Stolpersteine in Ungarn Steinverlegung in Budapest, Ausstellung in 2 B Galéria Budapest I Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum Köln I Begleitprogramm: Vortrag von Gunter Demnig I Podiumsgespräch mit Ágnes Berger, László Karsai, Werner Jung u.a.. 6 9 9 .07 Bipolar zur Eröffnung des Budapest Music Forums Konferenz zur Echtzeit-Performance und Konzertreihe im eben erst eröffneten Musik zentrum in Budapest mit HCMF Budapest und HMTH Hamburg.
Weitere Informationen: www.projekt-bipolar.net
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Aus dem Bosnischen von Brigitte Döbert
rojekte m itte l- / o steuro pa
Projekte zu Themen und mit Partnern aus Mittel und Osteuropa bilden einen Schwerpunkt der Förde rung der Kulturstiftung des Bundes. Neben den von der Stiftung selbst initiierten Programmen wie zum Beispiel relations [ vgl den Beitrag Denkmäler im Straßenkampf auf Seite 33 ] , Büro Kopernikus [ vgl den Beitrag Polnische Wunder auf Seite 27 ] haben auch viele Projekte aus der antragsgebundenen Projektförderung hier ihren Schwerpunkt, von denen wir Ihnen eine Auswahl an aktuell geförderten Projekten (10.Jurysitzung, November 2006) vorstellen. Zu den Antragsmöglichkeiten bei der Kulturstiftung des Bundes finden Sie ausführliche Informationen auf unserer Website www.kulturstiftung bund.de unter dem Menüpunkt Förderung.
don’t worry — be curious!
4 Ars Baltica Triennale der Fotokunst Ausstellung Kuratoren: Dorothee Bienert, Kati Kivinen (FIN), Enrico Lunghi (L) I Künstler/innen: Petra Bauer (S), Anna Baumgart (PL), Olga Chernysheva (RUS), Bodil Furu (N), Kaspars Goba (LV), Kristina Incraite (LT), J&K (Janne Schäfer Kristin Agergaard (D/DK), Tellervo Kalleinen & Oliver Kochta-Kalleinen (FIN/D), Anu Pennanen (FIN), Tanja N. Poulsen (DK), Khaled Ramadan & Colonel (DK), Katrin Tees (EST), Artu ras Valiauga (LT), Julita Wójcik (PL) u.a. I Veranstaltungsorte und zeitraum: Stadtgalerie Kiel, 30 3 28 5 07 I KUMU, Estonian Art Museum, Tallinn (EST), 10 8 23 9 07 I Pori Art Museum (FIN), 12 10 07 20 1 08
Die soziale, politische und wirtschaftliche Realität in Europa ist heute von Umstrukturierungen geprägt, die den Verlust von Heimat, die Verflüchtigung von stabilen sozialen Beziehungen und eine zuneh mende Individualisierung, wachsende Arbeitslosigkeit, Passivität und Politikverdrossenheit zur Folge haben. Diese Umbrüche werden in den nordischen Staaten als Krise des Wohlfahrtsstaates erlebt, wäh rend sie in den osteuropäischen Ländern als Folge des Übergangs vom Sozialismus zum Kapitalismus gelten. In Fotografien, Videos und Installationen setzen sich Künstler/innen aus jeweils fünf ost und nor deuropäischen Ländern mit den gemeinsamen Problemen und unter schiedlichen Ängsten der Bürger in ihren Ländern auseinander. Die Ausstellung, die von Konferenzen und einem Artist in Residence Programm begleitet wird, wird in Kiel im Rahmen der 4.Ars Baltica Triennale der Fotokunst und danach in Tallinn (Estland) und Pori (Finnland) gezeigt.
die grabsteine von izbica Dokumentarfilm Regisseure: Wolfgang Schoen, Frank Gutermuth I Sendeanstalt: Südwestrundfunk I Sendezeitraum: Aus strahlung erfolgt 2007
Der polnische Ort Izbica in der Nähe von Lublin wurde 1941 von der SS zum ‹Durchgangsghetto› bestimmt. Zehntausende Juden kamen von dort in die Todeslager Majdanek oder Sobibor, Tausende ließ die Gestapo vor Ort ermorden. Der Ort besitzt eine erschreckende Be sonderheit: Das ehemalige Gestapo Gefängnis wurde während der deutschen Besatzung aus den Grabsteinen des jüdischen Friedhofs errichtet. Der Dokumentarfilm Die Grabsteine von Izbica wird die ge plante Rückführung der Grabsteine auf den jüdischen Friedhof von Izbica begleiten. Die von Deutschen geschändeten Grabsteine sollen auf würdevolle Weise das Fundament einer neu zu errichtenden Ge denkmauer um den alten jüdischen Friedhof des Ortes bilden. Das Vorhaben wird gemeinsam von der Jüdischen Gemeinde Polens, der Foundation for the Preservation of the Jewish Heritage und den pol nischen Behörden organisiert.
wo ist lemberg? Multidisziplinäre Ausstellung zur Geschichte und Zukunft von Lemberg Projektleitung: Hermann Simon, Chana Schütz I Kuratoren: Irene Stratenwerth, Ronald Hinrichs I Mitwirkende /Künstler/innen: Jurj Andruchowytsch, Yaroslaw Hrytsak, Wolodja Kaufmann, Iryna Kryororutcka, Olena Onufri, Sofia Onufri, Jurko Prochasko, Andrij Saljuk (alle UA), sowie Studierende ver schiedener Universitäten und Hochschulen in Lemberg I Ausstellungsdesign: Marcus Spiegel I Veranstaltungsorte und -zeitraum: Centrum Judaicum, Berlin, 2 9 15 11 07 I Lemberg / Lviv (UA), August – November 2008
Die heute zur Ukraine gehörende Stadt Lemberg/Lviv war im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte eine Stadt der Begegnung verschie dener Ethnien, Kulturen und Religionen. Die Stadt gehörte einst zu Polen und zu Österreich Ungarn, wurde von Russen und Deutschen besetzt und nach dem 2. Weltkrieg Teil der Sowjetunion. Für das eu ropäische Judentum war dieses ‹Jerusalem des Ostens› von herausra gender kultureller Bedeutung. Unter anderem lebten hier die Schrift steller Joseph Roth, Leopold von Sacher Masoch und Stanislaw Lem. Simon Wiesenthal und Martin Buber studierten in Lemberg. Die Ge schichte der Stadt als geistig kulturellem Zentrum endete mit dem 2 Weltkrieg und der Ermordung fast aller Juden in Lemberg. In jüngs ter Zeit spielte Lviv als eines der Zentren der ukrainischen Unabhän gigkeitsbewegung und der Orangenen Revolution wieder eine histo risch bedeutsame Rolle. Ausstellung und Publikation behandeln Fra gen nach der Zukunft der Stadt, ihrem Umgang mit dem kulturellen Erbe als Schauplatz europäischer und insbesondere jüdischer Kultur geschichte. Die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit ukrainischen Kulturschaffenden konzipiert wird, hat ihre erste Station im Berliner Centrum Judaicum und wird im Anschluss in Lemberg/Lviv gezeigt.
autoput avrupa Interdisziplinäre Veranstaltungsreihe zur Migrationsgeschichte Künstlerische Leitung: Shermin Langhoff (TR/D) I Mit wirkende /Künstler: u.a. Gruppe Autoput (HR/BIH/SCG), Nuran David Calis (TR/D), Neco Celik (TR/D), Emre Koyuncuoglu (TR), Tuncay Kulaoglu (TR/D) / Martina Priessner (TR/D), Angela Melitopoulos (GR), Natasa Rajkovic / Bobo Jelcic (beide HR), Idil Üner (TR/D), Tamer Yigit (TR/D), Feridun Zaimoglu (TR/D) I Veranstaltungsort und zeitraum: Hebbel am Ufer, Berlin, März 2007
‹Autoput› heißt die Transitstrecke durch das ehemalige Jugoslawien, die mit Beginn der Arbeitsmigration für viele Menschen aus Ex Jugo slawien, Griechenland oder der Türkei zu einer der wichtigsten Ver bindungen zwischen Deutschland und der alten Heimat wurde. Die Strecke steht symbolisch für ein Stück Migrationsgeschichte und wird zum verbindenden Motiv für ein vielfältiges Programm aus The ater, Tanz, Filmen, Lesungen und Diskussionen zu diesem Thema. Die Theaterinszenierungen sollen kulturelle Praxen bestimmter Ein wanderergruppen reflektieren und dem vom Film geprägten Ghetto Style differenziertere Bilder vom Leben in Deutschland gegenüber stellen. Die bildende Künstlerin Nevin Aladag schickt in ihrer Live Performance 100 Brieftauben auf ihren Weg «heimwärts». Ercan Arslan lässt anhand von Videosequenzen, Tonmitschnitten und Telefon Liveschaltungen zu seinen Angehörigen das Publikum an seiner eige nen Migrationsgeschichte teilhaben. Neco Celiks erfolgreiche semi dokumentarische Inszenierung Schwarze Jungfrauen von Zaimoglu/ Senkel, die auf Interviews mit radikalen muslimischen Frauen basiert, wird in diesem Rahmen wieder aufgenommen.
ostwärts Kooperation junger Musiker und Komponisten in Ost europa, dem Kaukasus und Russland Künstlerische Leitung: Sabine Franz (A) I Mitwirkende /Musiker: ensemble recherche: Åsa Åkerberg (S), Jean Pierre Collot (F), Christian Dierstein, Martin Fahlenbock, Jaime González (RCH), Barbara Maurer, Melise Mellinger (RO), Shizuyo Oka (J), Klaus Steffes Holländer, Ketevan Bolashvili (GE), Isabel Mundry, Vladimir Tarnopolski (RUS), Alla Zagaykevych (UA) I Veranstal tungsorte: Goethe Institute/Musikhochschulen in Tiflis (GE), Kiew (UA), Charkiw (UA) I Tschaikowsky Konservatorium, Moskau (RUS) I Haus zum Walfisch, Freiburg im Breisgau I Veranstaltungszeitraum: 2 1 2 5 7 07
Seit über 15 Jahren arbeitet das ensemble recherche mit Menschen aus Kunst und Kulturszenen sowie Ausbildungsinstitutionen zusammen, die an neuen internationalen Kooperationen interessiert sind. Nicht das Erschließen weiterer Konzertorte, sondern die Ermöglichung neuer Konstellationen im internationalen Austausch ist das treibende Motiv bei der Entwicklung neuer Netzwerke für Musiker und Kom ponisten im östlichen Europa über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Diesem Zweck dienen eine Reihe von Seminaren, Ins trumentalkursen, Vorträgen, die Einstudierung von Uraufführungen sowie Konzerten mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts mit Nach wuchsmusikern in Tiflis, Kiew, Charkiw, Moskau und Freiburg i. Br. Hier ist das mit internationalen Spitzenmusikern besetzte Kammerensemble zu Hause, das sich inzwischen weltweit einen herausra genden Ruf für sein Engagement zur Erarbeitung und Verbreitung Neuer Musik erworben hat.
klangbrücke Deutsch polnischer Austausch für zeitgenössische Streichquartette Künstlerische Leitung: Klaus Hinrich Stahmer I Jurymitglieder: Michael Denhoff, Dirk Hewig, Arkadiusz Kubica (PL), Ludwig Quartett, Siegfried Mauser, Krzysztof Meyer (PL), Peter Ruzicka, Reinhard Schulz, Silesian String Quar tet (PL), Tadeusz Wielecki (PL) I Veranstaltungsort und -zeitraum: Hochschule für Musik und Theater München, 20 21 3 07
Im zeitgenössischen Kunstschaffen spiegelt sich in besonderer Weise das aktuelle Selbstverständnis eines Landes wieder. Deswegen scheint das gemeinsame Erarbeiten von zeitgenössischen Kompositionen aus verschiedenen Ländern besonders geeignet, junge Musiker aus verschiedenen Ländern zu motivieren, sich mit länderspezifischen Ei genheiten auseinanderzusetzen. Musikalisch ist das Projekt als An reiz für Nachwuchs Quartette geplant, zeitgenössische Quartett Kompositionen intensiver kennen zu lernen und gemeinsam zu erarbeiten. Deutsche und polnische Nachwuchsmusiker aus den Musikhoch schulen beider Länder werden zu einem von Komponisten und pro fessionellen Quartett Spielern betreuten Workshop eingeladen, der sie auf einen Wettbewerb mit anschließenden Preisträgerkonzerten in München und Breslau vorbereitet. Das größte polnische Festival der Gegenwartskunst, der Warschauer Herbst, wird die Preisträger 2007 zu einem Konzert einladen.
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Die folgenden Projekte aus der Sparte Film und Neue Medien werden auf Empfehlung der Jury (10. Sit zung im November 2006) gefördert. Eine vollständige Übersicht aller Projekte aus diesem Bereich finden Sie unter www.kulturstiftung bund.de unter Sparten / Film und Neue Medien.
maria schell Ausstellung und Filmreihe Kurator: Hans Peter Reichmann, Maja Keppler IMitwirkende /Künstler: Maximilian Schell (A), Oliver Schell, Marie Theres Kroetz, Veit Relin (A), Maria Furtwängler, Artur Brauner I Veranstal tungsorte und -zeitraum: Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main 31 1 17 6 07 I Schloss Wolfsberg (A), Juli – Oktober 2007
Maria Schell war einer der großen weiblichen Stars im Kino der 1950 er Jahre. Im deutschen Film der Nachkriegszeit verkörperte sie die Traumfrau an der Seite von Stars wie Dieter Borsche oder O W Fischer. Der internationale Durchbruch gelang ihr 1954 mit Helmut Käutners Film Die letzte Brücke, für den sie in Cannes als beste Schau spielerin ausgezeichnet wurde. In den folgenden Jahren arbeitete Ma ria Schell mit namhaften Regisseuren wie Robert Siodmak, Wolfgang Staudte, René Clément und Luchino Visconti zusammen. In der Bio grafie des Stars Maria Schell spiegelt sich exemplarisch ein Stück Me diengeschichte der Bundesrepublik: Für ihre Kinofilme erhielt die Schauspielerin internationale Anerkennung und wurde mit Kolleginnen wie Ingrid Bergman verglichen. Seit den 1970 er Jahren spielte sie dann hauptsächlich in deutschen Fernsehfilmen und serien. Parallel zur Karriere dieser großen Schauspielerin vollzieht sich eine Entwick lung, in deren Verlauf das Kino selbst an Bedeutung verliert und durch das Fernsehen weitgehend ersetzt wird. So präsentiert die Ausstellung anhand der Biografie Maria Schells bundesrepublikanische Film- und Kulturgeschichte und gibt einen wichtigen Einblick in die Geschichte des (deutschen) Star Phänomens. Die Sonderausstellung im Deut schen Filmmuseum in Frankfurt präsentiert zum ersten Mal den um fangreichen Nachlass der Schauspielerin.
alexander kluge — das filmische werk DVD Edition Künstlerische Leitung: Stefan Drößler, Rainer Stollmann I Künstler: Alexander Kluge I Veranstaltungsorte und -zeitraum: 120 Goethe Institute und ihre Partner weltweit, ab 15 2 07
Alexander Kluge ist Rechtsanwalt, Schriftsteller, Fernsehproduzent und Medienpolitiker — vor allem aber einer der international be kannten deutschen Regisseure. Als treibende Kraft war Alexander Kluge entscheidend an der Gründung und Gestaltung des Neuen Deutschen Films beteiligt, als Medienpolitiker hat er Freiräume im Fernsehen erkämpft und behauptet, die in der heutigen Fernsehland schaft einzigartig sind. Während Kluges schriftstellerisches Werk gut ediert zugänglich ist, ist dies bei seinem filmischen Œuvre nicht der Fall. Zum 75. Geburtstag von Alexander Kluge 2007 geben das Goe the Institut und das Filmmuseum München eine DVD Edition mit Kluges Kino und Kurzfilmen, ergänzt durch ausgewählte Fernseh arbeiten, heraus.
tage des armenischen films Filmreihe Künstlerische Leitung: Fred Kelemen I Organisation: Jörn Hagenloch I Mitwirkende /Künstler: Susanna Harutyunian (ARM), Harutyun Khatchatryan (ARM), Atom Egoyan (CAN / ARM), Asinée Khan jian (CAN / ARM), Garegin Zakoan (ARM) u.a. I Veranstaltungsorte und -zeitraum: Kino Arsenal, Berlin, April Mai 2007 I Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main, Juni 2007 I Lux Kino, Halle (Saale), Juni 2007 I Kommunales Kino, Stuttgart, September 2007
Das armenische Kino ist in Europa nahezu unbekannt, obwohl es im mer wieder herausragende Regisseure hervorbringt. Mit den Tagen des armenischen Films findet in vier Kinos in Berlin, Frankfurt, Halle (Saale) und Stuttgart die erste Retrospektive des armenischen Films in Deutschland statt. Die Spuren des Völkermords in der arme nischen Kinematografie, die filmische Auseinandersetzung mit Exil und Migration sowie die Verbindungen zu Europa und zur europä ischen (Kultur)Geschichte sind die zentralen Themen des Filmpro gramms, die zusätzlich auf begleitenden Veranstaltungen in Berlin diskutiert werden. Zu ihnen ist Atom Egoyan eingeladen, einer der bekanntesten Regisseure der armenischen Diaspora, der sich in sei nen international ausgezeichneten Filmen immer wieder mit Fragen nach Exil und Einwanderung sowie Identität und Erinnerung be schäftigt hat.
stan douglas Film /Videoinstallationen und Fotografie ausstellung Kuratoren: Sean Rainbird (GB), Gudrun Inboden, Iris Dressler, Hans D. Christ I Künstler: Stan Douglas (CDN) I Veranstaltungsorte und -zeitraum: Staatsgale rie Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Württembergischen Kunstverein Stuttgart 15 9 07 6 1 08 I Eröffnung am 14 9 07
Stan Douglas gilt seit den 1990er Jahren als einer der wichtigsten Vi deo und Medienkünstler. In seinen Installationen und umfangreichen ‹Versuchsanordnungen› erprobt er die Wirkungsweise neuer Technologien und setzt sich intensiv mit den Modi der Bildproduktion in Film und Fernsehen auseinander. Er kreiert Erfahrungsräume, in denen es um ein präzise inszeniertes Zusammenspiel von Raum, Ton, Licht, bewegten Bildern und dem Körper des Betrachters geht. Die Staatsgalerie Stuttgart plant zusammen mit dem Württember gischen Kunstverein die erste umfassende Retrospektive in Deutsch land zum Werk des kanadischen Künstlers. Neben Fotografien wer den zwölf zentrale, mehrkanalige Videoinstallationen und zwei Neu produktionen von 2007 (Film und Klatsassin) gezeigt. Das Stuttgarter Schauspiel wird die Ausstellung mit einem Theaterprogramm zu Sa muel Beckett, einer Leitfigur in Stan Douglas’ Werk, begleiten.
videonale 11 Internationales Videokunstfestival Künstlerische Leitung: Georg Elben I Künstler: Jeanne Faust, Christoph Girardet, Mischa Kuball, Hideyuki Tanaka (J), Jean Gabriel Périot (F) u.a. I Veranstaltungsorte und -zeitraum: Kunstmuse um Bonn, 15 3 14 4 07 I Museum Inner Spaces, Poznañ (PL), Oktober 2007 I Weitere Stationen in Korea und Indien sind in Planung
Das internationale Videokunstfestival Videonale11 im Kunstmuseum Bonn fokussiert Schnittstellen von Kunst, Video und Film. Neben dem internationalen Videokunst Wettbewerb gibt es eine begleitende Ausstellung und Podiumsdiskussionen zu aktuellen Themen der Me dienkunst. Das Festival gilt als eines der wichtigsten Foren für neue Videokunst in Deutschland und zieht ein junges, internationales Pu blikum an. In Erweiterung zu den vergangenen Festivals wird die Laufzeit der Videonale 11 auf einen Monat verlängert. Mit einem pra xisorientierten Rahmenprogramm will sich das Festival in Work shops und Seminaren speziell an jüngere Kunstschaffende wenden. Das Ausstellungsdesign im Kunstmuseum Bonn sucht nach Lösungen, wie Videokunst in einem klassischen musealen Kontext gezeigt werden kann und sucht nach Alternativen zur Black Box Atmosphä re, die die Besucher in der Regel nicht sehr schätzen.
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36 aus den projekten
von hanns zischler w
vorstoss ins innere
Mit dem Ende der Kunst- und Wunderkammern und ihrer Umwidmung in naturwissenschaftliche Samm lungen wurden die Künste in ihren Kompetenzen der Weltdeutung durch eigene Ordnungs und Anschau ungsmodelle beschnitten. Auch die Tatsache, dass riesige Bestände des Berliner Naturkundemuseums dauerhaft im Verborgenen bleiben, ist Anlass und Grund, den Schatz an Objekten durch ein interaktivesMedium mit künstlerischem Anspruch einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es wendet sich an interessierte Schüler, an Studenten der Natur und Geisteswissenschaften, an Bibliotheken und Museen. Über die verborgene Dramatik der Sammlungen des Berliner Naturkundemuseums informiert Hanns Zischler, der Initiator des Projekts Vorstoß ins Innere, das von der Kulturstiftung des Bundes geför dert wird.
ie ein Zauberer lüftet der Künstler den Vorhang und enthüllt, tief in den hinter ihm liegenden Raum gestaffelt, das riesige Kabinett einer Sammlung. Staunend verweilen die Besucher darin und ihre Schau lust appelliert an den Betrachter des Bildes. The Artist in His Studio ist der Titel des Bildes, das der amerikanische Revolutionsmaler Charles Wilson Peale (1741 1821) uns überliefert hat. Der Künstler tritt hier als Sammler und Wissenschaftler auf, und in dieser ‹Kostümierung› sind bereits die wesentlichen Intentionen vereint, die auch für den ak tuellen Vorstoß ins Innere der Sammlungen des Berliner Naturkunde museums von Bedeutung sind.
In den großen Sälen des Berliner Museums für Naturkunde sind im mense Schätze (ca. 40 Millionen Objekte) in den Vitrinen und Zylin dern, Schränken und Kästen, in den Archiven und Bibliotheken ver wahrt und (weitgehend) katalogisiert. Den Besuchern des Museums ist nur ein Bruchteil dieser Schätze in den Schausälen — Tierpräpa rate, Skelette, Mineralien, Fossilien usw. — zugänglich. Die umfang reichen Sammlungen selbst sind aufschlussreiche kulturgeschicht liche Zeugnisse, spiegelt doch ihre Systematik nicht nur die naturwis senschaftlichen Diskurse in ihrem geschichtlichen Wandel wider; hier wird auch ihre Einbettung in die Geistesgeschichte und zeitgenös sische Wissenskultur sinnfällig: Wie wird ein Lebewesen zu einem — wissenschaftlichen, naturhistorischen — Sammlungsobjekt?
Die Aufgaben und Fragestellungen haben sich im Laufe der Geschichte des Museums gewandelt. Dabei spielten neben den rein wissenschaft lichen Sammlungsinteressen unterschwellig auch ästhetische Fragen und politische Interessen eine maßgebliche Rolle. So ist die Pädagogik der Schausammlungen von den historischen Umwälzungen der letz ten einhundertfünfzig Jahre — Imperialismus, Kolonialismus, Welt kriege usw. — nicht unberührt geblieben. Was auf den ersten Blick wie zeitentrückt und unveränderlich erscheint, entfaltet sein ‹Leben› und seine Bedeutungsvielfalt durch den ständigen Wandel der Be trachtungs und Darstellungsweisen.
Das von uns entwickelte interaktive Medium ermöglicht es durch die Tiefe dieses musealen Kontinents zu navigieren: eine Darstellung des Reichtums der Sammlungen, ihres Wandels und ihrer vielfältigen his torischen, politischen und ästhetischen Bezüge und schließlich eine Andeutung künftiger Sammlungs und Ausstellungsperspektiven.
Die Objekte erweisen sich bei näherer Betrachtung als enorm ‹überde terminiert›: die privaten, geographischen, (wissenschafts)politischen Umstände und Zufälligkeiten des Erwerbs, die Klassifikation, die ta xidermische Behandlung, die Zuordnung, die Publikation (und auch das Vergessen und Wiederentdecken) der Funde — all diese Mo mente sind mit dem Objekt sichtbar und unsichtbar verbunden und machen es zu einem Gegenstand, der ständig zwischen seiner rein ‹wissenschaftlichen› Bestimmung und seinen narrativen Erweiterungen oszilliert.
Bis zu welcher ‹Tiefe› ein Sammlungsobjekt im interaktiven Medium ausgelotet werden kann, lässt sich am Beispiel eines Vogels von der Insel Kamtschatka (pazifisches Sibirien) veranschaulichen. Zunächst muss man aber wissen, wie das interaktive Medium überhaupt funk tioniert: Über einen einführenden Film werden die einzelnen Stationen des Museums wie auf einer langsam sich entrollenden Karte angesteuert. Auf diesem Parcours, dem Interface, kann der Leser (der User, der ‹Besucher›) entscheiden, welchen Gegenständen er sich in tensiver widmen will. Er kann den Pfad — einem Impuls seiner Neu gier folgend — verlassen, weitere Verzweigungen einschlagen und eigene Verknüpfungen herstellen zwischen Textdokumenten, Abbil dungen, Interviews und frei schwebenden (rotierenden) Gegenstän den. Und er kann jederzeit zu seinem Initialpunkt zurückkehren. Wir steuern den Gelbschopflund an.
Der Gelb- oder Goldschopflund (russ.: Toborok d.h. ‹Beilchen›), Fra tercula cirrhata ist im Museum mit zwei Exemplaren vertreten. Das ältere wurde Ende des 18. Jh.s. von Peter Simon Pallas erstmals beschrie ben und als Teil seiner aus Russland stammenden Sammlung 1804 von dem zoologischen Systematiker Carl Ludwig Willdenow an die König liche Kunstkammer (ab 1810 Kgl. Zoologisches Museum, ab 1889 Ber liner Naturkundemuseum) verkauft.
Das zweite, schönere Exemplar stammt von Adelbert von Chamisso, der es von der russischen Weltmeer Expedition der Rurik (1815 1818) mit nach Berlin gebrach hatte.
Der von Pallas dem Museum vermachte Vogel ist ein Typusexemplar; d.h. die Erstbeschreibung dieser Art ist für die gesamte wissenschaft liche Literatur verbindlich. Zur Besonderheit dieses Präparats gehört es, dass es während der Kriegsbombardierungen 1942 1944 nicht mehr evakuiert werden konnte; andere Exemplare der Pallas’schen Samm lung wurden stark in Mitleidenschaft gezogen.
Die eben kursiv hervorgehobenen Wörter und Namen lassen sich im interaktiven Medium in vielen, sehr unterschiedlichen Richtungen weiter verfolgen, wobei jeder einzelne Term seinerseits ein ‹Objekt› darstellt und seinerseits neue Verbindungen ermöglicht. In eckigen Klammern [ ] sind Standorte der schriftlichen und bildlichen Archi valien aufgeführt. Im Folgenden erkennt man die Vielfalt an mög lichen Verzweigungen, die, je nach gewähltem Pfad, ausgehend vom Gelbschopflund ganz unterschiedliche Geschichten erzählen.
Toborok (Aves — Neognaththae — Charadrriformes — Alcidae) — sibirische Fauna — farbige Darstellung in Zoographia Russo Asiatica — Überlieferungs geschichte — Vogelsammlung mit ca. 3000 Typus Ex. — Teil der Pallas’schen Sammlung [Naturkundemuseum St. Petersburg; Index der historischen Samm lungen] — kultische und mytholog. Bedeutung für indigene sibirische Völker Pallas — (Geschichte und Genealogie der) Berliner Naturforscher — Rußlandrei sender / Katharina die Große / Sibirienexpeditionen / «Zoographia Russo Asiatica (1769)» — Briefwechsel [Historische Arbeitsstelle] — Monographie Adelbert von Chamisso, deutscher Dichter franz. Herkunft, Naturforscher — Be richt von der Weltumsegelung auf der ‹Rurik› unter russ. Flagge — [Ozeanographische Expeditionen 19. Jhdt. <Challenger>, <Valdivia> , etc...] — Sammlungsbe schreibung — Nachlässe A.v.Ch. [Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz] Kriegseinwirkungen — Die Evakuierungspläne/Zeitzeugen (Stresemann) — Ge denkblatt für den Zoologen und Nazi Gegner Prof. Walter Arndt Zustand des Museums 1945 ( Fotografien) — (Nach )Kriegsgeschichte Präparat — Geschichte der taxidermischen Techniken an ausgewählten Beispielen — andere Konservierungsmethoden — wissenschaftlicher und Schauwert — (Inter view mit Präparatoren) Systematik — Willdenow — Modelle von Systematiken seit Linné
Ein einziges Objekt wie der Gelbschopflund eröffnet also einen sehr weitgefächerten paper trail, der zu weiteren Objekten, Klassifikationen, Personen und Institutionen führt. Der User entscheidet selbst, ob er z.B. seine ornithologischen Kenntnisse vertiefen oder die Ge schichte der Berliner Naturforscher oder der Weltumsegelungen und ozeanographischen Expeditionen verfolgen will; er kann sich aber auch durch die verschiedenen Darstellungsformen (Graphik, Photo graphie, Film) hindurch bewegen oder sich die besondere Dramatik des Kriegsgeschehens für das Museum vor Augen führen. Erst die meist verborgenen, diskreten Überlieferungsgeschichten bringen das stumme Objekt zum Sprechen und machen seine historische Gravita tion spürbar. In gewisser Weise sind die hier sich entfaltenden Daten spuren so etwas wie der narrative Abdruck des historischen Gedächt nisses. Nicht nur das ‹Schicksal› der Objekte soll erörtert, sondern ge gebenenfalls auch den (biographischen) Umständen der ‹Objektwahl› seitens der Wissenschaftler nachgegangen werden. Die Wege und Be wegungen durch die Sammlungen werden dem Leser des interaktiven Mediums Räume erschließen, die seinen Blick auf die reale Welt ver ändern könnten. Mehr noch als die Befriedigung seiner unmittel baren Schaulust soll dieser Vorstoß ins Innere die Möglichkeit eröff nen, Sammeln als Wissen zu begreifen, das in neue Fragen mündet. Nicht zuletzt profitieren Museen von diesem Vorhaben. Bei den Krite rien für die Auswahl von geeigneten Objekten für das interaktive Me dium spielen auch Fragen nach der Zukunft von Museen mit natur kundlichen Sammlungen eine wichtige Rolle: Welche Perspektiven eröffnet eine angewandte Sammlungsgeschichte — Sammeln als Wis sen und Wissenserwerb — für eine aktuelle Darstellung des Muse ums? Inwieweit ist das Museum selbst — im Sinne eines Ensembles der dort vorherrschenden naturwissenschaftlichen Diskurse (allen voran die Evolutionsbiologie) in der Lage und willens, den Dialog mit den Geisteswissenschaften (Wissenschaftsgeschichte, Kulturwissen schaft, Kunstgeschichte) und der Philosophie über ‹Ziel und Ende› eines Museums zu führen?
Hanns Zischler, der sich seit langem mit Medienarchäologie und früher Filmgeschichte beschäftigt, hat zusammen mit Andreas Kratky, einem Spezialisten für die Konzeption und Gestaltung von Interfaces und interaktive Medien, das Projektkonzept für Vorstoß ins Innere entwickelt; beide arbeiten derzeit an seiner Realisierung.
37 aus den projekten
in Zusammenarbeit mit Andreas Kratky
luftvon nico bleutge
faltengebirge, der blick reicht weit hinein in die schichten der landschaft, gipfel und grate flanken, gebändert, mit luft überzogen. der andruck des schnees
hat die mulden am wandrist geweißt, die vordersten linien dicht an dicht in die hänge gefräst, von den augen aus schieben sich grauflächen zwischen die wehen, zerfahrner dunst
von einer dünnen wolke. leicht an die ränder hinaus die kaum farbe gewinnen im festeren sehen ein lösen von bleichfäden, witterungsspuren, hinmischend
in eine dunklere schicht, entfernung aus feldern, stufen eingesenkt schon in das dämmern, nah am vergehen der schwemmkegel unten im tal. langsam, bald wieder steigend
wandert der blick an den hängen, immer die schneisen entlang vorbei an felsen, spalten, ausgeschlämmten wannen mehlig umfangen vom licht, das weiter aufwärts
klarer wird, rings um die kuppen noch einmal schärfe zeigt schlacken, reste von schnee an den kammlinien hell fast vor den gestaffelten wolken
wellen in einer bewegung aus bögen, die sich weiten, landein laufen, vorsichtig anschlagen. zwischen den tanks drängen bojen das wasser zurück, in die öffnung der schleuse
mit ölfäden, feineren ästen. dahinter schichten aus laub schaukelnd, längs der kanalrinne, klarer verteilt und leicht übers ufer hinaus. strohballen warten, halten den weg
von der wiese getrennt, moos und halme, gras beugt sich, dreht fast vermischt mit der strömung der luft. an der halde, verdichtet geht schon der wind durch die zäune, pfosten für pfosten, und staub
treibt auf aus dem rain. dehnt sich, getragen, weich übers feld richtung damm, auf die gleise zu. schotter und kies, für die über landbahn, die leitungen quer zum gelände, sich
kreuzend, in mehreren reihen nah am hang. und wieder flußwärts, her von den feldern, streicht die luft, in kleinen schüben bewegt sie das gras und weht aus den kuhlen spelzen heran, die zögern, bleiben nur kurz an der schleusenwand haften, um abzugleiten, weit in das wasser hinein, wo die wellen die schwemmspur ändern stadtküste, niedriger wasserstand an den wänden aus teer und beton. licht sinkt, luftschichten wandern umher in den wiesen, der leichte wintergeruch löst sich auf mit jeder weiteren bewegung, im gelände zwischen den anlegestellen sammeln sich töne, der einfache rhythmus harter schläge. nietbolzen, preßluftgeräte schlepper im zug der strömung die von den antriebsschrauben kommt. verdrängt von wellen steigt dunst an der kaimauer auf, die schattierungen schwinden noch auf fluthöhe wechselt die sicht ihre bindung, krillscharten, wenige striche genügen um den pfad durch die becken zu finden, brache rangierflächen
gras, das an die lagerhallen reicht, ungleich belichtet eingelassen in stein der verkehrsring, die ersten kontorbauten führen den blick zu den kabeln, treiben ihn an zu erkundungen
in der luft. nur im hintergrund zeigen sich blocksilhouetten dämmernde wohnparks mit fernsehantennen und wind der abstand schwer zu bestimmen
dicht noch gefächert vom licht (als wär ein straßennetz darüber ausgebreitet) sind diese dächer kaum zu übersehen die aus den gärten ragen, wellblech, fast verwachsen
mit kletterranken, ausgebleichten büschen. am eingang fährt der finger leicht nach links, die kolonie grenzt an planiertes gelände, während sich rechts, auf
einem nebenpfad, die ersten schatten zeigen. rauch steht in den wegen, hüllt die platten ein, in stapeln hängen bretter in der luft, lackiertes holz kommt
weiter hinten erst, die lauben, leimbehandelt selbstgesägte rohre aus der wand, davor ein flimmern rauschen, wärmeaustausch findet statt, das gleiten empfindlicher stoffe. hartkuppig zieht der finger wieder los auf den am rand gefegten wegen, den wällen der bepflanzung zu. jätfurchen, frische grasterrassen die wassergruben dunkeln ein. allein die luft pumpt und der strom fließt weiter durch die gärten, die lichter an den pfosten, brennen schon
frottee undankbar seist du gewesen, sagte die stimme sagte kein laut und drückte sich langsam näher dicht an den körper heran, die haut ganz pelzig und kalt locker die hand, locker die falschen zähne der geruch eine wand, von wasser zerfressen, nicht genug der fuß, der sich nach außen reckte, einen bogen zog an was ich dachte, weiß ich nicht, aber ich sah die schlieren am fenster, das dünner werdende licht doch nicht gemerkt, wo sich die augen treffen und die knie das reißverschlußgeräusch, wenn hier die fetzen fliegen bin ich immer ruhig, geläutert fast, die arme, hände an der hosennaht. da hilft kein zittern, kein geheul kein vor die brust gestrecktes eisen. sandstrahler waren es die mir den rücken lösten, die gelenke knacken ließen gleich zu beginn, jetzt schon war nichts mehr zu spüren als wär ein vögelchen im innern, für momente taumeln torkeln, so flattrig, dann hinab. nur dieses tasten, kneten auf dem frotteetuch, das liegenbleiben, mit dem schweiß geruch, haare klebten an mir, ich fiel in tiefen schlaf ein tropfen weckte mich später, ging hinein in den kopf kein ton mehr, keine feuchtigkeit, die hände hielten still. luft kam vom fenster, mild, beinah verläßlich dann, gegen mittag, kommen die ersten geräusche von der straße herauf. das klopfen von händen auf stoff, die schnellen kinderstimmen. im gelände zwischen den wohnblocks, ruhigere bewegung. flecken wandern, luft schiebt umher der blick zieht die umrisse nach auf der hangfläche längs der garagen. holzzäune schmale nesselfelder, dahinter das glitzern der neubaufassaden. kurz nur hebt wind an, ballt sich weht sand in die hügelschneisen hell und markiert bis zum rand mit signaltafeln, dicht an der sicherheitszone die sich ausstreckt über die ebene, an den kontrollstellen kaum mehr zu sehen ist. baumreste bleiben maschendrahtweiten, der schatten des windrads, der seitlich über die hausdächer flappt
früher schnee, das seelicht schiebt den horizont zusammen nur an den rändern ist etwas zu hören, tropfen und atemgeräusche, das knacken der glasscheibe unterm druck der sich runzelnden finger
das zucken der blättchen wenn es zu regnen beginnt, unbemerkt für eine leicht gespannte weile dann, plötzlich laufen die augen hin und her eingerollt hat sich der tag, der erste der richtig hell wurde; jetzt liegen flächen im dunkel und die häuser halten den schnee
wurde die Fördersumme auf jährlich 1 Mio. Euro erhöht. www.deutscher literaturfonds.de
die erinnerung einzuholen jenseits der weißen dachkanten stimmen, geräusche aus dem hintergrund der geschichten, die kurz in der dämmerung aufleuchten kahl sind die flächen, kaum sichtbar unter der luft die ränder verschieben sich täglich
38 literaturförderung
Der Deutsche Literaturfonds e.V. verleiht seit 1983 den Kranichsteiner Literaturpreis. Seit 2003 ist er um den Kranichsteiner Literaturförderpeis speziell für Autoren unter 35 Jahren erweitert worden. Der Förderpreis ist mit 5000 Euro dotiert. Der Deutsche Literaturfonds e.V. mit Sitz in Darmstadt fördert die deutschsprachige Gegenwartsliteratur und setzt dabei Schwerpunkte bei der Autoren und der Vermittlungsförderung (z.B. Ar beitsstipendien, Projektzuschüsse, Übersetzungen, Symposien). Seit 2004 wird der Deutsche Literaturfonds e.V. von der Kulturstiftung des Bundes finanziert. Seitdem
Nico Bleutge wurde 1972 in München geboren. Er studierte von 1993 bis 1998 Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen. Bleutge ist Lyriker und arbeitet als Literaturkritiker für mehrere überregionale Zeitungen. Er veröffentlichte Gedichte in verschiedenen Literaturzeitschriften, u.a. in Sinn und Form 2001 wurde Bleutge mit dem open mike der literaturWERK statt Berlin ausgezeichnet, 2003 erhielt er den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis des Literarischen März, 2006 folgten der Anna-Seghers-Preis und der Kranichsteiner Literaturförderpreis des Deut schen Literaturfonds e V Zuletzt erschien von Nico Bleutge: klare konturen. Gedichte (C.H. Beck, München 2006). Nico Bleutge lebt in Tübingen.
meldungen
schrumpfende städte auf welttournee 2007 2008
Nach dem großen Erfolg der beiden Schrumpfende Städte Aus stellungen in Berlin, Halle und Leipzig touren die Ausstellungen durch zehn weitere internationale Standorte. Die ersten Stationen waren die 10. Internationale Architekturbiennale in Venedig, Rousse (Bulgarien), New York und Tokio. Die Konzeption der Ausstellungen wird jedem Ausstellungsort individuell angepasst; gemeinsam mit den lokalen Partnern werden zusätzliche Aktivi täten und Veranstaltungsprogramme durchgeführt. Weitere Aus stellungsorte in 2007 und 2008: USA , Detroit: Cranbrook Art Museum, Bloomfield Hills / Museum of Contemporary Art Detroit (MOCAD) , 3 2 2 4 07. Großbritannien, Liverpool: Som mer 2007. Deutschland, Saarbrücken: E Werk, Herbst 2007; Ruhrgebiet: Dortmund u.a., Herbst 2007; Frankfurt/Main: Deutsches Architekturmuseum in Frankfurt (DAM), November 2007 bis Januar 2008. Russische Föderation, St. Petersburg: Pro Arte Institute in Kooperation mit State Museum of History St. Petersburg, Frühjahr 2008 Weitere Informationen unter: www.shrinkingcities.com
dance germany
Die Kulturstiftung des Bundes unterstützt im Rahmen von Tanzplan Deutschland das Internetportal www.dance germany.org, das als Vernetzungsplattform für die gesamte professionelle Tanzszene Deutschlands seit dem 20. April 2006 online ist. Dabei setzt das Internetportal auf die Beteiligung der Tanzschaffen den, die ihre Daten selbst eingeben und aktualisieren können. Die Einträge lassen sich durch Beschreibungen, Bilder und wei terführende Links ausführlich gestalten. Herzstück von Dance Germany sind die Informationen zu den Veranstaltungstermi nen, den einzelnen Tanzschaffenden und Institutionen. Sie wer den automatisch miteinander verknüpft: eine Aufführungsan kündigung beispielsweise mit den Daten der Spielstätte, einem Ticketing Link und weiteren Terminen. Alle Einträge lassen sich nach verschiedenen Kriterien durchsuchen. Durch frei verfüg bare Schnittstellen können die Daten auf anderen Websites ver wendet werden.
www.dance-germany.org
7 neue projekte im theaterfonds heimspiel
Ziel dieses Fonds der Kulturstiftung des Bundes ist die Förde rung von Projekten, die einerseits die Beziehung des Theaters zur Stadt intensivieren, die anderseits aber auch neue Publikums schichten gewinnen wollen. Die Themen der Theaterprojekte werden durch aktuelle Recherchen in der Stadt entwickelt und zu sammen mit städtischen Kooperationspartnern umgesetzt. Die Fachjury wählte in der zweiten Antragsrunde im Januar 2007 sieben neue Projekte folgender Theaterhäuser aus: Schauspiel Stuttgart, Nationaltheater Mannheim, Theater an der Parkaue Berlin, Westfälische Kammerspiele Paderborn, Puppentheater der Stadt Magdeburg, Maxim Gorki Theater Berlin, Stadtthea ter Konstanz. Im Heimspiel Fonds werden damit derzeit insge samt 22 Projekte gefördert. Nächster Einsendeschluss ist der 31 10 07. Weitere Informationen zum Fonds Heimspiel unter: www.kulturstiftung bund.de/heimspiel
world cinema fund mit neuen förderregionen Nach Lateinamerika, Afrika und dem Mittleren Osten erweitert der World Cinema Fund seine Förderregionen ab August 2007 um den Kaukasus und Südostasien. Die Leiter des World Cine ma Fund Sonja Heinen und Vincenzo Bugno betonen: «Geor gien war schon immer ein Land mit einer reichen filmischen Tra dition. Und in Südostasien sind dank der digitalen Revolution viele junge Regisseure aktiv. In Deutschland gibt es zahlreiche Produzenten, die leidenschaftlich gerne mit Talenten aus diesen Ländern kooperieren wollen.» Im Wettbewerb der letzten Berli nale war der von der Kulturstiftung des Bundes geförderte World Cinema Fund mit dem Film El Otro / Der Andere von Ariel Rotter gleich mehrfach erfolgreich: Der argentinische Film bekam den Silbernen Bären, den Großen Preis der Jury, und Hauptdarstel ler Julio Chavez wurde mit dem Silbernen Bären als bester Dar steller ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.berlinale.de
fassbinders berlin alexanderplatz: remastered «Fassbinders größtes und schönstes, erschreckendes und hinrei ßendes, wildes und zugleich äußerst diszipliniertes Werk.» Mit diesen Superlativen beurteilte die ZEIT1980 den Start der Fern sehserie Berlin Alexanderplatz im Ersten Deutschen Fernsehen. Rainer Werner Fassbinders Verfilmung des gleichnamigen Ro mans von Alfred Döblin hat die Kritiker in Deutschland gespalten — ein wichtiges Motiv der Gegner war die Qualität des Fern sehbildes, das die kunstvolle Lichtdramaturgie des Filmes nur unzureichend vermittelte. Die Kulturstiftung des Bundes hat in Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Foundation und Bavaria Film International eine aufwändig restaurierte, digitale Fassung des 15 stündigen Films hergestellt. Seine Welt premiere erlebte das restaurierte Meisterwerk bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin im Februar 2007. Nach der Ga lapremiere im Admiralspalast wurde die Volksbühne dabei zum Schauplatz eines neuen Aufführungs Rekords: Mit über 15 Stunden Spiellänge war Fassbinders Berlin Alexanderplatz der längste Film, den die Berlinale je präsentiert hat. Weitere Informationen: www.fassbinderfoundation.de
premiere und bundesweiter start der kurzfilmrolle mach doch was du willst Elf Kurzfilme sind die Ergebnisse des Kurzfilmwettbewerbs: Spielfilme, Dokumentationen und Animationsfilme sowie kur ze Experimente bieten überraschende Einblicke in das vielschich tige Thema Arbeit. Die Filme zeigen alternative Lebensentwürfe, Utopien von anderen Arbeitsuniversen und die Absurdität der Gesetze des wirtschaftlichen Handelns. Nachdem der Film BUS von Jens Schillmöller und Lale Nalpantoglu als einziger deut scher Beitrag im Kurzfilmwettbewerb der Berlinale 2007 gelau fen ist, fand die Premiere des Gesamtprogramms am 29 3 07 in Berlin im Kino Babylon: Mitte statt. Kinostarttermin ist der 1 5 07, anschließend tourt die Kurzfilmrolle durch Deutschland. Weitere Informationen unter: www.machdochwasduwillst.org
aus dem fonds arbeit in zukunft
In diesem antragsoffenen Fonds konnten im Sommer 2006 Pro jekte eingereicht werden, die sich mit dem Wandel der Arbeit auseinandersetzen. 13 Projekte erhielten eine Förderung. Ein Kriterium für die Förderentscheidung war ein überzeugendes Vermittlungskonzept, das unterschiedliche — auch kulturferne — Publikumskreise zu adressieren vermag. Zwei dieser Vorha ben stellen wir hier vor. Weitere Informationen unter: www.kulturstiftung bund.de
kampf auf dem parkdeck
Das in den 1960 er Jahren gebaute Neue Zentrum Kreuzberg (NKZ) in Berlin sollte die soziale Utopie einer Stadt verwirkli chen: 300 bezahlbare und komfortable Wohnungen auch für Bewohner mit türkischem Pass , Freilichtbühne, Terrassencafés und hängende Gärten. Heute steht das NKZ für Misere und soziale Isolation und hat eine der höchsten Arbeitslosen quoten in Berlin. Vom 10.– 15 7 07 wird das ungenutzte Park haus der Wohnanlage zum Austragungsort des Projekts Kampf auf dem Parkdeck. Die Künstlergruppe Pony Pedro inszeniert mit 40 Langzeitarbeitslosen einen Bazar. Jeder Teilnehmer er hält einen Parkplatz als ‹Gewerbefläche› und ein Startkapital: Auf den 40 Parkparzellen entstehen 40 temporäre Geschäfts gründungen. Auf dem obersten Parkdeck wird ein Dachgarten mit Nutzflächen und Laubenbar für Besucher, Anwohner und Händler eröffnet. Eine abendliche Veranstaltungsreihe mit Box kämpfen, Band Battles und Diskussionen runden das Bazar Programm ab. Mit den Mitteln der Zuspitzung, Übertreibung und Irritation fragt das Projekt nach der Wirksamkeit gängiger Existenzgründungsmodelle und nach der Zukunft neuer infor meller Märkte am Rande des Existenzminimums.
work fiction
Die Ausstellung Work Fiction, die vom 5 10 07 – 5 1 08 im Kunst verein Wolfsburg gezeigt wird, zeigt künstlerische Positionen zum Thema Arbeit in Gegenwart und Vergangenheit, wie sie in der bildenden Kunst, im Film und in der Populärkultur formuliert wurden. Verschiedene Zukunftsphantasien werden zu zehn thesenartigen Visionen komprimiert, die im Kunstverein als Raumeinheiten präsentiert werden sollen, gestaltet von je weils einem/r Künstler/in oder einer Künstlergruppe. Zu diesen Visionen gehören z.B. die Vorstellungen von permanenter Mo bilität, von Mensch und Maschinenwesen (Cyborgs) und von der Abschaffung des Geldes. Das Begleitprogramm zur Ausstel lung umfasst unter anderem Science Fiction Filme sowie Mu sikvideos und Anime.
aus dem fonds neue länder
Im letzten Magazin veröffentlichten wir eine Reportage über drei Projekte im Fonds zur Stärkung des Bürgerschaftlichen En gagements in den Neuen Ländern. Hier stellen wir Ihnen zwei weitere, aktuelle Projekte vor. Mehr Informationen zum Fonds Neue Länder finden Sie unter www.kulturstiftung bund.de kulturkosmos müritzsee e.v., lärz
Auf dem weitläufigen ehemaligen russischen Militärflugplatz Lärz, inmitten der Mecklenburger Seenplatte, hat der Kultur kosmos Müritzsee e.V. im Sommer 2006 die erste Ausgabe seines internationalen Theater und Performance Festivals at.tension durchgeführt. Durch die Förderung aus dem Fonds Neue Länder konnten bei dem dreitägigen Festival 15 Theaterproduktionen in ca. 30 Aufführungen präsentiert werden, das Spektrum umfasste Tanztheater, Performances, Open Air Spektakel, Kabarett,Installationen und Musikbeiträge. Das Gelände des Kulturkos mos mit seinen verbunkerten Flugzeughangars und einer alten Landebahn bietet für solche Kunstproduktionen einzigartige Spielstätten, die auch die zweite Ausgabe von at.tension vom 14 16 9 07 zu einem außergewöhnlichen Festival machen werden.
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die website
Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Arbeit und Auf gaben der Stiftung, die geförderten Projekte, die Programme und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter: www.kulturstiftung bund.de
stelzenfestspiele bei reuth e v. 1992 wurde in dem thüringischen Dorf Stelzen (bei Reuth) ein dreitägiges Festival für klassische Musik gegründet, das sich schnell zu einem Ereignis bemerkenswerter Originalität und Qualität entwickelte. Mittlerweile reisen jedes Jahr im Juli bis zu 10 000 Besucher nach Stelzen, um dort eine beeindruckende Mischung aus Sinfoniekonzerten, Kammermusik, Jazz, experi menteller und Alter Musik, Ausstellungen und Theater zu erle ben. Die Realisierung des Festivals wird fast vollständig vom bürgerschaftlichen Engagement der Dorfbewohner getragen (Logistik, Verpflegung und Unterbringung von Musikern und Gästen etc.). Als Anerkennung und zur Stärkung dieses Engagements wird zur 15. Ausgabe dieses Festivals (29 6.–1 7 07) ein sinfonisches Geburtstagskonzert und eine Opernaufführung mit Mitteln des Fonds Neue Länder gefördert. Ein anderer Teil der Förderung unterstützt die Bestrebungen des Vereins, Stelzen ganzjährig als musikalische Begegnungsstätte zu etablieren.
42 meldungen
Vorsitzender des Stiftungsrats für das Auswärtige Amt für das Bundesministerium der Finanzen für den Deutschen Bundestag
als Vertreter der Länder als Vertreter der Kommunen
als Vorsitzender des Stiftungsrats der Kulturstiftung der Länder als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Impressum
bundes stiftungsr at
Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwer punkte der Förderung, und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Zum 1. Halbjahr 2007 ist der Stiftungsrat neu zu besetzen. Bei Redaktionsschluß standen noch nicht alle neuen Mitglieder fest.
Bernd Neumann
Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien Georg Boomgarden Staatssekretär
Dr. Barbara Hendricks Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse Bundestagsvizepräsident
Hans-Joachim Otto Vorsitzender des Kulturausschusses Dr.Valentin Gramlich Staatssekretär, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Joachim Hofmann-Göttig Staatssekretär, Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund Dr. Christian Wulff Ministerpräsident des Landes Niedersachsen N.N. N.N N.N
jury
Die Jury, die aus Fachleuten der verschiedenen künstlerischen Sparten zusammengesetzt ist, befindet über die Anträge in der Allgemeinen Projektförderung.
Prof. Dr. Rosmarie Beier-de Haan Deutsches Historisches Museum, Berlin Prof. Dr. Heinrich Dilly Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. Ulrike Groos Künstlerische Leiterin der Kunsthalle Düsseldorf Dr. Christoph Heinrich Leiter der Galerie der Gegenwartskunst, Hamburg Prof. Ulrich Khuon Intendant des Thalia Theaters, Hamburg Dr. Petra Lewey Leiterin der Städtischen Kunstsammlungen Zwickau Helge Malchow Geschäftsführer des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Köln Christian Petzold Filmemacher, Berlin Thorsten Schilling Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Steffen Schleiermacher Komponist, Pianist, Leipzig Ilona Schmiel Künstlerische Leiterin Beethovenfest, Bonn
stiftungsbeirat
Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit ab. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.
Dr. Christian Bode Generalsekretär des DAAD Jens Cording Präsident der Gesellschaft für neue Musik e.V. Prof. Dr. Max Fuchs Vorsitzender des Deutschen Kulturrats e.V. Prof. Dr. Jutta Limbach Präsidentin des Goethe-Instituts Dr. Michael Eissenhauer Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und Kulturdezernent der Stadt Essen Johano Strasser Präsident des P.E.N. Deutschland Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V.
der vor stand
Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor
das team
Referentin des Vorstands Lavinia Francke Justitiariat Ferdinand von Saint André Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel [Leitung] / Tinatin Eppmann / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier Allgemeine Projektförderung Kirsten Haß [Leitung] / Bärbel Hejkal Wissenschaftliche Mitarbeit Dorit von Derschau / Dr. Holger Kube Ventura / Antonia Lahmé / Dr. Lutz Nitsche Uta Schnell / Eva Maria Gauß [Mitarbeit Fonds Neue Länder] Verwaltung Steffen Schille / Steffen Rothe / Kristin Salomon / Tino Sattler Zuwendungen und Controlling Anja Petzold / Ines Deák / Susanne Dressler / Marcel Gärtner / Andreas Heimann Berit Ichite / Lars-Peter Jakob / Berit Koch / Fabian Märtin Sekretariat Beatrix Kluge / Beate Ollesch [Büro Berlin] / Christine Werner
Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 1 06110 Halle an der Saale Tel 0345‒2997 0 Fax 0345‒2997 333 info@kulturstiftung-bund.de www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz [verantwortlich für den Inhalt] Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Mitarbeit Tinatin Eppmann Bildnachweis mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags, Frankfurt am Main Gestaltung cyan Herstellung hausstætter herstellung Auflage 25.000 Redaktionsschluss 19 2 2007
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes — alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes.
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