Leseprobe ASoK | Linde Verlag

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Christoph Kietaibl

Beweislast hinsichtlich des (Nicht-)Vorliegens einer Saisonbranche

Wolfram Hitz/Alexander Noga

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)

Thomas Rauch

Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung?

Paul Liebeg

Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts bei Krankenstand

Thomas Neumann

Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG

Katharina Daxkobler

Vorabentscheidungsersuchen zur internationalen Sozialversicherung

Praxisinformationen

Neues aus der Gesetzgebung

News aus Lohnsteuer-, SV- und Arbeitsrecht

Judikatur der Arbeits- und Sozialgerichte

27. Jahrgang / Juli 2023 / Nr. 7

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ARBEITS- UND SOZIALRECHTSKARTEI

Redaktion: Univ.-Prof. Dr. Fran z Marhold, Dr. Roman Krammer

1210 Wien, Scheydgasse 24, Telefon: 01/24 630, Fax: 01/24 630/751, E-MailRedaktion:redaktion@lindeverlag.at

 Gebührenbefreiung für Anträge auf Vergütung des in der Sonderbetreuungszeit gezahlten Entgelts

 Beschäftigungsbewilligung: Neuregelung der Einbindung des AMS-Regionalbeirats

 Kurzarbeitsbeihilfe: Verlängerung derMöglichkeit der abweichenden Beihilfenhöhe

 Pflegelehre

 COVID-19-Überführungsgesetz

 Novelle des PrimVG und des ASVG

 OGH: Berücksichtigung einer in eine Pensionsversicherung mit Gewinnbeteiligung investierten Einmalzahlung aus einer privaten Unfallversicherung bei der Ausgleichszulage

INHALTSVERZEICHNIS CHRISTOPH KIETAIBL ........................................................................................... 234 Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche im Anwendungsbereich eines Kollektivvertrages mit abweichenden Kündigungsbestimmungen WOLFRAM HITZ / ALEXANDER NOGA ................................................................... 242 Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I) THOMAS RAUCH ....................................................................................................... 250 Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung? PAUL LIEBEG ............................................................................................................. 254 Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts bei Krankenstand von Vertragsbediensteten und Beamten des Bundes? In-vitro-Fertilisation und notwendige Krankenbehandlung .................................. 258 THOMAS NEUMANN ................................................................................................. 259 Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG Neuerscheinung: Die Koordinierung von Familienleistungen ............................... 261 KATHARINA DAXKOBLER ........................................................................................ 262 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH im Dreiecksverhältnis EU – EWR-EFTA – Schweiz Ist Kostenübernahme bei stationärer Pflege nur für Personen ausNiederösterreich gleichheitswidrig? ................................................................ 265 GERDA ERCHER-LEDERER / JULIA DUJMOVITS ................................................. 266 Neues
aus der Gesetzgebung
ALFRED SHUBSHIZKY .............................................................................................. 270 Praxis-News aus Sozialversicherungs-, Lohnsteuer-und Arbeitsrecht in Kurzform EDITH MARHOLD-WEINMEIER ............................................................................... 272 Aus
der aktuellen Rechtsprechung
Impressum ................................................................................................................. 272

Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche im Anwendungsbereich eines Kollektivvertrages mit abweichenden Kündigungsbestimmungen

Zur Auslegung von § 1159 Abs 2 und 4 ABGB

CHRISTOPH KIETAIBL*)

Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wen im Streitfall die Beweislast trifft, wenn sich eine Vertragsseite auf einen Kollektivvertrag mit abweichenden Kündigungsbestimmungen im Sinne des § 1159 ABGB beruft und die andere Seite die Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmung wegen Nichtvorliegens einer Saisonbranche behauptet.

1.Ausgangslage und Fragestellung

Das Arbeiter-Angleichungspaket1) hat die Kündigungsfristen und Kündigungstermine der Arbeiter an jene der Angestellten mit Wirkung ab 1. 10. 2021 angeglichen. Die entsprechenden Regelungen finden sich im neu gefassten § 1159 ABGB. Diese Bestimmung wirkt grundsätzlich einseitig zwingend zugunsten der Arbeitnehmer. Allerdings erlauben Abs 2 und 4 leg cit dem Kollektivvertrag in Branchen, in denen Saisonbetriebe im Sinne des § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen, die Festlegung abweichender Kündigungsfristen und -termine. Diese Kollektivvertragsdispositivität trägt dem Umstand Rechnung, dass in Saisonbranchen eine längerfristige Personalplanung typischerweise nicht möglich ist und kurzfristige Anpassungen erforderlich sind.2) Der Kollektivvertrag kann von dieser Regelungsermächtigung auch dadurch Gebrauch machen, dass er bereits (vor Inkrafttreten der Neuregelung in § 1159 ABGB) im Kollektivvertrag vorhandene abweichende Kündigungsmodalitäten beibehält3) (so zB der Kollektivvertrag für Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe).4)

Die von der Rechtsprechung an das Vorliegen einer Saisonbranche gestellten Anforderungen sind allerdings hoch und schwierig festzustellen. Als Saisonbetriebe, welche in der Branche und damit im Anwendungsbereich des Kollektivvertrages zahlenmäßig überwiegen müssen, gelten gemäß § 53 Abs 6 ArbVG „Betriebe, die ihrer Art nach nur zu bestimmten Jahreszeiten arbeiten oder die regelmäßig zu gewissen Zeiten des Jahres erheblich verstärkt arbeiten.“ Nach dem OGH ist das Kriterium „regelmäßig zu gewissen Zeiten“ als „ungefähr zu denselben, wenngleich nicht notwendigerweise datumsmäßig exakt übereinstimmenden Zeiträumen des Jahres periodisch wiederkehrend“ zu verstehen, wobei diese Zeiträume weder ganz kurz noch ganz lang sein dürfen.5) Das Kriterium, dass Betriebe regelmäßig „erheblich verstärkt“ arbeiten, bringt nach dem OGH eine Relation zum Ausdruck: Es bedarf einer entsprechenden Steigerung der Arbeit im Verhältnis zur Arbeit in Zeiten mit einem norm alen (geringeren) Arbeitsaufkommen, wobei keine starren Prozentsätze maßgeblich sind.6) Abzustellen sei auch nicht auf Umsatz-

*)Univ.-Prof. Dr. Christoph Kietaibl lehrt Arbeits-, Sozial- und Privatrecht an der Universität Klagenfurt.

1)Bundesgesetz, mit dem das Angestelltengesetz, das Gutsangestelltengesetz, das Entgeltfortzahlungsgesetz, das Hausgehilfen- und Hausangestelltengesetz, das Berufsausbildungsgesetz, das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch und das Landarbeitsgesetz 1984 geändert werden, BGBl I 2017/153.

2)Vgl OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f, DRdA 2022/50 (Pfleger/Schneller ) = WBl 2022/114 (Grillberger ).

3)Vgl dazu auch OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f.

4)Online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/kv-arbeiter-hotellerie-gastronomie2019.html. Dieser Kollektivvertrag hat die abweichenden Kündigungsfristen nicht bloß beibehalten, sondern durch Neuabschluss im Jahr 2019 nach Inkrafttreten der Neufassung des § 1159 ABGB ausdrücklich bekräftigt.

5)OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f, Punkt 6.3.5.

6)OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f, Punkt 6.3.6.

234 ASoK 2023 Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche
Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche
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Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

steigerungen, Überstundenleistungen etc, sondern auf einen für gewisse Zeit erforderlichen erhöhten Personalstand, so der OGH.7)

Angesichts dieser Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe und des zu ihrer Anwendung erforderlichen branchenweiten Datenmaterials stellt sich die Frage, ob und wie im Individualverfahren Feststellung und Nachweis für das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer überwiegenden Anzahl von Saisonbetrieben (und damit einer Saisonbranche) erfolgen sollen und wem es zum Nachteil gereichen soll, wenn entsprechende Feststellungen und Nachweise nicht gelingen. Im besonderen Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 2 ASGG stellt sich diese Frage naturgemäß nicht. Im Individualverfahren wird diese Frage hingegen meist verfahrensentscheidend sein, weil typischerweise weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer in der Lage sind, diesen Nachweis zu führen. Fraglich ist daher, wen im Streitfall die Beweislast trifft, wenn sich eine Vertragsseite auf einen Kollektivvertrag mit abweichenden Kündigungsbestimmungen im Sinne des § 1159 ABGB beruft und die andere Seite die Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmung wegen Nichtvorliegens einer Saisonbranche behauptet.

Im Schrifttum ist diese Frage umstritten. Für eine Beweislast jener Seite, die sich auf die Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmungen beruft, wird im Wesentlichen mit der Richtigkeitsvermutung (Richtigkeitsgewähr) des Kollektivvertrages argumentiert: Wer die Nichtigkeit einer Kollektivvertragsbestimmung behaupte, habe auch die nichtigkeitsbegründenden Tatsachen zu beweisen.8) Dagegen wendet eine Lehrmeinung ein, die Richtigkeits- und Wirksamkeitsvermutung des Kollektivvertrages betreffe nur die Inhaltskontrolle des Kollektivvertrages, nicht aber dessen Regelungsbefugnis; wer sich auf einen Kollektivvertrag berufe, habe auch die tatbestandlichen Voraussetzungen für die kollektivvertragliche Regelungsbefugnis zu beweisen, in concreto also das branchenmäßige Überwiegen von Saisonbetrieben.9)

2.Grundsätze der Beweislastverteilung und der Richtigkeitsgewähr bezüglicheinerKollektivvertragsnichtigkeit

Die Rechtsprechung geht allgemein davon aus, dass bei Vorhandensein einer vertraglichen Abrede zunächst von ihrer Wirksamkeit auszugehen ist, sodass beweispflichtig ist, wer die Gesetz- oder Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit der Abrede behauptet.10) Insbesondere aus dem Ausnahmecharakter der Gesetz- und Sittenwidrigkeit rechtsgeschäftlicher Abreden wird von der Rechtsprechung gefolgert, dass jene Seite, die sich auf Sittenwidrigkeit beruft, die Behauptungs- und die Beweislast für das Vorliegen der die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände trifft.11) Nach der allgemeinen Beweislastverteilung, wonach jede Seite die für sie günstigen Tatsachen zu beweisen hat, stellt sich die Lage somit wie folgt dar:12) Wer einen vertraglichen Anspruch geltend macht, muss das Vorhandensein einer entsprechenden Vereinbarung beweisen, nicht aber die Gesetzund Sittenkonformität der Abrede. Die diesbezügliche Beweislast trifft die Gegenseite, welche die Unwirksamkeit der Abrede einwendet. In gleicher Weise geht die herrschende Lehre auch zum Kollektivvertrag davon aus, dass mit Behauptung der Nichtigkeit einer kollektivvertraglichen Bestimmung auch die Beweislast für die nichtigkeitsbegründen-

7)OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f, Punkt 6.3.7.

8) Noga , Die gerichtliche Inhaltskontrolle abweichender kollektivvertraglicher Kündigungsfristen und -termine, ASoK 2022, 281 (285 ff); ebenso in diese Richtung Pfleger/Schneller , DRdA 2022, 581 (584).

9) Nunner-Krautgasser , Zur Beweislastverteilung betreffend das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche, DRdA-infas 2023, 72 (81); ähnlich, wenn auch ohne nähere Begründung Grillberger, WBl 2022, 406 (407).

10)RIS-Justiz RS0048300.

11)So explizit etwa OGH 7. 6. 2016, 10 Ob 52/15t.

12)Vgl zur allgemeinen Beweislastverteilung nur Rechberger in Fasching/Konecny , Zivilprozessgesetze3, Vor § 266 ZPO Rz 31 f.

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Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

den Umstände einhergeht; bei Vorhandensein einer kollektivvertraglichen Regelung ist daher nach herrschender Lehre zunächst ebenfalls von deren Wirksamkeit auszugehen und beweisbelastet, wer die Unwirksamkeit behauptet.13)

Spezifisch zum Kollektivvertrag wird diese Beweislastverteilung zusätzlich durch die von der herrschenden Meinung unterstellte Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages gestützt, die in der Sache eine Vermutung für die Angemessenheit, Sachlichkeit und Rechtsrichtigkeit des Kollektivvertrages ist.14) Die Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages beruht zum einen auf der annähernd gleichen Verhandlungsstärke der Kollektivvertragsparteien, zum anderen und vor allem aber auf der Branchennähe und -kenntnis der Kollektivvertragsparteien.15) Auch der Gesetzgeber anerkennt die besondere Richtigkeitsgewähr kollektiver Rechtsgestaltung.16) Wenn aber schon für Verträge generell zunächst von deren Wirksamkeit auszugehen und derjenige beweisbelastet ist, der ihre Nichtigkeit behauptet, dann muss dies umso mehr für kollektive Verträge gelten, denen die herrschende Meinung die dargelegte Richtigkeitsgewähr beimisst.

Überträgt man diese Grundsätze auf den jetzt interessierenden Fall abweichender kollektivvertraglicher Kündigungsbestimmungen, so wäre auf Basis der dargelegten Grundsätze zur Beweislast und kollektivvertraglichen Richtigkeitsgewähr zunächst von der Wirksamkeit der abweichenden Kündigungsbesti mmung im Kollektivvertrag auszugehen, sodass bei Behauptung ihrer Nichtigkeit auch die nichtigkeitsbegründenden Tatsachen zu beweisen wären, in concreto also jene für das Nichtvorliegen einer Saisonbranche, woraus dann rechtlich die Überschreitung der kollektivvertraglichen Regelungsbefugnis und die Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsmodalitäten wegen Gesetzwidrigkeit folgen würden.

3.Differenzierung zwischen Inhaltskontrolle und Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages?

Gegen eine Übertragung dieser Grundsätze auf den hier interessierenden Fall wird allerdings eingewendet, dass sich diese nur auf die Inhaltskontrolle des Kollektivvertrages und anderer Rechtsgeschäfte beziehen würden, nicht aber auf die jetzt im Vordergrund stehende Frage, ob die Voraussetzungen für die kollektivvertragliche Regelungsermächtigung erfüllt seien; auch die besondere Richtigkeitsgewähr bzw Richtigkeitsvermutung

13)Vgl zB treffend Resch , DRdA 1993, 376; N. Moser/Resch , Die Umverteilung des Entgelts durch Betriebsvereinbarung, ecolex 2003, 184; Kietaibl , Allgemeine Arbeitsbedingungen (2011) 95.

14)So geht die Rechtsprechung davon aus, dass der Kollektivvertrag eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung trifft sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführt und eine Ungleichbehandlung der Normadressaten vermeidet; vgl RIS-Justiz RS0008897. In ähnlicher Weise ist bei kollektivvertraglichen Eingriffen in Rechtspositionen der Arbeitnehmer zu vermuten, dass der Eingriff verhältnismäßig ist; vgl RIS-Justiz RS0038552. Die herrschende Meinung bejaht eine solche Richtigkeitsvermutung auch für die Betriebsvereinbarung, und zwar wegen der Einbindung und Sachnähe der Belegschaftsvertretung beim Betriebsvereinbarungsabschluss; vgl zB OGH 1. 7. 1987, 9 ObA 16/87; vgl auch VfGH 6. 12. 1994, B 204/94.

15)Auch der EuGH anerkennt eine vergleichbare Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages; vgl zB EuGH 19. 9. 2018, Rs C-312/17, Bedi, Rn 68: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unterscheidet sich das Wesen durch Tarifvertrag erlassener Maßnahmen vom Wesen einseitig im Gesetz- oder Verordnungsweg von den Mitgliedstaaten erlassener Maßnahmen dadurch, dass die Sozialpartner bei der Wahrnehmung ihres in Art. 28 der Charta anerkannten Grundrechts auf Kollektivverhandlungen darauf geachtet haben, einen Ausgleich zwischen ihren jeweiligen Interessen festzulegen ...“

16)Dies kommt schon in der generellen Delegation der Rechtssetzungsbefugnis an Kollektivvertrag und Betriebsvereinbarung im ArbVG zum Ausdruck. Besonders deutlich zeigt sich das Vertrauen des Gesetzgebers in die Richtigkeitsgewähr der kollektiven Rechtssetzung darin, dass das Gesetz an vielen Stellen nur durch kollektive Rechtsgestaltung eine Abweichung von an sich zwingenden Arbeitsbedingungen zulässt. Solche (nur) zugunsten der kollektiven Rechtssetzung ausnahmsweisen Dispositivstellungen an sich zwingender Normen finden sich zahlreich im Arbeitszeitrecht. Aber auch die jetzt interessierende Kündigungsregelung in § 1159 Abs 2 ABGB ist eine solche Regelung: Nur durch Kollektivvertrag können in Saisonbranchen die gesetzlichen Kündigungsmodalitäten verändert werden, was deutlich das Vertrauen des Gesetzgebers in die Branchennähe und Sachgerechtigkeit der kollektivvertraglichen Regelung zeigt.

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Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

des Kollektivvertrages wäre nach dieser Ansicht nur für den Inhalt des Kollektivvertrages maßgeblich, nicht aber für dessen Regelungsbefugnis.17)

In diesem Zusammenhang erscheint aber schon die Differenzierung zwischen Inhaltskontrolle und Kontrolle der (sonstigen) Regelungsbefugnis zweifelhaft. Auch in Bezug auf gesetz-, sitten- oder grundrechtswidrige Kollektivvertragsinhalte fehlt es an der kollektivvertraglichen Regelungsbefugnis. Der Kollektivvertrag ist für sitten- und gesetzwidrige Inhalte ebenso wenig regelungsbefugt wie für andere Inhalte außerhalb gesetzlicher Regelungsermächtigungen, seien es verkürzte Kündigungsfristen jenseits der Regelungsermächtigung in § 1159 Abs 2 ABGB, seien es Regelungen (wie etwa Abschlussnormen) außerhalb der Inhaltsnormerm ächtigung nach § 2 Abs 2 Z 1 ArbVG oder betriebsverfassungsrechtliche Regelungen oder seien es eben sittenwidrige, grundrechtswidrige oder sonst gesetzwidrige Kollektivvertragsregelungen. Auch die allgemeine Sittenwidrigkeitsschranke sowie die Grundrechte stecken letztlich die Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages ab. Da es somit stets um die Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages und damit stets um inhaltliche Zulässigkeitsschranken für Kollektivvertragsregelungen geht, erscheint es schon deshalb wenig einsichtig, die mangelnde Regelungsbefugnis in Gegensatz zur inhaltlichen Unzulässigkeit (wie etwa Sitten- oder Gesetzwidrigkeit einer Kollektivvertragsbestimmung) zu setzen.

Vor allem aber ist nicht einsichtig, hinsichtlich der Beweislastverteilung entsprechend zu differenzieren. Auch lässt sich dem geltenden Recht keine solche Differenzierung entnehmen, und zwar schon nicht hinsichtlich der allgemeinen Beweislast bei Vertragsnichtigkeit.18) Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung geht nicht bloß mit Behauptung der Sittenwidrigkeit eines Vertrages die Beweislast für die sittenwidrigkeitsbegründenden Umstände einher, sondern trifft dies gleichermaßen auch auf andere Nichtigkeitsgründe zu. So trägt auch für den Scheincharakter eines Geschäfts derjenige die Beweislast, der sich auf diesen beruft.19) Ebenso ist zB auch beweisbelastet, wer sich auf Vertragsnichtigkeit wegen mangelnder Handlungsfähigkeit (und damit mangelnder „Regelungsbefugnis“) einer Vertragspartei beruft.20) Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen und zeigen allesamt, dass schon nach den allgemeinen Beweislastregeln zunächst generell von der Vertragswirksamkeit auszugehen und unabhängig von der Art des behaupteten Nichtigkeitsgrundes jene Seite beweisbelastet ist, welche die Nichtigkeit behauptet. Dabei machtet es keinen Unterscheid, ob die behauptete Nichtigkeit auf inhaltliche Sittenwidrigkeit oder einen anderen Nichtigkeitsgrund gestützt wird.

Diese Grundsätze gelten – wie gesagt – gleichermaßen für den Kollektivvertrag, wobei hier zusätzlich dessen besondere Richtigkeitsgewähr zum Tragen kommt.21) Wer sich daher auf einen Kollektivvertrag beruft, der muss (nur) das Vorhandensein eines entsprechenden Kollektivvertrages nachweisen sowie jene Umstände, aus denen sich die Erfüllung des persönlichen Geltungsbereichs des Kollektivvertrages ergibt, also zB die für die Angestellteneigenschaft maßgeblichen Umstände, wenn der Kollektivvertrag seine Geltung auf Angestellte beschränkt. Hingegen müssen die für die Sitten-, Gesetzes- und Grundrechtskonformität des Kollektivvertrages maßgeblichen Umstände ebenso wenig nachgewiesen werden wie sonstige für die kollektivvertragliche Regelungsbefugnis relevante Umstände. Gleiches gilt für andere Geltungsgrundlagen des Kollektivvertrages. Wer sich auf eine Kollektivvertragsbestimmung stützt, der muss zB nicht nachweisen, dass die Voraussetzungen für die kollektivvertragliche Regelungsbefugnis nach § 2 Abs 2 Z 1 ArbVG für Inhaltsnormen erfüllt sind, dass also die maßgebliche Kollektivvertragsbe-

17)So Nunner-Krautgasser , DRdA-infas 2023, 81.

18)In diese Richtung aber offenbar Nunner-Krautgasser , DRdA-infas 2023, 81.

19)Vgl mit Nachwiesen bloß Rummel in Rummel/Lukas , ABGB4, § 916 Rz 13.

20) Rummel in Rummel/Lukas , ABGB4, § 865 Rz 23.

21)Vgl zB Resch , DRdA 1993, 376; N. Moser/Resch, ecolex 2003, 184 ff; Kietaibl , Allgemeine Arbeitsbedingungen, 95 f; siehe Punkt 2.

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Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

stimmung einen tatsächlich regelmäßig wiederkehrenden und typischen Arbeitsvertragsinhalt in der jeweiligen Branche regelt. Vielmehr wäre die Tatsache, dass die Kollektivvertragsregelung keinen typisch wiederkehrenden Arbeitsvertragsinhalt betrifft, von der Gegenseite zu beweisen, wenn diese die Nichtigkeit der Kollektivvertragsbestimmung wegen fehlender Regelungsbefugnis nach § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG behauptet. Gleiches gilt, muss dann aber gelten, wenn eine Seite die Nichtigkeit einer kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmung wegen mangelnder Regelungsbefugnis nach § 1159 Abs 2 ABGB behauptet oder einwendet. Enthält der anwendbare Kollektivvertrag tatsächlich eine abweichende Kündigungsbestimmung, so muss jene Seite die für die mangelnde kollektivvertragliche Regelungsbefugnis maßgeblichen Umstände nachweisen, hier also die für das Nichtvorliegen einer Saisonbranche maßgeblichen Tatsachen, welche die daraus folgende Nichtigkeit behauptet bzw einwendet.

Daran vermag auch nichts zu ändern, dass die kollektivvertragliche Regelungsbefugnis in § 1159 Abs 2 ABGB im Gesamtgefüge des § 1159 ABGB als Ausnahme (zu den sonst nicht durch Kollektivvertrag veränderlichen Kündigungsmodalitäten) konstruiert ist.22) Jede kollektivvertragliche Regelungsermächtigung ist eine Ausnahme in dem Sinn, dass jenseits der Regelungsbefugnis der Kollektivvertrag keine Regelungen treffen kann. Dies gilt für die Ermächtigung zur Regelung der typischen Arbeitsvertragsinhalte (Inhaltsnormen) nach § 2 Abs 2 ArbVG ebenso wie für jene nach § 1159 Abs 2 ABGB oder jede andere gesetzliche Regelungsermächtigung, sodass daraus für die Beweislast nichts zu gewinnen ist. Die Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages insgesamt ist stets die Summe der einzelnen im Gesetz vorhandenen Regelungsermächtigungen, wobei hier aber aufgrund der oben dargelegten Grundsätze generell gilt, dass für die fehlende Regelungsbefugnis in Bezug auf eine vorhandene Kollektivvertragsbestimmung jene Seite die Beweislast trägt, welche die mangelnde Regelungsbefugnis und damit die Gesetzwidrigkeit und Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Regelung behauptet.

Zuletzt ist schließlich festzuhalten, dass vorliegend dieses Ergebnis in besonderem Ausmaß durch die besondere Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages gestützt wird 23) Auch in diesem Zusammenhang erweist sich der Einwand als unbegründet, diese Richtigkeitsgewähr begründe nur eine Vermutung für den gesetzes- und sittenkonformen Inhalt der kollektiven Abrede, nicht aber für die gesetzmäßige Ausübung der Regelungsbefugnis.24) Zum einen ist daran zu erinnern, dass – wie oben ausgeführt – der Gegensatz zwischen inhaltlicher Unzulässigkeit bzw Gesetzwidrigkeit des Kollektivvertrages einerseits und mangelnder Regelungsbefugnis andererseits nur ein scheinbarer ist; stets liegt ein rechtswidriger und damit unzulässiger Kollektivvertragsinhalt vor. Zum anderen und vor allem ist festzuhalten, dass auch der Gesetzgeber die Richtigkeitsgewähr der kollektiven Rechtsgestaltung jedenfalls auch auf die Regelungsbefugnis und insbesondere auch auf die (zulässige) Ausübung sondergesetzlicher Regelungsermächtigungen bezieht. Deutlich zeigt sich dies zB in der (mittlerweile aufgehobenen) Bestimmung des § 7 Abs 4 AZG in der Fassung BGBl I 2007/61 zur Zulassung von Sonderüberstunden durch Betriebsvereinbarung, die von der Struktur her mit der jetzt interessierenden Regelungsermächtigung vergleichbar ist. Danach war bei „vorübergehend auftretendem besonderem Arbeitsbedarf“ der Betriebsvereinbarung die Zulassung von Sonderüberstunden erlaubt, wenn dies zur „Verhinderung eines unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Nachteils“ erforderlich war. Ähnlich wie im jetzt interessierenden Fall der Kündigungsmodalitäten für Saisonbranchen war die Regelungsermächtigung an die Betriebsvereinbarung durch unbestimmte Gesetzesbegriffe umschrieben, was der Betriebsvereinbarung erheblichen Beurteilungsspielraum einräumte. Dies war zum einen dem Sachzwang der Materie geschuldet. Zum anderen und vor allem wurde dies vom Gesetzgeber aber mit der

22)So aber wohl Nunner-Krautgasser , DRdA-infas 2023, 81.

23)Siehe Punkt 2.

24)In diese Richtung wiederum Nunner-Krautgasser , DRdA-infas 2023, 80.

238 ASoK 2023

Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

besonderen Richtigkeitsgewähr der Betriebsvereinbarung in Bezug auf die Beurteilung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Regelungsermächtigung gerechtfertigt. So halten die Materialien explizit fest: „Bei Zulassung durch Betriebsvereinbarung kann davon ausgegangen werden, dass der Betriebsrat einer Arbeitszeitverlängerung ... nur zustimmt, wenn tatsächlich ents prechende Gründe vorliegen.“ 25) Der Gesetzeber geht somit ausdrücklich von der Vermutung aus, dass die Betriebsvereinbarung nur bei Vorliegen der gesetzlichen Zulassungsgründe („vorübergehend auftretender besonderer Arbeitsbedarf“ und „Verhinderung eines unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Nachteils“) und damit nur im Rahmen der gesetzlichen Regelungsbefugnis abgeschlossen wird. Damit erstreckt der Gesetzgeber die unterstellte Richtigkeitsgewähr der Betriebsvereinbarung ausdrücklich auf das Vorliegen der tatbestandliche n Voraussetzungen für die Regelungsbefugnis. Gleiches muss dann auch für die kollektivvertragliche Richtigkeitsgewähr in Bezug auf die Voraussetzungen für die Regelungsbefugnis des § 1159 Abs 2 ABGB für Saisonbrachen gelten, also für das zahlenmäßige Überwiegen von Saisonbetrieben im Anwendungsbereich des Kollektivvertrages. Dazu kommt, dass die Richtigkeitsgewähr des Kollektivvertrages in Bezug auf die Beurteilung dieser Voraussetzung sogar besonders hoch ist, weil in der Regel ohnedies nur die Kollektivvertragsparteien über ausreichend Informationen verfügen, um das Vorliegen einer Saisonbranche beurteilen zu können. Darauf wird gleich weiter unten noch näher eingegangen.

4.Beweislast und Normzweck

Die Beweislastverteilung ist kein Selbstzweck, sondern steht in enger Verbindung zum Sachrecht.26) Das bisher überwiegend auf Basis allgemeiner Beweislastregeln in Verbindung mit kollektivvertraglicher Richtigkeitsgewähr gewonnene Ergebnis soll nun noch spezifisch aus Sicht der Regelungsermächtigung in § 1159 ABGB überprüft werden.

Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass im Regelfall keine Arbeitsvertragsseite in der Lage sein wird, den Nachweis für das zahlenmäßige Überwiegen bzw Nichtüberwiegen von Saisonbetrieben im Anwendungsbereich eines Kollektivvertrages mit abweichenden Kündigungsmodalitäten zu erbringen. Wie bereits eingangs erwähnt, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für Saisonbetriebe nicht bloß äußerst unbestimmt; so fehlt es etwa auch an einem fixen Prozentsatz, anhand dessen die Erheblichkeit des verstärkten Arbeitens in Relation zur Normalauslastung zu beurteilen ist. Re in sprachlich können Schwankungen um 10 % ebenso erheblich sein wie solche um 30 %. Vor allem sind aber auch die Daten zur Ermittlung des relevanten Zeitraums des verstärkten Arbeitens in Relation zum Zeitraum der Normalauslastung branchenweit jedenfalls für die einzelnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer praktisch nicht erhebbar: Nach der Rechtsprechung darf dieser Zeitraum einerseits nicht ganz kurz sein, weil bloß punktuellen Auslastungsspitzen mit erhöhtem Arbeitseinsatz das erforderliche Dauerelement fehlt. Zum anderen darf der erhöhte Arbeitseinsatz aber auch nicht so lange andauern, dass er im Vergleich zur niedrigen Auslastung überwiegt und als Normalzustand anzusehen ist. All das müsste für jeden einzelnen Betrieb in der Branche erhoben und beurteilt werden. Dazu kommt, dass der OGH auch Schwankungen in der Arbeitsauslastung von Ein-Personen-Unternehmen einbezogen haben möchte, wo sich (mangels Schwankungen im Beschäftigtenstand) schon die Frage nach der relevanten Messgröße stellt.

Angesichts dieser Anforderungen würde nun ei ne Beweislast desjenigen, der sich auf einen vorhandenen Kollektivvertrag mit abweichenden Kündigungsbestimmungen stützt, regelmäßig dazu führen, dass die kollektivvertragliche Kündigungsbestimmung im Ergebnis allein dadurch unanwen dbar (außer Kraft ge setzt) würde, dass die andere Arbeitsvertragspartei die Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages bestreitet. Der dann

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25)AB 622 BlgNR 20. GP, 4. 26)Vgl zB Rechberger in Fasching/Konecny , Zivilprozessgesetze3, Vor § 266 ZPO Rz 27 ff.

Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

für das Vorliegen einer Saisonbranche Beweisbelastete, der sich auf den Kollektivvertrag beruft, könnte diesen Nachweis praktisch niemals erbringen. Im Ergebnis bedeutete dies dann aber weiter, dass die Anwendung von abweichenden kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmungen und damit die wirksame Ausnutzung der Regelungsermächtigung in § 1159 ABGB praktisch nur in jenen Fällen möglich wäre, in denen die Gegenseite die Regelungsbefugnis nicht bestreitet. Die gesetzliche Regelungsermächtigung hätte dann aber kaum einen praktischen Anwendungsbereich und es würde die Wirksamkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmung regelmäßig allein durch (unsubstanziierte) Bestreitung der Regelungsbefugnis im Individualverfahren beseitigt. Ein solches Ergebnis kann dem Gesetz aber kaum unterstellt werden. Wenn das Gesetz den Kollektivvertrag zur Regelung einer Materie ausdrücklich ermächtigt, muss angenommen werden, dass dem Kollektivvertrag eine sinnvolle und effektive Nutzung der Regelungsermächtigung zukommen soll, was dann aber nicht durch eine diametral gegenläufige Beweislastverteilung vereitelt werden darf.

Ist hingegen beweisbelastet, wer die Regelungsbefugnis und die Wirksamkeit einer kollektivvertraglichen Abweichung von § 1159 ABGB bestreitet, so bewirkt dies im Ergebnis, dass sich regelmäßig der vorhandene Kollektivvertrag durchsetzen wird, weil ja –wie gesagt – der Nachweis des Nichtüberwiegens von Saisonbetrieben ebenfalls kaum möglich sein wird. Dieses Ergebnis erscheint im Vergleich zur anderen Variante weitaus sachgerechter und entspricht auch dem Normzweck der gesetzlichen Rege lungsermächtigung in § 1159 ABGB: Wenn typischerweise keine der beiden Arbeitsvertragsparteien über ausreichend Informationen zur Beurteilung des Vorliegens einer Saisonbranche verfügt, sondern dazu noch am ehesten der Branchenkollektivvertrag in der Lage ist, dann wäre es wenig einsichtig, wenn sich im Streitfall zwischen den Arbeitsvertragsparteien über diese Frage nicht der einschlägige Kollektivvertrag durchsetzt, sondern im Ergebnis stets jene Arbeitsvertragspartei, welche das Vorliegen einer Saisonbranche bestreitet (ohne dafür aber die Beweislast zu tragen). Vielmehr zeigt sich auch aus diesem Blickwinkel, dass dem Kollektivvertrag gerade für die Beurteilung der gesetzmäßigen Ausübung der Regelungskompetenz nach § 1159 ABGB eine besondere Richtigkeitsgewähr zukommt, wenn und weil in Wahrheit nur dem Kollektivvertrag die Beurteilung der tatbestandlichen Regelungsvoraussetzungen möglich sein wird. Auch insoweit spricht daher bei Vorliegen einer kollektivvertraglich abweichenden Kündigungsbestimmung im Sinne des § 1159 ABGB die starke Vermutung für ihre Rechtmäßigkeit in Bezug auf die Voraussetzungen der Regelungsbefugnis.

Letztlich liegt darin auch der Grund, warum der Gesetzgeber nicht schon selbst festlegt, welche Branchen als Saisonbranchen gelten sollen, oder dass in Saisonbranchen unmittelbar der Arbeitsvertrag abweichende Kündigungsfristen festlegen kann. Vielmehr legt das Gesetz die Beurteilung dieser Frage aus den oben genannten Gründen in die Hände des Kollektivvertrages, dem damit ein erheblicher Beurteilungsspielraum zukommt. Es liegt nach dem Regelungskonzept und der Natur der Regelungsmaterie am Kollektivvertrag, die für die Reglungsermächtigung maßgeblichen unbestimmten Rechtsbegriffe (insbesondere „erheblich verstärktes Arbeiten“ und „regelmäßig zu gewissen Zeiten des Jahres“) zu beurteilen und anzuwenden. Der Grund dafür liegt wiederum darin, dass eine konkrete und detaillierte Festlegung der Voraussetzungen für abweichende Kündigungsbestimmungen im Gesetz sinnvoll gar nich t möglich wäre. Selbst von der Festlegung eines Prozentsatzes, ab dem von einem „erheblich“ verstärkten Arbeiten im Vergleich zur Normalauslastung auszugehen ist, sieht das Gesetz zu Recht ab. Ein solcher Wert wäre nicht sinnvoll festlegbar und würde auch die Rechtssicherheit und Praktikabilität stark beeinträchtigen: Bei Festlegung eines starren Prozentsatzes unterläge die kollektivvertragliche Regelungsbefugnis laufend Schwankungen und müsste datenmäßig laufend27)

27)In welchem Zeitraum?

240 ASoK 2023

Die Beweislastverteilung in Bezug auf das (Nicht-)Vorliegen einer Saisonbranche

auf ihre Voraussetzungen hin überprüft werden.28) Die daraus folgende Rechtsunsicherheit wäre in Bezug auf die Wirksamkeit zentraler Arbeitsbedingungen (wie kollektivvertragliche Kündigungsfristen) nicht rechtfertigbar. Gleiches gilt sinngemäß für die anderen (zu Recht unbestimmten) tatbestandlichen Voraussetzungen der Regelungsbefugnis. Erlaubt der Gesetzgeber daher dem Kollektivvertrag die Festlegung abweichender Kündigungsbestimmungen für Saisonbranchen, so kann er dem Kollektivvertrag sinnvollerweise nur abstrakt jene Kriterien vorgeben, die zur Beurteilung des Vorliegens einer Saisonbranche maßgeblich sind, womit dann notwendig ein entsprechender Beurteilungsspielraum des Kollektivvertrages bei Anwendung der Regelungsermächtigung einhergeht. Auch damit würde sich eine gegenläufige Beweislastverteilung zwischen den Arbeitsvertragsparteien nicht vertragen, die stets zulasten der Kollektivvertragsregelung und damit zulasten des dargelegten Regelungskonzepts gehen würde.

Es kann daher festgehalten werden, dass die spezifischen Normzwecküberlegungen zur Regelungsermächtigung in § 1159 ABGB das auf Basis allgemeiner Beweislastregeln und kollektivvertraglicher Richtigkeitsgewähr gewonnene Ergebnis zusätzlich stützen: Im Anwendungsbereich eines Kollektivvertrages mit abweichenden Kündigungsbestimmungen im Sinne des § 1159 ABGB trägt jene Arbeitsvertragspartei die Beweislast für die mangelnde Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages (und damit das Nichtvorliegen einer Saisonbranche), welche die Unwirksamkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmung behauptet. Da dieser Beweis regelmäßig nicht gelingen wird, führt das Vorhandensein eines Kollektivvertrages mit abweichenden Kündigungsbestimmungen im Individualverfahren regelmäßig zu deren Anwendung.

Abschließend ist schließlich noch festzuhalten, dass gegen dieses Ergebnis auch nicht spricht, dass nach dem gesetzlichen Regelungskonzept und nach der Rechtsprechung dem Kollektivvertrag keine Gestaltungsmacht dahin gehend eingeräumt ist, dass er konstitutiv (und damit unwiderleglich) bestimmen könnte, ob in seinem Anwendungsbereich Saisonbetriebe überwiegen und eine Saisonbranche vorliegt. Zwar ist das Vorliegen einer Saisonbranche gesetzliche Voraussetzung für die Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages, die durch Kollektivvertrag nicht abänderbar ist.29) Daraus folgt aber nur, dass ausdrückliche Festlegungen im Kollektivvertrag über das Vorliegen einer Saisonbranche keine konstitutive Wirkung haben, ferner, dass die oben dargelegte Vermutung zugunsten der rechtsrichtigen Ausübung der Rege lungsbefugnis durch den Kollektivvertrag unabhängig davon besteht, ob der Kollektivvertrag eine ausdrückliche Festlegung zum Vorliegen einer Saisonbranche enthält,30) und schließlich auch, dass bei kollektivvertraglich abweichenden Kündigungsmodalitäten den Arbeitsvertragsparteien der Nachweis bezüglich des Nichtvorliegens einer Saisonbranche rechtlich möglich ist. Dass dieser Nachweis (ebenso wie umgekehrt jener zum Vorliegen einer Saisonbranche) dem Einzelnen de facto mangels ausreichender Informationen und Daten kaum möglich sein wird, vermag daran nichts zu ändern. Vielmehr würden sich diesbezügliche Beweislastfragen gar nicht stellen, wenn der Kollektivvertrag konstitutiv über das Vorliegen einer Saison-

28)Vgl auch treffend OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f.

29)OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f.

30)Auch wenn der Kollektivvertrag keine ausdrückliche Saisonbranchenregelung enthält, sondern die Regelungsbefugnis des § 1159 ABGB durch Aufrechterhaltung bereits bestehender Kündigungsbestimmungen ausübt, ist für solche Bestimmungen (schon wegen der allgemeinen Beweislastregeln und der kollektivvertraglichen Richtigkeitsgewähr; siehe Punkte 2. und 3.) zunächst von ihrer Wirksamkeit auszugehen, sodass die die mangelnde Regelungsbefugnis behauptende Seite beweisbelastet wäre. Auch aus Sicht des Regelungskonzepts des § 1159 AB GB besteht kein Unterschied: Hier wie dort verfügen nicht die Einzelvertragsparteien, sondern am ehesten die Kollektivvertragsparteien über ausreichend Informationen zur Beurteilung des Vorliegens einer Saisonbranche und es wäre daher beide Male wenig einsichtig, wenn sich im Ergebnis die Bestreitung durch eine Einzelvertragspartei gegen den Kollektivvertrag durchsetzen sollte. Auch der OGH hat in der Entscheidung vom 24. 3. 2022, 9ObA 116/21f, zu Recht darauf hingewiesen, dass die Regelungsbefugnis auch durch Aufrechterhaltung bestehender Kollektivvertragsbestimmungen ausgeübt werden kann und dass keine Bezugnahme auf Saisonalität und § 1159 ABGB im Kollektivvertrag erforderlich ist.

ASoK 2023 241

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)

branche entscheiden könnte oder wenn das Gesetz branchenunabhängig dem Kollektivvertrag die Festlegung abweichender Kündigungsmodalitäten erlauben würde.

Auf den Punkt gebracht

Im Anwendungsbereich eines Kollektivvertrages mit abweichenden Kündigungsbestimmungen im Sinne des § 1159 ABGB trägt jene Arbeitsvertragspartei die Beweislast für die mangelnde Regelungsbefugnis des Kollektivvertrages (und damit für das Nichtvorliegen einer Saisonbranche), welche die Unwirksamkeit der kollektivvertraglichen Kündigungsbestimmung behauptet. Dies folgt nicht bloß aus den allgemeinen Beweislastregeln in Verbindung mit der Richtigkeitsvermutung des Kollektivvertrages, sondern auch spezifisch aus Zweck und Konzeption der kollektivvertraglichen Regelungsermächtigung in § 1159 Abs 2 ABGB sowie der darin zum Ausdruck kommenden Sach- und Branchennähe des Kollektivvertrages. Keine Rolle spielt in diesem Zusammenhang, ob der Kollektivvertrag eine ausdrückliche Saisonbranchenregelung enthält oder ob er die Regelungsermächtigung auf die Weise ausübt, dass er vorhandene abweichende Kündigungsbestimmungen weiter aufrechterhält bzw durch Neuabschluss bekräftigt, ohne dabei ausdrücklich auf § 1159 ABGB Bezug zu nehmen.

Rechtsfragen

zur

Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)

Welcher Regelungsbedarf besteht bei einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung?

WOLFRAM HITZ UND ALEXANDER NOGA*)

Seit Längerem gibt es Diskussionen über die Frage, welche Arbeitszeitmodelle bzw welches Arbeitszeitausmaß zukunftstauglich sind. Die Bewertung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist dabei naturgemäß sehr unterschiedlich bzw oftmals branchen- und betriebsabhängig. Es geht dabei um Fragen der Kosten, von Freizeit, von Umsatzeinbußen, der Attraktivität für Fachkräfte und vieles mehr. Im zweiteiligen Beitrag wird abseits der interessenpolitischen Diskussion untersucht, in welcher Form eine Arbeitsreduktion durchgeführt werden kann und welche Rechts- bzw Gestaltungsfragen sich dabei ergeben.

1.Begriffsbestimmung der Arbeitszeitverkürzung (vs Vier-Tage-Woche)

1.1.

Allgemeines

Wenn in der medial und politisch geführten Diskussion über „Arbeitszeitverkürzungen“ gesprochen wird, werden oftmals (auch bewusst) unterschiedliche Arbeitszeit- bzw Vergütungsthemen vermengt. Eine sinnvolle Annäherung an das Thema „Arbeitszeitverkürzung“ setzt daher die Definition des Themenkomplexes „Arbeitszeitverkürzung“ selbst und damit auch die Abgrenzung von anderen Themenkomplexen voraus, die mitunter unter demselben Schlagwort diskutiert werden. Im Sinne einer sinnvollen Definition ist unter dem Begriff „Arbeitszeitverkürzung“ im Allgemeinen ausschließlich eine Reduktion der Normalarbeitszeit mit oder ohne Lohnaus-

242 ASoK 2023
Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)
*)Mag. Wolfram Hitz ist sozialpolitischer Referent in der Bundessparte Information und Consulting der Wirtschaftskammer Österreich, Lektor an der Donau-Universität Krems, Vortragender, Co-Herausgeber der KomKo-Datenbank des Linde Verlages und Fachautor. Mag. Alexander Noga ist Jurist für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht in der Bundessparte Transport und Verkehr der Wirtschaftskammer Österreich.

gleich zu verstehen. Zu Beginn jeder Diskussion ist daher zu beurteilen ob tatsächlich von einer „Arbeitszeitverkürzung“ in diesem Sinn gesprochen werden kann oder hierunter etwas anderes (wie etwa eine geänderte Verteilung der Normalarbeitszeit) verstanden wird.

Trotz dieser klaren Unterscheidung werden unter dem Schlagwort „Arbeitszeitverkürzung“ dennoch oftmals auch andere Themenkomplexe (wie etwa jene über die Verteilung der Normalarbeitszeit, insbesondere unter Berücksichtigung der Aspekte der VierTage-Woche) diskutiert.1)

Die Abgrenzung der Vier-Tage-Woche von der Arbeitszeitreduktion ist wichtig, da es im Rahmen der Diskussion um die Vier-Tage-Woche zumeist nicht um die Forderung nach einer Reduktion der Normalarbeitszeit geht, sondern um die Forderung nach einer Verlegung der vereinbarten Normalarbeitszeit auf maximal vier Tage pro Woche. Dies bedeutet, dass durch eine andere Arbeitszeitverteilung die Arbeitszeit des bisherigen fünften und gegebenenfalls sechsten Arbeitstages bloß auf die übrigen vier Arbeitstage der Woche aufgeteilt wird. Durch diese Form der Arbeitszeitverteilung wird an den verbleibenden vier Arbeitstagen daher mehr als bisher gearbeitet (zB 10 Stunden an vier Tagen statt acht Stunden an fünf Tagen), wodu rch die Arbeitszeit an den übrigen (bisher gearbeiteten) Arbeitstagen ausfallen kann. Die gesetzliche bzw durch Kollektivvertrag herabgesetzte Normalarbeitszeit wird durch eine derartige Arbeitszeitverteilung allerdings nicht beeinflusst. Es handelt sich daher auch nicht um eine Verkürzung der Normalarbeitszeit im engeren Sinn.

Von dieser geänderten Form der Arbeitszeitverteilung in Form der Vier-Tage-Woche ist wiederum die Forderung nach der Streichung der Arbeitszeit für den fünften bzw sechsten Arbeitstag zu unterscheiden. Dabei handelt es sich in der Regel um die politisch immer wieder geforderte Arbeitsverkürzung auf 36 bzw 32 Stunden, sodass die übrige wöchentliche Normalarbeitszeit auf vier oder weniger Tage aufgeteilt werden kann.

Zusätzliche Komponente bei einer echten Arbeitszeitverkürzung ist die Frage, ob diese zu einer Entgeltkürzung führt oder mit einem (teilweisen oder vollen) Lohnausgleich verbunden ist. In der ersten Variante wird der Bezug der Arbeitnehmer im Ausmaß der Arbeitszeitreduktion (teilweise) gekürzt, während in der zweiten Variante der Bezug der Arbeitnehmer gleich bleibt und nur die Arbeitszeit reduziert wird („Weniger arbeiten, aber gleich viel verdienen.“). Die Vereinbarung eines vollen Lohnausgleichs wird bereits dadurch erreicht, dass das bisher im Ausmaß der Normalarbeitszeit zustehende kollektivvertragliche (Mindest-)Gehalt (bzw ein solcher Lohn) für 40 Wochenstunden auch bei einer künftigen Normalarbeitszeit von zB 38,5 Stunden nicht reduziert wird.

Allenfalls ist hier noch zu differenzieren, dass die Arbeitszeitverkürzung zwar zu keinen Gehaltseinbußen in absoluten Zahlen führt, dass es jedoch bei einer kollektivvertraglichen Arbeitszeitverkürzung im Jahr der Verkürzung bzw in den Folgejahren zumeist zu geringeren kollektivvertraglichen Gehaltssteigerungen als üblich kommen kann. Die Arbeitszeitreduktion führt daher nicht zu einer Reduktion der Mindestlöhne im Verhältnis zur verkürzten Normalarbeitszeit, sondern zu geringeren Steigerungen der Mindest- und Ist-Gehälter.

1.2.Sonderfragen zur Vier-Tage-Woche

Eine Vier-Tage-Woche kann gemäß § 4 Abs 8 AZG durch Betriebsvereinbarung oder in Betrieben ohne Betriebsrat durch schriftliche Einzelvereinbarung geregelt werden. Zum Teil finden sich Regelungen in Kollektivverträgen, die zusätzliche Rahmenbedingungen oder Ansprüche vorsehen.2)

1)Vgl dazu allgemein Hitz , Die Vier-Tage-Woche, PV Profi 3/2022, 12.

2)Vgl § 4c des Rahmenkollektivvertrages für Angestellte im Gewerbe und Handwerk und in der Dienstleistung, online abrufbar unter https://www.kollektivvertrag.at/kv/handwerk-und-gewerbe-ang/rahmen kollektivvertrag/571310. Abschnitt 2 Punkt A.4. des Kollektivvertrages für Angestellte und Lehrlinge in

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I) ASoK 2023 243

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)

Sonderfragen können sich bei der Frage der Anwendbarkeit der Vier-Tage-Woche für Teilzeitbeschäftigte ergeben. Die herrschende Lehre geht davon aus, dass auch Teilzeitbeschäftigte an diesem Arbeitszeitmodell teilnehmen können, selbst wenn die Arbeitszeit nicht auf vier Tage oder nicht auf jeweils 10 Stunden Arbeitszeit pro Tag verteilt wird. Ein Kriterium für die Zulässigkeit kann sein, dass der Einsatz zumindest eines 10-StundenTages dazu führt, dass sich der Arbeitnehmer einen zusätzlichen Arbeitstag spart.3)

Weitere Fragen ergeben sich dann, wenn Arbeitnehmer Überstunden an normalarbeitszeitfreien Arbeitstagen leisten müssen, also zB am fünften Tag in einer geplanten VierTage-Woche.

Ein Teil der Lehre geht davon aus, dass durch diese Überstunden das Regelmäßigkeitskriterium der Vier-Tage-Woche durchbrochen sei und damit (jedenfalls) in dieser Woche eine Teilnichtigkeit der Vereinbarung vorliege.4) Dies hätte die Konsequenz, dass die Normalarbeitszeitgrenze dann nicht bei 10, sondern bloß bei acht Stunden liegen würde. Die (auf Basis einer Vier-Tage-Woche geplante) Arbeitsleistung von 10 Stunden wäre nach diesen Lehrmeinungen ab der neunten Stunde als Überstunde zu bewerten.

Diesem Ergebnis ist unseres Erachtens nicht zu folgen. Der Umstand, dass fallweise und außertourlich an einem arbeitsfreien Tag Überstunden geleistet werden, ändert unseres Erachtens noch nichts an der Regelmäßigkeit der sonst vorliegenden Vier-TageWoche.5)

Die Rechtsfolge einer Teilnichtigkeit wäre auch im Vergleich mit anderen Systemen flexibler Arbeitszeitmodelle überschießend und systemfremd: Im Rahmen einer gleitenden Arbeitszeit gemäß § 4b AZG liegen Überstunden unter anderem dann vor, wenn eine Arbeitsleistung außerhalb des Gleitzeitrahmens erfolgt.6) Diese Arbeitsleistung hat jedoch richtigerweise nicht die Konsequenz, dass die Gleitzeitvereinbarung an sich teilnichtig werden würde. Bei innerhalb des Gleitzeitrahmens geleisteten Stunden liegt weiterhin eine Normalarbeitszeitgrenze von 10 bzw 12 Stunden (abhängig von der Vereinbarung) vor.

2.Wie kann eine Reduktion der gesetzlichen Normalarbeitszeit erfolgen?

2.1.Allgemeines

Grundsätzlich kann eine Herabsetzung der Normalarbeitszeit im Rahmen der bestehenden arbeitsrechtlichen Normenhierarchie auf unterschiedlichen rechtlichen Ebenen mit teilweise unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen erfolgen. Dabei ist grundsätzlich zwischen der generellen Herabsetzung der gesetzlich festgelegten wöchentlichen Normalarbeitszeit von 40 Stunden auf einfachgesetzlicher Ebene7) und der Herabsetzung der im Gesetz festgelegten Normalarbeitszeit durch einen (General-)Kollektivvertrag oder eine Betriebsvereinbarung8) zu unterscheiden.

2) Handelsbetrieben, online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/kollektivvertraghandel-angestellte-2022.pdf, regelt zwar einen grundsätzlichen Anspruch der Arbeitnehmer auf eine Vier-Tage-Woche, wobei aber ein Ablehnungsrecht des Arbeitgebers besteht. Dieses kann dann genutzt werden, wenn die Einhaltung von Betriebsabläufen gefährdet oder die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs nicht mehr gewährleistet ist.

3)Vgl Mosing , Die 4-Tage-Woche, ZAS 2022, 288 (290).

4)Vgl jüngst mit einem Literaturüberblick Mosing , ZAS 2022, 292.

5)So auch Schrank , Arbeitszeit7 (2023) § 4 AZG Rz 86, der zutreffend zwischen (für die Vereinbarung schädlichen) regelmäßigen und (unschädlichen) fallweisen Überstunden differenziert.

6) Jöst , Überstunden bei Gleitzeit, in Gruber-Risak/Jöst/Patka , Praxishandbuch Gleitzeit3 (2021) 81 (84); Schrank , Arbeitszeit7, § 4 AZG Rz 119.

7)ZB in § 3 AZG.

8)Die Herabsetzung der Normalarbeitszeit durch eine Betriebsvereinbarung ist nur dann möglich, wenn der Kollektivvertrag den Betriebsparteien diese Kompetenz überträgt; siehe hierzu zB § 8 Abs 1a des Kollektivvertrages für die Arbeitnehmer/innen der österreichischen Eisenbahnunternehmen, online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/kollektivvertrag-eisenbahnunternehmen-2022.html

244 ASoK 2023

Die konkrete Wahl des Rechtssetzungsinstruments hängt dabei primär vom Adressatenkreis einer möglichen Normalarbeitszeitreduktion ab. Während nämlich die Reduktion der gesetzlichen Normalarbeitszeit für sämtliche Arbeitnehmer wirksam wird, die vom Geltungsbereich der entsprechenden gesetzlichen Regelung erfasst sind, wird die Reduktion der Normalarbeitszeit durch einen (General-)Kollektivvertrag lediglich für die von dessen Geltungsbereich erfassten Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirksam. Wird daher die durch das Gesetz festgelegte Normalarbeitszeit durch einen Kollektivvertrag herabgesetzt, erfolgt die Herabsetzung der Normalarbeitszeit lediglich für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer bestimmten Branche und nicht generell für alle Arbeitnehmer. Eine historische Betrachtung zeigt, dass sich die Sozialpartner und der Gesetzgeber bereits in der Vergangenheit unterschiedlicher rechtlicher Instrumente zur schrittweisen Reduktion der gesetzlichen Normalarbeitszeit auf 40 Stunden bedient haben. All diesen Regelungen ist jedoch gemeinsam, dass sie auf einem entsprechenden Konsens der Sozialpartner als Grundlage für die Normalarbeitszeitreduktion beruhen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt zunächst eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 48 Stunden. Durch einen Generalkollektivvertrag wurde ab 1. 11. 1959 erstmals eine 45-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in allen österreichischen Branchen eingeführt.

Am 1. 1. 1970 ist mit dem Kollektivvertrag betreffend die etappenweise Einführung der 40-Stunden-Woche9) ein weiterer Generalkollektivvertrag über die Reduktion der Normalarbeitszeit in Kraft getreten. Dieser beinhaltete eine schrittweise Reduktion der wöchentlichen Normalarbeitszeit von 45 Stunden

• ab Jänner 1970 auf 43 Stunden,

• ab Jänner 1972 auf 42 Stunden und

• ab Jänner 1975 auf 40 Stunden.

Parallel dazu – und aufbauend auf den Regelungen im Generalkollektivvertrag – ist das AZG in Kraft getreten. Im AZG wurde die sozialpartnerschaftliche Einigung nachgebildet und über den Geltungsbereich des Generalkollektivvertrages hinaus für alle vom AZG erfassten Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie folgt festgelegt:

Verkürzung der Wochenarbeitszeit

• auf 43 Stunden mit 5. 1. 1970,

• auf 42 Stunden mit 3. 1. 1972 und

• auf 40 Stunden mit 6. 1. 1975.

2.2.Reduktion der Arbeitszeit mittels Kollektivvertrages

2.2.1.Vorbemerkung

Die gesetzliche Normalarbeitszeit gemäß § 3 Abs 1 AZG (und somit für alle vom Geltungsbereich des AZG erfassten Arbeitgeber und Arbeitnehmer) beträgt seit dem 6. 1. 1975 40 Stunden. Seit diesem Zeitpunkt kam es zu keiner weiteren Herabsetzung der im AZG festgelegten wöchentlichen Normalarbeitszeit, obwohl eine solche – jederzeit – durch eine einfachgesetzliche Regelung erfolgen kann. Die letzten großen Änderungen des AZG erfolgten im Rahmen de r AZG-Novelle BGBl I 2018/53 und betrafen Flexibilisierungsmöglichkeiten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber keine Arbeitszeitverkürzungen.10)

9)Online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/generalkollektivvertrag-zur-40-stun den-woche.html.

10)Vgl Rauch/Ihradská/Noga , AZG Neu (ASoK-Spezial, September 2018).

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I) ASoK 2023 245

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)

Neben der Möglichkeit zur Reduktion der Normalarbeitszeit durch Gesetz haben die Kollektivvertragspartner gemäß § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG die Kompetenz, die Normalarbeitszeit auch durch eine kollektivvertragliche Bestimmung herabzusetzen. Den Kollektivvertragsparteien kommt nämlich eine grundsätzliche Regelungskompetenz in Arbeitszeitfragen zu.11) Die Kompetenz zur Herabsetzung der Normalarbeitszeit durch einen Kollektivvertrag ist durch Regelungen des AZG auch nicht eingeschränkt.

2.2.2.Aktuelle Beispiele von Arbeitszeitverkürzungen mittels Kollektivvertrages

Wie sich zeigt, haben die Kollektivvertragspartner unterschiedlicher Branchen im Laufe der Jahre von der Kompetenz zur Reduktion der Normalarbeitszeit Gebrauch gemacht. Für die Umsetzung der Reduktion der Normalarbeitszeit durch einen Kollektivvertrag gibt es nicht nur eine Vielzahl bekannter historischer,12) sondern auch einige aktuelle Beispiele.

Die jeweiligen Abschlüsse zeigen, dass die Sozialpartner individuelle Regelungen auf Basis der Anforderungen und Voraussetzungen einzelner Branchen gefunden haben. Umsetzungsschritte erfolgten dort, wo das Gesamtpaket den Vorstellungen beider Vertragspartner entsprochen hat.

Schon in der Vergangenheit wurden kollektivvertragliche Arbeitszeitregelungen bzw insbesondere auch Modelle der flexiblen Arbeitszeit auf Basis von Branchenspezifika entwickelt. Eine allgemeine (gesetzliche) Arbeitszeitverkürzung scheint daher kein taugliches Mittel zu sein, sondern es bewährt sich das System der individuellen Entscheidung einzelner Branchen.

Dies betrifft etwa den Kollektivvertrag für die Angestellten von Zahnärzten,13) in welchem die wöchentliche Normalarbeitszeit mit 1. 6. 2022 von 40 auf 38 Stunden reduziert wurde. Bei Teilzeitbeschäftigten kam es zu einer gestaffelten Anpassung der Normalarbeitszeit, abhängig vom bisherigen Beschäftigungsausmaß.14) In § 5 Z 1b des Kollektivvertrages für die Angestellten von Zahnärzten wurde festgehalten, dass das Gehalt im Zuge der Arbeitsverkürzung nicht reduziert werden darf.

Im Kollektivvertrag der Sozialwirtschaft Österreich15) kam es mit Wirkung ab 1. 1. 2022 zu einer (weiteren) Verkürzung der Normalarbeitszeit von zuletzt 38 auf 37 Stunden pro Woche. Hier blieb bei Teilzeitbeschäftigten die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit unverändert, deren Gehalt wurde jedoch um 2,7 % (Wert einer Stunde) erhöht.16)

Im Kollektivvertrag für Angestellte in Betrieben der Fachgruppe Werbung und Marktkommunikation Wien17) erfolgte eine Verkürzung der Normalarbeitszeit von 40 auf 38,5 Wochenstunden mit 1. 3. 2023, wobei dies rückwirkend zum 1. 1. 2023 umzusetzen war. Bei Teilzeitbeschäftigten war entweder das tatsächliche Gehalt mit Wirkung ab 1. 1. 2023 um (weitere) 3,89 % zu erhöhen oder die vereinbarte Wochenarbeitszeit

11) Reissner in Neumayr/Reissner , Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht3 (2018) § 2 ArbVG Rz 48.

12)ZB 38,5 Stunden wöchentliche Normalarbeitszeit im Kollektivvertrag für Angestellte und Lehrlinge in Handelsbetrieben oder im Kollektivvertrag für Angestellte im Metallgewerbe, online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/metallgewerbe-kollektivvertrag-angestellte.html

13)Online abrufbar unter https://www.kollektivvertrag.at/kv/zahnarzt-angestellte-ang

14)Vgl § 5 Z 1a des Kollektivvertrages für die Angestellten von Zahnärzten: Bis 10 Stunden wöchentliche Normalarbeitszeit erfolgte eine Reduktion um eine halbe Stunde, bis 20 Stunden eine Reduktion um eine Stunde, bis 30 Stunden eine Reduktion um eineinhalb Stunden und bis 40 Stunden eine Reduktion um zwei Stunden.

15)Online abrufbar unter https://www.kollektivvertrag.at/kv/sozialwirtschaft-oesterreich-swoe-arb-ang/ aenderung-historie/564507

16)Ausführliche Erläuterungen zu den Details der Verkürzung in SWÖ-aktuell 2/2020, online abrufbar unter http://www.swoe.at/folder/380/SWOE_aktuell_2_2020_Erlaeuterungen%20SWOE-KV.pdf

17)Online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/kv-abschluss-werbung-marktkom munikation-2023.html

246 ASoK 2023

musste bei vollem Gehaltsausgleich um 3,75 % mit Wirkung ab 1. 1. 2023 verringert werden.18)

Im Kollektivvertrag für Angestellte in Spedition und Logistik19) ist mit 1. 10. 2023 eine Reduktion der Normalarbeitszeit von 40 auf 38,5 Wochenstunden durchzuführen. Für Teilzeitbeschäftigte wurde eine „diskriminierungsfreie Gestaltung der Arbeitszeitreduzierung“ vereinbart;20) diesbezüglich ist bei Redaktionsschluss die Veröffentlichung der finalen Texte abzuwarten.

2.2.3.Entgeltwirkung einer kollektivvertraglichen Arbeitszeitverkürzung

Die Kollektivvertragsparteien sind unseres Erachtens prinzipiell dazu berechtigt, das kollektivvertragliche Mindestentgelt im Ausmaß der Reduktion der Arbeitszeit zu kürzen. Es besteht nämlich grundsätzlich keine Verpflichtung, einen Lohnausgleich im Ausmaß der Arbeitszeitverkürzung im Kollektivvertrag festzulegen. Die Festlegung des kollektivvertraglichen Mindestlohns liegt vielmehr in der Autonomie der Kollektivvertragsparteien, wobei auch verschlechternde Regelungen, also eine Reduktion des Mindestentgelts, in Kollektivverträgen zulässig sind. Soweit es nämlich um kollektivvertragliche Ansprüche geht, sind die Kollektivvertragsparteien befugt, das, was sie einmal gegeben haben, auch wieder zu nehmen. Einzige Schranke dieser Eingriffe bilden die guten Sitten.21) Wird daher beispielsweise die Normalarbeitszeit im Kollektivvertrag von 40 auf 38,5 Stunden gekürzt, können die Kollektivvertragsparteien flankierend zu dieser Reduktion der Normalarbeitszeit im Kollektivvertrag auch eine Reduktion des kollektivvertraglichen Mindestentgelts im Ausmaß der Arbeitszeitreduktion vereinbaren. Eine Reduktion des kollektivvertraglichen Mindestentgelts in diesem Ausmaß (eineinhalb Stunden) ist keinesfalls sittenwidrig, da dadurch bloß das bisherige Synallagma zwischen Normalarbeitszeit und kollektivvertraglichem Mindestlohn bzw -gehalt fortgeschrieben wird. Von einem sittenwidrigen Lohnwucher ist nach der Rechtsprechung außerdem erst dann auszugehen, wenn das kollektivvertragliche (Mindest-)Entgelt in auffallendem Missverhältnis zum Wert der Leistung eines Arbeitnehmers steht.22) Ein solches Missverhältnis ist grundsätzlich dann auszuschließen, wenn die Höhe des bisherigen kollektivvertraglichen Mindestentgelts bloß um das Ausmaß der kollektivvertraglichen Arbeitszeitreduktion gekürzt wird. Fraglich ist jedoch, ob sich eine derartige Reduktion des kollektivvertraglichen Mindestentgelts auch auf bestehende Dienstverhältnisse auswirken kann. Hierzu führt Schrank unseres Erachtens zutreffend aus, dass die Zulässigkeit einer kollektivvertragliche Reduktion der Arbeitszeit ohne vollen Lohnausgleich bei bestehenden Dienstverhältnissen zweifelhaft ist, da eine de rartige Regelung dem Ordnungsprinzip (und wohl auch dem Günstigkeitsprinzip) widersprechen würde.23) Diese Rechtsansicht ist nachvollziehbar und ihr ist zuzustimmen, zumal mit einem Dienstnehmer im Dienstvertrag ein Entgelt in bestimmter Höhe vereinbart ist (essentialia negotii).

Ein Eingriff in bestehende (günstigere) arbeitsvertragliche Vereinbarungen über die Höhe des vereinbarten Entgelts durch einen Kollektivvertrag ist nach dem Ordnungsprinzip nur möglich, wenn der Kollektivvertrag ein legitimes Ziel verfolgt und der Eingriff in den Arbeitsvertrag angemessen und erforderlich ist (Ordnungsprinzip). Daher ist es in der Regel

18)Die unterschiedlichen Prozentsätze ergeben sich daraus, dass eine Reduktion von 40 auf 38,5 Stunden zwar 3,75 % darstellt, ein Hochrechnen von 38,5 auf 40 Stunden mathematisch jedoch 3,89 % ergibt.

19)Online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/kollektivvertrag-spedition-und-logi stik-angestellte-2023.html

20)Siehe https://www.wko.at/service/kollektivvertrag/kollektivvertragsabschluss-2023-spedition-logis tik.html.

21)RIS-Justiz RS0050951.

22)Vgl Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger , ABGB4, § 1152 Rz 53 (mit Verweis auf OGH 7. 2. 1978, 4 Ob 139/77, EvBl 1978/98); zur Untergrenze der laesio enormis vgl Risak , Einseitige Entgeltgestaltung im Arbeitsrecht (2008) 245.

23) Schrank , Arbeitszeit7, § 3 AZG Rz 26 ff.

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I) ASoK 2023 247

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I)

auch unzulässig, dass die Höhe des vereinbarten Entgelts durch eine kollektivvertragliche Bestimmung reduziert wird, sofern ein Arbeitnehmer dem widerspricht (Günstigkeitsprinzip). Daraus folgt aber logisch, dass auch ein Eingriff in eine bestehende Entgeltvereinbarung durch einen Kollektivvertrag bei einer Reduktion der Normalarbeitszeit unzulässig ist, da es dadurch zu einer Verringerung des für die bisherige (höhere) Arbeitszeit vereinbarten Entgeltanspruchs kommen würde.

Im Wesentlichen kann diese Fragestellung nur jene Sachverhaltskonstellationen betreffen, in denen mit einem Arbeitnehmer lediglich das kollektivvertragliche Mindestentgelt für die kollektivvertragliche Normalarbeitszeit vereinbart wurde. In diesem Fall würde nämlich die Reduktion der Normalarbeitszeit durch den Kollektivvertrag direkt zu einer Verringerung des Entgeltanspruchs bei bestehenden Dienstverhältnissen führen. Ansonsten ist – im Sinne des Günstigkeitsprinzips – bei Sachverhalten, bei denen ein überkollektivvertragliches Entgelt vereinbart ist, die vertragliche Vereinbarung über das Entgelt relevant.24)

Bei derartigen Eingriffen in einzelvertragliche Ansprüche kommt die Bindung des Kollektivvertrages an die Grundrechte besonders zum Tragen; beachtenswert sind auch Bedenken gegen die Verfassungskonformität der gesetzlichen Regelung des Ordnungsprinzips.25)

Abschließend ist festzuhalten, dass sich aus der Regelung des § 3 Abs 2 AZG nichts für die Beantwortung dieser Frage gewinnen lässt. Diese Regelung legte im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des AZG und der damit einhergehenden Reduktion der Normalarbeitszeit auf 40 Stunden fest, dass das Entgelt durch diese Reduktion nicht gekürzt werden darf.

Diese Regelung ist nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut allerdings nicht auf kollektivvertragliche Arbeitszeitverkürzungen anzuwenden. Die Literatur geht davon aus, dass die Regelung lediglich historischen Charakter, jedoch keinen Anwendungsbereich mehr hat.26) Eine analoge Anwendung der Bestimmung auf kollektivvertragliche Arbeitszeitverkürzungen ist abzulehnen, da diesbezüglich auch keine planwidrige Lücke besteht. Es ist vielmehr Sache der Kollektivvertragsparteien, selbst Regelungen über das Ausmaß der Normalarbeitszeit bzw die Höhe des kollektivvertraglichen Mindestentgelts festzulegen.

2.2.4.Direkter Eingriff eines Kollektivvertrages in einen Einzelvertrag

Der Kollektivvertrag ist gemäß § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG ermächtigt, eine Verkürzung der wöchentlichen Normalarbeitszeit rechtswirksam zu regeln. Da Inhalte des Kollektivvertrages aufgrund der Normwirkung des § 11 ArbVG unmittelbar rechtsverbindlich sind, führt eine kollektivvertragliche Arbeitsverkürzung bei Vollzeitbeschäftigten zu einer Reduktion der tatsächlich vereinbarten Normalarbeitszeit.

Bei einer Teilzeitbeschäftigung gemäß § 19d Abs 1 AZG, somit eine r einzelvertraglich vereinbarten verringerten Normalarbeitszeit, ist die Zulässigkeit eines Eingriffs durch den Kollektivvertrag in eine Arbeitszeitvereinbarung separat zu betrachten.

In der Literatur wird auf einen Günstigkeitsvergleich gemäß § 3 Abs 1 Satz 2 ArbVG verwiesen. Sowohl der Normzweck als auch ein Vergleich mit ähnlichen Vorschriften des Wirtschaftslenkungsrechts sprechen demnach dafür, dass die Kollektivvertragsparteien durch zweiseitig zwingende Kollektivvertragsbestimmungen grundsätzlich auch in bestehende Vereinbarungen eingreifen dürfen. Dies jedoch nur ausnahmsweise in massiven

24)Eine für eine Entgeltreduktion notwendige ausdrückliche kollektivvertragliche Regelung zu fordern, wäre realpolitisch wohl kaum durchsetzbar.

25)Vgl im Detail Kietaibl, Darf der Kollektivvertrag in bestehende Arbeitsverträge verschlechternd eingreifen?

WBl 2007, 311.

26)Vgl Schrank , Arbeitszeit7, § 3 AZG Rz 27 f.

248 ASoK 2023

Krisensituationen.27) Eine massive Krisensituation liegt bei den aktuellen Arbeitszeitverkürzungen zumeist nicht vor.

Eine generelle Beantwortung der Frage der Günstigkeit ist im Zusammenhang mit einer Arbeitszeitverkürzung ebenso kaum möglich, da gerade bei Teilzeitbeschäftigungen die Motive und Gründe für eine reduzierte Normalarbeitszeit sehr unterschiedlich sein können.

Obwohl die Zulässigkeit eines Eingriffs in einzelvertragliche Teilzeitvereinbarungen somit nicht vollständig geklärt ist, wurde eine derartige Vorgehensweise zB im Kollektivvertrag für die Angestellten von Zahnärzten gewählt.28) Es ist davon auszugehen, dass die abgeschlossene Regelung nach den Wertungen der dort vertragsschließenden Sozialpartner zulässig sein muss.

2.3.Verkürzung mittels Betriebsvereinbarung

Eine Reduktion der gesetzlichen Normalarbeitszeit durch eine Betriebsvereinbarung ist nicht möglich und zulässig, da für eine Reduktion durch eine Betriebsvereinbarung eine Ermächtigungsnorm in §§ 96 ff ArbVG fehlt. Die Bestimmung des § 19d Abs 1 AZG stellt selbst keine Ermächtigungsnorm für den Abschluss einer Betriebsvereinbarung dar.29) Eine Betriebsvereinbarung über die Reduktion der Normalarbeitszeit stellt vielmehr eine unechte Betriebsvereinbarung dar.30)

Eine vereinbarte Reduktion der Normalarbeitszeit in einer unechte Betriebsvereinbarung wird daher Inhalt des Einzelarbeitsvertrages und kann nach ihrem Inkrafttreten nur noch im Einvernehmen mit dem Dienstnehmer bzw durch eine Änderungskündigung aufgehoben werden, sofern in der unechte Betriebsvereinbarung nicht Kündigungsregelungen vereinbart wurden, die selbst Teil des Einzelarbeitsvertrages geworden sind.31) Die Kündigungsbestimmungen des § 32 ArbVG sind auf unechte Betriebsvereinbarungen nicht anzuwenden.

Der Anlassfall einer dauernden Reduktion der Normalarbeitszeit ist auch nicht Tatbestand des § 97 Abs 1 Z 13 ArbVG über die „Anordnung der vorübergehenden Verkürzung oder Verlängerung der Arbeitszeit“. Durch die Anordnung einer vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit auf Basis einer entsprechenden Betriebsvereinbarung wird im Betrieb Kurzarbeit eingeführt. Der Tatbestand des § 97 Abs 1 Z 13 ArbVG ist daher nicht auf die dauernde Reduktion der Normalarbeitszeit anzuwenden.32)

Die Reduktion der Normalarbeitszeit mittels Betriebsvereinbarung ist ausnahmsweise dann möglich und zulässig, wenn der Kollektivvertrag die Betriebsvereinbarungsparteien zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung über die Reduktion der Normalarbeitszeit ermächtigt.33) Der Kollektivvertrag kann seine Regelungsmacht nämlich an die Betriebsvereinbarungsparteien delegieren oder diese Delegation auch wieder rückgängig machen.34) Die Delegation kann von den Kollektivvertragsparteien im Rahmen des ihnen durch § 2 Abs 2 ArbVG eingeräumten Pouvoirs erfolgen. Fällt der Ermächtigungstatbestand weg, so geht die Betriebsvereinbarung nachwirkungslos unter.35)

27) Kietaibl , WBl 2007, 318.

28)Siehe Punkt 2.2.2.

29)Vgl Schrank , Arbeitszeit7, § 19d AZG Rz 2.

30)Tatsächlich führt daher die Reduktion der Normalarbeitszeit durch eine unechte Betriebsvereinbarung in der Regel zu Teilzeitbeschäftigungen mit den von ihrem Geltungsbereich erfassten Arbeitnehmern. Anderes gilt etwa dann, wenn der Arbeitgeber auf einen Teil der Arbeitsleistung verzichtet oder etwa die Ruhepause (teilweise) auf die gesetzliche Normalarbeitszeit angerechnet wird.

31)OGH 29. 1. 2014, 9 ObA 150/13v.

32) Burger in Reissner/Neumayr , Zeller Handbuch Betriebsvereinbarungen (2014) Rz 22.07.

33) Schrank , Arbeitszeit7, § 19d AZG Rz 2; vgl zB § 8 Abs 1a des Kollektivvertrages für die Arbeitnehmer/ innen der österreichischen Eisenbahnunternehmen.

34) Reissner in ZellKomm3, § 2 ArbVG Rz 46.

35) Reissner in ZellKomm3, § 29 ArbVG Rz 15.

Rechtsfragen zur Reduktion der Normalarbeitszeit (Teil I) ASoK 2023 249

Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung?

Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung?

Das Recht auf Beschäftigung nach § 18 TAG kann nach einer neuen OGHEntscheidung nicht eingeklagt werden

THOMAS RAUCH*)

Grundsätzlich hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, den Arbeitnehmer von seiner Verpflichtung zur Erbringung der arbeitsvertraglichen Arbeitsleistungen (und damit von seiner Hauptpflicht aus dem Arbeitsverhältnis) freizustellen. Während der Dienstfreistellung ist dem Arbeitnehmer entsprechend dem Ausfallsprinzip nach § 1155 ABGB das volle Arbeitsentgelt fortzuzahlen.1) Arbeitnehmer, die sich zu künstlerischen Arbeiten im Rahmen eines Bühnenarbeitsvertrages (im Sinne des § 1 Abs 1 TAG) mit einem Theaterunternehmer (im Sinne des § 1 Abs 2 TAG) verpflichten, haben laut einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung ein Recht auf Beschäftigung (§18 Abs1 TAG). Bei einer Nichteinhaltung dieser gesetzlichen Vorgabe (trotz wiederholter Aufforderungen und ohne wichtigen Grund) kann der Arbeitnehmer seinen vorzeitigen Austritt erklären und eine angemessene Vergütung begehren (§ 18 Abs 2 TAG). Aus dem Gesetz geht aber nicht hervor, ob dieses Recht auf Beschäftigung einklagbar ist. Damit hat sich aber jüngst der OGH in der Entscheidung vom 23. 2. 2023, 8 ObA 94/22i, befasst. Diese Frage sowie die Auswirkungen der besagten OGH-Entscheidung auf andere Bereiche werden im Folgenden näher erörtert.

1.Aktueller Fall (OGH 23. 2. 2023, 8 ObA 94/22i)

1.1.Sachverhalt

Der angesprochene vom OGH bearbeitete Fall beruht auf folgendem Sachverhalt:

Der Kläger steht als Musiker in einem dem TAG unterliegenden aufrechten Arbeitsverhältnis. Seit längerer Zeit wird er im Orchester vom Arbeitgeber nicht mehr eingesetzt. Mittels Klage hat er seinen Anspruch auf Beschäftigung nach § 18 Abs 1 TAG geltend gemacht. Für den Kläger ist es nicht möglich, nur bei Proben und nicht bei Aufführungen des Orchesters mitzuspielen, da Proben nur für eine bestimmte Aufführung durchgeführt werden und kein Dirigent zustimmen würde, dass jemand nur zu Übungszwecken mitprobt. Die Unterinstanzen (ASG Wien und OLG Wien) bejahten die Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung nach § 18 Abs 1 TAG2) und demnach wäre der Kläger im Orchester einzusetzen.

1.2.Kein allgemeines Recht auf Beschäftigung

Wie sich schon aus der Einleitung ergibt, besteht abseits ausdrücklicher gesetzlicher Anordnungen (wie § 18 TAG) kein allgemeines Recht auf Beschäftigung.3) Lediglich in Ausnahmefällen wurde von der Judikatur bestimmten Arbeitnehmern, bei denen das Brachliegen ihrer Fähigkeiten zwangsläufig zu einem Qualitätsverlust und zur Minderung des Niveaus führt, ein Recht auf Arbeit zugestanden. Dies hat einen Gefäßchirur-

*)Dr. Thomas Rauch ist Mitarbeiter der Sozialpolitischen Abteilung der Wirtschaftskammer Wien im Ruhestand, Fachbuchautor, Seminartrainer und Parteienvertreter in arbeitsgerichtlichen Verfahren.

1)OGH 16. 12. 2008, 8 ObA 75/08z; 25. 2. 2015, 9 ObA 153/14m. Hätte etwa der Arbeitnehmer (ohne Dienstfreistellung) weiter an Auslandstourneen teilgenommen, so ist dies beim Fortzahlungsanspruch zu berücksichtigen; vgl OGH 29. 11. 2013, 8 ObA 44/13y; Rauch , Arbeitsrecht 2015 (ASoK-Spezial, Jänner 2015) 35.

2)ASG Wien 29. 11. 2021, 5 Cga 44/21g; OLG Wien 24. 10. 2022, 10 Ra 47/22p.

3)Abgesehen vom TAG ist im Falle einer Ausbildungspflicht des Arbeitgebers auch von einer entsprechenden Pflicht zur Beschäftigung auszugehen; vgl OGH 17. 12. 2021, 8 ObA 6/21x.

250 ASoK 2023
Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung?

gen,4) einen Piloten,5) einen Neurochirurgen,6) einen Profifußballer7) und einen Orchestermusiker8) betroffen. Im Falle eines Verkaufsleiters,9) eines Universitätsprofessors10) und eines sicherheitspolitischen Forschers und Hauptlehroffiziers11) wurde ein Recht auf Beschäftigung vom OGH hingegen abgelehnt. Zum Argument des Universitätsprofessors, dass er sein internationales Netzwerk durch die Dienstfreistellung verliere, wurde festgehalten, dass das Netzwerk auch außerhalb der universitären Tätigkeit gepflegt werden könne.

Dementsprechend beruht auch das in § 18 TAG geregelte Beschäftigungsrecht darauf, dass der Arbeitnehmer für sein Fortkommen darauf angewiesen ist, sich dem Publikum präsentieren zu können (Begründung oder Erhaltung seines Rufs). Weiters droht bei Fehlen eines angemessenen tatsächlichen Einsatzes, dass sich die künstlerischen Fähigkeiten des Arbeitnehmers nicht fortentwickeln oder dass sie sogar verloren gehen.12)

1.3.Einschränkungen zum Recht auf Beschäftigung

1.3.1.Keine Einsätze in der Kampfmannschaft bei einem Profifußballer

Zum Recht auf Beschäftigung eines Profifußballers hat der OGH entschieden, dass die Aufnahme in die Kampfmannschaft nicht nur von den fußballerischen Leistungen des Spielers, sondern auch von sportlichen Überlegungen der Vereinsleitung abhänge und dass dieser „weitestgehende Autonomie in der Wahl der Taktik sowie der Spielanlage der Mannschaft und damit in der Mannschaftsaufstellung zukommen muss“. Ein Fußballverein müsse also frei entscheiden können, wer in einem Meisterschafts- oder Turnierspiel für ihn tatsächlich zum Einsatz komme.13) In der Literatur wurde dieser Rechtsmeinung zugestimmt.14) Daher kann der Arbeitgeber Fußballverein den Arbeitnehmer von Einsätzen in der Kampfmannschaft freistellen, darf ihm aber nicht die Teilnahme am Training und an Lehrgängen verweigern.

Da im Profifußball jeder Verein weit mehr als 11 Berufsfußballspieler unter Vertrag haben muss, muss jedem Berufsfußballspieler klar sein, dass sein Einsatz von seinen Leistungen, aber auch taktischen Überlegungen des Vereins abhängig ist.15) Es ist also für den Arbeitnehmer bereits bei Beginn des Arbeitsverhältnisses klar, dass es auch langfristig zu keinem Einsatz in der Kampfmannschaft kommen kann, weil der Verein bzw der von ihm beauftragte Trainer andere Spieler auswählt.

1.3.2.Arbeitnehmer im Sinne des § 1 TAG

§ 18 Abs 2 TAG ermöglicht für den Fall einer Verletzung des Rechts auf Beschäftigung dem Arbeitnehmer einen vorzeitigen Austritt mit speziellen Vergütungsregelungen. Damit soll dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eingeräumt werden, rasch ein anderes Engagement einzugehen, um die im künstlerischen Bereich notwendige Bekanntheit aufrechtzuerhalten.16) Hingegen sieht das Gesetz keinen Erfüllungsanspruch für das Recht

4)OGH 13. 11. 1996, 9 ObA 2263/96a.

5)OGH 15. 1. 1997, 9 ObA 2247/96y.

6)OGH 18. 11. 2002, 8 ObA 202/02t.

7)OGH 1. 2. 2007, 9 ObA 121/06v, wobei auf den Verlust des „Marktwerts“, den Qualitätsverlust und die Minderung des „fußballerischen Niveaus“ verwiesen wurde.

8)OGH 22. 1. 2020, 9 ObA 112/19i (hier nach § 18 TAG).

9)OGH 25. 1. 2011, 8 ObA 89/10m.

10)OGH 18. 8. 2016, 9 ObA 51/16i; Rauch , Arbeitsrecht 2017 (ASoK-Spezial, Jänner 2017) 77.

11)OGH 3. 5. 2021, 8 ObA 12/21d.

12) A. Schwarz , Historische Entwicklung und aktueller Stand des Schauspielerrechts (2005) 127.

13)OGH 1. 2. 2007, 9 ObA 121/06v.

14)ZB Firlei , Versetzung eines Profifußballers zu den Amateuren, DRdA 2003, 183 (187).

15) Schrammel , Arbeitsrecht II4 (2000) 97.

16)Siehe Punkt 1.2.

Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung?
251
ASoK 2023

Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung?

auf Beschäftigung vor bzw ist die Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung aus dem Gesetzeswortlaut des TAG nicht ableitbar.

Abgesehen davon verweist der OGH (in der eingangs angesprochenen aktuellen Entscheidung) auf Art 17a StGG. Nach dieser Bestimmung sind das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre frei. Der Betrieb eines Theaters dient in der Regel künstlerischen Zwecken.17) Die künstlerische Freiheit umfasst auch die Entscheidung des Theaterunternehmers, wer an der Aufführung tatsächlich mitwirkt. Räumt man aber dem Arbeitnehmer die Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung ein, so bedeutet dies eine Einschränkung dieser durch die künstlerische Freiheit gedeckten Entscheidungsmöglichkeit des Theaterunternehmers (bzw der Person, welcher der Theaterunternehmer die Entscheidung übertragen hat, se i es der Regisseur, de r Dirigent oder eine sonstige Person).

Das Argument, vom Gesetz zuerkannte Ansprüche seien regelmäßig einklagbar und daher müsse die Klagbarkeit nicht gesondert normiert werden, ist nicht zwingend. Das Gesetz kann trotz ausdrücklicher Einräumung eines Rechts andere Rechtsfolgen regeln. Weiters könnte eine von außen, also durch eine gerichtliche Entscheidung, auferlegte Mitwirkung eines Arbeitnehmers an einer Aufführung für die künstlerische Qualität von Nachteil sein. Der mit Urteil erzwungenen Teilnahme eines Arbeitnehmers an einer Aufführung droht die fehlende Akzeptanz von anderen an der Aufführung beteiligten Personen. Insbesondere aus diesen Gründen ergibt sich (nach der Auffassung des OGH), dass die unmittelbare Einklagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung, die das Gesetz nicht regelt, „wohl nicht beabsichtigt war“

2.Unternehmerische Freiheit

Die aktuelle Entscheidung des OGH entspricht auch dem Prinzip, dass dem Arbeitgeber keine wirtschaftliche, insbesondere keine produktionstechnische Gestaltungspflicht trifft.18) Rationalisierungsmaßnahmen sind nicht vom Gericht zu überprüfen und bleiben dem wirtschaftlichen Ermessen des Arbeitgebers überlassen.19) Eine aufgrund einer solchen Rationalisierung ausgesprochene Kündigung ist daher als betriebsbedingt (im Sinne des § 105 Abs 3 Z 2 lit b ArbVG) zu betrachten. Die Freiheit des Unternehmers, auf die betrieblichen Erfordernisse zu reagieren, ist ein tragendes Element der Marktwirtschaft.20) Auch dem Theaterunternehmer sind jene Maßnahmen zuzugestehen, welche die künstlerische Qualität und damit den wirtschaftlichen Erfolg seines Unternehmens sicherstellen. Durch Gerichtsurteile erzwungene Einsätze bestimmter Arbeitnehmer würden dem widersprechen.

3.Dienstfreistellung bei wichtigem Grund nach § 18 Abs 2 TAG

§ 18 Abs 2 TAG ermöglicht dem Theaterunternehmer, eine berechtigte Dienstfreistellung vorzunehmen, wenn ein „wichtiger Grund“ vorliegt. Ist also ein wichtiger Grund gegeben, so kann der suspendierte Arbeitnehmer nicht den vorzeitigen Austritt aufgrund des speziellen Austrittsgrundes der Verweigerung der Beschäftigung erklären. Der wichtige Grund für die Suspendierung muss daher einem Tatbestand für eine berechtigte Auflösung durch den Theaterunternehmer nahekommen.21) Jedenfalls ist demnach dann ein wichtiger Grund für eine Dienstfreistellung gegeben, wenn einer der demonstrativ aufgezählten Entlassungsgründe nach § 31 TAG gegeben ist.

17)OGH 30. 10. 2017, 9 ObA 107/17a.

18)OGH 28. 5. 2015, 9 ObA 48/15x.

19)OGH 5. 9. 2001, 9 ObA 199/01g.

20)OGH 19. 12. 2001, 9 ObA 189/01m.

21) Kozak/Balla/Zankel , TAG2 (2011) Rz 485.

252 ASoK 2023

4.Wichtiger Grund, Dauer und Klagbarkeit der Beschäftigung bei Dienstfreistellung abseitsdesTAG

Wurde bei einem Arbeitnehmer, auf den das TAG (bzw eine spezielle Beschäftigungspflicht) nicht anzuwenden ist, eine Dienstfreistellung vorgenommen, so kommt ein Recht auf Beschäftigung nur dann infrage, wenn das Brachliegen der Fähigkeiten zwangsläufig zu einem Qualitätsverlust führt.22) Das Beschäftigungsrecht kann aber nur dann gegeben sein, wenn kein wichtiger Grund für eine Dienstfreistellung vom Arbeitgeber vorgebracht und bewiesen wird. Der wichtige Grund kann aber außerhalb des Anwendungsbereichs des TAG (bzw außerhalb einer speziellen gesetzlichen Regelung) nicht so eng wie im Anwendungsbereich des TAG betrachtet werden. Ein wichtiger Grund wäre meines Erachtens ein Umstand, der in der Person des Arbeitnehmers gelegen ist und die betrieblichen Interessen nachteilig berührt (§ 105 Abs 3 Z 2 ArbVG).

Ein für den Arbeitnehmer nachteiliges Brachliegen seiner Fähigkeiten wird nur dann anzunehmen sein, wenn die Dienstfreistellung eine gewisse Dauer erreicht. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der möglicherweise betroffenen Tätigkeiten können keine starren Grenzen gezogen werden. In einer allgemeinen Betrachtung könnten meines Erachtens Dienstfreistellungen von 13 Wochen oder mehr als nachteilig für die Erhaltung der Qualität besonderer Fertigkeiten betrachtet werden. Dementsprechend wird auch bei Einreihungen auf einen anderen Arbeitsplatz das Informationsrecht des Betriebsrats (bzw das Zustimmungsrecht zur Verschlechterung) erst ab einer Dauer von 13 Wochen gewährt (§ 101 ArbVG). Kündigt demnach ein Arbeitnehmer nach § 20 Abs 4 AngG das Arbeitsverhältnis mit einer einmonatigen Kündigungsfrist zum Ende des folgenden Monats, so ist auch bei besonderen Fähigkeiten im Regelfall der Arbeitgeber berechtigt, eine Dienstfreistellung auszusprechen.23) Der Schutz des Arbeitnehmers ist durch die am Ausfallsprinzip orientierte Fortzahlung des Arbeitsentgelts gewährleistet

Die Frage, ob im Falle einer längeren Dienstfreistellung ohne wichtigen Grund der Arbeitnehmer ein Recht auf Beschäftigung (außerhalb des Anwendungsbereichs des TAG) einklagen kann, ist für den jeweiligen Bereich gesondert zu klären. Falls die Gefahr besteht, dass die vom Unternehmer seitens seiner Auftraggeber bzw Kunden erwartete Qualität und Sicherheit seiner Leistungen durch einen von einem Gericht erzwungenen Einsatz beschränkt werden, ist die Klagbarkeit abzulehnen.

Auf den Punkt gebracht

Es besteht kein allgemeines Recht auf Beschäftigung. Der Arbeitgeber kann also eine Dienstfreistellung aussprechen, muss aber das Arbeitsentgelt nach dem Ausfallsprinzip fortzahlen. Nach § 18 TAG ist der Theaterunternehmer nur dann berechtigt, eine Dienstfreistellung vorzunehmen, wenn hierfür ein wichtiger Grund vorliegt. Nunmehr wurde vom OGH geklärt, dass das Recht auf Beschäftigung nach § 18 TAG nicht eingeklagt werden kann. Abseits des Anwendungsbereichs des TAG ist eine Dienstfreistellung dann unzulässig, wenn der suspendierte Arbeitnehmer mit Nachteilen durch das Brachliegen seiner Fähigkeiten rechnen muss. Meines Erachtens setzt dies aber eine gewisse Dauer der Dienstfreistellung voraus und der Arbeitgeber kann auf einen wichtigen Grund verweisen. Die Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung außerhalb des Anwendungsbereichs des TAG ist nur dann vorstellbar, wenn durch einen gerichtlich erzwungenen Einsatz die Qualität der Unternehmensleistungen nicht gefährdet wird.

22)Siehe Punkt 1.2.

(2022) 354.

Klagbarkeit des Rechts auf Beschäftigung? ASoK 2023 253
23)Zur Dienstfreistellung und zum Verbrauch des Urlaubs siehe Rauch , Arbeitsrecht für Arbeitgeber21

Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts bei Krankenstand

Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts

beiKrankenstand von Vertragsbediensteten und Beamtendes Bundes?

Teilweise rechtswidrige Praxis bei gleitender Dienstzeit

PAUL LIEBEG*)

Im Unterschied zum allgemeinen Arbeitsrecht werden die Entgeltansprüche von Vertragsbediensteten und Beamten, je nachdem, ob es sich um das Gehalt, Zulagen oder Nebengebühren handelt, zum Teil unterschiedlich behandelt. Werden Nebengebühren, zu de nen auch die Überstundenvergütung zählt, pauschaliert, dann sollen diese nach der Praxis einiger Dienstbehörden bzw Personalstellen bei gleitender Dienstzeit (§ 20 VBG; § 48 Abs 3 BDG) im Krankenstand als Minusstunden behandelt werden, die vom Bediensteten nachzuholen sind. Im Folgenden wird die Gesetzwidrigkeit dieser möglichen Praxis aufgezeigt.

1.Entgeltansprüche der Arbeitnehmer

1.1.Allgemeines Arbeitsrecht

Der Begriff „Entgelt“ ist weit auszulegen und umfasst im Sinne des auf dem Gebiet des Arbeitsrechts allgemein üblichen Sprachgebrauchs jede Leistung, die der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber dafür bekommt, dass er ihm seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt. Dazu zählen neben dem eigentlichen Gehalt oder Lohn auch alle anderen ordentlichen oder außerordentlichen Bezüge (wie zB Zulagen, Zuschläge, Beihilfen, Gewinnbeteiligungen, Provisionen, aber auch Naturalleistungen).1)

Im allgemeinen Arbeitsrecht gilt das sogenannte Ausfallsprinzip: Der Arbeitnehmer hat während seines Urlaubs oder eines Krankenstands grundsätzlich jenes Entgelt zu erhalten, das er verdient hätte, wenn er in dieser Zeit gearbeitet hätte.2)

Zur Bemessungsgrundlage zählt auch eine Überstundenpauschale. Ist keine Überstundenpauschale vereinbart, ist primär auf die Arbeitszeiteinteilung abzustellen. Gibt es keine derartige Einteilung, ist zu prüfen, welches Entgelt vor der Arbeitsverhinderung regelmäßig angefallen ist, wobei bei schwankender Überstundenzahl eine Durchschnittsbetrachtung innerhalb eines repräsentativen Zeitraums (in der Regel 13 Wochen bzw 12 Monate) vorzunehmen ist, es sei denn, dass sich der Arbeitsanfall inzwischen wesentlich verändert hat.3)

1.2.Beamte und Vertragsbedienstete

1.2.1.Überstunden – Überstundenpauschale

Gemäß § 3 Abs 1 GehG gebühren dem Beamten Monatsbezüge. Der Monatsbezug besteht gemäß § 3 Abs 2 GehG aus dem Gehalt und allfälligen Zulagen (zB Dienstalterszu-

*)Dr. Paul Liebeg war bis zur Inanspruchnahme der Korridorpension (Oktober 2020) Mitarbeiter der Finanzprokuratur, der Anwältin und Beraterin der Republik Österreich, unter anderem Leitender Prokuraturanwalt im Geschäftsfeld I „Arbeit und Soziales“.

1)RIS-Justiz RS0030847; RS0028490; Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger , ABGB4, § 1152 Rz 18, 19 und 25; Gruber-Risak/Pfeil in Schwimann/Kodek , ABGB5, § 1152 Rz 7; Rebhahn in Neumayr/Reissner , Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht3 (2018) § 1152 ABGB Rz 14 f.

2)RIS-Justiz RS0058728; Drs in ZellKomm3, § 3 EFZG Rz 2; Kallab/Hauser , Entgeltfortzahlungsgesetz und Wiedereingliederungsteilzeit6 (2018) § 3 EFZG Erl 6.

3) Drs in ZellKomm3, § 3 EFZG Rz 2; Kallab/Hauser , Entgeltfortzahlungsgesetz6, § 3 EFZG Erl 7; RISJustiz RS0058658.

254 ASoK 2023
Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts bei Krankenstand

lagen, Dienstzulagen, Funktionszulagen, Verwaltungsdienstzulage, Verwendungszulage, Pflegedienstzulage, Pflegedienst-Chargenzulage, Ergänzungszulagen, Exekutivdienstzulage, Heeresdienstzulage, Omnibuslenkerzulage, Erzieherzulage, Wachdienstzulage, Truppendienstzulage, Teuerungszulagen).

Weiters gebühren dem Beamten die in § 15 Abs 1 GehG aufgezählten Nebengebühren, zu denen gemäß Z 1 leg cit zB die Überstundenvergütung (§ 16 GehG) zählt. Nebengebühren können pauschaliert werden, wenn die Dienstleistungen, die einen Anspruch auf eine solche Nebengebühr begründen, dauernd oder so regelmäßig erbracht werden, dass die Ermittlung monatlicher Durchschnittswerte möglich ist (Einzelpauschale gemäß § 15 Abs 2 GehG).

Inhaltsgleiche Bestimmungen enthält das VBG für Vertragsbedienstete (§ 8a und § 22 Abs 1 VBG).

Während eines Urlaubs können keine Überstunden geleistet werden. Dies wird bei der Pauschalierung der Überstunden so berücksichtigt, dass die Zahl der angeordneten Überstunden je Monat mit 11 (Monaten) multipliziert und das Erge bnis in der Folge durch 12 (Monate) dividiert wird. Damit wird erreicht, dass die (so entsprechend verringerte) Überstundenpauschale auch während des Urlaubs zusteht.

Im Unterschied zum allgemeinen Arbeitsrecht gebühren die Nebengebühren nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH – gleichgültig, ob sie in Form der Einzelbemessung oder pauschaliert festgesetzt wurden – verwendungsbezogen. Fällt daher die Verwendung weg, mit der die Erbringung der anspruchsbegründenden Leistung bzw das Entstehen anspruchsbegründender Aufwendungen verbunden ist, führt dies grundsätzlich auch zum Wegfall der Nebengebühren.4)

Dies jedoch mit der Einschränkung, dass aufgrund des klipp und klaren Wortlauts des § 15 Abs 5 GehG die pauschalierte Nebengebühr (in concreto die Überstundenpauschale) nur dann ruht, wenn der Bedienstete – abgesehen von den Fällen des § 15 Abs 5 Z 1 bis 3 GehG (Urlaub, Dienstunfall) – länger als einen Monat vom Dienst abwesend ist. Eine Abwesenheit vom Dienst nur für einen Monat nicht übersteigenden Zeitraum hat keinen Einfluss auf die pauschalierten Nebengebühren.5) In diesem Sinne führen auch die Erläuterungen zur 26. Gehaltsgesetz-Novelle, BGBl 1973/318, aus, dass sich aus dem Zweck der Pauschalierung auch ergebe, dass sie nicht bei jeder Dienstverhinderung oder beim Urlaub einzustellen sei, sondern auch in Zeiten, in denen allenfalls die anspruchsbegründende Mehrleistung nicht erbracht wird, kurzfristig weitergezahlt werde.6)

Der Ruhenszeitraum beginnt erst mit dem Ablauf des letzten Tages dieser Monatsfrist.7)

1.2.2.Funktionszulagen – Fixgehalt (All-in-Gehalt)

Gemäß § 30 Abs 1 GehG gebührt dem Beamten des Allgemeinen Verwaltungsdienstes eine ruhegenussfähige Funktionszulage, wenn er dauernd mit einem Arbeitsplatz betraut ist, der nach § 137 BDG einer der nachstehend in dieser Bestimmung angeführten Funktionsgruppen zugeordnet ist. Gemäß § 30 Abs 3 GehG gelten durch die für die Funktionsgruppen 5 und 6 der Verwendungsgruppe A 1 und die Funktionsgruppe 8 der Verwendungsgruppe A 2 vorgesehene Funktionszulage alle Mehrleistungen des Beamten in zeitlicher und mengenmäßiger Hinsicht als abgegolten. 30,89 % dieser Funktionszulage gelten als Abgeltung für zeitliche Mehrleistungen (das sind auch im Sinne des § 48 Abs 3a Z 1 BDG 11 Überstunden).

4)ZB VwGH 23. 1. 2008, 2007/12/0010; 16. 9. 2010, 2010/12/0119; 23. 4. 2012, 2011/12/0131.

5) Wimmer in Reissner/Neumayr , Zeller Kommentar zum Öffentlichen Dienstrecht, § 15 GehG Rz 13; vgl auch OGH 24. 2. 1993, 9 ObA 605/92; VwGH 23. 6. 2014, 2013/12/0231.

6)ErlRV 323 BlgNR 13. GP, 8.

7)Vgl OGH 24. 2. 1993, 9 ObA 605/92; VwGH 23. 6. 2014, 2013/12/0231.

Fortzahlung
Überstundenentgelts bei Krankenstand ASoK 2023 255
des pauschalierten

Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts bei Krankenstand

Gleiches gilt sinngemäß für bestimmte Vertragsbedienstete (§ 73 VBG). Gemäß § 73 Abs 3 VBG gelten durch die für die Bewertungsgruppen v1/4 und v2/6 vorgesehene Funktionszulage alle Mehrleistungen des Vertragsbediensteten in zeitlicher und mengenmäßiger Hinsicht als abgegolten. 30,89 % dieser Funktionszulage gelten als Abgeltung für zeitliche Mehrleistungen.

Da diese Funktionszulagen Bestandteil der Monatsbezüge des Beamten (§ 3 GehG) bzw des Monatsentgelts des Vertragsbediensteten (§ 8a VBG)8) sind, sind diese auch Teil des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Kr ankheitsfall. Ein Krankenstand hat daher keinen Einfluss auf den Bestand dieses Teils der Monatsbezüge bzw des Monatsentgelts.

Dies gilt selbstverständlich auch für Beamte, die anstelle des Gehalts nach § 28 GehG, einer allfälligen Dienstalterszulage nach § 29 GehG und einer Funktionszulage (§ 31 GehG), oder Vertragsbedienstete, die anstelle des Monatsentgelts nach § 71 oder § 72 VBG und einer Funktionszulage Anspruch auf ein Fixgehalt haben: Durch das Fixgehalt gelten alle Mehrleistungen in zeitlicher und mengenmäßiger Hinsicht als abgegolten. 13,65 % des Fixgehalts gelten als Abgeltung für zeitliche Mehrleistungen (§ 31 GehG; § 74 VBG); das sind auch im Sinne des § 48 Abs 3a Z 2 BDG 18 Überstunden.

2.Rechtslage bei Gleitzeitvereinbarungen

2.1.Allgemeines

Die Gleitzeit wird als eine besondere Form der Verteilung der Normalarbeitszeit angesehen, die letztlich auf einer Selbstbestimmtheit des Arbeitnehmers beruht, wobei aber auch Interessenwahrungspflichten bestehen können: Denn der Arbeitnehmer muss –wenn auch nur in einem bestimmten Mindestmaß – schon aufgrund seiner Treuepflicht bei seiner grundsätzlich freien Zeiteinteilung auch auf betriebliche Erfordernisse Rücksicht nehmen.9)

Für den Arbeitgeber bemisst sich der Nutzen eines Arbeitszeitmodells in der Regel an zwei Faktoren:

• Es kommt zu einer möglichst intensiven und effizienten Nutzung der Arbeitskraft jedes einzelnen Arbeitnehmers sowie der Betriebsmittel.

• In einem bestimmten Umfang kommt es zur Vermeidung von Zuschlägen zum Normalstundenentgelt.10)

Während eine Überstundenpauschale Plusstunden entlohnen will, verfolgt eine Gleitzeitvereinbarung prima vista das Gegenteil: Überstunden sollen verhindert bzw in Zeit abgegolten werden; Gutstunden aus Zeitguthaben sind keine Überstunden.11)

Weiters ist es für den Arbeitgeber zur gänzlichen Ausnützung der Pauschale von Vorteil, die vom Arbeitnehmer jedenfalls zu erbringenden Arbeitsleistungen (Soll-Arbeitszeit) so festzulegen, dass jedenfalls in dem Ausm aß Mehrleistungen zu erbringen sind, die durch die Pauschale abgegoltenen sind. Ein Abbau von Zeitguthaben ist erst nach Überschreiten dieser Soll-Arbeitszeit möglich.12)

8)Siehe zu den Ansprüchen bei Dienstverhinderung § 13c GehG; § 24 VBG.

9)Vgl zB VwGH 16 12. 1998, 95/12/0251 (unter anderem Sicherstellung der Erfüllung der regelmäßigen Wochendienstzeit im mehrwöchigen Durchschnitt im Sinne des § 48 Abs 3 BDG).

10)Vgl Gruber-Risak in Gruber-Risak/Jöst/Patka , Praxishandbuch Gleitzeit3 (2021) 16.

11)Vgl Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka , Gleitzeit3, 124 f.

12) Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka , Gleitzeit3, 58; zur Rechtslage bei All-in-Vereinbarungen, die sich bei Anwendbarkeit des AZG bzw eines Kollektivvertrages einer Überstundenpauschale stark annähern, siehe Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka , Gleitzeit3, 59 ff; kritisch bzw ablehnend Ch. Klein in Gasteiger/ Heilegger/Klein , AZG7 (2021) §§ 3 – 4c Rz 63a ff.

256 ASoK 2023

In der Praxis existieren Modelle,13) wonach Arbeitnehmer mit Überstundenpauschale oder All-in-Vertrag die Gleitzeitperiode bereits mit einem Minus, das den durch die Pauschale bzw die Überzahlung abgedeckten Stunden entspricht, beginnen. Dadurch zwingt man diese Arbeitnehmer quasi zu einer bestimmten Überstundenleistung, mit dem Effekt – wie ausgeführt –, dass sie erst danach Zeitguthaben aufbauen können.

Derartige Regelungen wirken psychologisch für die Arbeitnehmer nicht sonderlich motivierend und widersprechen auch dem Zweck einer Pauschale, nämlich die durch einen erhöhten Arbeitsbedarf erforderlichen Überstunden zur Verwaltungsvereinfachung pauschal abzurechnen sowie abzugelten, nicht jedoch eine jedenfalls zu erbringende Arbeitsmenge festzulegen. Die Pauschale steht ja auch dann zu, wenn die dadurch abgedeckten Überstunden nicht erbracht wurden. Ein Widerruf, soweit vereinbart bzw gesetzlich vorgesehen, wäre erst pro futuro möglich.14) Gleiches gilt für Modelle, bei denen die zu erbringende tägliche bzw wöchentliche Normalarbeitszeit etwa um eine vereinbarte oder erwartete Überstundenanzahl erhöht wird.15)

2.2.Fixgehalt (All-in-Gehalt) – Überstundenpauschale

Dem Wesen einer Überstundenpauschale, eines Fixgehalts bzw eines (unechten) Allin-Gehalts oder einer Überstunden beinhaltenden Zulage (im Sinne des § 30 Abs 3 GehG) entspricht es, dass der Gesetzgeber bzw die Parteien davon ausgehen, dass Überstunden (zeitliche Mehrleistungen) geleistet werden, die in der Höhe des festgelegten bzw vereinbarten Gehalts ihren Niederschlag finden.

Diese Überstunden stellen eine Maximalanzahl dar, die – auch wenn sie angeordnet wurden – nicht erbracht werden müssen. Dies hat gr undsätzlich keine nachteiligen finanziellen Folgen für den Bediensteten; in Betracht kann aber die Neubemessung der Überstundenpauschale gemäß § 15 Abs 6 GehG – und nur dieser – kommen, wenn sich der zur Bemessung zugrunde liegende Sachverhalt wesentlich geändert hat.16)

Angeordnete zeitliche Mehrleistungen können sich nur auf die Gehaltsperiode beziehen, für die das Monatsgehalt zusteht. Werden in einem Monat die angeordneten zeitlichen Mehrleistungen nicht erbracht, dann führt dies zu keinem Minussaldo an zeitlichen Mehrleistungen für den nächsten Monat.

Wird zB bei angeordneten 18 Überstunden (§ 48 Abs 3a BDG) lediglich ein Guthaben von fünf Stunden aufgebaut, dann werden keine Stunden in den Folgemonat übertragen, es erfolgt jedoch auch kein Abzug der Differenz zwischen fünf und 18 Stunden vom Gleit-

13)Zu den einzelnen Modellen siehe mwN Niederfriniger , Rechtsprobleme der Gleitzeitarbeit (2019) Rz 292 und 297.

14)Vgl GPA , Gleitende Arbeitszeit (2021) 17, online abrufbar unter https://www.gpa.at/themen/arbeitszeit/ gleiten-statt-ausrutschen; vgl auch Schrank , Arbeitszeit7 (2023) § 4b AZG Rz 132 ff; Niederfriniger , Gleitzeitarbeit, Rz 293; ablehnend Schneeberger, Aktuelle Rechtsfragen zu flexiblen Arbeitszeitmodellen, in Reissner/Wachter, Innsbrucker Jahrbuch zum Arbeitsrecht und Sozialrecht (2016) 103 (120); Ch. Aigner, Gleitzeitvereinbarungen – Problemstellungen und Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis (Masterthesis, Universität Innsbruck 2021) 65, online abrufbar unter https://ulb-dok.uibk.ac.at/ulbtirolhs/content/title info/6406355.

15) Schneeberger , Flexible Arbeitszeitmodelle, 120; Ch. Aigner , Gleitzeitvereinbarungen, 65 f.

16)OGH 1. 7. 1987, 9 ObA 36/87, DRdA 1990/5 (Mosler ); 30. 1. 2018, 9 ObA 131/17f; VwGH 5. 9. 2008, 2008/12/0129; Wimmer in ZellKomm ÖffDR, § 15 GehG Rz 9 f; Ch. Aigner, Gleitzeitvereinbarungen, 53 f. Ausgeklammert bleibt hier die Frage einer etwaigen disziplinarrechtlichen Verantwortung des Bediensteten für den Fall der Nichtleistung pauschal angeordneter Überstunden; vgl VwGH 4. 9. 2003, 2000/ 09/0126 (zu einer individuell angeordneten Überstunde). Eine derartige pauschale Überstundenanordnung kann nur notwendige Leistungen abdecken, die der angewiesene Beamte während seiner Normalarbeitszeit nicht erbringen kann; vgl VwGH 25. 6. 2003, 98/12/0138; zu den Grenzen der Befolgungspflicht von (auch rechtswidrigen) Weisungen, insbesondere bei „Willkür“ (meines Erachtens liegt eine solche vor, wenn ohne Not Überstunden angeordnet werden) vgl zB Julcher/Kneihs in ZellKomm ÖffDR, § 44 BDG Rz 21 ff und 25 ff; Muzak , B-VG6 (2020) Art 20 Rz 7 ff. Vorsichtshalber wäre gegen die Weisung zu remonstrieren bzw die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit zu verlangen; dazu Julcher/ Kneihs in ZellKomm ÖffDR, § 44 BDG Rz 45 ff.

Fortzahlung des
Überstundenentgelts bei Krankenstand ASoK 2023 257
pauschalierten

Fortzahlung des pauschalierten Überstundenentgelts bei Krankenstand

zeitguthaben des Folgemonats; der Folgemonat kann daher auch nicht mit einem Minussaldo von 13 Stunden beginnen.17)

2.3.Gerechtfertigte Dienstabwesenheit (zB Krankenstand)

Erkrankt ein Arbeitnehmer (Bediensteter) oder liegt ein sonstiger Fall einer gerechtfertigten Abwesenheit18) vor, dann hat er nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf Entgeltfortzahlung, unter anderem – wie oben dargestellt – im Bundesdienst für die Überstundenpauschale für die Dauer eines Monats (§ 15 Abs 5 GehG; § 22 Abs 1 VBG) sowie für Fixgehälter und Funktionszulagen. Die Berücksichtigung des Krankenstands als Minusstunden im Rahmen einer Gleitzeitvereinbarung ist gesetzwidrig und würde auch dem Wesen eines Krankenstands widersprechen.19) Auch dem wirklich kranken Arbeitnehmer würde dadu rch im Ergebnis nahegelegt, auf seine Krankheit keine Rücksicht zu nehmen, sondern zu arbeiten, um finanzielle Einbußen zu vermeiden. Gerade davor sollen die Lohnfortzahlungsbestimmungen den Arbeitnehmer aber bewahren. Der Arbeitnehmer soll nicht veranlasst werden, aus finanziellen Gründen an seiner Gesundheit Raubbau zu treiben.20)

Die Tatsache einer gerechtfertigten Dienstabwesenheit (Krankenstand) ist am Gleitzeitkonto zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen.21) Wurden etwa zu Beginn eines Monats auch fiktiv zu leistende Überstunden an den einzelnen Arbeitstagen verbucht (erhöhte Soll-Arbeitszeit), dann sind dem Arbeitnehmer für die aliquot auf die Tage der gerechtfertigten Dienstabwesenheit entfallenden Soll-Stunden (erhöhte Soll-Arbeitszeit) entsprechende Gutschriften zu erteilen.

Auf den Punkt gebracht

Gerechtfertigte Dienstabwesenheiten (zB Krankenstand) können niemals Minusstunden des Arbeitnehmers bzw Bediensteten darstellen. Der Arbeitgeber hat dies am Gleitzeitkonto zu berücksichtigen und entsprechende Buchungen zugunsten des Arbeitnehmers bzw Bediensteten vorzunehmen.

17)Vgl ErlRV 352 BlgNR 26. GP, 4; Jöchtl in ZellKomm ÖffDR, § 48 BDG Rz 21.

18)Vgl dazu Jöchtl in ZellKomm ÖffDR, § 48 BDG Rz 7.

19)Vgl für Deutschland Bundesarbeitsgericht 13. 2. 2002, 5 AZR 470/00, BAGE 100, 256; vgl für Österreich ähnlich auch VwGH 4. 2. 2008, 2008/12/0023: Keinesfalls könnte davon ausgegangen werden, dass der Landeslehrer, welcher infolge Krankheit an der Unterrichtserteilung gehindert wird, dies (nach seiner Genesung) durch entsprechenden Mehraufwand im Rahmen des § 43 Abs 1 Z 3 LDG zu kompensieren hätte.

20)Vgl RIS-Justiz RS0058567; OGH 16. 11. 1988, 9 ObA 283/88; 7. 9. 2000, 8 ObS 13/00w.

21)Vgl dazu Jöst in Gruber-Risak/Jöst/Patka , Gleitzeit3, 121; OGH 26. 2. 2004, 8 ObA 71/03d.

In-vitro-Fertilisation und notwendige Krankenbehandlung

Eine im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation durchgeführte Behandlung mit dem Zweck, eine Abstoßung des Embryos infolge einer immunologischen Abweichung zu verhindern, stellt eine Krankenbehandlung dar, für die ein Anspruch auf Kostenerstattung in der Krankenversicherung bestehen kann. Aus dieser Rechtsprechung kann aber nicht geschlossen werden, dass ein Anspruch auf Kostenerstattung bloß deswegen ausscheidet, weil eine Behandlung in einem (zeitlichen oder ursächlichen) Zusammenhang mit einer Invitro-Fertilisation steht. Die vorliegende Behandlung beeinflusste vielmehr einen regelwidrigen Körperzustand der Klägerin, nämlich die immunologische Abweichung (OGH 25. 4. 2023, 10 ObS 33/23k).

258 ASoK 2023

Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG

Die Rechtslage ab 1. 1. 2023 THOMAS NEUMANN*)

Gewinnausschüttungen an Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH unterliegen seit jeher der Beitragspflicht nach dem GSVG, sofern aufgrund dieser Tätigkeit nicht schon eine ASVG-Pflichtversicherung vorliegt. Bis Ende 2018 wurde dies seitens der SVA (ab 1. 1. 2020: SVS) nicht vollzogen, weil es keine Rechtsgrundlage für den Datenaustausch zwischen den Finanzbehörden und der SVS gab. Dies wurde durch die am 26. 2. 2020 kundgemachte Verordnung BGBl II 2020/381) geändert und die SVS ist seit 2019 faktisch in der Lage, für zugeflossene Gewinnausschüttungen die entsprechenden Sozialversicherungsbeträge den GSVG-Gesellschafter-Geschäftsführern vorzuschreiben. Mit der am 1. 12. 2022 kundgemachten Verordnung BGBl II 2022/4322) wurden auch jene Personen von der Meldepflicht erfasst, die nach dem FSVG als Gesellschafter-Geschäftsführer versichert sind; zusätzlich wurde diese auf Nur-Gesellschafter der GSVG- und FSVG-Versicherten einer GmbH ausgedehnt.

1.Rechtslage bis 2022

Gemäß § 25 Abs 1 GSVG sind „für die Ermittlung der Beitragsgrundlage für Pflichtversicherte gemäß § 2 Abs. 1 ... die im jeweiligen Kalenderjahr auf einen Kalendermonat der Erwerbstätigkeit im Durchschnitt entfallenden Einkünfte aus einer oder mehreren Erwerbstätigkeiten, die der Pflichtversicherung nach diesem Bundesgesetz, unbeschadet einer Ausnahme gemäß § 4 Abs. 1 Z 5, unterliegen, heranzuziehen; als Einkünfte gelten die Einkünfte im Sinne des Einkommensteuergesetzes 1988. Als Einkünfte aus einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit gelten auch die Einkünfte als Geschäftsführer und die Einkünfte des zu einem Geschäftsführer bestellten Gesellschafters der Gesellschaft mit beschränkter Haftung.“ Nach dieser Bestimmung zählen somit nicht nur Einkünfte aus der Geschäftsführertätigkeit, sondern auch Einkünfte aufgrund der Gesellschafterstellung, also die Gewinnausschüttungen aus der GmbH (steuerliche Einkünfte aus Kapitalvermögen), zur Beitragsgrundlage von gemäß § 2 Abs 1 GSVG pflichtversicherten Gesellschafter-Geschäftsführern, insgesamt begrenzt mit der Höchstbeitragsgrundlage (Wert 2023: 81.900 Euro).3)

Bereits seit 1. 1. 2016 mussten Ausschüttungen an GSVG-pflichtige Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH auch verpflichtend bei der Kapitalertragsteuer-Anmeldung angegeben werden. Diese ist binnen einer Woche nach dem Zufließen der Kapitalerträge durch die GmbH über FinanzOnline einzubringen. Allerdings fehlte mehr als vier Jahre die Rechtsgrundlage für die Übermittlung dieser Daten an die SVS. Mit der Verordnung BGBl II 2020/38 wurde die Rechtsgrundlage für die Durchführung der Datenübermittlung betreffend Gewinnausschüttungen an gemäß § 2 Abs 1 GSVG pflichtversicherte Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH von den Finanzbehörden an die SVS geschaffen.

*)Dr. Thomas Neumann ist Partner einer international tätigen Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Wien.

1)Verordnung des Bundesministers für Finanzen, mit der die Verordnung betreffend die Durchführung der Übermittlung von Einkommensteuerdaten an die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft geändert wird, BGBl II 2020/38.

2)Verordnung des Bundesministers für Finanzen, mit der die Verordnung betreffend die Durchführung der Übermittlung von Einkommensteuerdaten an die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen geändert wird, BGBl II 2022/432.

3)Vgl dazu auch VwGH 12. 5. 1998, 95/08/0183; 19. 10. 2011, 2011/08/0108.

Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG ASoK 2023 259
Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG

Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG

Damit werden seitens der SVS seit 2019 für zugeflossene Gewinnausschüttungen die entsprechenden Sozialversicherungsbeträge den GSVG-Gesellschafter-Geschäftsführern vorgeschrieben.

Zusammengefasst waren bis zur Wirksamkeit der Verordnung BGBl II 2022/432 ausschließlich die Ausschüttungen von GSVG-Gesellschafter-Geschäftsführer meldepflichtig. Ausschüttungen von FSVG-Gesellschafter-Geschäftsführern einer GmbH und jene an Gesellschafter einer GmbH (die nicht auch gleichzeitig als handelsrechtliche Geschäftsführer fungierten), die nach dem GSVG und/oder dem FSVG als sogenannte erwerbstätige Gesellschafter der Sozialversicherungspflicht unterlagen, waren nicht meldepflichtig. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Beitragspflicht nach dem GSVG und/ oder dem FSVG: Ausschüttungen der FSVG-Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH waren immer schon beitragspflichtig, während die Ausschüttungen an die Nur-Gesellschafter einer GmbH, die nach dem GSVG und/oder dem FSVG pflichtversichert waren, nicht der Beitragspflicht unterlagen, weil sich der letzte Satz des § 25 Abs. 1 GSVG ausschließlich auf Gesellschafter-Geschäftsführer bezieht.4)

2.FSVG-Versicherte

Die neue Verordnung BGBl II 2022/432 betrifft nun jedenfalls auch die nach dem FSVG versicherten Gesellschafter-Geschäftsführer. Dies sind Ärzte,5) Zahnärzte,6) Patentanwälte7) und Ziviltechniker.8) Die Rechtsform einer GmbH ist für Apotheker, die auch nach dem FSVG versichert sind, nicht vorgesehen.9)

Unter vorläufiger Ausklammerung der Problematik der Nur-Gesellschafter einer GmbH10) wird durch § 2 Abs 211) und § 3 Abs 212) der Verordnung des Bundesministers für Finanzen betreffend die Durchführung der Übermittlung von Einkommensteuerdaten an die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, BGBl II 1998/107 in der Fassung BGBl II 2022/432, die Meldepflicht auf die FSVG-Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH erweitert. Gemäß § 7 Abs 3 der Verordnung BGBl II 2022/432 tritt die Neuregelung mit 1. 1. 2023 in Kraft und ist erstmalig auf Kapitalertragsteuer-Anmeldungen anzuwenden, die Ausschüttungen betreffen, welche im Kalenderjahr 2019 zugeflossen sind.13)

Damit wird auch faktisch die Beitragspflicht der Ausschüttungen auf die FSVG-Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH ab 2019 ausgedehnt. Rechtskräftige Bescheide über die Beitragsgrundlage ab 2019 werden dadurch nicht abgeändert. Allerdings besteht in den seltensten Fällen ein solcher Bescheid, sodass eine Nachbemessung der FSVGBeitragsgrundlage ab 2019 seitens der SVS möglich ist. Die Meldeverpflichtungen ab 2019 bestehen jedenfalls.

4)Vgl dazu ausführlich Neumann, Sozialversicherungspflicht für Gewinnausschüttungen an GesellschafterGeschäftsführer, ASoK 2020, 350.

5)Vgl § 52a ÄrzteG.

6)Vgl § 26 ZÄG.

7)Vgl § 1a Patentanwaltsgesetz.

8)Vgl § 23 ZTG 2019.

9) Sedlacek/U. Koch in Neumann , GSVG für Steuerberater2 (2018) Anlage zu § 5 Rz 3.

10)Siehe Punkt 3.

11)Die Bestimmung lautet: „In den Fällen des Abs. 1 sind die Daten aus einer Kapitalertragsteueranmeldung (§ 96 Abs. 3 EStG 1988) insoweit elektronisch zur Verfügung zu stellen, als sie sich auf Ausschüttungen an Empfänger beziehen, die in dieser als GSVG- oder FSVG-pflichtige Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung genannt sind.“ (eigene Hervorhebung des Verfassers).

12)Die Bestimmung lautet: „Für die in Abs. 1 genannten Personen sind zusätzlich die Daten aus einer Kapitalertragsteueranmeldung (§ 96 Abs. 3 EStG 1988) insoweit elektronisch zur Verfügung zu stellen, als sie sich auf Ausschüttungen an Empfänger beziehen, die in dieser als GSVG- oder FSVG-pflichtige Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung genannt sind.“ (eigene Hervorhebung des Verfassers).

13)Vgl dazu auch Steiger , Sozialversicherungspflicht von Gewinnausschüttungen an Gesellschafter-Geschäftsführer – Update 2023, taxlex 2023, 124.

260 ASoK 2023

3.Nur-Gesellschafter

§ 2 Abs 2 und § 3 Abs 2 iVm § 7 Abs 3 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen betreffend die Durchführung der Übermittlung von Einkommensteuerdaten an die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, BGBl II 1998/107 in der Fassung BGBl II 2022/432, erweitern die Meldepflicht auch auf GSVG- und FSVG-Gesellschafter, die nicht auch gleichzeitig als handelsrechtliche Geschäftsführer in dieser Gesellschaft tätig sind. Gemäß § 25 Abs 1 GSVG umfasst der Tatbestand der Beitragsgrundlage ausschließlich Gesellschafter-Geschäftsführer . Eine Auslegung, dass im Begriff „GesellschafterGeschäftsführer“ auch der erwerbstätige Nur-Gesellschafter, der nach dem GSVG und/ oder dem FSVG versichert ist, mitumfasst ist, findet sich derzeit weder in der Literatur noch in der Judikatur.14) Damit fallen in einem ersten Zwischenergebnis Beitrags- und Meldepflicht auseinander; eine Beitragspflicht für Ausschüttungen von GSVG- und FSVGGesellschaftern besteht nämlich nicht.15)

Im vom BMF herausgegebenen Handbuch zur Kapitalertragsteuer-Anmeldung (Ka 1) in FinanzOnline wird dargestellt, dass entgegen der Verordnung BGBl II 2022/432 eine Meldepflicht nur für Ausschüttungen an Gesellschafter-Geschäftsführer zu erfolgen hat.16) Eine Ausschüttung an reine Gesellschafter ohne Geschäftsführungsfunktion sei nicht zu melden.17) Damit wird naturgemäß die normative Kraft der Verordnung BGBl II 2022/432 nicht ausgehebelt. Der pragmatische Lösungsansatz, entsprechend den Ausführungen des erwähnten BMF-Handbuchs vorzugehen, widerspricht nur auf dem ersten Blick der rechtlichen Verpflichtung aufgrund der Verordnung BGBl II 2022/432. Dies könnte dadurch aufgelöst werden, dass die Verordnung BGBl II 2022/432 als Verwaltungsverordnung betrachtet werden kann, welche ausschließlich die Finanzverwaltung und die SVS bindet, sodass für die Versicherten aufgrund des BMF-Handbuchs als authentischer Interpretation der normverpflichteten Finanzverwaltung keine Meldeverpflichtung begründet wird. Somit könnten im Ergebnis für Ausschüttungen von GSVG- und FSVG-Gesellschaftern weder eine Melde- noch eine Beitragspflicht begründet werden.

Auf den Punkt gebracht

Mit der Verordnung BGBl II 2022/432 wurde die Meldeverpflichtung für Ausschüttungen auf FSVG-Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH ab 2019 ausgedehnt, sodass für diese Versicherten die Beitragspflicht auch faktisch umgesetzt worden ist. Die Ausdehnung der Meldeverpflichtung für Ausschüttungen aufgrund der Verordnung BGBl II 2022/432 für Nur-Gesellschafter einer GmbH, die nach dem GSVG und/oder dem FSVG versichert sind, wird in der Verwaltungspraxis nicht umgesetzt. Für diese Versicherten sind die Ausschüttungen weiterhin nicht beitragspflichtig.

14)Vgl dazu ausführlich Mitterer in Neumann , GSVG2, § 25 und § 25a Rz 10 ff.

15)Ob damit diese Änderungen der Verordnung BGBl II 2022/432 gesetzwidrig sind, bedarf einer eigehenden Analyse, die mangels derzeitiger Praxisrelevanz nicht weiter ausgeführt wird.

16) BMF , Handbuch Kapitalertragsteuer-Anmeldung (Ka 1) in FinanzOnline (Stand: 20. 3. 2023) 18, online abrufbar unter https://www.bmf.gv.at/services/finanzonline/informationen-fuer-unternehmer-und-ge meinden/handbuecher-fuer-unternehmer.html

17) BMF , Handbuch, 19.

Neuerscheinung: Die Koordinierung von Familienleistungen

Dr. Felicia Kain, LL.M. widmet sich in ihrem im Linde Verlag erschienenen Werk der umfassenden Aufarbeitung der Koordinierung von Familienleistungen auf nationaler und europarechtlicher Ebene.

Neue Meldepflichten für Gewinnausschüttungen im GSVG und FSVG ASoK 2023 261

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH

imDreiecksverhältnis EU – EWR-EFTA – Schweiz

Wessen Sozialversicherung ist bei einer selbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich, Liechtenstein und der Schweiz zuständig?

KATHARINA DAXKOBLER*)

In welchem Staat unterliegt eine Person, die in einem EU-Mitgliedstaat, einem EWR-EFTA-Staat und der Schweiz parallel erwerbstätig ist, eigentlich der Sozialversicherung? Mit dieser Frage befasst der VwGH nun den EuGH im Rahmen seines Vorabentscheidungsersuchens vom 9. 5. 2023, Ro 2022/08/0003 (EU 2023/0002).

1.Einleitung

Im Verhältnis der EU-Staaten untereinander bestimmt sich die jeweils anwendbare nationale Sozialversicherungsordnung nach den Koordinierungsregelungen der Verordnung (EG) Nr 883/2004.1)

Im Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz gilt das Freizügigkeitsabkommen.2)

Demnach ist im bilateralen Verhältnis auch die Verordnung (EG) Nr 883/2004 anwendbar. Persönlich abkommensberechtigt sind nur die Bürger der Schweiz und der EU.

Im Verhältnis zwischen der EU und den EWR-EFTA-Staaten gilt das EWR-Abkommen.3) Demnach findet s im bilateralen Verhältnis EWR-EFTA – EU eben falls die Verordnung (EG) Nr 883/2004 Anwendung. Persönlich abkommensberechtigt sind nur die Bürger der EWR-EFTA-Staaten Liechtenstein, Island und Norwegen und jene der EU.

Im Verhältnis zwischen den EWR-EFTA-Staaten und der Schweiz gilt das EFTA-Übereinkommen (Vaduzer Konvention).4) Dort ist wiederum die Anwendbarkeit der Verordnung (EG) Nr 883/2004 vorgesehen. Persönlich abkommensberechtigt sind nur die Bürger der Schweiz und der EWR-EFTA-Staaten.

Es gibt jedoch bis dato kein Dachabkommen, das alle genannten Abkommen umfasst bzw miteinander vernetzt. So können Sachverhaltskonstellationen auftreten, die von keinem der genannten Abkommen zur Gänze erfasst werden. Dann stellt sich die Frage, ob die Koordinierungsregelungen überhaupt zur Anwendung gelangen können und – wenn ja –in welcher Form.

Einen derartigen Sachverhalt hat kürzlich der VwGH dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.Sachverhalt

Ein selbständig erwerbstätiger Arzt mit Wohnortstaat Österreich war seit Juni 2007 parallel in Österreich und Liechtenstein erwerbstätig. Später erfolgte auch eine Tätigkeits-

*)MMag. Dr. Katharina Daxkobler ist Steuerberaterin in Wien sowie Lehrbeauftrage am Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.

1)Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166 vom 30. 4. 2004, S 1.

2)Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, ABl L 114 vom 30. 4. 2002, S 6.

3)Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) samt Beilagen, BGBl 1993/909 in der Fassung BGBl III 2012/46.

4)Übereinkommen zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation, BGBl 1960/100 in der geltenden Fassung.

262 ASoK 2023 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH im Dreiecksverhältnis EU – EWR-EFTA – Schweiz
Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH im Dreiecksverhältnis EU – EWR-EFTA – Schweiz

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH im Dreiecksverhältnis

aufnahme in der Schweiz. Im Wohnortstaat Österreich erzielte er etwa 19 % seiner Einkünfte, in Liechtenstein 78 % und in der Schweiz zirka 3 %.

Der Arzt beantragte bei der SVS die Ausstellung einer Bescheinigung (A1-Formular) darüber, dass er mit seiner gesamten Erwerbstätigkeit ausschließlich den österreichischen sozialversicherungsrechtlichen Rechtsvorschriften unterliege. Die SVS wies den Antrag des Arztes ab.

3.Keine Koordinierung im Dreieckssachverhalt EU – Liechtenstein – Schweiz: Das Ergebnis der SVS

Begründet wurde dies damit, dass die Verordnung (EG) Nr 883/2004 und die dazu ergangene Verordnung (EG) Nr 987/20095) zwar sowohl im Verhältnis zu Liechtenstein als auch im Verhältnis zur Schweiz anwendbar seien.

Die jeweilige Anwendbarkeit beruhe aber auf verschiedenen Rechtsgrundlagen: zwischen der EU und Liechtenst ein auf dem EWR-Abkommen, zwischen der EU und der Schweiz auf dem Freizügigkeitsabkommen.

Es gebe aber kein Dachabkommen zur sozialrechtlichen Koordinierung zwischen EU-Staaten, EWR-EFTA-Staaten und der Schweiz. Daher seien die Verordnung (EG) Nr 883/2004 und die Verordnung (EG) Nr 987/2009 auf einen derart gelagerten trilateralen Sachverhalt nicht anwendbar.

Konsequenterweise kämen – mangels Koordinierung – die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften auf die in den jeweiligen Staaten jeweils ausgeübten Erwerbstätigkeiten zur Anwendung.

4.Koordinierung im jeweils bilateralen Verhältnis: Entscheidung des BVwG und darananknüpfende Überlegungen

Im darauf folgenden Beschwerdefahren kam das BVwG im Erkenntnis vom 28. 1. 2022, I422 2238071-1, zum Ergebnis, dass wegen der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen die anzuwendenden Rechtsvorschriften im Verhältnis zwischen dem EU-Staat Österreich und der Schweiz einerseits sowie Öste rreich und Liechtenstein andererseits jeweils gesondert (bilateral) zu prüfen seien. Daher seien auch zwei gesonderte A1-Bescheinigungen im Verhältnis zu jedem Staat auszustellen. Die – neu vorzunehmende –Beurteilung des Sachverhalts gegenüber der Schweiz habe demnach auch keine Auswirkung auf die Beurteilung der anzuwendenden Rechtsordnung im Verhältnis zu Liechtenstein und umgekehrt.

Im konkreten Sachverhalt ergäbe sich – nach der bilateralen Prüfung gegenüber beiden Staaten – jeweils die Anwendbarkeit des österreichischen Rechts: gegenüber Liechtenstein noch auf Basis der Verordnung (EWG) Nr 1408/71,6) der Vorgängerverordnung zur Verordnung (EG) Nr 883/2004, wonach stets dem Wohnortstaat die sozialversicherungsrechtliche Zuständigkeit zukommt; gegenü ber der Schweiz auf Basis der Verordnung (EG) Nr 883/2004, wonach der Wohnortstaat dann zuständig ist, wenn dort ein wesentlicher Teil der Tätigkeit ausgeübt wird (Art 14a leg cit), ansonsten jener Staat, in dem sich der Mittelpunkt der Tätigkeit befindet (Art 13 lleg cit).

Ein – trilaterales – Dachabkommen EU – EWR-EFTA – Schweiz sei daher nicht nötig.

5)Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 284 vom 30. 10. 2009, S 1.

6)Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl L 149 vom 5. 7. 1971, S 2.

EWR-EFTA – Schweiz ASoK 2023 263
EU –

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH im Dreiecksverhältnis EU – EWR-EFTA – Schweiz

Das Ergebnis des BVwG erscheint sowohl im Lichte der (gesamt)europäischen Freizügigkeit, des Zwecks der Koordinierungsregelu ngen, als auch auf Basis der rechtlichen Herleitung überzeugend. Fraglich ist jedoch, welche Folge es hätte, wenn man im Verhältnis zu beiden Staaten jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen käme. Diese Konstellation ist nicht ausgeschlossen und auch im Anlassfall durchaus im Raum stehend. Auf die Erwerbstätigkeit des Arztes in Liechtenstein kam nämlich noch die ehemalige Verordnung (EWG) Nr 1408/71 zur Anwendung. Nach der Übergangsregelung in Art 87 Abs 8 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 erfolgt bei einem bereits bestehenden Sachverhalt ein Wechsel in das Regime der (neuen) Verordnung (EG) Nr 883/2004 nur bei einer Änderung des „vorherrschenden Sachverhalts“. Ausgehend davon, dass man wie das BVwG aufgrund der vorhandenen Rechtsgrundlagen nur jeweils das bilaterale Verhältnis zwischen zwei Staaten überprüft, stellt sich die Frage, inwieweit sich der „vorherrschende Sachverhalt“ im bilateralen Verhältnis zwischen der EU und Liechtenstein ändert, wenn zusätzlich eine – noch dazu geringfügige – Tätigkeit in der Schweiz aufgenommen wird. Das BVwG nimmt in konsequenter Verfolgung des bilateralen Ansatzes an, dass dies nicht so ist.

Teilte man diese Auffassung nicht, so kommt im Verhältnis zwischen Liechtenstein und Österreich auf Basis der Verordnung (EG) Nr 883/2004 liechtensteinisches Recht zur Anwendung; im Verhältnis zwischen der Schweiz und Österreich ebenfalls auf Basis der Verordnung (EG) Nr 883/2004 österreichisches Recht. Fraglich ist, ob eine Auflösung dieses Widerspruchs etwa in der Form möglich ist, dass Österr eich gegenüber der Schweiz die sozialversicherungsrechtliche Zuständigkeit zugewiesen ist, Liechtenstein jedoch gegenüber Österreich.

Das könnte zum einen zum – seltsam anmutenden – Ergebnis führen, dass nur die Schweizer Erwerbseinkünfte der Sozialversicherungspflicht in Österreich unterliegen und die österreichischen und die liechtensteinischen Erwerbseinkünfte jener in Liechtenstein.

Zum anderen wäre – gerade mit Blick auf den in der europäischen Sozialversicherungskoordinierung herrschenden Grundsatz der Einmalversicherung – aber auch ein Auslegungsergebnis denkbar, wonach nur Liechtenstein im Hinblick auf alle Erwerbseinkünfte in den drei Staaten die sozialversicherungsrechtliche Zuständigkeit zugewiesen wird, da ihm eben gegenüber Österreich, dem ansonsten die Zuständigkeit betreffend die Schweizer Einkünfte zukäme, die vorrangige Zuständigkeit eingeräumt ist.

Für diese Lösung spräche zuletzt auch, dass sie der Koordinierung nach der Verordnung (EG) Nr 883/2004 entspräche, wenn diese im Sinne eines trilateralen Abkommens angewandt würde, und sie wäre somit wohl im Sinne aller involvierten bilateralen Vereinbarungen. Sowohl zwischen Liechtenstein und Österreich (EWR-Abkommen), zwischen der Schweiz und Österreich (Freizügigkeitsabkommen) als auch zwischen der Schweiz und Liechtenstein (EFTA-Übereinkommen) ist nämlich die Verordnung (EG) Nr 883/2004 im jeweils bilateralen Verhältnis anwendbar.

Denkbar und im Lichte des Regelungszwecks wünschenswert, jedoch auf Basis der vorhandenen Rechtsgrundlagen und des Fehlens eines alle Abkommen koordinierenden Dachabkommens schwierig zu argumentieren wäre schließlich angesichts der Anwendbarkeit der Verordnung (EG) Nr 883/2004 in allen involvierten bilateralen Abkommen eine direkte Anwendung der Verordnung (EG) Nr 883/2004. Auch diesfalls würde sich die Frage stellen, ob die zusätzliche Tätigkeit in der Schweiz zu einer Änderung der „vorherrschenden Sachverhalts“ im Sinne der Übergangsbestimmung des Art 87 Abs 8 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 führt. Im konkreten Sachverhalt wäre dies wegen deren Geringfügigkeit wohl zu verneinen und es bliebe daher nach der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 liechtensteinisches Recht anwendbar.

264 ASoK 2023

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH im Dreiecksverhältnis

5.Die Vorlagefragen des VwGH an den EuGH

Der VwGH legte, nachdem die SVS Revision gegen die BVwG-Entscheidung eingebracht hatte, die Entscheidung über die drei dargestellten Rechtspositionen (gar keine Koordinierung, Koordinierung auf Basis der jeweiligen bilateralen Abkommen, Koordinierung direkt auf Basis der Verordnung [EG] Nr 883/2004) dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Konkret richtete der VwGH folgende Fragen an den EuGH:

„1. Sind auf einen Sachverhalt, in dem ein Unionsbürger gleichzeitig in einem EU-Mitgliedstaat, in einem EWR-EFTA-Staat (Liechtenstein) und in der Schweiz erwerbstätig ist, die unionsrechtlich en Normen über die Bestimmung des anwendbaren Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit laut der Verordnung (EG) Nr 883/2004 iVm der Verordnung (EG) Nr 987/2009 anzuwenden?

Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen ist:

2. Hat die Anwendung der Verordnung (E G) Nr 883/2004 iVm der Verordnung (EG) Nr987/2009 in einem derartigen Fall so zu erfolgen, dass die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit einerseits im Verhältnis zwischen dem EU-Mitgliedstaat und dem EWR-EFTA-Staat und andererseits im Verhältnis zwischen dem EU-Mitgliedstaat und der Schweiz getrennt zu beurteilen ist und dementsprechend jeweils eine gesonderte Bescheinigung betreffend die anwendbaren Rechtsvorschriften auszustellen ist?

3. Handelt es sich um eine Änderung des ‚vorherrschenden Sachverhalts‘ im Sinn des Art 87 Abs 8 der Verordnung (EG) Nr 883/2004, wenn eine Erwerbstätigkeit in einem weiteren Staat, auf den die genannte Verordnung anwendbar ist, aufgenommen wird, auch wenn sich daraus weder nach der Verordnung (EG) Nr 883/2004 noch nach der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 eine Änderung der anwendbaren Rechtsvorschriften ergeben würde und die Tätigkeit in ihrem Umfang so untergeordnet ist, dass damit nur rund 3 % des Gesamteinkommens erzielt werden?

Spielt es dabei eine Rolle, ob im Sinn der zweiten Frage die Koordinierung im bilateralen Verhältnis einerseits zwischen den bisher betroffenen Staaten und andererseits zwischen einem der bisher betroffenen Staaten und dem ‚weiteren‘ Staat getrennt zu erfolgen hat?“ Im Lichte der oben dargestellten Überlegungen bleibt die Beantwortung der Vorlagefragen mit Spannung abzuwarten.

Ist Kostenübernahme bei stationärer Pflege nur für Personen aus Niederösterreich gleichheitswidrig?

Der VfGH prüft, ob im NÖ SHG die Kostenübernahme bei stationärer Pflege verfassungskonform geregelt ist. Es geht darum, dass Hilfe bei stationärer Pflege (etwa die Übernahme der Kosten für ein Pflegeheim) nur dann gewährt wird, wenn der Hilfesuchende entweder vor Aufnahme in das Heim seinen Hauptwohnsitz in Niederösterreich hatte oder –wenn bisher kein Hauptwohnsitz in Niederösterreich bestanden hat – zumindest seit sechs Monaten die Heimkosten aus eigenem Einkommen und Pflegegeld vollständig selbst getragen hat. Der VfGH hält es für zulässig, die Gewährung von Sozialleistungen an den Hauptwohnsitz im jeweiligen Bundesland zu knüpfen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist, Personen, die erst mit der Aufnahme in ein Pflegeheim ihren Hauptwohnsitz in Niederösterreich begründen, endgültig vom Anspruch auf Sozialhilfe auszuschließen, sofern sie nicht für sechs Monate die vollen Kosten aus ihrem Einkommen und Pflegegeld (nicht auch aus ihrem Vermögen) selbst tragen (VfGH 28. 6. 2023, E 2926/2022).

EU – EWR-EFTA – Schweiz ASoK 2023 265

Neues aus der Gesetzgebung

BETREUT VON GERDA ERCHER-LEDERER UND JULIA DUJMOVITS*)

I. Gebührenbefreiung für Anträge auf Vergütung des in der Sonderbetreuungszeit gezahlten Entgelts

Da die pandemiebedingte Gebührenbefreiung nach § 35 Abs 8 GebG mit Ende 2022 ausgelaufen ist, sind Anträge nach § 18b Abs 1a AVRAG, die ab 1. 1. 2023 in der Buchhaltungsagentur einlangen, zu vergebühren. Mit dem vorliegenden Initiativantrag betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz geändert wird (IA 3647/A 27. GP),1) soll die Gebührenbefreiung in § 18b Abs 1a AVRAG rückwirkend verlängert werden.

Diese Änderung soll rückwirkend mit 1. 1. 2023 in Kraft treten. Die Gesetzwerdung bleibt abzuwarten.

Gerda Ercher-Lederer

II. Beschäftigungsbewilligung: Neuregelung der Einbindung des AMSRegionalbeirats

Mit Erkenntnis vom 14. 12. 2021, G 232/2021, hat der VfGH § 4 Abs 3 AuslBG als verfassungswidrig aufgehoben; diese Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. 6. 2023 in Kraft. In der bis dahin noch geltenden Regelung ist die einhellige Befürwortung des AMS-Regionalbeirats (Z 1 leg cit) als eine von mehreren besonderen Voraussetzungen für die Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen normiert. Damit kann die zuständige Behörde keine eigenständige Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen vornehmen, sondern sie ist an die Zustimmung eines nicht behördlichen Organs gebunden, was nach dem VfGH dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht.

Mit dem Initiativantrag betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Ausländerbeschäftigungsgesetz geändert wird (IA 3415/A 27. GP),2) soll eine Regelung geschaffen werden, die auch bei der nicht einhelligen Zustimmung des AMS-Regionalbeirats und bei Nichtvorliegen einer der übrigen Voraussetzungen des § 4 Abs 3 AuslBG die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung ermöglicht, wenn die Beschäftigung des Ausländers aus besonders wichtigen Gründen (wie beispielsweise zur Erhaltung von Arbeitsplätzen inländischer Arbeitnehmer oder als nachweislich qualifizierte Arbeitskraft in einem Mangelberuf [§ 4 Abs 3 Z 2 AuslBG] oder wenn öffentliche bzw überbetriebliche gesamtwirtschaftliche Interessen die Beschäftigung des Ausländers erfordern [§ 4 Abs 3 Z 3 AuslBG]) notwendig ist. Des Weiteren soll eine Besc häftigungsbewilligung auch für Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung „Familiengemeinschaft“ gemäß § 69 NAG erteilt werden können. Dies dann, wenn die allgemeinen Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind und auf die zu besetzende Stelle keine beim AMS vorgemerkten Ersatzarbeitskräfte vermittelt werden können (§ 4 Abs 3 Z 13 AuslBG).

Die Änderungen sollen mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft treten. Die Gesetzwerdung bleibt abzuwarten.

Gerda Ercher-Lederer

*)Maga Gerda Ercher-Lederer ist Leiterin der Abteilung für kollektives Arbeitsrecht im BMAW. Maga Julia Dujmovits ist Leiterin der Abteilung für Legistik der Kranken- und Unfallversicherung im BMSGPK.

1)Der Initiativantrag ist online abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/A/3467.

2)Der Initiativantrag ist online abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/A/3415

266 ASoK 2023 Gesetzgebung
Gesetzgebung

III.Kurzarbeitsbeihilfe: Verlängerung der Möglichkeit der abweichenden Beihilfenhöhe

Mit dem Bundesgesetz, mit dem das Arbeitsmarktservicegesetz geändert wird, BGBl I 2023/61, wird die Möglichkeit der abweichenden Beihilfenhöhe bis Ende September 2023 verlängert (§ 37b Abs 7 AMSG) und vorgesehen, dass die erhöhte Beilhilfe bereits ab dem vierten Monat zusteht (§ 37b Abs 3 AMSG).

§ 37b Abs 3 AMSG tritt mit 1. 10. 2023 in Kraft, § 37b Abs 7 AMSG mit 1. 7. 2023. Gerda Ercher-Lederer

IV. Pflegelehre

Mit dem Bundesgesetz, mit dem das Berufsausbildungsgesetz und das Gesundheitsund Krankenpflegegesetz geändert werden, BGBl I 2023/62, wird die Pflegelehre eingeführt. Geschaffen wird die Möglichkeit für einen vierjährigen Lehrberuf mit Lehrabschluss Pflegefachassistenz und einen dreijährigen Lehrberuf mit Lehrabschluss Pflegeassistenz.

§ 35b BAG sieht dazu folgende Sonderregelungen vor:

• Gemäß § 35b Abs 2 BAG sind § 2 Abs 8 und 9, § 8c, § 23 Abs 5, 6, 7, 9 und 10, §§ 27, 27a, 29, § 29h Abs 2, §§ 30 und 30b BAG nicht anzuwenden.

• In Verfahren gemäß § 3a BAG zur Überprüfung der Eignung einer Einrichtung als Lehrbetrieb ist ein vom Landeshauptmann zu nominierender Sachverständiger für die Pflegebildung, der über einen Qualifikationsnachweis in der allgemeinen Gesundheitsund Krankenpflege mit Spezialisierung Lehraufgaben und eine aufrechte Berufsberechtigung verfügt, ergänzend beizuziehen. Auch sind Bescheide gemäß § 3a BAG dem Landeshauptmann zur Kenntnis zu bringen (§ 35b Abs 3 BAG).

• Sofern sich Bestimmungen der Verordnungen gemäß § 6 Abs 6 und §§ 7, 8, 8a, 24, 27b und § 29h Abs 1 BAG auf Lehrberufe in den Pflegeassistenzberufen beziehen, ist das Einvernehmen mit dem Gesundheitsminister herzustellen (§ 35b Abs 4 BAG).

• § 35b Abs 5 BAG sieht vor, dass in den Verordnungen gemäß §§ 8, 8a und 24 BAG insbesondere Bestimmungen zum Schutz der Auszubildenden betreffend praktische Ausbildungsmaßnahmen vor Vollendung des 17. Lebensjahres, Bestimmungen über die Qualifikationsanforderungen an Ausbildner, über einzuhaltende Ausbildungsgrundsätze, über zu vermittelnde Fachbereiche und über den Kompetenzerwerb sowie die zu erwerbenden Qualifikationen festzulegen sind.

• Bei Nichtvorliegen der gesundheitlichen Eignung und der Vertrauenswürdigkeit des Lehrlings darf der Lehrvertrag nicht eingetragen werden (§ 35b Abs 6 BAG).

• § 35b Abs 7 und 8 BAG sieht Sonderbestimmungen für die Lehrabschlussprüfung vor (unter anderem die Anforderungen an den Vorsitzenden der Prüfungskommission).

• Gemäß § 35b Abs 9 BAG haben dem Bundes-Berufsausbildungsbeirat (§ 31 BAG) zwei Mitglieder mit beratender Stimme, die vom Gesundheitsminister bestellt werden, anzugehören, sofern Verordnungen oder Beschlüsse betreffend Pflegeassistenzberufe behandelt werden. Beschlüsse, die ohne Einladung dieser beiden Mitglieder gefasst werden, sind nichtig.

In § 86 GuKG erfolgt die berufsrechtliche Verankerung der Pflegeassistenzberufe.

§ 35b BAG und die Änderung des § 86 GuKG sind mit 22. 6. 2023 in Kraft getreten.

Gesetzgebung ASoK 2023 267

V. COVID-19-Überführungsgesetz

Mit dem COVID-19-Überführun gsgesetz, BGBl I 2023/69, werden mit Ablauf des 30.6. 2023 zahlreiche COVID-19-spezifische Sonderbestimmungen in unterschiedlichen Materiengesetzen entweder nicht weiter verlängert bzw aufgehoben oder in Regelstrukturen überführt.

Die Sammelnovelle enthält insbesondere folgende Maßnahmen:

1.Schaffung eines COVID-19-Impffinanzierungsgesetzes

Die Bundesländer werden bei der Abwicklung der COVID-19-Impfung im Zeitraum vom 1. 7. 2023 bis zum 31. 3. 2024 durch Zweckzuschüsse des Bundes in Form von Fallpauschalen unterstützt.

2.Änderung des EpiG

Das EpiG wird einerseits um COVID-19-spezifische Sonderbestimmungen bereinigt, andererseits werden jedoch auch für sonstige (meldepflichtige oder nicht meldepflichtige übertragbare respiratorische) Krankheiten zweckmäßige Bestimmungen beibehalten bzw verankert (zB Früherkennungs- und Überwachungsprogramme).

3.Änderungen in den Sozialversicherungsgesetzen

In den Sozialversicherungsgesetzen werden einerseits zahlreiche COVID-19-spezifische Regelungen aufgehoben (zB COVID-19-Risiko-Attest, Weitergewährung bestimmter Leistungen, COVID-19-Tests von asymptomatischen Personen, Honorar für die Beratung über COVID-19-Heilmittel). Andererseits werden die Bestimmungen über die Abgabe von COVID-19-Heimitteln, über die Durchführung von COVID-19-Tests bei symptomatischen Personen (jeweils bis 31. 12 . 2023) sowie über die Durchführung von COVID-19-Impfungen im niedergelassenen Bereich (bis 31. 3. 2024) befristet verlängert.

4.Änderung des Apothekengesetzes

Zur Aufrechterhaltung von bewährten Teststrukturen und des niederschwelligen Testangebots in Apotheken sollen Angehörige des pharmazeutischen Fachpersonals weiterhin berechtigt sein, eigenverantwortlich Abstriche aus Nase und Rachen zu nehmen und die Tests auszuwerten.

5.Änderung des ÄrzteG

Es wird für Krisensituationen eine Verordnungsermächtigung geschaffen, wonach erleichterte Zugangsregelungen zur Ausübung des ärztlichen Berufs ermöglicht werden. Ärzte dürften zeitlich beschränkt auch ohne Eintragung in die Ärzteliste bzw vor Abschluss oder inländischer Anrechnung ihrer postpromotionellen Ausbildung in Zusammenarbeit mit einem zur selbständigen Berufsausübung berechtigten Arzt tätig werden.

6.Änderung des SanG

Die Durchführung von Abstrichen aus Nase und Rachen einschließlich der Durchführung von Point-of-care-Tests zu diagnostischen Zwecken einerseits und die Blutabnahme aus der Kapillare zur Bestimmung von Antikörpern andererseits werden dauerhaft in den Tätigkeitsbereich der Sanitäter aufgenommen, wohingegen die Impfberechtigung für Sanitäter entfällt.

268 ASoK 2023
Gesetzgebung

7.Weitere Gesetzesänderungen

Darüber hinaus erfolgen Anpassungen im AMG, im Psychotherapiegesetz, im GehG, im VBG sowie im Bundesgesetz, mit dem zur Abdeckung des Bedarfes zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie Ermächtigungen zur Verfügung über Bundesvermögen erteilt werden.

VI. Novelle des PrimVG und des ASVG

Die Regierungsvorlage betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Primärversorgungsgesetz und das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz geändert werden (RV 2087 BlgNR 27. GP),3) wurde am 14. 6. 2023 im Ministerrat beschlossen.

Darin sind unter anderen folgende Maßnahmen enthalten:

1.Beschleunigung des Auswahlverfahrens nach § 14 PrimVG sowie Schaffung eines verkürzten Auswahlverfahrens nach § 14a PrimVG

Das Auswahlverfahren für Primärversorgungseinheiten soll unter Beibehaltung einer Priorisierung bestimmter Bewerbergruppen zeitlich gestrafft werden (Abschaffung der bisherigen Stufenregelung).

Bestehen über sechs Monate zumindest zwei unbesetzte Planstellen im Bereich der Allgemeinmedizin bzw im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde in einer Versorgungsregion, soll in einem solchen Fall ein (zusätzliches) verkürztes Auswahlverfahren nach § 14a PrimVG geschaffen werden.

2.Ermöglichung von Primärversorgungseinheiten für Kinder- und Jugendheilkunde

Die Einführung von Primärversorgungseinheiten, deren ärztliches Kernteam ausschließlich bzw überwiegend aus Fachärzten für Kinder- und Jugendheilkunde besteht, soll ermöglicht werden. Bis dato können Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde lediglich ergänzend zu Allgemeinmedizinern Teil des ärztlichen Kernteams der Primärversorgungseinheit sein.

3.Einführung von „multiprofessionellen“ Gruppenpraxen mit nicht ärztlichen Gesundheitsberufen im Bereich des PrimVG

Im Bereich der Primärversorgungseinheiten soll es möglich sein, dass auch Angehörige der nicht ärztlichen Gesundheitsberufe an ärztlichen Gruppenpraxen in der Form einer GmbH als Gesellschafter mit einer Beteiligung von maximal 49 % beteiligt sind.

4.Gesetzwerdung und ge plantes Inkrafttreten

Geplantes Inkrafttreten der Bestimmungen: 1. 8. 2023.

Die weitere parlamentarische Beschlussfassung der Novelle sowie die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt sind abzuwarten.

3)Die Regierungsvorlage ist online abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/I/2087

4)Mag. Thomas Krammer , LL.M. ist stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung für legistische Angelegenheiten der Kranken- und Unfallversicherung im BMSGPK.

Gesetzgebung ASoK 2023 269

VII. Ausblick

Der Initiativantrag betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Mutterschutzgesetz 1979, das Väter-Karenzgesetz, das Urlaubsgesetz, das Angestelltengesetz, das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz, das Gleichbehandlungsgesetz, das Landarbeitsgesetz 2021, das Kinderbetreuungsgeldgesetz sowie das Familienzeitbonusgesetz geändert werden (IA 3478/A 27. GP),5) wird in der nächsten Ausgabe der ASoK vorgestellt.

5)Der Initiativantrag ist online abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/A/3478

Praxis-News aus Sozialversicherungs-, Lohnsteuer- und Arbeitsrecht in Kurzform

Praxis-News

ALFRED SHUBSHIZKY*)

Multilaterale Vereinbarung zur Sozialversicherungszuständigkeit bei gewöhnlich grenzüberschreitend ausgeübter Telearbeit

Framework Agreement on the application of Article 16 (1) of Regulation (EC) No. 883/2004 in cases of habitual cross-border telework, online abrufbar unter https://www.sozialver sicherung.at/cdscontent/load?contentid=10008.777556&version=1684229492

Die Verordnung (EG) Nr 883/20041) regelt die in Fällen der grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit anwendbaren Sozialrechtsvorschriften umfassend. Im Bereich der Nichtselbständigen ist neben der Entsendung in Art 13 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 eine eigenen Kollisionsnorm für gewöhnlich grenzüberschreitende (laufend alternierend in verschiedenen Mitgliedstaaten tätige) Beschäftigte (multi-state workers) festgelegt. Wird eine solche Person zu einem wesentlichen Teil (nach der Verordnung [EG] Nr 987/20092) mindestens 25 % der Gesamttätigkeit) im Wohnortstaat tätig, sind demnach die Rechtsvorschriften dieses Staates anzuwenden. Andernfalls (kein wesentlicher Tätigkeitsanteil im Wohnortstaat) sind die Rechtsvorschriften des Staates, in dem sich der Sitz oder Wohnsitz des Arbeitgebers befindet, maßgeblich.

Diese Regelungen führen wegen der Zunahme der grenzüberschreitenden Telearbeit seit der Corona-Pandemie zu einem oftmals une rwünschten Wechsel der sozialversicherungsrechtlichen Zuständigkeit vom Ansässigkeitsstaat des Arbeitgebers in den Wohnortstaat des Arbeitnehmers.

Im Hinblick darauf hat Öste rreich zuletzt auf Basis des Art 16 der Verordnung (EG) Nr883/2004, der die Möglichkeit einer Ausnahme von den an sich anwendbaren Rechtsvorschriften vorsieht, bilaterale Rahmenvereinbarungen mit Deutschland, Tschechien (vgl die Praxis-News vom Jänner 2023 und vom März 2023, ASoK 2023, 34 und 109) und zuletzt mit der Slowakei abgeschlossen, wonach Arbeitnehmer bei grenzüberschreitender Erbringung von Telearbeit beantragen können, dass sie trotz wesentlicher, aber 40 % der Gesamtarbeitszeit nicht überschreitender Tätigkeit im Wohnortstaat nicht – wie in

*)Mag. Alfred Shubshizky ist Steuerberater in Linz.

1)Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 166 vom 30. 4. 2004, S 1.

2)Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 284 vom 30. 10. 2009, S 1.

270 ASoK 2023
Praxis-News

Art 13 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 vorgesehen – dort, sondern weiterhin im Ansässigkeitsstaat des Arbeitgebers versichert sind bzw bleiben.

Diese bilateralen Vereinbarungen werden nunmehr durch ein neues multilaterales Rahmenübereinkommen, das seit 1. 7. 2023 in Kraft ist und zunächst für einen Zeitraum von fünf Jahre geschlossen wurde, abgelöst.3) Diese neue multilaterale Vereinbarung enthält folgende Eckpunkte:

• Als Telearbeit wird eine Arbeitstätigkeit verstanden, die ortsunabhängig ausgeübt werden kann und sich auf die Informationstechnologie stützt, damit der Arbeitnehmer seine Aufgaben in Verbindung mit dem Arbeitgeberunternehmen erfüllen kann.

• Die ausnahmsweise Anwendung der Rechtsvorschriften des Ansässigkeitsstaates des Arbeitgebers4) setzt voraus, dass der Tätigkeitsanteil im Wohnortstaat weniger als 50 % der Gesamtarbeitszeit ausmacht.

• Die Rahmenvereinbarung ist nur anwendbar, wenn sowohl der Wohnortstaat des Arbeitnehmers als auch der Ansässigkeitsstaat des Arbeitgebers die Vereinbarung unterzeichnet haben. Neben Österreich haben dies derzeit Deutschland, die Schweiz, Tschechien, Liechtenstein, die Niederlande, die Slowakei, Belgien, Luxemburg und Finnland getan. Weitere Staaten haben bereits signalisiert, dass sie der Vereinbarung beitreten möchten.

• Die Rahmenvereinbarung kann für Personen, die im Wohnortstaat gewöhnlich eine andere Tätigkeit als grenzüberschreitende Telearbeit oder gewöhnlich in einem anderen Staat als dem Wohnortstaat bzw dem Ansässigkeitsstaat des Arbeitgebers ausüben, nicht in Anspruch genommen werden. Außerdem darf der Arbeitnehmer auch nicht selbständig tätig sein.

• Die Ausnahmevereinbarung kann für höchstens drei Jahre erteilt werden, wobei eine Verlängerung auf erneuten Antrag möglich ist.

Lohndumping: Anrechnung von laufenden Überzahlungen auf die Unterentlohnung beidenSonderzahlungen möglich

VwGH 21. 3. 2023, Ro 2020/11/0022.

Nach dem LSD-BG (bzw davor nach dem AVRAG) können Entgeltüberzahlungen auf Unterentlohnungen angerechnet werden, wenn sie den gleichen Lohnzahlungszeitraum (Zeitraum, nach dem das Entgelt bemessen wird, beim laufenden Entgelt in der Regel der Kalendermonat) betreffen. Ein unter dem Kollektivvertrag liegendes Monatsentgelt kann daher nicht durch Überzahlungen für andere Kalendermonate oder hinsichtlich der Sonderzahlungen (zB durch Auszahlung einer Jahresprämie) kompensiert werden. Hinsichtlich der Sonderzahlungen, die einem vom normalen Lohnzahlungszeitraum unabhängigen Charakter haben, legt das Gesetz das Kalenderjahr als maßgeblichen Betrachtungszeitraum fest (§ 29 Abs 1 LSD-BG). Auf eine Unterentlohnung bei den Sonderzahlungen können daher die innerh alb desselben Kalenderjahr es gewährten Überzahlungen beim laufenden Entgelt angerechnet werden.

3)Anträge, die noch auf Basis der angeführten bilateralen Rahmenvereinbarungen gestellt wurden, bleiben auch nach dem 1. 7. 2023 aufrecht.

4)Die Rahmenvereinbarung stellt diesbezüglich darauf ab, wo sich der Sitz oder die Niederlassung des Arbeitgebers befinden. Diese Formulierungen sind wohl im Sinne des Art 14 Abs 5a der Verordnung (EG) Nr 987/2009 zu verstehen, wonach sich die in Art 13 Abs 1 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 verwendeten Begriffe „Sitz“ und „Wohnsitz“ auf den satzungsgemäßen Sitz oder die Niederlassung, an dem bzw der die wesentlichen Entscheidungen des Unternehmens getroffen und die Handlungen zu dessen zentraler Verwaltung getroffen werden, beziehen. Im Englischen wird in der Verordnung (EG) Nr 883/2004 und in der Rahmenvereinbarung gleichermaßen vom „registered office or place of business“ gesprochen und dieses in Art 14 Abs 5a der Verordnung (EG) Nr 987/2009 als „registered office or place of business where the essential decisions of the untertaking are adopted an where the functions of its central administration are carried out“ präzisiert.

Praxis-News ASoK 2023 271

Aus der aktuellen Rechtsprechung

EDITH MARHOLD-WEINMEIER*)

Rechtsprechung

Volltexte der Entscheidungen schnell und bequem unter Eingabe der Geschäftszahl in der Suchmaske in Linde Digital, http://www.lindedigital.at; Übermittlung gegen Kostenersatz, telefonische Anforderung bei der ASoK-Redaktion, Tel.-Nr. 01/24 630/726 oder Fax-Nr. 01/24 630/753.

Berücksichtigung einer in eine Pensionsversicherung mit Gewinnbeteiligung investierten Einmalzahlung aus einer privaten Unfallversicherung bei der Ausgleichszulage

1. Grundsätzlich sind sämtliche – tatsächlich zufließenden – Einkünfte des Pensionsberechtigten in Geld oder Geldeswert bei der Feststellung des Anspruchs auf Ausgleichszulage zu berücksichtigen; es kommt nicht darauf an, aus welchem Titel und von wem die Einkünfte zufließen, ob sie dem Empfänger für oder ohne eine Gegenleistung zufließen und ob sie allenfalls der Steuerpflicht unterliegen. Abgestellt wird auf „Ansprüche mit Einkommenscharakter“, die dem Pensionsberechtigten auf vertraglicher oder gesetzlicher Grundlage zustehen. In diesem Sinn werden beispielsweise auch wiederkehrende Sachbezüge erfasst, ebenso Ausgedingsleistungen.

2. Soweit nicht ein Tatbestand nach § 292 Abs 4 ASVG eingreift, fallen (Geld-)Renten aufgrund ihres Einkommenscharakters somit grundsätzlich unter den Begriff „Einkünfte“. Dazu zählen Unterhalts- und Leibrentenzahlungen sowie Verdienstentgangs-, private Unfall- oder (wenn auch als Gesamtbetrag ausgezahlte) Versorgungsrenten.

3. Die Investition in eine Pensionsversicherung gegen monatliche Rente ist nicht einer Einzahlung auf ein Sparbuch mit monatlicher Abhebung eines bestimmten Betrags gleichzuhalten, weil der investierte Kapitalbetrag (ungeachtet seiner rechnerischen Berücksichtigung im Rahmen der Versicherung) nicht mehr als solcher dem Vermögen des Versicherten zugeordnet werden kann, sondern infolge der privatautonomen Gestaltung zur Gänze in einen – lebenslangen – Rentenanspruch umgewandelt wurde. Anders als ein durch Behebung von einem Sparbuch lukrierter (präziser: umgeschichteter) Vermögenswert wird die aufgrund privatrechtlicher Vereinbarung zustehende Rente auch nicht bloß „zufällig“ als solche bezeichnet; sie hat vielmehr Versorgungscharakter. – (§ 292 ASVG)

(OGH 17. 1. 2023, 10 ObS 148/22w)

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272 ASoK 2023 Rechtsprechung
*)Dr. Edith Marhold-Weinmeier ist Richterin am ASG Wien.

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Steuern. Wirtschaft. Recht.

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Entsendung & Überlassung von Mitarbeiter*innen

Arbeits-, Sozialversicherungs- & Steuerrecht

z Entsendung, Überlassung oder lokaler Vertrag?

z Die richtige Beurteilung internationaler Sachverhalte

z LSD-BG/AÜG (bei Inbound- & Outbound-Entsendung oder Arbeitskräfteüberlassung)

z EU-Sozialrechtsverordnung VO (EG) 883/2004

z Wie Sie Doppelbesteuerung vermeiden und von Steuerbegünstigungen profitieren!

Praktische Umsetzung in der Personalverrechnung!

StB Mag. Monika Kunesch, LL.M.

Selbständige Steuerberaterin

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