NZZ am Sonntag
V
17. Februar 2013
Gesellschaft
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Die Müllschlucker
Sie essen freiwillig, was andere auf den Abfall werfen, und wollen damit nicht nur Geld sparen, sondern auch die Welt retten. Auf der nächtlichen Nahrungssuche mit Mülltauchern in Zürich. Von Carole Koch
nern». Dass etwa Tomaten vernichtet werden, weil sie nicht das richtige Rot haben. Sie sind neugierig oder wollen einfach irgendwie aktiv werden. «Heute ist die Gelegenheit, mich zu überwinden, um endlich mal alleine zu gehen», sagt Mladena und blickt erwartungsvoll in die Runde, während andere Fragen stellen wie: «Kann man das auch tagsüber machen?» oder «Hat es dort Parkplätze?»
Und Action: Initiantin Lauren (2. von rechts) zeigt, wie man Supermarkt-Müll plündert. (Zürich, 7. Februar 2013)
Von New York nach Europa Für den Zürcher Nachwuchs ist Öko-Denken offenbar mehr Freizeitbeschäftigung als Ideologie. Darin unterscheiden sie sich noch von den New Yorkern, die in den Neunzigern mit dem «Containern» anfingen, sich aus Überzeugung von Supermarkt- oder Fabrikabfällen ernährten. Als Teil eines antikapitalistischen Lebensstils ohne Auto oder Marken. Die Idee breitete sich in den Metropolen Europas aus, vom linken Rand in die Gesellschaft hinein, wo Anzugträger inzwischen auch die Vernichtung des Planeten diskutieren. Filme wie «Taste the Waste» machen die Verschwendung in allen Schichten und Generationen bekannt. Heute steht der Müll-Kochkurs als Ausgehtipp in der Zürcher Online-Agenda. «Unauffällig in den Hinterhof gehen, alles aus den Tonnen nehmen, ruhig bleiben, Säcke füllen und raus», erklärt Lauren das Vorgehen, die nur für künstlerische «Actions» im Abfall taucht. Dann verteilt sie Latex-Hand-
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In der Schweiz werden jedes Jahr rund zwei Millionen Tonnen einwandfreie Esswaren vernichtet.
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Sieht aus wie aus dem Laden, stammt aber aus der Mülltonne dahinter.
schuhe und Tüten, Utensilien, die aus Mladena und den anderen Aktivisten machen. Jetzt kann der bevorstehende Angriff auf die Wegwerfgesellschaft nur noch scheitern, wenn das Personal des Ladens die Gittertür zu den Containern abgeschlossen hat. Drüber klettern? «Illegal. Also zu heiss», sagt Lauren im Ton der verantwortungsbewussten Organisatorin. Niemand muckt auf. Nun fehlen bloss Lampen, um im Dunkel in die Tonnen zu leuchten: «Hat jemand ein iPhone?» Wie viele in der Schweiz mülltauchen, ist nirgends erfasst. In den USA oder Deutschland, wo Massenarmut und Kapitalismuskritik den Trend nähren, kann man auf professionellen Dumpster-Websites einen Eindruck gewinnen. Hierzulande, wo der Hunger der Welt vor allem im Fernsehen stattfindet, jedoch nicht. Ein loses Netzwerk, hört man beim Verein foodwaste.ch, durchaus im Wachstum, in kreativen Kreisen immer beliebter, da vereint im Gefühl, etwas Sinnvolles und Verwegenes zu tun. Und jetzt ahnt Mladena, dass dieser Abend noch aus ganz anderen Gründen hart werden könnte. Dabei ist das Plündern des Supermarkt-Mülls in der Gruppe «leichter als einkaufen». Auch den Gestank hält sie aus, über den Tonnenrand in einen Abgrund der Konsumgesellschaft blickend, Schulter an Schulter mit dem Software-Entwickler, der erst Paletten heraushievt, dann leere Kartonkisten, so dass ein Schatz von Orangen und Bananen zum
FOTOS: PASCAL MORA
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ei der Vorspeise fasst Mladena die Kapitulation ins Auge. Mit zusammengepressten Lippen sitzt sie vor dem Häufchen Quinoa-Peperoni-Salat und denkt an die verbeulte Tonne, in der die Zutaten vor zwei Stunden noch lagen. Den beissenden Geruch. Und vor allem: die Peperoni. Dabei will sie der Wegwerfgesellschaft doch den Krieg erklären. Eine Studentin aus Horgen gegen die Verschwendung in dieser Welt. Was aber, wenn der Magen Nein sagt zu Müll auf dem Teller? «Experimental Social Cooking» nennt sich dieser Event im Zürcher Szene-Quartier, für den kulturell versierte Zeitgenossen diesmal erst Supermarkt-Müll plündern, dann einen «kreativen Dreigänger» kochen, als wären sie nicht nur Designer oder Lehrer, sondern richtige Aktivisten. Teil jener globalen Bewegung, die weder Gestank fürchtet noch Gesetz und Esswaren vor der Vernichtung rettet. Als Akt der Auflehnung gegen die Perversion, dass der eine Teil der Weltbevölkerung ein Drittel aller Lebensmittel verschwendet und der andere hungert. Mladena, 21 Jahre, SchneewittchenGesicht, kämpft sich durch die Kälte. Beim geheimen Treffpunkt angekommen, schlottern bald neun Nachwuchs-Mülltaucher um Vegan-Köchin, Künstlerin und «Social Cooking»-Initiantin Lauren herum. Sie wissen schon das eine oder andere über das «Contai-
Vorschein kommt. Er greift hinein, trennt die wenigen angefaulten von den vielen einwandfreien, sie hält die Tüte auf. Bis darin, oh Schreck, Peperoni landen. Auf denen sollen doch am meisten Pestizide lauern! In der Küche des OG9, eines Provisoriums des Kunsthauses Aussersihl, ist die «Social Cooking»-Gemeinschaft auf 20 Leute angewachsen. Halb stolz, halb verstört beäugen sie die Massen von tadellosem Gemüse und Obst auf dem Tisch. Sagen kopfschüttelnd «ui nein» oder «so krass». Eine vierköpfige Familie könnte ein Wochenende prima davon leben. Dann geht das Gezeter über Detailhändler los. Dabei sind die ja gar nicht die schlimmsten Verschwender, wie einem Bericht von foodwaste.ch und WWF Schweiz zu entnehmen ist. Rund zwei Millionen Tonnen einwandfreie Esswaren werden in der Schweiz pro Jahr vernichtet. Nur 5 Prozent davon landen in den Abfällen der Händler. 30 gehen bei der Verarbeitung verloren, 13 in der Produktion, auf Feldern etwa, wo Kartoffeln aussortiert werden, die zu klein sind oder zu gross, Runzeln haben oder Flecken. Es sind die Haushalte, die mit 45 Prozent fast die Hälfte aller Verluste ausmachen. Am nächsten «Experimental Social Cooking»-Event würde man also besser Menschen statt Container überfallen. Alle jene, die nicht in hässliches Gemüse beissen oder altes Brot, lieber zu viel einkaufen als zu wenig, dann vielleicht doch spontan im Restaurant essen. Und im Schnitt fast eine ganze Mahlzeit pro Tag im Abfall entsorgen, das Gewissen gleich mit.
Guten Appetit
Alle essen und reden. Nur Mladena (3. von links) kämpft still vor sich hin.
Es ist angerichtet: Quinoa-PeperoniSalat zur Vorspeise, Broccoli-Suppe mit Broccoli im Teig als Hauptgang, und zum Dessert gibt es Fruchtsalat mit Bananen-Glace. Ein bisschen protestieren macht hungrig, die meisten greifen, ohne mit der Wimper zu zucken, zu. Bald ist auch die Verschwendung wieder vergessen. Bei Kerzenlicht wird über «Vegan-Food» in Indien diskutiert oder Hotelzimmer für Allergiker. Nur Mladena kaut still vor sich hin. Jeder Bissen eine Überwindung. Heldenhaft aber schluckt sie die Peperoni-Würfel, auf denen sie die schlimmsten aller Pestizide befürchtet. Sie löffelt die Suppe aus, obwohl die so seltsam streng schmeckt und leert sogar noch den Dessertteller. Dann legt sie die Gabel nieder und sagt: «Ich esse eben sonst nur Bio.»