Weckruf für einen linken Feminismus
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Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt März 2017
Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten war für viele Menschen ein Schlag ins Gesicht, nicht nur in seinem Heimatland. Denn es schien vielen noch lange unmöglich, dass ein solch offen rassistisch und frauenfeindlich auftretender Mann in einer formalen Demokratie so weit kommen konnte. Doch offensichtlich hatte man sich mit dem bereits Erreichten in der Gleichstellung zu sicher gefühlt. Die Wahl von Donald Trump war deshalb für viele, ganz besonders Frauen, auch ein Weckruf: Fortschritt ist kein Automatismus und erkämpfte Rechte können auch wieder weggenommen werden. Zum Anlass der Amtseinführung gingen daher unzählige Frauen überall auf der Welt zum Global Women’s March auf die Straße und sorgten für große Aufmerksamkeit. Aber in den vielfältigen Themen und Forderungen, die die Frauen mit sich auf die Straße trugen, wurde auch klar, dass es um mehr geht als um Abwehrkämpfe und den Erhalt des Status Quo. Die Wahl Donald Trumps war für viele der Weckruf, wieder feministische Forderungen selbstbewusst zu stellen: Für eine Welt, in der niemand Angst vor Gewalt und Armut haben muss, in der wir unsere Persönlichkeiten ausdrücken und entfalten können, wie wir Lust haben und in der wir über die politischen Angelegenheiten gleichberechtigt und ohne Hass miteinander streiten können. Um einer solchen Welt näher zu kommen, müssen wir auch Antworten auf die neoliberale Politik der Konkurrenz, der sozialen Spaltung und der Angriffe auf soziale Infrastrukturen finden. Denn sie führt schon lange zur Rücknahme von Frauenrechten, nicht so offensichtlich, aber schleichend und ebenso tiefgreifend, nicht formal vor dem Gesetz, aber hinsichtlich der tatsächlichen Erreichbarkeit. So haben etwa Einsparungen in der öffentlichen Infrastruktur und Privatisierungen dazu geführt, dass ein Großteil der Pflegeleistungen an Angehörige verschoben wurde. Und das bedeutet fak-
tisch in den allermeisten Fällen: an Frauen. Darüber hinaus übernehmen sie auch immer noch die übrigen unbezahlten Tätigkeiten bei der Kindererziehung und im Haushalt und haben dadurch zu wenig Zeit für Erwerbsarbeit, für politische Arbeit und für Muße und Selbstbildung. Einschränkungen von vielfältigen Lebensweisen finden sich zudem in der aktuellen Familien- und Sozialpolitik nicht als direkte Repression, sondern eher in Form von Regulation. So wird durch das Ehegattensplitting, durch fehlende Unterstützung von Alleinerziehenden, durch den Ausschluss nicht verheirateter und/oder lesbischer Frauen von der assistierten Reproduktionsmedizin noch immer die heterosexuelle Kleinfamilie als Norm reproduziert und protegiert. Die Widerstände gegen diese Politik sind oftmals punktuell, vereinzelt. Hier in Deutschland sind das etwa die Streiks der Pflegekräfte für mehr Personal, die Kampagne der Sozial- und Erziehungsdienste, die Demonstrationen gegen den Marsch für das Leben von christlichen Fundamentalisten. Doch stehen sie oftmals getrennt nebeneinander. Das aktuelle Aufbegehren bietet erste Ansatzpunkte, diese verschiedenen Kämpfe miteinander zu verbinden und den notwendigen Zusammenhang von Feminismus und Antikapitalismus sichtbar zu machen. Diese zu nutzen und auszubauen ist die – ja, historische – Aufgabe von uns linken Feminist*innen. Namhafte Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen wie Angela Davis und Nancy Fraser haben anlässlich des Frauenkampftags am 8. März einen internationalen Streikaufruf verfasst, der zu einer Verbindung der vielfältigen Frauenbewegungen, Kämpfen von Migrant*innen, von Streiks und Auseinandersetzungen um Sorge-Arbeit aufruft. Eine Einladung, einen starken linken Feminismus zu entwickeln. Ich finde, wir sollten diese Einladung annehmen. • Cornelia Möhring
Links! im Gespräch
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OXI – eine Wirtschaftszeitung für alle Die Schere klafft immer weiter auseinander: Auf der einen Seite Multimillionäre und Milliardäre – das reichste Prozent –, auf der anderen Seite die 99 Prozent, deren Arbeits- und Lebensverhältnisse sich seit Jahrzehnten nicht verbessert haben. Das ist so in den USA, mindestens ähnlich in Europa. Insbesondere Merkel-Deutschland huldigt dem neoliberalen Wirtschaftsmodell. Doch es gibt Menschen, die kritisch über diese Wirtschaftsordnung nachdenken, neue Wege suchen. Seit Oktober 2016 erscheint mit „OXI“ eine alternative Wirtschaftszeitung. Ralf Richter sprach mit deren Mitbegründer Wolfgang Storz. Herr Storz, Sie waren früher Chefredakteur der Frankfurter Rundschau. Sicher halfen ihre Kontakte dabei, ein solches Medienprojekt ins Leben zu rufen. Wie entstand OXI, wie entstand der Name? Eine kleine Gruppe von Journalisten, Grafikern und Publizisten hatte sich vor gut zwei Jahren gefunden, um eine Monatszeitung zu entwickeln, bei der Wirtschaftsthemen im Mittelpunkt stehen sollen. Das Motiv aller war die Unzufriedenheit mit der Berichterstattung über Wirtschaft. Sie ist oft unverständlich. Dann steckt in der Wirtschaft soviel Politik und in der Politik soviel Wirtschaft, dass man diese beiden Bereiche nicht auseinanderreißen darf, das wird aber meist gemacht. Das führt dann dazu, dass vielleicht über den Reichtum von Milliardären berichtet wird, aber nicht zugleich über deren Einfluss auf die Politik, Geld ist schließlich auch politische Macht. Wir wollten also ein Medium entwickeln, das kritisch, ganzheitlich und vor allem verständlich über Wirtschaft informiert und sie als gesellschaftliches Ereignis analysiert. Als wir dann das Produkt entwickelt hatten, inhaltlich und grafisch, standen wir — das waren und sind beispielsweise Hans-Jürgen Arlt, der Designgraphiker Jo Wüllner, die Publizistin Charlotte Wiedemann — vor der Frage, wie können wir starten, wir brauchten Geld .... … und kamen auf den Verlag neues deutschland. Richtig. Wir suchten einen Verlag, der bereit war, mit uns zusammen zu testen, ob so ein Produkt ankommt, ob es dafür auch eine kaufkräftige Nachfrage gibt. Der nd-Verlag war interessiert. Wir gründeten zusammen die common Verlagsgenossenschaft, die sowohl oxiblog betreibt als auch die wirtschaftspolitische Monatszeitung OXI herausbringt. Und in dieser Phase stimmte das grie-
chische Volk über die künftige Wirtschaftspolitik des Landes ab … Wir kommen wieder zur Ausgangsfrage nach dem Namen. Wir hatten viele Ideen, aber dann schob sich das OXI nach vorne. Wir fanden, das passt gut zu unserem Projekt: Denn Wirtschaft muss demokratisiert werden. Und zu der jetzigen Art des Arbeitens und Wirtschaftens muss man OXI, also Nein sagen. Wer aber Nein sagt, der darf dabei nicht stehen bleiben. Der muss auch sagen, wie anders und neu gewirtschaftet werden soll. Und das wollen wir auch: Alternativen darstellen. So hatten wir bereits im November eine Titelgeschichte über Unternehmen, die anders als die herkömmlichen kapitalistischen Unternehmen wirtschaften. Und im Januar und jetzt im März berichten wir intensiv über Industriegenossenschaften in Italien und im Baskenland. Und in jeder Ausgabe gibt es auf der Seite Alltag Informationen über Initiativen und Unternehmen, die anders konsumieren und anders produzieren. Und weil dieses griechische Nein inhaltlich so gut passte, deshalb wählten wir dann diesen Namen. Er ist knapp, markant, hat ein starkes X in der Mitte. Auch wenn nur wenige ihn mit diesem inhaltlichen Ursprung verbinden, er ist und bleibt vor allem ein markanter Medienname. Immerhin bleibt, dass eine deutsche Wirtschaftszeitung auf Griechisch „Nein“ sagt. Wozu die Griechen seinerzeit Oxi gesagt haben, ist klar. Aber wozu sagt das OXI-Team eigentlich „Nein“? Wir kritisieren im Prinzip die heute herrschende Art des Wirtschaftens, deren Kern darin besteht, aus Geld mehr Geld zu machen. Die Ergebnisse sind ja überall zu sehen: für viele unsichere Arbeit, wenige Milliardäre und zig Millionen Arme, ein vergleichsweise hoher Wohlstand in Deutschland, wenngleich sehr falsch verteilt, der auf Kosten anderer Länder geht, die Liste ist lang. Wir wollen von diesem Standpunkt aus das Heutige analysieren und darstellen: Wie geht es anders, in Theorie und vor allem in der Praxis. Wir gehen davon aus: Obwohl die Wirtschaft sämtliche Bereiche unseres Lebens beherrscht, ist unser Wissen über die Mechanismen oft zu gering. Wir wollen einen Beitrag leisten, das zu ändern. Wirtschaft soll für alle verständlich sein, damit alle mitreden können. Wirtschaft soll demokratisch sein, eine Angelegenheit aller und nicht nur von Unternehmern und Unternehmen.
Neben der 24seitigen Printausgabe ist „OXI“ im Netz zu finden. Wie ergänzen sich Virtuelles und Gedrucktes? Eine Monatszeitung kann nicht aktuell sein. Da geht es um Themen, die auf mittlere Frist von Bedeutung sind. Immer wieder aktuell reagieren, das können wir im Netz. Das Blog nützen wir auch, um komplexere Themen anzupacken. Ein Beispiel: Jüngst analysiert Michael Wendl in einer dreiteiligen Serie den Euro-Währungsraum. Um das verständlich darzulegen, da braucht man Platz, Platz, den wir auf unseren 24 Seiten nicht haben. Das Blog bietet so Platz für beides: für die schnelle aktuelle Intervention und für die sehr lange Analyse. Pro Woche haben wir bis zu fünf neue Beiträge im Blog. So ergänzen sich Blatt & Blog inhaltlich vorzüglich.
ten. Und auf oxiblog kann sich jede und jeder den wöchentlich erscheinenden OXI-Newsletter bestellen. Damit informieren wir über aktuelle Beiträge im Blog oder über die neue OXIAusgabe.
Das Blog ist also ein Ergänzungsangebot. Ja, Ergänzung und Erweiterung des Blattes einerseits und andererseits ein ganz eigenständiges Produkt, das beispielsweise auch Debatten zu aktuellen Themen ermöglicht. Wir erreichen so vor allem via Twitter und Facebook ein ganz anderes Publikum, da gibt es nach unseren bisherigen Erfahrungen kaum Überschneidungen, zwischen dem Blog- und dem Blatt-Publikum. Das Blog hilft uns auch, die jeweils neue monatliche Ausgabe von OXI zu bewerben. Übrigens werden wir unsere Monatszeitung bald auch als eine recht komfortable App anbie-
Sie haben dem Deutschlandradio Kultur gesagt: „Wichtige wirtschaftliche Themen als Themen der Gesellschaft darzustellen und zu versuchen, das möglichst verständlich zu machen, das ist das Gründungsmotiv für dieses Produkt.“ Im März erscheint nun die sechste Ausgabe. Wie sind Sie diesem Ziel bisher gerecht geworden? Das ist keine einfache Frage. Ich sage: mal gut, mal weniger gut. Wir sind noch im Werden. Ob Rente, Eurozone, Grundeinkommen, Staatsschulden, Mindestlohn, das sind natürlich keine einfachen Themen. Und es ist auch unser Ehrgeiz, das Wissen
Manche Magazine oder Tageszeitungen gestatten es ihren Abonnenten, im Netz mehr Beiträge zu lesen als Nicht-Abonnenten. Gibt es solche Überlegungen auch für oxiblog.de? Nein. Wir setzen darauf, dass unser Publikum unser Angebot im Blatt und Blog schätzt und deshalb sagt: Ich abonniere OXI für ein Jahr. Die 40 Euro sind gut angelegt. Und mit diesem Abo werden beide Angebote finanziert: die Analysen und Interviews im Blog und die Monatszeitung.
von Experten und Wissenschaftlern gut zu vermitteln, ob das der Sozialpsychologe Heiner Keupp, der Elitenforscher Michael Hartmann oder Volkswirtschaftler wie Till van Treeck oder Peter Bofinger sind. Ich denke, bei der Verständlichkeit, da haben wir noch Luft nach oben. Sie haben aber durchaus Erfolge und Bereiche, mit denen Sie ganz zufrieden sein können, oder? Was meist gut gelingt: unsere doppelseitige Argumente-Grafik, auf der wir ein Thema, einen Sachverhalt aus möglichst allen Perspektiven kompakt darstellen, sozusagen alles auf einen Blick. Und unser Lexikon, das wir bewusst nutzen, um ein Thema wie Privatisierung, rigide Sparpolitik, Allmende oder frugale Innovationen aus den Blickwinkeln von Neoliberalen, Keynesianern und Postwachstums-Anhängern zu erläutern. Es ist uns besonders wichtig, die Themen – ob Wachstum, künstliche Intelligenz, Schwarze Null, Lohngerechtigkeit, Mindestlohn oder Wachstumskritik – aus verschiedenen Blickwinkeln und Interessenlagen darzustellen. Sie haben 24 Seiten zur Verfügung und stellen ein Thema in den Mittelpunkt. Im Februar war es Künstliche Intelligenz und wie sie unser Leben verändert. Was war sonst noch und was kommt im März? Im Januar hatten wir das Thema Umverteilung und Reichtum. Auch mit Blick auf die Bundestagswahl. Wir hatten Reportagen über den anhaltenden Exodus aus dem Balkan, über Wohnbaugenossenschaften, über Versuche, in Hamburg und Berlin mit Polikliniken eine bessere Gesundheitsversorgung aufzubauen. Was wir regelmäßig bieten: viele Rezensionen von Büchern, Magazinen, Blogs und Filmen, eine Traumseite und wir stellen in jeder Ausgabe einen Denker, eine Denkerin vor und fragen, inwieweit ihre Arbeiten uns heute helfen und anregen können; das geht von Victor Agartz über Friedrich Engels, Hannah Arendt, Elinor Ostrom bis Rosa Luxemburg in der neuen Märzausgabe. Und: Im März haben wir einen Titel zum Thema „Weiberwirtschaft“. Was wohl im Zusammenhang mit dem 8. März steht. Ja. Wie wirtschaften Frauen, welchen Sachverstand bringen sie in die Debatte über die andere Wirtschaft ein. Da geht es unbezahlte Hausarbeit, den Begriff von Arbeit, um Gender Pay Gap, also um gerechte Löhne, eine gute Altersversorgung, um Care Revolution. Ich kann nur sagen: kaufen, lesen.
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Sachsen ist Schlusslicht beim Sozialwohnungsbau Wohnen ist auch in Sachsen zu einer zentralen sozialen Frage geworden. Auch hier steigen die Mieten, besonders in den größeren Städten und deren Umland. Dresden und Leipzig verzeichneten zwischen 2010 und 2015 einen Anstieg der Mieten um durchschnittlich 20 Prozent, die Neubaumieten in Dresden stiegen in dieser Zeit sogar um 45 Prozent! Gleichzeitig wurde in Sachsen seit 2000 nicht eine einzige Sozialwohnung gebaut. Damit ist Sachsen gemeinsam mit Mecklenburg-Vorpommern Schlusslicht in ganz Deutschland. Bereits jetzt gibt es ein wachsendes Problem mit Wohnungslosigkeit, während gleichzeitig viele Kommunen mit Leerstand oder den Altschulden kommunaler Wohnungsunternehmen zu kämpfen haben. Durch die Abwanderung stehen in der Lausitz, im Vogtland oder im Erzgebirge ganze Häuserblöcke leer. Soweit die bekannten Fakten. Um herauszufinden, wie die Menschen vor Ort mit den unterschiedlichen Situationen auf dem Wohnungsmarkt in Sachsen umgehen, befinde ich mich seit Herbst 2016 auf Wohnungstour quer durch Sachsen. Die Ergebnisse werden in ein wohnungspolitisches Konzept für Sachsen fließen, für das ich gemeinsam mit Enrico Stange vom Landesvorstand der sächsischen LINKEN beauftragt wurde. Es stehen noch viele interessante Termine an, trotzdem kann bereits jetzt ein Zwischenfazit gezogen werden:
„… und i bin des Dirndl vom Land.“ So begann ein Dialog, den wir als Kinder immer wieder aufsagten. Es gibt ihn in hunderterlei Variationen verschiedener Längen. Auch die Dialekte des Dirndls wechseln. Die Dame spricht natürlich Hochdeutsch, was ihre Bildung hervorhebt. Die mir bekannte Version ging so weiter: „Ich spreche sieben Sprachen und spiele Klavier.“ – „Und i tua Sau füttern dafür.“ – „Pfui, vom Schweinefüttern möchte ich überhaupt nichts hören.“ – „Ja, aber Schinken fressen, des tuns gern.“ – „Mir küsst jeder feine Herr die Hand.“ – „Und wann mir der Hansl a Bussel gibt, is es a ka Schand!“ Punktum, das Dirndl hat sich be-
Sachsen erhält jährlich 120 Millionen Euro vom Bund für die soziale Wohnraumförderung, hat aber bislang keinen Euro davon für diesen Zweck ausgegeben. Zukünftig will der Freistaat 40 Millionen Euro, also nur ein Drittel der Bundesmittel, für den sozialen Wohnungsbau verwenden. Der Rest fließt in eher fragwürdige Maßnahmen wie die Eigentumsförderung oder direkt in den Landeshaushalt. Angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt muss dem sozialen Wohnungsbau aber deutlich mehr Priorität eingeräumt werden! Die Landesregierung hat nach Jahren der Untätigkeit zwar eine Förderrichtlinie für den sozialen Wohnungsbau erarbeitet. Bei vielen Gesprächen musste ich aber feststellen, dass sie
darin Bedingungen formuliert, die im Ergebnis verhindern, dass die Gelder von bauwilligen Kommunen ausgeschöpft werden können. Faktisch erfüllen nur die Städte Dresden und Leipzig die Kriterien, um Fördergelder für den sozialen Wohnungsbau erhalten zu können. Dabei haben Städte im „Speckgürtel“ der Großstädte wie zum Beispiel Meißen und Markkleeberg dringenden Bedarf angemeldet. Zudem gilt: Nur weil es in anderen Kommunen Leerstand gibt, erhalten Menschen mit geringem Einkommen noch lange keine bezahlbare Wohnung. Bedarf an Sozialwohnungen, also Wohnungen, die für Menschen mit geringem Einkommen garantiert sind, kann es durchaus auch in Städten mit Leerständen geben.
Problematisch ist darüber hinaus die Regelung, dass die Mietpreise um maximal 3,50 Euro pro Quadratmeter herunter subventioniert werden können. Ein einfaches Rechenbeispiel: Bei Baupreisen mit Endmieten von 10 Euro pro Quadratmeter käme man dann auf eine Miete von 6,50 Euro pro Quadratmeter. In Leipzig liegt der Satz für die Kosten der Unterkunft bei derzeit 4,50 Euro pro Quadratmeter. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus ergibt aber nur Sinn, wenn die geförderte Sozialwohnung am Ende auch für Erwerbslose erschwinglich ist. Dass der Mietpreis den jeweiligen KdU-Satz nicht überschreiten darf, sieht die sächsische Richtlinie leider nicht vor. Der zusätzliche Finanzbedarf müsste daher von einer Kom-
mune wie Leipzig alleine aufgebracht werden. So wird das Programm unattraktiv. Mit der dilettantischen Ausarbeitung der Förderrichtlinie für den sozialen Wohnungsbau in Sachsen ist nicht nur eine Chance verpasst worden. Man bekommt fast den Eindruck, dass die Gelder des Bundes gar nicht in den Bau von bezahlbaren Wohnungen fließen sollen, sondern weiterhin in den Haushalt. Eine weitere Herausforderung wird das altersgerechte Wohnen darstellen. Studien haben aufgezeigt, dass sich ein durchschnittlicher Rentner in Sachsen eine Miete von 3,50 Euro pro Quadratmeter leisten kann. Das hat mit den aktuellen Mietpreisen jedoch nichts mehr zu tun. Hinzu kommen die Kosten für den altersgerechten Umbau von Wohnungen, den sich viele Rentnerinnen und Rentner nicht leisten können. Zuschüsse dafür erlaubt der Bund leider nur bis 2019. Der freundliche Empfang durch die vielen wohnungs- und mietenpolitisch Aktiven und das wachsende Interesse der Genossinnen und Genossen am Thema zeigt mir, dass DIE LINKE die richtige Partei ist, um sich in Sachsen an die Spitze der wohnungspolitischen Aktivitäten zu stellen. Wohnen ist zu einer der zentralen sozialen Fragen geworden. DIE LINKE sollte sie als Partei der Mieterinnen und Mieter und der Menschen mit geringem Einkommen beantworten. Caren Lay
hauptet. Natürlich war unsere Sympathie beim Dirndl, auch wenn wir Stadtkinder waren. Im Arbeiterbezirk gab es nur gelegentlich „durchrauschende“ Damen, die Hausbesitzerin zum Beispiel, oder Möchtegern-Damen. Solche nannte meine Oma spöttisch „Frau Sachen“. Ich will mich jetzt nicht als Schulmeister hervortun. Die geneigten Leserinnen und Leser können sich sicher die „Moral von der Geschicht’“ selbst erschließen. Jeder und jede auf seine oder ihre Art. Ich kann mich aber nicht zurückhalten und stelle mit Freude zunächst fest, dass wir Kinder schon sehr früh und sehr wohl um Standes- und Klassenunterschiede wussten. Wir konnten sie auch festmachen, an Essgewohnheiten, an Sprache und an unterschiedlich nützlichem Wissen und Können. Wobei uns eigentlich nur das Wissen und Können des Dirndls auch als nützlich erschien. Was muss ich Klavier spielen können? Dass man damit angeblich Glück bei den Frauen hat, war
uns nicht bekannt und musste es auch noch nicht. Sieben Sprachen!? Mit wem sollten wir die sprechen. Es war uns nicht gesungen, dass wir unser Milieu verlassen könnten. In diesem Milieu war man jedoch maximal eineinhalbsprachig: Man begegnete sich im Dialekt, was Vertrauen schuf, und übte sich für die Schule in
Sprachen wichtig sind für die „Flucht“ aus einem Milieu, das kein großes Prestige genoss, bei uns nicht und auch nicht bei den anderen, wissen unsere Kinder heute. Kann sein, ein anderes Wissen ist damit aber in den Hintergrund getreten oder gar verloren gegangen. Es ist das Wissen darum, dass das Schweinefüttern der einen die Voraussetzung für das Schinkenfressen der anderen ist. Reichtum ist sehr unterschiedlich verteilt. Die, die Schweine füttern, haben nicht so viel auf dem Konto. Andere sind so reich, dass sie sich das Schweinefüttern als Hobby leisten können. Da verschwimmen Unterschiede, und der einen schwere Arbeit erscheint den anderen als originelles Vergnügen. Stolz gibt man vor zu wissen, woher der Schinken kommt. Nun will ich die Veganerinnen und Veganer aber nicht mehr länger reizen. Das Schweinefüttern, das Sieben-SprachenSprechen, das Klavierspielen und Schinkenfressen, Busserl und Handkuss sind hier nur Me-
taphern für soziale Unterschiede. Letztere aber gab es und gibt es noch immer. Sie entscheiden nicht nur erheblich über mögliche Lebenswege, sondern auch über das jeweilige Bild von der Welt sowie von der eigenen und der anderen Wahrheit, formuliert in der eigenen oder der anderen Sprache. In welchen Milieus sind wir Linken heute eigentlich angesiedelt? Unsere Klientel sollten mit Sicherheit jene sein, „die Schweine füttern“. Diese Erkenntnis kann aus Erfahrung kommen oder sie kann Ergebnis scharfer wissenschaftlicher Analyse sein. Damit tun sich freilich zwei neue Fragen auf: Verstehen uns jene, für die wir Partei ergreifen, eigentlich als ihre Sachwalter, wenn wir dies in ebenso scharfer wissenschaftlicher Sprache verkünden und begründen? Und: Haben die „Schweinefütterer“ nach getaner Arbeit noch Zeit und Muße, 71 Seiten Wahlprogramm zu lesen, um letztlich und aus gutem Grund überzeugt davon zu sein, dass es nur so und nicht anders für sie zum Besten wird?
„Ich bin eine Dame von Stand!“ einem eigentlich fremden und meist lächerlich geradebrechtem Standarddeutsch. Selbst ins Gymnasium verschlagen, quälten wir uns schon mit zwei oder drei Sprachen; und warum da Latein dabei sein sollte, konnte uns damals niemand schlüssig beantworten. Heute könnte ich das vielleicht, aber wahrscheinlich nicht verständlich für alle, sondern meist nur für jene, die das gleiche „Glück“ mit Latein hatten. Dass
Hintergrund
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Sozial-Skandal des Monats Mogelpackung Unterhaltsvorschuss
Was steckt hinter alledem? Der Unterhaltsvorschuss wurde 1980 als eine Art Ersatz-
leistung für jene Alleinerziehenden eingeführt, die meist vom Vater ihres Kindes keinen oder keinen ausreichen-
den Unterhalt erhielten. Den Behörden war aufgegeben, sich die staatliche Vorleistung vom Unterhaltsschuldner zurückzuholen. Von Anfang an hatte dieses Konstrukt einen Kardinalfehler; Unterhaltsvorschuss wurde nämlich nur für Kinder in der Altersspanne von 6 bis 12 Jahren gewährt. Wenn sich dies nun ändert und Zahlungen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres erfolgen, dann entspricht das zunächst einer Forderung, die die Linksfraktion im Sächsischen Landtag immer wieder erhoben hat und mit der sie bislang bei sämtlichen Staatsregierungen gescheitert war. Ein Beitrag zur aktiven Bekämpfung der Kinderarmut, die in Sach-
In eigener Sache Liebe Leserinnen und Leser, in der Vergangenheit haben wir mehrfach auf die schwierige finanzielle Lage des gemeinnützigen Vereins, der diese Zeitung trägt, hinweisen müssen. Nicht zuletzt dank eines beachtlichen Spendenaufkommens, für das wir herzlich danken, ist die Lage heute wesentlich besser als noch vor einem Jahr. Inzwischen haben sich auch vier Kreisverbände der sächsischen LINKEN entschlossen, sich redaktionell und finanziell an der Beilage „SachsensLinke!“ zu beteiligen. Das ist schon ein großer Schritt in Richtung Existenzsicherung, die umso leichter fällt, je mehr Kreisverbände diesem Beispiel noch folgen. Schon heute allerdings ist klar, dass der bisherige Seitenumfang unserer Zeitung nicht mehr ausreicht, um
sen immerhin mit fast 23 Prozent zu Buche schlägt, stellen die Neuregelungen allerdings nicht dar. Für viele Alleinerzie-
Bild: Katja / flickr.com / CC BY-ND 2.0
Die nächsten Bundestagswahlen werfen ihre dunklen Schatten immer sichtbarer voraus. Die amtierende Bundesregierung lässt nichts unversucht, um wenigstens noch einige besonders gravierende soziale Baustellen abzuräumen. Dazu zählt ohne Zweifel der seit vielen Jahren schwelende Konflikt um den Unterhaltsvorschuss. Nach monatelangem, von wenig Sachverstand zeugendem Hickhack scheint zumindest für die Bundesregierung die Kuh vom Eis und regelrechte Erfolgsgesänge waren aus Kreisen der großen Koalition zu vernehmen. Allerdings greifen die Neuregelungen nicht wie ursprünglich beabsichtigt per 1. Januar 2017, sondern nunmehr erst zum 1. Juli dieses Jahres. Schuld daran wären, so war aus Regierungskreisen zu vernehmen, die Kommunen. Deren Haltung wird allerdings verständlich, wenn man weiß, mit welch hohem Personalaufwand die Neuregelungen vor Ort umzusetzen sind. Anstatt die Kommunen erneut in den Regen zu stellen, hätte man deren Vertreter von Anfang an angemessen beteiligen müssen. Der Widerstand der Kommunen hat allerdings bewirkt, dass der Bund inzwischen einen höheren Betrag für das Verwaltungshandeln vor Ort bereitstellt. Nicht nur DIE LINKE, sondern auch Frauen- und Familienverbände sehen das erzielte Resultat freilich weitaus kritischer.
die zusätzlichen Kreisseiten aufzunehmen. Deshalb stocken wir nun auf. Ab sofort erscheint „Links!“ inklusive aller Beilagen im Gesamtumfang von 32 statt 24 Seiten, und das im ganzen Jahr – nicht nur wie bisher in den Doppelausgaben Januar-Februar und Juli-August. Wir hoffen, dass sich auch Ihr und Euer Lesevergnügen entsprechend vergrößern wird. Gleichzeitig steht der Redaktion nun mehr Platz zur Verfügung. Wir freuen uns also nicht nur über weitere Spenden, sondern auch über inhaltliche (Artikel)Angebote, die unser Blatt vielfältiger machen. Der kürzeste Weg zu uns: 0351-84 38 9773, redaktion@linke-bildung-kultur.de! Mit herzlichem Dank Die Redaktion
hende und ihre Kinder ändert sich nämlich überhaupt nichts, weil der Unterhaltsvorschuss als Einkommen gilt und zur
entsprechenden Absenkung der Hartz-IV-Leistungen führt. Immerhin beziehen in Sachsen mehr als 40 Prozent der Alleinerziehenden Arbeitslosengeld II oder die originäre Sozialhilfe. Selbst wenn ein Teil durch erhöhten Unterhaltsvorschuss aus dem Hartz-IV-Leistungsbezug generell herausfällt, entrinnen diese Familien noch lange nicht der Armut. Allerdings lässt sich so bei den Kosten des Bundes für Arbeitslosengeld II einiges sparen; und natürlich ist dies ein Beitrag zur Senkung der Zahl offiziell registrierter Arbeitsloser. Was will DIE LINKE? Auch für uns gilt der Grundsatz, dass beide Eltern für die finanzielle Versorgung ihrer Kinder verantwortlich sind und die selbst gewollte Verweigerung der berechtigten Unterhaltszahlung kein Kavaliersdelikt ist. Nur in den Fällen, dass Unterhaltsverpflichtete aus nachvollziehbaren Gründen nicht zur Zahlung in der Lage sind, muss der Staat
eingreifen, aber in der Tat darauf bedacht sein, sich die Vorleistungen vom Unterhaltsverpflichteten zurückzuholen. Diese so genannte Rückholquote ist in Sachsen relativ niedrig, was auch auf den hohen Personalaufwand in den kommunalen Verwaltungen zurückzuführen ist. Unser Hauptanliegen muss aber weiterhin darin bestehen, den Unterhaltsvorschuss nicht als Einkommen bei der Gewährung von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe anzurechnen. Im Übrigen wäre das auch keine Bevorzugung gegenüber Besserverdienenden, weil diese die Aufwendungen für ihre Kinder schon heute zumindest teilweise steuerlich geltend machen können. Erst wenn diesem Grundsatz Rechnung getragen worden ist, könnten auch wir den Daumen heben. Weil dies aber bewusst unterlassen wurde, bleibt die Neuregelung zum Unterhaltsvorschuss nichts anderes als eine Mogelpackung. Dr. Dietmar Pellmann
Thema: DIE LINKE und Europa
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„Für einen Neustart der EU streiten“ Zuerst natürlich nachträglich noch herzlichen Glückwunsch zur Wahl zum Präsidenten der Europäischen Linken. Wie kam es eigentlich dazu: Haben Sie gesagt „Das würde ich gern machen!“ oder hat Sie jemand gefragt „Könntest Du nicht...?“ Nachdem ich mich im Herbst 2015 entschied, nicht mehr für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren, kamen die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger auf die glorreiche Idee, dass meine bisherigen Vorsitze von Partei (PDS) und Fraktionen (PDS und DIE LINKE) seit 1989 noch steigerungsfähig seien. Angesichts der tiefgreifenden Krise in Europa, der Rechtsentwicklung und einer relativ schwachen Linken also eine Herausforderung, die mich reizt. Das Klima in der Bundestagsfraktion der LINKEN, die Sielange geführt haben, ist ja bekanntlich nicht gerade das eines Kurortes. Die Europäische Linke, mit ihren vielen Mitgliedsparteien, ist aber auch recht speziell. Brauchen Sie die Reibung? Präsident der Europäischen Linken zu sein, ist in jeder Hinsicht spannend. Es gibt die bekannten Konflikte, die schon damit anfangen, dass es Linksparteien in Europa gibt, die die Europäische Union ablehnen, sie für im Prinzip nicht reformierbar halten. Auch diese Parteien muss ich mit vertreten, ohne meine eigene Überzeugung aufzugeben. Aber es gibt unglaublich viele positive Momente. Schon allein aufgrund der völlig unterschiedlichen Geschichten, Traditionen, Brüche und Kulturen der Linksparteien ist es außerordentlich interessant und mit neuen Erkenntnissen verbunden. Könnte die angestrebte Zurückdrängung der Bedeutung der Nationalstaatlichkeit nicht doch auch eine emotionale Überforderung vieler Menschen sein? Wenn die europäische Integration für sehr viele Menschen als Bedrohung statt einer Bereicherung für ihr Leben betrachtet wird, wollen sie zurück zum Nationalstaat in der trügerischen Hoffnung, dass es mit ihm weniger Probleme gäbe. Wer wollte es den Millionen Arbeitslosen in Griechenland, Portugal und
Spanien, den von massiven Kürzungen betroffenen Rentnerinnen und Rentnern verdenken, dass sie von Kürzungsdiktaten einer dazu nicht legitimierten so genannten Troika aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank genug haben und den Nationalstaat vorziehen? Die vermeintliche Überforderung der Menschen kann nur durch einen grundlegenden Neustart der Europäischen Union überwunden werden, für den die Europäische Linke streiten
sammen dachte, wurde – Ende der siebziger Jahre – mit dem Satz zitiert: „Die Wurzeln der Gemeinschaft sind jetzt so stark, und sie reichen tief bis in die Erde Europas“. War Monnet da nur voreilig? Jean Monnet kannte den Neoliberalismus nur als eine verstaubte, alte Theorie aus den Lehrbüchern der so genannten freien Marktwirtschaft. Er hätte sich wohl nicht vorstellen können, dass diese Lehre nach einem regulierten Kapitalismus
tun, um im Wettbewerb mithalten zu können. Aber eine wirkliche Union muss man gestalten, nur mit Wettbewerb erreicht man das Gegenteil, wie wir heute sehen. DIE LINKE hat um ihre Positionen zu Europa, bzw. zur EU immer, teils heftig gestritten. Da war das Erstarken offen rassistischer Parteien mit nationalistischer Denke – zumindest in Westeuropa – in der Form, wie wir es heute erleben, so noch nicht absehbar.
muss. Nur wenn die EU solidarischer, sozialer, demokratischer, transparenter, unbürokratischer, ökologisch nachhaltiger und nicht militärisch wird und die neoliberale Ausrichtung auf Markt und Wettbewerb überwindet, wird sie auch an Akzeptanz bei vielen Bürgerinnen und Bürgern wieder gewinnen. Jean Monnet, als „Vater Europas“ bezeichnet, der immer Solidarität und ökonomische Instrumente der Politik zu-
der Angleichung der sozialen, ökologischen, steuerlichen und wirtschaftlichen Standards. Die Krise des Euro ist also nicht das Ergebnis eines Zuviel, sondern eines Zuwenig Europa. Die Kritik von Rechts und Rechtsaußen verläuft diametral entgegengesetzt und verbreitet die Illusion, dass man mit einem Zurück zum Nationalstaat die Probleme in einer globalen Welt lösen könne. Wir müssen das klare Gegenüber zu den Rechten bilden. Wenn die EU scheitert, dann nicht an den Linken, sondern an denen, die zu einem ethnisch begründeten Nationalstaat zurückkehren wollen. Sie sind ja ein Optimist – anders wären die vergangenen 26 Jahre für Sie wohl auch gar nicht auszuhalten gewesen. Woraus können Sie einen Optimismus für die Linke in Europa beziehen – ohne den ja Ihr neues Amt für die kommenden Jahre gar nicht auszuhalten wäre?
Bild: DIE LINKE / flickr.com / CC BY-SA 2.0
2016 wurde Gregor Gysi als Präsident der Europäischen Linken gewählt. Der leidenschaftliche Europäer beschreibt im Gespräch mit Uwe Schaarschmidt seine Visionen für ein gerechtes und soziales Europa.
mit Sozialstaatskompromissen die Welt so nachhaltig prägen würde. In Deutschland war Helmut Kohl der letzte leidenschaftliche Europäer alter Schule. Schon Gerhard Schröder war es nicht mehr, denn seine Agenda 2010 war ein Plädoyer für eine Wettbewerbs-Union, in der es galt, durch die Senkung von Unternehmens- und Vermögensteuern und die Kürzung von Sozialleistungen die europäischen Nachbarn unter Zugzwang zu setzen, es Schröder gleich zu
War DIE LINKE zu weich in ihrer Kritik an der EU und hat damit eine Lücke gelassen, in welche die Rechten hinein gestoßen sind? Auch in der Vergangenheit zählte DIE LINKE zu den schärfsten Kritikern an der Politik der EU. Wir warnten von Anfang an mit der Parole „Euro – so nicht!“ vor einer Gemeinschaftswährung ohne Fundament, nämlich einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik mit dem Ziel
In Bezug auf Europa und die weitere Integration setze ich vor allem auf die Jugend, auf die jüngeren Generationen, für die Europa schon ganz selbstverständlich geworden ist. Das bestätigen übrigens auch alle Meinungsumfragen in allen Mitgliedsländern der EU. Eine Rückkehr zu Pass- und Visumpflicht, Grenzkontrollen, zur Einschränkung der Freiheiten, als Bürgerin oder Bürger der EU in jedem Mitgliedsland arbeiten, studieren oder später auch als Rentnerin oder Rentner leben zu können, wäre für sie nicht hinnehmbar. Ich kann den Schock der jungen Menschen in Großbritannien über den Brexit und über sich selbst, weil viele dem Referendum fernblieben, gut verstehen.
Hintergrund
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Der Janusköpfige Richard Wagners ambivalentes Judenbild Jour fixe ist in sein drittes Jahr gestartet. Im Leipziger Domizil der Rosa-Luxemburg-Stiftung halten die einheimischen Historiker Klaus Kinner und Manfred Neuhaus, Begründer dieses „unkonventionellen Gesprächskreises“, eine Rückschau auf 20 gut besuchte und dokumentierte Diskursabende. Ihr Zeugnis vor wiederum vollem Haus: Jour fixe übertrifft ursprüngliche Erwartungen eines „gepflegten“ politkulturellen Gedankenaustausches. Engagierte Themen- und Kommunikationsprofis regen streitbare Debatten an, die auch bei schwierigen Fragen in gemeinsamen Erkenntnisgewinn münden. Fazit: Fortsetzung folgt. Nun also die 21. Auflage: Richard Wagner und das Judentum. Zu diesem immer noch heiklen, weil unterschiedlich bewerteten Thema legt der Literaturwissenschaftler Klaus Pezold Werner Wolfs Sicht dar. Bravourös, wie Pezold den verhinderten Musikwissenschaftler „werkgetreu“ mittels dessen Stichwortkonzept vertritt, ohne auf eigene sparsame Kommentierungen zu verzichten. Wie also hält es Leipzigs Nestor der Musikkritik mit Wagner? Um es vorwegzunehmen, wie etliche Kenner der Materie auch: Er stellt den Komponisten, sein Werk und seine Gesinnung in Zeit und Raum – und bilanziert Wagners Verhältnis zum Judentum als zwiespältig. Es changiere, je nach Gemütslage und/ oder eigener Kapitaldecke,
zwischen anbiedernder Judenfreundlichkeit und bösartigem Judenhass. Dieser Bericht kann Werner Wolfs systematisches und chronologisches Herangehen an die in Rede stehende Frage nur bruchstückartig und stark abstrahierend abbilden. Als junger Mann habe Wagner durchaus gute Beziehungen zu jüdischen Zeitgenossen unterhalten, solange sie seinen Hang zu luxuriösem Leben mit Geldzuwendungen unterstützten und seine Großmannsallüren ertrugen. Der jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer sei das Paradebeispiel für Wagners aus Antipathie wuchernden Antisemitismus, nachdem dieser ihm dreiste Darlehensforderungen verweigert hatte. Jetzt entpuppte sich der spätere geniale Ring-Schöpfer auch als kleinkarierter Charakter, der dem damals berühmtesten Opernkomponisten, seinem Mentor und Brückenbauer in seinen Pariser Jahren, den Erfolg neidete. In einem Brief an Franz Liszt schrieb er 1851: „Ich hasse ihn nicht, aber er ist mir grenzenlos zuwider. Dieser ewig liebenswürdige, gefällige Mensch erinnert mich, da er sich noch den Anschein gab, mich zu protegieren, an die unklarste, fast möchte ich sagen lasterhafteste Periode meines Lebens.“ Ähnliche Neidattacken galten Felix Mendelssohn-Bartholdy, obwohl der Nachfahre des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn längst protestantisch getauft war. Seine antijüdischen Positionen manifestierte Wagner in seiner Schrift „Das Judenthum
in der Musik“, 1850 noch unter Pseudonym, in der Neuauflage 1869 unter seinem Klarnamen. Wider besseres Wissen geiferte er darin, Juden seien künstlerisch unkreativ, sie könnten nur nachahmen und setzten auf bloße äußere Effekte. Wagners Herabwürdigung des Judentums ging über rote Haltelinien hinaus. Wenn Pezold mit Wolf konstatierte, Wagner sei unbestritten zum Antisemiten geworden, nicht aber zum Rassisten, muss an des Komponis-
ten eigene Worte erinnert werden: Juden gehörten nicht zu den Deutschen. „Der Jude hat etwas unangenehm Fremdartiges an sich“. Auch die Frage, ob sich Wagners Judenhass in seinen musikalischen Werken zeige, verneinte Wolf wie andere auch. Man könnte ihn, falls angelegt, nicht explizit nachweisen. Für den Wagnerexperten und Buchautor Jens Fischer hingegen („Richard Wagner und seine Wirkung“) durchzieht Wagners Ungeist
auch manches seiner Werke. Sein Verhältnis zum Judentum bleibt ein Desiderat musikwissenschaftlicher Forschung. Wie bei Jour fixe üblich, flankierte ein literarisches Pendant den Vortrag. Christine Pezold vom Richard-Wagner-Verband Leipzig stellte Ulrich Drüners 2016 erschienene Biographie „Richard Wagner. Die Inszenierung eines Lebens“ vor. An markanten Beispielen reflektierte sie die widersprüchlichen Rezensionen des 800-Seiten-Buches, die von Lob („großartige Biographie, die mit einigen Traditionen aufräumt“) bis zum Verriss („überflüssiges, ärgerliches Buch voller fragwürdiger Behauptungen“) reichen. Obwohl Drüner im Gegensatz zu anderen Wagner-Biographen Musiker und Musikwissenschaftler sei, spiele die Musik Wagners auch bei ihm „nicht die ganz große Rolle“. Drüners Ansatz, den „Mythos Wagner“ aufzulösen, führe mitunter zu weitschweifiger subjektivistischer Deutung ohne Beweiskraft. So interpretiere der Autor Wagners Antisemitismus als kreatives Aufputschmittel für sein Wohlbefinden. Der „Ring des Nibelungen“ bedeute ihm, obwohl die Nibelungen Wagners Abbild des Judentums seien, aber kein durchgängig antisemitisches Werk. Mit einigen zugespitzten Thesen, so die langjährige Wagnerianerin, erzeuge Drüner sicherlich Widerspruch. Seine materialreiche Darstellung und etliche Erstabbildungen machten das Buch aber zur empfehlenswerten Lektüre. Wulf Skaun
Bundespräsident Gauck geht – eine Bilanz Nach anfänglicher Verlegenheit wurde 2012 ein neuer Bewohner für Schloss Bellevue gefunden. Zuvor hatte man es mit zwei Teilzeit-Präsidenten zu tun. Erst musste Horst Köhler die Umzugskisten packen, nachdem er aussprach, was alle schon wussten, „in Afghanistan sei Krieg“. Und der andere, Christian Wulff – von dem der Satz bleiben wird, dass der Islam zu Deutschland gehört –, stolperte über eine zwielichtige Hausfinanzierung. Dann kam Gauck, der eine gesamte Amtszeit durchhielt. Wusste er die (nicht zu unterschätzenden) Möglichkeiten, die mit der Rolle des Staatsoberhauptes verbunden sind, klug zu nutzen? In den Augen der seit 2013 regierenden Großen Koalition dürfte er nicht allzu viel bis gar nichts falsch gemacht haben. Gauck war ein Mann, der
Schröders Agenda-2010-Politik verteidigte. Zur Rente mit 67 erklärte er, es gebe viele gute Gründe dafür. Folglich nannte er die Hartz-IV-Proteste töricht. So hörten wir von ihm nichts zu einer Sozialpolitik, die diesen Namen verdient. Schon auf einer Veranstaltung im Wiener Burgtheater (2010) äußerte der einstige Herr über die Stasi-Unterlagen, er teile die Sorgen bei der Vorratsdatenspeicherung, sehe aber nicht die Gefahr, dass die Bundesrepublik zum „Spitzelstaat“ werde. Weil sie es längst ist? Hinsichtlich der Militär-und Sicherheitspolitik dürfte Gauck auch ein Mann der ganz Großen Koalition gewesen sein. Denn auf der 51. Münchener Sicherheitskonferenz (2014) plädierte der einstige Pfarrer für eine fundamentale Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland müsse sich
international stärker engagieren – auch mit militärischen Mitteln. Eine vordergründige Propagierung ziviler Konfliktlösungen oder ein Nachdenken über zivile Konfliktvermeidung? Fehlanzeige! Was kam, war die Zustimmung der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, sowie vom Außenminister und Hartz-Architekten Frank-Walter Steinmeier. Auf die Kritik am Afghanistan-Einsatz entgegnete der Präsident, dass er den Einsatz „nicht gut, aber erträglich und gerechtfertigt“ finde. Dies möge er einer Mutter ins Gesicht sagen, die ihren Sohn oder ihre Tochter in diesem oder einem anderen Krieg verloren hat! Ein anderes Kapitel in Gaucks Amtszeit betrifft die Themen Rechtsextremismus, Pegida, Flüchtlingspolitik und die AfD. 2013 nannte er die NPD „Spinner“. Die Partei zog daraufhin
vor das Bundesverfassungsgericht, klagte gegen das Staatsoberhaupt und verlor. Eine andere Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen, hat der Bundespräsident allerdings versäumt. Hat er denn nicht die Chance gehabt, der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry den Verdienstorden der Bundesrepublik (für „Courage und Tatkraft im Bereich Forschung und Entwicklung“), der ihr 2012 verliehen wurde, abzuerkennen? In jedem Fall wären mehr Worte von der Staatsspitze in diesem Zusammenhang nötig und hilfreich gewesen. Ein Thema schien in all den Jahren ein Dauerbrenner im Reden und Denken von Joachim Gauck gewesen zu sein – die Freiheit. Das ist zunächst nicht gering zu schätzen. Wenn da nicht gewisse Systemfehler wären. Denn Freiheit ist nur dann vollkommen, wenn
sie von jedem, unabhängig von seiner sozialen Stellung, in Anspruch genommen werden kann. Materielle Existenzängste, Armut und schlechte Bildungschancen sind z. B. freiheitsberaubend, denn sie verhindern politische wie kulturelle Teilhabe. Diesen Widerspruch aufzulösen, geschweige denn ihn anzusprechen, das vermochte auch der geborene DDR-Bürger Gauck nicht. Mit einem anderen Blick hätte er vielleicht auch nicht die „Sicherheitsgesetze“ unterschrieben, die unter dem Eindruck terroristischer Anschläge auf seinen Tisch kamen. Mal sehen, ob Frank-Walter Steinmeier als neuer Bewohner des Schloss Bellevue Impulse in die Gesellschaft senden oder ob er nur als farbloser Grüß-August enden wird. Seine bisherige Vita macht skeptisch. René Lindenau
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Das sächsische Manchester „Was ist das schon wieder für eine Idee aus dem Rathaus?“, oder „Totaler Nonsens“, oder „Wieder ein flacher und teurer Versuch des Stadtmarketings, sich bundesweit zu blamieren“. So haben sicherlich viele gedacht, als bekannt wurde, dass Chemnitz sich um den Titel als europäische Kulturhauptstadt 2025 bewerben will. Doch es lohnt sich, diese Idee etwas näher zu beleuchten. Chemnitz ist einerseits eine Stadt, die stetig schwankt zwischen der Trägheit und Borniertheit einer provinziellen Kleinstadt und dem Anspruch, die dritte sächsische Metropole zu sein. Wir sind eine Stadt, die Urbanität leugnet und ihre Kinder vertreibt, wenn sie Krach machen und sich Freiräume jenseits reglementierter Lebens- und Freizeitgestaltung erschließen wollen. Chemnitz wird von Auswärtigen oft als grau, schlecht gelaunt, verschlossen und extrem verwaltungszentriert beschrieben – und eher als ostdeutsche Lachnummer statt als viertgrößte Stadt der östlichen Bundesländer wahrgenommen. Auf der anderen Seite ist Chemnitz eine Stadt der Gegensätze und der Superlative, eine Stadt auf den zweiten Blick – den auch die Bewohnerinnen nur selten riskieren. Architektonisch hat Chemnitz eine Menge zu bieten: Eine an den Geschmack des Klassizismus angepasste kleine Raubritterburg, ein mittelalterliches Kloster, eines der größten Gründerzeitviertel Europas, das drittgrößte Plattenbaugebiet der ehemaligen DDR und das in Gebirgslage mit Fernblick, einen großen Kopf und und und. Es gibt eben nicht nur „verfallende“ und wiederaufgeblühte Industriearchitektur und eine neue hoch verdichtete und von weltberühmten Architekten
Am 10. März 1952 unterbreitete die Sowjetunion in einer Note an die Westmächte den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland, das als einheitlicher Staat wiederhergestellt werden sollte. Nationale Streitkräfte wurden zugestanden, die Neutralisierung Deutschlands war die Forderung. Das geeinte Land in den auf der Potsdamer Konferenz (Juli 1945) festgelegten Grenzen sollte „sich als unabhängiger, demokratischer, friedliebender Staat entwickeln“ können. Die Streitkräfte aller Besatzungsmächte sollten „spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages aus
entworfene Mini-Innenstadt, wie sie von Aachen bis Wuppertal überall stehen könnte. Chemnitz ist mit vielen Traditionen verbunden. Es hat sich von einer kleinen Wegkreuzung am Erzgebirgsrand zu einer bedeutenden Arbeiter- und Industriestadt entwickelt. Hier gab es den ersten Frauenstreik, hier gab es starke Arbeiterorganisationen. Wir sind das Tor zum Erzgebirge und damit auch kulturell mit der Bergbautradition verbunden. Und auch vonseiten der Kunst haben wir viel zu bieten. Wir haben eine weltbekannte Oper, ein bundesweit renommiertes Theater und eine Kunstsammlung mit Seltenheitswert. Wir haben eine interessante Kunstszene, von einer off-Bühne über kleine Lesecafés bis zu einem Bandbüro und einem Bürgerradio. Und diese Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Chemnitz war und ist ein Brennglas europäischer Wandlungsprozesse und Integration. Viele Entwicklungen, die verschiedene Regionen Europas prägen, belasten und verän-
dern, fanden oder finden auch in Chemnitz statt. Die Stadt ist als „sächsisches Manchester“ nicht nur beispielgebend für die industrielle Revolution, sondern genauso für den postindustriellen Wandel, der sich hier durch Wiedervereinigung und Turbokapitalismus in atemberaubender Geschwindigkeit vollzog. Chemnitz steht damit auch für Schrumpfung und eine massive Veränderung der Altersstruktur, die uns schon den Titel der „Ältesten Großstadt Europas“ einbrachte. Und Chemnitz durchlebte in nur einem Jahrhundert fünf politische Systeme, ohne damit am Ende der Geschichte angekommen zu sein. Eine durch falsche Förderinstrumente der alten BRD künstlich herbeigeführte Zersiedlung der Stadt durch Eigenheimsiedlungen am Stadtrand hat nicht nur zur sozialen Entmischung der Bevölkerung beigetragen. Es hat uns auch die Gefahr der zunehmenden Entstädterung nahe gebracht und zu dem polemisch überzeichneten Bild des größten Dorfes Europas ge-
führt. Und was ist heute? Plötzlich wächst Chemnitz entgegen allen demografischen Prognosen wieder leicht, wird bunter und multikultureller. Ist nach dieser kurzen Bestandsaufnahme eine Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas vielleicht doch eine geile Idee? Führt uns dieses zum Teil sicher sehr negativ wirkende Bild nicht vor Augen, wie lebendig, wie pulsierend und wie europäisch unsere Stadt ist? Eine Bewerbung kann sogar unabhängig von ihrem Erfolg ungeheuer wichtig und nutzbringend für Chemnitz sein. Doch dazu muss die Stadt die Bewerbung in erster Linie als eine Möglichkeit einer gemeinsamen Verständigung aller BewohnerInnen über ihre Stadt und deren Zukunft sehen. Ein kollektiver Zukunftsdiskurs kann die Identität dieser Stadt festigen, ihr Bild in der Wahrnehmung der Menschen verändern und damit deren Bindung zu bzw. Identifizierung mit Chemnitz stärken. Und quasi nebenbei kann in so einem breiten Beteiligungsprozess ein
Reinecker-Werke, um 1917
Die Märznote von 1952 Deutschland abgezogen“ und „sämtliche ausländischen Militärstützpunkte auf dem Territorium Deutschlands liquidiert“ werden. Bis heute gehen unter Historikern, Politologen und Politikern die Meinungen darüber weit auseinander, wie dieses Angebot der Sowjetunion zu bewerten ist. So meint z. B. Werner Eberlein, „dass die UdSSR die DDR faktisch damals schon zur Disposition gestellt hatte“. Das Motiv für ihre Haltung sei „zweifellos im Sicherheitsbestreben der UdSSR begründet“ gewesen, die „um jeden Preis alle Voraussetzungen dafür schaffen (wollte), ein neut-
rales Deutschland zum Nachbar zu haben“. Andere sehen das völlig anders. Sie meinen, dass Moskau durchaus nicht bereit gewesen sei, die DDR aufzugeben, sondern lediglich durch einen „diplomatischen Wirbel“ die ohnehin schwierigen Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) aufhalten und nach Möglichkeit zum Scheitern bringen wollte. Für diese Annahme spricht, dass die Führung der SED im März 1952 eine Kommission bildete, die Thesen zur Perspektive der DDR erarbeitete. Am 31. März 1952 trafen Pieck, Grotewohl und Ulbricht in Moskau ein, um
mit der Führungsspitze der KPdSU innerdeutsche Problemstellungen zu beraten. Die Haltung der drei Westmächte widerspiegelte am deutlichsten eine Erklärung des britischen Außenministeriums, in der es hieß: „Jeder Plan, der zu einem neutralisierten, entmilitarisierten und nicht-besetzten Deutschland führt, muss abgelehnt werden“. Und weiter wurde erklärt, dass Großbritannien „eine Wiedervereinigung – selbst wenn sie auf demokratischer Grundlage zustande kommen würde – nicht riskieren“ könne. Das wollte auch Konrad Adenauer nicht. Für ihn gab es nur einen einzigen Weg:
Ideenpool entstehen, von dem Chemnitz viele Jahre lang profitieren kann. Darüber hinaus sehen wir in einem solchen Weg die einzige Möglichkeit, überhaupt (Außenseiter-)Chancen auf den Titelgewinn zu haben. Eine Bewerbung im Sinne der üblichen Kampagnen der OB und des Stadtmarketings – die ein Bild davon zeichnen, wie toll, vielfältig und lebenswert es hier sei – kann nicht funktionieren und wird von den hier Lebenden auch nicht angenommen und mit Leben erfüllt werden. Wenn sich Chemnitz als Stadt des Wandels, der Kontinuitäten und Brüche gleichermaßen zeigt und ihre Schattenseiten offen und kritisch einsetzt, dann könnte die Bewerbung tatsächlich funktionieren. Wichtig scheint es uns dafür zu verstehen, dass Kultur nicht nur Kunst, sondern das ganze Leben mit Wohnen, Spielen, Arbeiten, Bewegung und Sport umfasst. Es geht um Leben und Lieben, um das Aufziehen von Kindern, um das Jungsein und Altwerden in unserer Stadt. Und bei all diesen Fragen muss sich auch DIE LINKE als Partei und Stadtratsfraktion positionieren und eine praktische Utopie entwerfen, wie ein soziales, ein solidarisches, ein weltoffenes und urbanes Chemnitz aussehen soll und kann. Seien wir mutig und fordern wir mehr von unserer Stadt. Wir jedenfalls sehen die Idee zur Bewerbung als spannendes Projekt, das, wenn es richtig betrieben wird, Chemnitz wieder zu einem sächsischen Manchester entwickeln kann. Und übrigens: Manchester war nach der Desindustrialisierung eine schrumpfende Stadt, hat auf Kultur gesetzt und ist heute eine prosperierende Metropole in Großbritannien. Tim Detzner & Mike Melzer
Wiedervereinigung durch Westbindung. Die BRD sollte fest in das westliche Bündnis integriert werden und die Zukunft eines späteren einheitlichen Deutschlands verkörpern. Bleibt festzustellen: Der Notenwechsel zwischen der UdSSR und den Westmächten im Jahre 1952 führte zu keiner Annäherung beider deutscher Staaten. Im Gegenteil: Am 26. und 27. Mai 1952 erfolgte die Unterzeichnung des EVG- und des Deutschlandvertrages. Im Juni des gleichen Jahres beschloss die II. Parteikonferenz der SED den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR. Prof. Dr. Kurt Schneider
Marx und Trump
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Hätte Marx uns das erklären können? Karl Marx war nicht nur ein Kenner der amerikanischen Politik, sondern auch glühender Anhänger Abraham Lincolns und der Republikanischen Partei. Wie Tausende Deutsche übrigens, die sogenannten Forty-Eighters – jene „Achtundvierziger“, die nach dem Scheitern der Deutschen Revolution 1848/49 nach Amerika geflohen waren und sich dort später, im Bürgerkrieg, auf die Seite der Partei der Sklavenbefreiung und ihres Präsidenten stellten. „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird,“ schrieb Marx an Lincoln. Diese Begeisterung würde heute dem Entsetzen weichen. Denn aus der Partei der Sklavenbefreiung, in der sich einst deutsche Sozialisten engagierten, ist längst die Partei der ehemaligen Sklavenhalter geworden, in der auch Rassisten eine politische Heimat gefunden haben. Wie aber würde Karl Marx den Sieg Donald Trumps erklären? Das hinge im Einzelnen davon ab, aus welcher Perspektive er sich der Frage näherte. Aber ob als Kritiker der politischen Ökonomie, als Historiker und Politiker oder in seiner Eigenschaft als Journalist: Marx hätte den Blick auf den wirtschaftlichen Unterbau der Gesellschaft gerichtet und das Handeln der Akteure, und hier insbesondere der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, aus deren ökonomischen Interessen heraus zu erklären getrachtet. „Das Interesse denkt nicht, es rechnet. Die Motive sind seine Zahlen“, schrieb Marx bereits 1842 in den „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz“. Als Kritiker der politischen Ökonomie dürfte Marx zunächst analysiert haben, wie sich die kapitalistische Produktionsweise in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Denn während bestimmte Grundelemente – wie etwa das Profitstreben als Motor der Wirtschaft – den Kapitalismus definieren, gibt es doch ausgesprochen unterschiedliche Ausformungen der Kapitalakkumulation. Nicht jeder Kapitalismus trägt das gleiche Antlitz, und in den letzten Jahrzehnten hat sich – nicht nur, aber ganz besonders – in den USA viel verändert: die Internationalisierung der Finanz- und Warenmärkte etwa; die Transnationalisierung von Produktionsketten; die
durch Freihandelsabkommen verstärkte Herausbildung größerer Wirtschaftsräume; der Siegeszug der Computertechnologie und die Automatisierung der Produktion; die Deindustrialisierung in den alten Zentren kapitalistischer Produktion. Durch diese politisch gewollte Form der Globalisierung verschob sich das ohnehin schon große Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit, auch das zwischen Kapital und Politik, immer weiter zugunsten des Kapitals. Dabei konnte, zumindest für abhängig Beschäftigte, nichts Gutes herauskommen. Und so kam es denn auch: Während der Reichtum der Bourgeoisie geradezu obszöne Ausmaße
ressen, die sich unmittelbar gegen den von Hillary Clinton verkörperten Status quo richteten, zu artikulieren verstand. Mit seiner Agitation für „Law and Order“ und gegen Einwanderung, Freihandel, Umweltvorschriften und den mit der Globalisierung verbundenen kulturellen Wandel fand er eine soziale Basis vor allem bei Kleinunternehmern, Krisenverlierern und in der Landbevölkerung. Als Historiker und Politiker hätte Marx im nächsten Schritt den erbärmlichen Zustand der amerikanischen Demokratie schonungslos seziert. Er hätte auf den überbordenden Einfluss des Großen Geldes verwiesen, dem sich die Politik in Washington immer stärker zu
des Louis Bonaparte“. Diese rassistische Tradition hatte auch die hysterische Opposition der Republikaner gegen den ersten schwarzen Präsidenten wesentlich beeinflusst. Und Marx dürfte sich intensiv damit befasst haben, dass beide Parteien, Republikaner und Demokraten, vor allem die Interessen der amerikanischen Bourgeoisie im Blick haben. In den Worten Gore Vidals ausgedrückt: „Es gibt nur eine Partei in den Vereinigten Staaten, die Eigentumspartei… und sie hat zwei Flügel: republikanisch und demokratisch.“ Marx hätte genüsslich dargelegt, wie diese beiden „Flügel“, die sich mit Haut und Haar dem Neoliberalismus verschrieben ha-
annahm, verschlechterten sich die Reproduktionsbedingungen vieler abhängig Beschäftigter, verschärfte sich die soziale Spaltung und erodierte die soziale Sicherheit der Mittelschicht. Solidarische Formen der Vergemeinschaftung wurden zunehmend ausgehöhlt und ersetzt durch eine Atomisierung der Individuen in einer Gesellschaft, in der jeder sich selbst der nächste ist. Dieser Schwenk von einer Politik des New Deal zum Neoliberalismus hatte also eine Radikalisierung der Interessen zur Folge – sowohl auf Seiten vieler Arbeitnehmer, die unter den Folgekosten der neoliberalen Globalisierung leiden, als auch auf Seiten der Konzerne, die mit jedem Sieg über die organisierte Arbeiterschaft kühner wurden. Trump gewann die Wahl, weil er diese radikalisierten Inte-
beugen hat, und auf die damit verbundene Aushöhlung der Demokratie. Er hätte auf den undemokratischen Charakter der Institutionen verwiesen, der nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck kommt, dass der künftige Präsident nicht etwa durch eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen ins Amt gewählt wurde – er erhielt fast drei Millionen Stimmen weniger als seine Gegenkandidatin –, sondern durch eine Mehrheit der Stimmen im Electoral College. Dieses Wählmännergremium wiederum hätte der Historiker Marx auf seine Ursprünge als Institution zur politischen Absicherung der Sklaverei, ja sogar der Vorherrschaft der Sklavenhalter zurückgeführt. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden“, schrieb Marx im „18. Brumaire
ben, um die Gunst der Bourgeoisie wetteifern. Eine linke Alternative zu Neoliberalismus und Austeritätspolitik, wie sie kurzzeitig in der Kandidatur von Bernie Sanders aufflackerte, wurde mit vereinten Kräften aus dem Feld geschlagen, auf dass dem Volke auch weiterhin nur die Wahl bliebe, wie Marx in „Klassenkämpfe in Frankreich“ schrieb, „welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll.“ Gleichwohl sind die Interessen innerhalb der herrschenden Klasse keineswegs identisch. Ein großer Teil der Bourgeoisie, angeführt von den Service-Branchen (also Wall Street, Silicon Valley und Hollywood), stand hinter Clinton, weil man ihre Politik stärker im Einklang mit den eigenen Interessen wähnte. Diese Fraktion der Bourgeoisie hat die Wahl verloren. Und bereits ein Blick
Bild: Gage Skidmore / flickr.com / CC BY-SA 2.0
Deutungsversuche zur geschichtlichen Dimension des Machtwechsels in den USA
aufs künftige Kabinett illustriert, dass mit Trump nunmehr die Vertreter der Ölkonzerne die Regie übernehmen, unterstützt von Goldman Sachs und einer Hand voll Generälen. Gerade die Ölbranche, als der traditionell besonders rücksichtslose Flügel der amerikanischen Bourgeoisie, will offenbar unter keinen Umständen eine Schrumpfung der eigenen Profite dulden, die etwa aus der Einschränkung der Bohrlizenzen und Förderung erneuerbarer Energien resultieren. Lieber leugnet man den wissenschaftlich längst belegten Klimawandel. Schließlich hätte der Journalist Marx auch das Verhalten der Medien kritisiert, die rund um die Uhr über Trump berichteten und sich an jedem von ihm inszenierten Skandal und Skandälchen ergötzten, statt ihr Publikum mit Politik zu beschäftigen. Dass mit Trump der wohl größte Hochstapler und Betrüger aller Zeiten ins Weiße Haus einziehen wird, liegt nicht zuletzt im Rennen um höhere Einschaltquoten begründet. Einschaltquote ist allerdings der Deckname für Profit. Denn der primäre Zweck privatwirtschaftlich organisierter Medien besteht, wie bei jedem Unternehmen, nicht in der Aufklärung der Bevölkerung, sondern in der Profitmaximierung. Und im Dienste des Profits geriet die Aufklärung systematisch unter die Räder, wirkten die bloß moralischen Verurteilungen der Trumpschen Entgleisungen seltsam hohl, wenn nicht gar als verdeckte Zustimmung. Schließlich wollte man die sensationsgetriebene Explosion der Werbeeinnahmen auf keinen Fall gefährden. Wie formulierte es doch Leslie Moonves, der Vorstandsvorsitzende der CBS Corporation, eines der größten Medien- und Fernsehkonglomerate des Landes? „Mensch,“ sagte er, „wer hätte erwartet, dass wir jetzt einen solchen Lauf haben würden? Das Geld rollt rein, und das macht Spaß! Ich habe nie etwas Vergleichbares gesehen, dies wird ein sehr gutes Jahr für uns werden. Es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber: Los, Donald, zeig mir, was du drauf hast! Mach weiter! Es ist vielleicht nicht gut für Amerika, aber es ist verdammt gut für CBS.“ Dr. Albert Scharenberg ist KoDirektor des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Erstveröffentlichung: DeutschlandRadio Kultur, bit.ly/2j59dEC
Geschichte
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Rückschau zum 100. Jahrestag der Februarrevolution Die Ausgangssituation der linken bzw. linksorientierten Gruppierungen nach der Februarrevolution 1917 in Russland war weitgehend identisch (1). Ihre führenden Funktionäre, die in der Regel im Exil lebten, drängten, von der Nachricht über die Revolution überrascht, nach Russland. Kriegsbedingt war die Verbindung zusammengebrochen. „Nach Rußland sind sämtliche Verbindungen abgerissen“, schrieb Leo Martow am 28. Februar 1917 aus Zürich an seine Freundin Nadeshda, „keine Zeitungen, keine Zeitschriften, keine Briefe.“(2) „Aus Rußland bekommen wir nichts, nicht einmal Briefe!!“, hatte Wladimir Lenin am 13. März aus Zürich an Inessa Armand geschrieben. Zwei Tage später erschienen die Zeitungen mit Eilmeldungen über den Sieg der Revolution in Petrograd. Von einem Tag auf den anderen musste man umdenken. „Gestern schien es, als habe die Regierung GutschkowMiljukow bereits vollständig gesiegt und mit der Dynastie bereits Abmachungen getroffen. Heute stehen die Dinge so, daß keine Dynastie da ist, daß der Zar geflohen ist und offensichtlich die Konterrevolution vorbereitet! ...“ (3) Nachdem die Provisorische Regierung am 10. (23.) März Maßnahmen zur Unterstützung der amnestierten politisch und religiös Verfolgten bekanntgegeben hatte, begann die Rückkehr von Inhaftierten, Verbannten und Emigranten in das politische Leben. Doch wegen des Frontverlaufs war es so gut wie unmöglich, Russland auf dem kürzesten Landwege zu erreichen. Die im Ausland festsitzenden Sozialdemokraten baten ihre Genossen in Russland immer wieder um Hilfe. Die Mitglieder des Auswärtigen Sekretariats des Organisationskomitees der Sozialdemokratischen Partei Russlands wandten sich im April mit einem Brief an den Vorsitzenden des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees. Eine Woche darauf veröffentlichte die in Zürich erscheinende Zeitung „Volksrecht“ eine weitere Erklärung „Zur Rückkehr der russischen politischen Flüchtlinge“. Die dem Exekutivausschuss angehörenden Mitglieder stellten darin fest, dass es bisher „wohl keinem einzigen Emigranten gelungen ist, nach Rußland zu gelangen“.(4) Lenin war dieser fruchtlosen Verhandlungen überdrüssig
und verließ die Schweiz, ohne das Ende der Verhandlungen mit der russischen Regierung und eine Einverständniserklärung abzuwarten. Mit ihm reisten 38 Personen. Die Zeitung „Volksrecht“ berichtete über den Stand der Dinge: „Zwecks Vorbereitung und Leitung der Rückkehr aller in der Schweiz weilenden russischen Flüchtlinge nach Rußland ist in Zürich auf die Initiative des Zentralsekretariats der russischen Emigrantenkassen in der Schweiz ein Zentralkomitee [am 23. März - W.H.] gebildet worden, in dem außer dem genannten Zentralsekretariate die Vorstände der Schweizer Liga zur Unterstützung politischer Gefangener und Verbannter Rußlands, des ‚Krakauer Verbands‘, des Vereins ‚Vera Figner‘ sowie die Zentralinstanzen der verschiedenen sozialistischen und revolutionären Parteien Rußlands vertreten sind.“ Die Verhandlungen schleppten sich hin. Die russische Regierung unternahm nichts. In den Generalkonsulaten waren die Porträts des Zaren abgehängt, doch Ausflüchte der Beamten und Streitereien mit ihnen waren an der Tagesordnung. Erst
nicht bloß an den Intrigen der Konsularbeamten des alten russischen Regimes, sondern auch an einer geheimen Kampagne der englischen und französischen Regierungen gegen die ‚russischen Pazifisten‘. Während der Agent der Bourgeoisie, Herr Plechanoff, in der Begleitung von Agenten der englischen und französischen Bourgeoisie, nach Rußland heimkehrt, werden Tausende von Russen in Frankreich, England und in der Schweiz zurückgehalten und keine Depesche an den Petersburger Delegiertenrat erreicht ihren Bestimmungsort.“ Die Februarrevolution 1917 gab Plechanow nach langem Exil im Alter von 60 Jahren endlich den Weg nach Rußland frei. Er lebte damals mit seiner Familie in einem von seiner Frau Rosalija Markowna geleiteten Sanatorium in San Remo, als er am Morgen des 14. März 1917 vom Ausbruch der Revolution in Russland und dem Sturz des Zaren Nikolaus II. erfuhr. Die Freude unter den russischen Emigranten, die im Sanatorium Unterkunft und Heilung fanden, war außerordentlich groß. Vor den Tafeln mit den Aushängen wurden
schnell wie möglich in die Heimat zurückzukehren. „Kommen Sie, wir brauchen Sie hier!“ Und es drängte ihn auch selbst zurück. Obgleich die Jahreszeit für seinen Gesundheitszustand sehr ungünstig war, schloss er sich am 25. März einer internationalen Sozialistendelegation an, die die Reise nach Russland antrat. Die Fahrt von San Remo nach Paris nahm 18 Stunden in Anspruch. Von hier aus reisten sie nach drei Tagen mit der Delegation weiter nach England und Skandinavien. Plechanows Ankunft wurde auf Bitten der Delegation geheim gehalten. In London schlossen sich auch englische Sozialisten der Reisegruppe an. Von Schottland aus erreichten sie auf einem Handelsschiff nach 36 Stunden Bergen. Von hier aus ging es über Torneo und Christiania weiter, wo die Delegation gegen Mitternacht eintraf. Das erste vernünftige Quartier fanden sie in Stockholm. Hier kam es zu einer Begegnung mit dem Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Hjalmar Branting, der gerade auf dem Rückweg aus Petrograd war. Branting und die Offiziere, mit denen Plechanow
Demonstration in Petrograd, 1917
nachdem der Petrograder Sowjet Druck auf die Regierung ausgeübt hatte, wies diese die Konsulate in London und Paris an, die Emigranten nicht mehr abzuweisen. Die englische Regierung erklärte sich bereit, täglich fünf Emigranten aus Paris aufzunehmen und mit den entsprechenden Visa auszustatten. „Seit den ersten Tagen der Verkündung der politischen Amnestie in Rußland scheiterten alle von den in der Schweiz, in Frankreich und England wohnenden Russen unternommenen Versuche zur sofortigen Heimkehr
die Ereignisse in Russland und deren Auswirkungen auf den Kriegsverlauf diskutiert. Einige Italiener sahen die Ursache der Revolution im Unwillen der Russen, weiter Krieg zu führen. Plechanow wies diese Argumente als Beleidigung des russischen Volkes zurück und versuchte ihnen zu erklären, dass das freie Russland nun sein Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen und die deutschen Angreifer besiegen könne. Tag für Tag trafen Telegramme ein, in denen er immer dringender aufgefordert wurde, so
sprechen konnte, berichteten über die unter den russischen Soldaten zunehmend Gehör findende Antikriegspropaganda der Zimmerwalder Linken. Auf den Stationen traf Plechanow Sozialdemokraten, die der Gruppe entgegengefahren waren. N. I. Jordanski brachte den Reisenden die ersten Ausgaben der Zeitung „Jedinstwo“, deren Redaktion Plechanow dann kurze Zeit später übernahm. In der Nacht zum 31. März (13. April) fuhr der Zug unter den Klängen der Marseillaise in Petrograd auf dem Finnländischen Bahnhof ein.
Am Tag der Rückkehr Plechanows aus der Emigration traf in Stockholm die Gruppe um Lenin ein. Am 2. und 3. (15. und 16.) April sprach Plechanow bereits auf der Gesamtrussischen Beratung der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten im Taurischen Palais. Die Delegierten feierten die Rückkehr der vor der Verfolgung geflohenen Revolutionäre in die Heimat. Tschcheïdse, der die Beratung eröffnete, sagte unter dem Beifall der Delegierten: „Heute ist Nikolaus II. in Haft und der von ihm außer Landes getriebene Plechanow sitzt unter uns in der ersten Reihe.“ Auch Lenins Ankunft wurde gefeiert. Der Zug traf am 3.(16.) April um 23.10 Uhr auf dem Finnländischen Bahnhof ein. Neben den Vertretern des Sowjets waren die aus der Verbannung zurückgekehrten Dumaabgeordneten und ZKMitglieder vertreten, die innerhalb von drei Wochen den Parteiapparat reaktiviert und die Herausgabe der Parteizeitung „Prawda“ organisiert hatten. Anders als Plechanow ging Lenin sofort mit seinen zur Begrüßung erschienen Genossen ins Gericht. „Was für Zeug steht denn in Eurer ‚Prawda’“, wandte er sich an deren Chefredakteur Kamenew. Als er auf dem Bahnhofsvorplatz dann doch eine kurze Ansprache hielt, ließ er zum Erstaunen seiner Genossen die sozialistische Revolution hochleben. (5) Wladislaw Hedeler Literatur: (1) Angaben zu 534 in sechs größeren Gruppen nach Rußland zurückgekehrten Emigranten: Die Rückkehr der Emigranten nach der Februarrevolution 1917 nach Rußland. Pankower Vorträge Heft 205, Helle Panke e.V. 2016, 55 S. (2) Julij Osipovič MartovNadežda Samojlovna Kristi, 28.2.1917. In: 1917 častnye svidetel’stva o revoljucii v pis’mach Lunačarskogo i Martova. Moskva 2005, S. 139. (3) W. I. Lenin an Alexandra Michailowna Kollontai, 17.3.1917. In: W. I. Lenin: Briefe, Berlin 1967, Bd. IV, S. 400. (4) Volksrecht, 10.4.1917, Nr. 82, S. 3, 4. (5) Plechanow wies Lenins Überlegungen als Fieberphantasien zurück. Vgl. hierzu: Georgi Walentinowitsch Plechanow: Zwischen Revolution und Demokratie. Artikel und Reden 1917 – 1918. Hrsg., kommentiert und übersetzt von Wladislaw Hedeler. Berlin: BasisDruckVerlag 2016, 351 S. ISBN 978-3-86163-155-2
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Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Termine Chemnitz, 7. März, Dienstag, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: „Die Szene ist nicht mehr das, was sie einmal war.“ Israelische Jugendkulturen im Crashkurs***. Tage der jüdischen Kultur. Mit Gabriel S Moses (Comiczeichner und Schriftsteller, geboren in Jerusalem). Club der Kulturen, Thüringer Weg 3, 09126 Chemnitz Chemnitz, 9. März, Donnerstag, 19.00 Uhr Vernissage: „Über Politik eine Platte machen“ - Schallplattencover als Streetart der Warenwelt***. Mit Salon Orthodox. Eine gemeinsame Veranstaltung des Haus Arthur e.V. und der RLS Sachsen. Haus Arthur, Hohe Str. 33, 09112 Chemnitz. Führungen werden hier bekannt gegeben: facebook. com/GalerieMedusaChemnitz Leipzig, 9. März, Donnerstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Antihumanismus und Intoleranz, Humanitas und Toleranz – eine Hommage an den Leipziger Mediävisten Ernst Werner (1920−1993). REIHE: Jour fixe Ein ungewöhnlicher Gesprächskreis. Mit Prof. Dr. Sabine Tanz, Prof. Dr. Klaus-Peter Matschke. Moderation: Klaus Kinner und Manfred Neuhaus RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Bautzen, 10. März, Freitag, 18.00 Uhr Themenabend: Die Rolle der Frauen im Spanischen Bürgerkrieg. Mit Anita Kochnowski, Karla Popp (Berlin) und MdL Heiko Kosel (Historiker). Moderation: Sieghard Kosel (Publizist). Stadtbibliothek Bautzen, Schloßstraße 10/12, 02625 Bautzen Leipzig, 12. März, Sonntag, 15.00 Uhr (Einlass ab 14.00 Uhr) Musikalische Lesung: „Meine unruhigen Jahre“***. Mit Matti Geschonneck und Sebastian Krumbiegel. Moderation: Griseldis Wenner. Eine Veranstaltung des Erich-Zeigner-Haus e.V. gemeinsam mit dem DGBRegion Leipzig – Nordsachsen, DGB Stadtvorstand Leipzig, BdA
Impressum Links! Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Herausgeber: Dr. Monika Runge, Verena Meiwald, Prof. Dr. Peter Porsch, Dr. Achim Grunke Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e. V., Kleiststraße 10a, 01129 Dresden
Leipzig, RLS Sachsen und dem Felsenkeller. Felsenkeller (Naumanns), KarlHeine-Straße 32, 04229 Leipzig Eintritt: 14 €, Vorverkauf: 12 €, ermäßigt 9 € (zuzügl. Vorverkaufsgebühr) Chemnitz, 14. März, Dienstag, 17.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Über jüdische Krimis***. Tage der jüdischen Kultur. Mit Dr. Hartmut Gorgs (Dramaturg). Eine gemeinsame Veranstaltung der RLS Sachsen und des Soziokulturellen Zentrum querbeet. Soziokulturelles Zentrum querbeet, Rosenplatz 4, Chemnitz Dresden, 15. März, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Das Netzwerk Care Revolution: Ziele, Arbeitsweise, Vorhaben***. Mit Dr. Viola Schubert-Lehnhardt (Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ethik und Geschichte der Medizin der Martin-LutherUniversität Halle). WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Chemnitz, 15. März, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Rosa Luxemburg und der Antisemitismus***. Tage der jüdischen Kultur. Mit Holger Politt (Fokusstelle Rosa Luxemburg). Eine Veranstaltung der RLS Sachsen in Kooperation mit der Volkshochschule Chemnitz. Veranstaltungssaal, dasTietz, Moritzstraße 10, Chemnitz Nicht oft hat sich Rosa Luxemburg zum Antisemitismus geäußert. Sie hielt die Frage innerhalb der Arbeiterbewegung für eine gelöste. Doch 1910/11 rüttelte eine antisemitische Kampagne in ihrer Heimat die Publizistin wach. In mehreren Beiträgen für polnische Zeitungen setzte sich Luxemburg ausführlicher mit dem Antisemitismus auseinander. Im Kern ging es den damaligen Antisemiten um die provozierende Frage, ob Polens Arbeiter von Juden geführt werden dürften. Über Hintergründe dieser antisemitischen Kampagne gegen Rosa Luxemburg und Genossen spricht Holger Politt. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 10.950 Exemplaren gedruckt.
Leipzig, 18. März, Sonnabend, 11.00 Uhr Mitgliederversammlung der RLS Sachsen. Arbeit und Leben, Löhrstraße 17, 04105 Leipzig Dresden, 21. März, Dienstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Literarische NSU aus Dresden***. Ein Kleinverlag, die Identitären und die Wiederkehr der Konservativen Revolution. REIHE: Junge Rosa, im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus Mit Volkmar Wölk (Publizist). WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Volkmar Wölk stellt die These auf, dass wir gegenwärtig eine Renaissance des Denkens der antidemokratischen „Konservativen Revolution“ in ganz Europa erleben. Erstmals greifen dabei junge Aktivist*innen der extremen Rechten in Deutschland auf Denkansätze aus ganz Europa zurück. Genutzt werden vor allem Strategien und Ideologien, die besonders in Frankreich schon seit Jahrzehnten entwickelt wurden. Mit gehöriger Verspätung haben nunmehr auch ihre deutschen Kamerad*innen sie entdeckt und es wird deutlich, dass es sich nicht um irgendwelchen „Populismus“ handelt, sondern um Faschismus in seiner Reinform. Chemnitz, 21. März, Mittwoch, 19.00 Uhr Filmvorführung und Gespräch: Dieser eine gemeinsame Tag*** REIHE: „Rosa trifft Lila”. Mit Beate Kunath (Regisseurin). Komplex, Zietenstraße 32, 09130 Chemnitz Stellt man sich nicht gelegentlich die Frage, wie es einem ergangen wäre, wäre man in einem anderen Land am selben Tag im selben Jahr geboren? Mit dieser Frage im Gepäck spürt die Chemnitzer Filmemacherin Beate Kunath in neun persönlichen Porträts den Erfahrungen von Frauen aus den Partnerstädten ihrer Heimatstadt nach. Die Frauen kommen unter anderem aus Finnland, China, Frankreich, Russland und den USA. Was sie über alle Grenzen hinRedaktion: Kevin Reißig (V.i.S.d.P.), Jayne-Ann Igel, Ute Gelfert, Ralf Richter. Kontakt: redaktion@linke-bildung-kultur.de Tel. 0351-84389773 Redaktionschluss: 22.02.2017 Die nächste Ausgabe erscheint am 31.03.2017.
weg verbindet, ist der gemeinsame Geburtstag am 18. September 1967. Dresden, 23. März, Donnerstag, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Antisemitismus und Verschwörungsdenken***. Mit Dr. Gideon Botsch (Politikwissenschaftler). Eine Veranstaltung des HATiKVA e.V. mit Unterstützung der RLS Sachsen. HATiKVA, Pulsnitzer Straße 10, 01099 Dresden Teilnahmegebühr: 3,00 €, ermäßigt: 2,00 € Werden wir alle systematisch belogen? Fallen die Entscheidungen, die das Schicksal der Menschheit bestimmen, im kleinsten Kreis einer Machtelite? Kontrolliert das Bankhaus Rothschild die Weltwirtschaft? Und sind die Rothschilds nicht Juden? Dr. Gideon Botsch skizziert die Beziehung zwischen verschwörungsmystischem Denken und Judenfeindschaft. Leipzig, 23. März, Donnerstag, 18.30 Uhr Vortrag und Diskussion: Zur Renaissance der europäischen Konservativen Revolution***. REIHE: Rosa L. in Grünau. Mit Volkmar Wölk. Komm-Haus, Selliner Str. 17, 04207 Leipzig (barrierefrei) Leipzig, 23. März, Donnerstag, 18.00 Uhr Buchvorstellung im Rahmen von „Leipzig liest”: Dritte oder vierte Industrielle Revolution, digitale Revolution oder Industrie 4.0? Mit dem Herausgeber Dr. Dieter Janke. In Kooperation mit dem VSA-Verlag. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im 21. Jahrhundert war Gegenstand eines Kolloquiums der RLS Sachsen 2016 in Leipzig. Die dort diskutierten Vorträge haben die beiden Herausgeber Dieter Janke und Jürgen Leibiger im Hamburger VSA: Verlag unter dem Titel „Digitale Revolution und soziale Verhältnisse im 21. Jahrhundert“ nun als Flugschrift veröffentlicht. Sie Die Zeitung „Links!“ kann kostenfrei abonniert werden. Wir freuen uns jedoch über eine Spende, mit der Sie das Erscheinen unserer Zeitung unterstützen. Kostendeckend für ein Jahresabo ist eine Spende in Höhe von 12 Euro. Sollten Sie an uns spenden wollen, verwenden Sie bitte folgende Kontodaten:
stellen das Buch vor und wollen zugleich weitergehende Fragestellungen ansprechen, z.B. welche Stellung das neue „digitale Proletariat“ einnimmt und was das für die heutigen und künftigen Klassenverhältnisse und Klassenkämpfe bedeutet. Leipzig, 24. März, Freitag, 19.00 Uhr Buchvorstellung und Diskussion: „Feindbild Russland“. REIHE: Deutsche und Russen, Russen und Deutsche***. Mit dem Autor Hannes Hofbauer. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Dresden, 24. - 26. März, Freitag bis Sonntag, 17.00-20.00, 10.00-17.00, 10.00-14.00 Uhr Workshop: „Kann es denn rassistisch sein, wenn ich es nicht rassistisch meine?“*** Praxisworkshop: Rassismus erkennen und rassistische Strukturen transformieren. Im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus. Mit Manjiri Palicha und André Vollrath. Eine gemeinsame Veranstaltung des WIR e.V., des Europabüro Dr. Cornelia Ernst, der RLS und der RLS Sachsen. WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Leipzig, 28. März, Dienstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Der Begriff Solidarität. REIHE: Philosophische Dienstagsgesellschaft***. Mit Prof. Dr. Thomas Kater, Moderation: PD Dr. Peter Fischer. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Leipzig, 30. März, Donnerstag,19.00 Uhr Diskussionsabend: Risiken und Nebenwirkungen von (politischer) Lohnarbeit. REIHE: Dabei bleiben - alles eine Frage der Organisierung!? Eine Veranstaltung der Gruppe „Leipziger Salon gegen den Ausstieg“ in Kooperation mit der RLS Sachsen. UT Connewitz, Wolfgang-Heinze-Straße 12A, 04277 Leipzig *** in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V. Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V. IBAN: DE83 8509 0000 3491 1010 07 BIC: GENODEF1DRS Bank: Dresdner Volksbank Raiffeisenbank Aboservice: www.links-sachsen.de/abonnieren, aboservice@links-sachsen.de oder 0351-84 38 9773
Rezensionen
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03/2017 Links!
Es gilt noch immer, Wolfgang Harich zu entdecken Wolfgang Harich, geboren 1923 in Königsberg, war der bedeutendste Vertreter der marxistisch geprägten intellektuellen sozialistischen Opposition in der DDR. Davon zeugt auch der jüngst erschienene Band „Wolfgang Harich: Frühe Schriften“. Dieselben sollen in drei Bänden veröffentlicht werden. Im ersten Teilband behandelt Herausgeber Andreas Heyer den jungen Harich zwischen 1946 bis 1956. Es sind Jahre der Annäherung an den Marxismus, der Parteinahme für die Entwicklung in der SBZ und die mit Gründung der DDR eingeleitete neue Politik. Doch innerhalb weniger Jahre ging er auf Distanz und wendete sich auch von früheren Überlegungen ab. „Die Entfernung Harich von der Politik der DDR“, schreibt Heyer, „war beiderseitig motiviert.“ Während die SED begann, Meinungen und Ansichten zu dogmatisieren, verteidigte Harich die Meinungsfreiheit. Dem folgen, auf Wunsch von Anne Harich, Briefe an Ina Seidel von 1941/1942, Ausdruck seiner Hoffnungen in den Kriegszeiten. Ihnen schließt sich an die von Harich verfasste Biblio-Biographie vom 3. Februar 1991, ergänzt durch eine Autobiographie von 1965. Es folgen Angaben zu seinen Lehrern und das autobiographische Fragment „Widerstand und Neubeginn im zerstörten Berlin“. Im Weiteren behandelt Heyer, anhand von Harichs Artikeln in der Weltbühne 19461950, die Grundsteinlegung einer politischen Philosophie. Dem schließt sich sein am 24. Juni 1948 abgeschlossenes 114-seitiges Manuskript „Ursprung des Kommunismus“ an. Der inhaltsreiche Band endet mit seiner an der Berliner Humboldt-Universität von 1949 bis
1951 gehaltenen Vorlesungsreihe „Dialektischer und historischer Materialismus“, abgedruckt auf 203 Seiten. Für den zweiten Teilband ist die Veröffentlichung der Dissertation Harichs über Herder, die er an der Humboldt-Universität 1951 verteidigte, vorgesehen. Der dritte Teilband soll kleinere Texte und Manuskripte, darunter Reden und Vorträge vom Ende der vierziger Jahre sowie Dokumente zur Gründungsgeschichte der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, deren Mitbegründer und Chefredakteur er war, enthalten. Politisch hatte sich Harich für die Sowjetische Besatzungszone und für die spätere DDR entschieden. In keiner Phase war er einer ihrer Gegner. Kritik übte er am praktizierten autoritären Sozialismus. Seine Frau Anne, als Universalerbin eingesetzt, schreibt darüber in ihrem Geleitwort: „Er fühlte sich geradezu berufen, sein erworbenes Wissen auf dem Gebiet der Philosophie, Geschichte und Literatur an andere, möglichst lebend, weiterzugeben, selbstverständlich nach eigenen Erkenntnissen, beruhend auf marxistisch-leninistischer Grundlage. Er ließ sich da nicht hineinreden, verteidigte seine Standpunkte, wenn er davon überzeugt war.“ Sie fügt hinzu: „Das machte ihn unbeliebt und politisch unbequem, besonders bei der Parteiintelligenz, obwohl Harich ihr Genosse war. Er wusste um seine Widersacher, die schlecht über ihn redeten, um ihm zu schaden, er lebte damit, er ließ sich nicht davon beirren.“ Seine leidenschaftlich vertretene positive Wertung und Interpretation Hegels – „Ich lasse mir auf Hegel nicht scheißen!“ – und die klassische deutsche Philosophie
generell, die sich im Gegensatz zur sowjetischen Auffassung befand, löste eine breite Debatte aus. Harich jedoch wird die „Mißachtung der Einschätzung Hegels durch Stalin“ und eine „Überheblichkeit gegenüber der Sowjetunion“ vorgeworfen, die 1953 zu einer Parteistrafe (schwere Rüge) führen. Gekennzeichnet durch dramatische internationale Ereignisse markierte das Jahr 1956 eine Zäsur. In dieser Situation findet auf Initiative von Wolfgang Harich, Ernst Bloch und Georg Klaus im März in Berlin die hochkarätig besetzte Konferenz „Das Problem der Freiheit im Lichte des Wissenschaft-
lichen Sozialismus“ statt, die darauf zielte, Kernfragen der philosophischen Neubestimmung nach dem XX. Parteitag der KPdSU in Gang zu bringen. Harich agierte wie kein anderer, wagte außerordentlich viel. Genannt sei vor allem seine Denkschrift „Studien zur weltgeschichtlichen Situation“ (1956), bekannt als „Memorandum für Botschafter Puschkin“, die sich dagegen wandte, den Stalinismus auf den Personenkult einzuengen. „Der Stalinismus“, erklärte er, „ist ein ganzes System der Verzerrungen der marxistischen Theorie und Praxis“, womit er weit über die Aussagen des XX. Parteitages
der KPdSU und die Erklärungen der SED hinausging. Und im November 1956 entwirft er die „Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“, die erst 1993 bekannt wird. Letztere war auf die tiefgreifende Entstalinisierung der DDR und die Schaffung von Voraussetzungen für die „Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage der Demokratie, des Sozialismus und der nationalen Souveränität“ gerichtet. Angesichts der politischen Krise, in der sich 1956 die europäischen sozialistischen Staaten befanden, und der zunehmenden Kriegsgefahr, reagierte die SED-Führung stark verunsichert und äußerst sensibel. Am 29. November 1956 wurde Harich verhaftet und im März 1957 durch das Oberste Gericht der DDR wegen „Bildung einer konterrevolutionären staatsfeindlichen Gruppe“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Davon verbüßte er sechs Jahre, bis er im Zuge der Amnestie zum 15. Jahrestag der DDR 1964 frei kam. Den Beitritt der DDR zur BRD sieht Harich äußerst kritisch. Nach kurzzeitigem Engagement für die Gründung einer ostdeutschen Partei wird er Mitglied der PDS. Als Antwort auf die von Rainer Eppelmann geleitete Enquete-Kommission gründete er die AEK. Am 15. März 1995 verstarb Harich. Insgesamt zeigt der Band 1.1, dass Harich bereits bis zu seiner Zuchthausstrafe kein kritikloser Diener der Politik war. Er war nicht bereit, das eigene, freie Denken und Handeln aufzugeben. Die Veröffentlichung des Bandes wurde gefördert durch die Rosa-LuxemburgStiftung, gedruckt mit Mitteln der Heinrich-Böll-Stiftung. Prof. Dr. Kurt Schneider
Film(Nach)Betrachtung: „Gewissen in Aufruhr“ Manche Dinge drängen sich immer wieder auf. Dazu gehören Filme, die sich ins Gedächtnis eingraben: wie der fünfteilige DDR-Spielfilm „Gewissen in Aufruhr“ von 1961, der auf dem Leben von Rudolf Petershagen beruht. In den Hauptrollen – dem Ehepaar Ebershagen – waren Erwin Geschonneck und Inge Keller zu sehen. Der Protagonist beginnt sein „Spiel“ als Oberst in der Hölle Stalingrads. Er entkommt dem Kessel als Verwundeter mit einer der letzten Maschinen. Ob die Kämpfe, Erlebnisse bei seinem Urlaub, Begegnungen im Lazarett mit einem SS-Offizier – das alles lässt den Oberst über Sinn und Unsinn dieses Krieges nachdenken. Als er
1945 als „Kampfkommandant“ seiner Heimatstadt Greifswald eingesetzt wird, bereitet er die kampflose Übergabe der Stadt an die Rote Armee vor. Die Bürger danken es ihm und machen ihn später zum Ehrenbürger. Doch zunächst folgt die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Hier wird er von vermeintlichen Kameraden ausgegrenzt. Sie werfen Ebershagen die Übergabe Greifswalds und seine inzwischen kritische Haltung zum Krieg vor. Doch auch das sollte er überstehen, selbst einen Mordanschlag jenes SSOffiziers aus dem Lazarett. Dem folgt ein „verwaltungstechnisches“ Zwischenspiel. Das sozialistische Aufbauwerk kann beginnen – Ebershagen
als Kreisrat auf Usedom. Doch als er einer Einladung von alten Kameraden folgend 1950 auf „Westreise“ geht, verfängt er sich in Intrigen westlicher Geheimdienste. Als es denen selbst mit schäbigen Erpressungsversuchen nicht gelingt, den DDR-Bürger für die Wiederbewaffnung Westdeutschlands einzuspannen, hängt man ihm eine fingierte Anklage wegen Menschenraubs an. Das Urteil: sechs Jahre Zuchthaus in der „freien Welt“. Wieder ist er eingesperrt, erneut lange getrennt von seiner Frau. Mit einer Reihe von Wehrmachtsgenerälen und SS-Schergen schickt man ihn ins Kriegsverbrechergefängnis Landsberg. Bezeichnend für das neue Denken der Adenau-
er-Republik; die hohen Herren von Wehrmacht und SS durften das Gefängnis eher verlassen als derjenige, der von ihresgleichen in den letzten Kriegstagen in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Und der SS-Offizier aus einem Lazarett steht eines Tages als Mitarbeiter des bayerischen Justizministeriums vor seiner Zellentür. Nur wegen Ebershagens schlechter Gesundheit hat der Spuk drei Jahre vor dem Ablauf der Haftdauer ein Ende. Die letzte Szene zeigt die Ebershagens. Er geht durch die damals noch offene Grenze am Brandenburger Tor auf sie zu, sie rennt auf ihn zu – wiedervereint! Inzwischen ist die DDR Geschichte, deren Ende das his-
torische Vorbild Rudolf Petershagen aufgrund seines Todes 1969 nicht erlebte. Das Film-Ehepaar Ebershagen, Geschonneck/Keller, konnte dem nicht entrinnen, dass für die DDR die letzte Klappe fiel. Sie starb 2008, er 2017. Wozu mahnt ein solcher Film? Kadavergehorsam, Geheimdienste, Kriege sind schlecht. Auch ein „Klassenauftrag“ macht sie nicht besser. Und: Wer mit Blindheit durch die Geschichte geht, ist dumm dran. Er läuft Gefahr, Fehler zu wiederholen. Auch hierfür könnte diese DEFA-Serie stehen: Verstehen wir sie als Aufruf, aufrührerisch zu sein, wenn Geschichtsvergessenheit Einzug halten will. René Lindenau
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Links! 03/2017
„Am Anfang war der Tango“ tischen Streifens „Ein Zigeunerlager zieht in den Himmel“ überzeugte ihn. Anfang der Neunziger traf Peter ukrainische Jazz- und Rockmusiker in Leipzig, mit denen er in Kneipen und auf den Straßen der Messestadt auftrat, bevor er mit ukrainischer, englischer und russischer Besetzung „Kremeltingpott“ gründete, ein Ensemble, das Traditionelles mit Rock, Swing und eigenen Liedern verband. Für kurze Zeit war er auch Mitglied der Leipziger Folkband „Wimmerschinken“, der es wohl zu verdanken war, dass er seine zukünftige Muse Cornelia Plänitz kennenlernte. Sie gehörte dieser Szene anfangs an – in der Folkgruppe „Lummich“. Conny, wie sie sich lieber nannte, spielte Violine bei „Cäsar und die Spieler“ (alias Peter Gläser, einst charismatischer Frontmann der legendären „Klaus Renft Combo“) und bei den „Bierfiedlern“ (ehemals „Folkländer“). Seitdem leben beide zusammen,
biet, so dass Leschenko die rumänische Staatsbürgerschaft zugesprochen wurde. Später wurde ihm das zum Verhängnis. Leschenko nutzte sein musikalisches Talent und absolvierte schon sehr früh erste Auftritte mit seiner Frau, die aus Lettland stammte. Das Sangespaar wurde rasch berühmt und bekam Angebote in Vordererasien und Europa. Dank eines Auftritts vor russischen Exilanten in Riga 1930 erlangte Leschenko den Titel „König des russischen Tango“. Sein Konzert wurde gefeiert, weil er es spielerisch verstand, mit seinem außergewöhnlichen Gesang die Herzen seines Publikums zu erreichen. Schon bald füllte er Konzerthallen in London, Paris, Wien oder auch in Serbien. Sein Repertoire umfasste neben alten Zigeunerweisen und russischen Romanzen hauptsächlich neukomponierte Tangos, zu denen er eigene Texte verfasste. Nach dem Ende des Zweiten
wünscht, doch spätestens 1988 erfolgte seine Rehabilitierung. Beim Staatslabel „Melodia“ erschienen die historischen Aufnahmen auf Vinyl und später auf CD. Leschenko war einer derjenigen, die es in der stalinistischen Ära wagten, Empfindungen wie Liebe oder Melancholie in ihrer Musik zu thematisieren, Trauer oder Leid ohne kitschige Schwülstigkeit und vorbei am martialischen Mainstream zu behandeln. Hier spiegelt sich das Anliegen Wassiljewskis wider. „Weg vom Kalinka-Klischee! Die Musik, die wir spielen, umfasst nicht nur die Musik Leschenkos. Vielmehr sind wir bestrebt, einen musischen Gesamteindruck slawischer Empfindsamkeiten zu kreieren, der die kulturelle Vielfalt dieses großen Landes umfasst.“ Das „Leschenko-Orchester“ scheut nicht davor, rumänische Folklore, Musik der Roma und Sinti, Klassik á la Mozart mit russischen Romanzen zu verschmelzen, oh-
tend / Denn meine Kraft, zu lieben, ist dahin / Ach, du verdammtes Luder / Was hast du gemacht? / Hast fünf Jungs von uns / Verpfiffen an die Obrigkeit / Hast vier von uns an die Wand genäht / Und ich bin für lange Jahre in den Knast.“ So heißt es zum Beispiel im Gassenhauer „Fonariki“ (Straßenlaternen) auf der ersten CD „Russischer Tango“ des Ensembles von 2004. Durch sehr effektive Probenarbeit entstehen gekonnt strukturierte Arrangements, an denen alle Mitglieder des Ensembles beteiligt sind, wobei Wert darauf gelegt wird, dass die Stücke tanzbar sind. Überhaupt wollen die Musiker die beinahe verloren gegangene Tugend des Gesellschaftstanzes wiederbeleben. Das gelingt, wenn das Publikum beim stets ausverkauften „Russenball“, der jährlich am 2. Weihnachtsfeiertag in der Leipziger „Schaubühne Lindenfels“ stattfindet, kurz nach dem Beginn eines Konzer-
Weltkriegs und der Befreiung durch die Rote Armee wurde Moldawien von Rumänien getrennt und als Sowjetrepublik ausgerufen. Leschenko sah sich Repressionen ausgesetzt, galt als „Landesverräter“. So wurde er Opfer der stalinistischen Säuberungsaktionen. Seine Platten wurden aus den Läden verbannt, er erhielt Auftrittsverbot. 1954 starb er auf rätselhafte Weise in der Krankenstation des rumänischen Arbeitslagers Târgu Ocna. Seine Musik galt in der Sowjetunion seitdem als uner-
ne auf Humor zu verzichten. Selbstverständlich spielt auch die russische Melancholie eine wesentliche Rolle, gespeist aus der Mannigfaltigkeit von modernen Symphonien eines Dmitri Schostakowitsch bis zu einfachen Gassenhauern, deren Texte oft durch die sehr ordinäre Poesie der Gauner und Ganoven geprägt waren. „Wenn die Straßenlaternen im Abendlicht / Kreischend zu schaukeln beginnen / Und wenn es nicht grad ratsam ist / Sein Haus zu verlassen / Dann wanke ich aus dem Lokal / Niemanden erwar-
tes zu tanzen beginnt. Zum Leschenko-Orchester gehören: Uwe Stager (Bajan), Maria König (Piano, Gesang), Henning Plankel (Saxophon, Klarinette, Flöte), Yumiko Tsubaki (Violine), Sascha Werchau (Cello), Matthias Buchholz (Kontrabass), Cornelia Plänitz (Violine, Gesang), Peter Wassiljewski (Gesang, Gitarre, Mandoline). Der russische Tango war der Beginn einer endlosen Entdeckungsreise in die große Welt der Musik! Na dann, хорошо, am Anfang war der Tango. Jens-Paul Wollenberg
Bild: Schorle / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0
So beginnt der Leipziger Sänger Peter Wassiljewski über die Entwicklung seines „LeschenkoOrchesters“ zu erzählen. Es war seine Lebensgefährtin, die zufällig auf einen Artikel über den sowjetischen Chansonnier Pjotr Leschenko stieß. Leschenko wurde als König des russischen Tango bezeichnet. Als sich das Paar eine CD mit Aufnahmen aus den 30er Jahren anhörte, wurde beiden auf Anhieb klar, dass das „ihre“ Musik ist, zumal Peter Wassiljewski mit der russischen Sprache, Musik und Kultur von Anfang an sehr vertraut war. Sein Vater war Offizier der Roten Armee und in Peters Heimatstadt Frankfurt an der Oder stationiert, weshalb Peter zweisprachig aufwuchs. Die Liebe zu den alten russischen Liedern weckte sein Großvater, der ihm, wenn er in der DDR weilte, sich begleitend auf der russischen siebensaitigen Gitarre, alte Lieder vorsang. Da Peter als kleiner Junge oft mit russischen Kindern zwischen den Kasernengebäuden herumstrolchte, wurde er häufig auf ein kleines Ständchen in die Wohnungen der Eltern eingeladen. So begann seine musikalische Karriere relativ früh, zumal der Junge auch daheim ständig mit Musik in Berührung kam. Denn sein Vater verehrte die italienische Oper, das Tonbandgerät lief von früh bis spät. Mit fünf Jahren erhielt er Geigenunterricht von einem liebevoll geduldigen Lehrer, der sich der alten russischen Geigenschule bediente. Fast täglich besuchten Freunde die Wohnung der Wassiljewskis, es wurde gesungen und musiziert. Anfang der 80er Jahre wurde Peter mit dem deutschsprachigen Folkrevival konfrontiert. Schulkameraden sangen Songs von Hannes Wader oder Zupfgeigenhansel. Das gefiel auch dem inzwischen Siebzehnjährigen, und er tauschte die Violine gegen die Gitarre oder Mandoline, wenn er, wie fortan oft, Straßenmusik machte. Nach der Öffnung Russlands durch die Perestroika reiste er mehrmals in die ehemalige Sowjetunion nach Smolensk, Moskau und Rostow, wo er bei Partys oder am Lagerfeuer junge Sängerinnen und Sänger kennenlernte, die ihre typischen Romanzen oder Gaunerlieder vortrugen. So kamen ihm auch Songs von Wladimir Wyssozki und Bulat Okudshawa zu Ohren; insbesondere der letztere eroberte sein Herz. Später, während eines Auslandsstudiums in Moskau – Peter Wassiljewski begann ein Pädagogikstudium als Englischund Russischlehrer –, wuchs in ihm das Interesse, die Lieder der russischen Roma zu singen. Die Filmmusik des sowje-
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und sie beschlossen alsbald, gemeinsame musikalische Wege zu gehen. Man stieß also auf den russischen Tangokönig der 30er, 40er und 50er Jahre, Pjotr Konstantinowitsch Leschenko. Der Mann wurde zu einer wahren Legende. Geboren am 14. Juni 1898 in einem Vorort der ukrainischen Stadt Odessa, verbrachte er seine Jugend in Moldawien, wo auch Rumänisch gesprochen wurde. Dort erlernte er das Gitarrenspiel. Nach dem ersten Weltkrieg vereinnahmte Rumänien dieses Ge-
03/2017 Sachsens Linke!
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März 2017
Sachsens Linke
Anlässlich des Frauentages erinnern wir an die Frauenrechtlerin Rosa Menzer, die von den Hitlerfaschisten ermordet wurde. André Hahn blickt auf die Zeugenvernehmung der Bundeskanzlerin im NSA/BND-Untersuchungsausschuss
des Bundestages.Auch geht‘s um Renten und Löhne im Land. Diesmal werfen wir auch wieder einen Blick hinter die Kulissen des Versand-
großhändlers Amazon, wo es nach dem Abflauen des Weihnachtsgeschäfts neue Probleme zu geben scheint.
Aktuelle Infos stets auch
unter
e www.dielinke -sachsen.d
Bild: samchills / flickr.com / CC BY 2.0
Mit Kompetenzen nicht verstecken
Wichtiger und historischer Moment: Der 8. März Am 8. März findet der Internationale Frauen*tag statt. Viele Aktivist*innen streiten an diesem Tag und darüber hinaus für eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Gesellschaft. Woher stammt dieser Tag? Warum ist er immer noch wichtig? Entstanden ist der Internationale Frauen*tag aus der Initiative sozialistischer Frauen*rechtsorganisationen in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Einigender Fokus der Bewegung waren die langwierigen Kämpfe um das Wahlrecht für Frauen und der Kampf für Rechte und Gleichberechtigung von Arbeiterinnen. Clara Zetkin forderte auf der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen 1910 die Einführung eines internationalen Frauen*tages. Bezogen hatte sie sich auf die Forderungen amerikanischer Frauenrechtlerinnen, die einen nationalen Kampftag für das Frauen*stimmrecht forderten. Ein Jahr später fand der erste Frauen*tag in Deutschland, der Schweiz und Österreich statt. Besonders eindrücklich ist der revolutionäre und stark politische Charakter, der in den Forderungen nach gleichberechtigtem Stimmrecht und
politischer Mitbestimmung laut wurde. 1919 wurde das Wahlrecht für Frauen* dann in der Verfassung der Weimarer Republik festgeschrieben. Damit schien ein erstes großes Ziel früher feministischer Bewegung erreicht. Der gemeinsame Gedanke des Frauen*tags blieb darüber hinaus bestehen, wenngleich anders als bisher. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Frauen*tag, der sich wesentlich durch sozialistisches Engagement gegründet hatte, verboten. Stattdessen setzte man die nationalsozialistische Frau als Mutter in den Mittelpunkt und erhob den Muttertag zum nationalen Festtag. Der Einsatz für Emanzipation, politische Teilhabe oder gesellschaftliche Mitbestimmung war nicht nur verboten, sondern einem chauvinistischen Frauenbild und einer rassistischen Ideologie gewichen. Als Zeichen des stillen Widerstandes wurde der Frauen*tag im Privaten zelebriert. Nach Kriegsende wurde der Frauen*tag in Ost und West begangen, wenn auch mitunter sehr unterschiedlich. Eine neue Art der Politisierung fand infolge der 68er und der neuen Frauen*bewegung statt. Die
Politisierung des Aktionstages hielt nach der Einigung an, weg vom reinen MuttertagsDanksagungsgedanken und hin zur stärkeren Sichtbarmachung feministischer Forderungen. Denn trotz wesentlicher Fortschritte war Deutschland gleichstellungspolitisches Hinterland – und ist es bis heute. Zum Internationalen Jahrestag erhoben wurde der 8. März von den Vereinten Nationen im Jahr 1975. Fortan beteiligten sich immer mehr Länder, verbunden mit Forderungen nach der Gleichstellung der Geschlechter, dem Kampf gegen Gewalt an Frauen* und Mädchen und Diskriminierung. Wir erleben einen gesellschaftlichen Rollback, verbunden mit dem Kampf rechter Kräfte gegen Freiheitsrechte. Es geht um den Kampf um gesellschaftliche Hegemonie, und er wird von AfD & Co. massiv geführt. Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt und Selbstverwirklichung sind noch weniger selbstverständlich geworden. Mehr denn je gilt es emanzipatorische Grundwerte zu verteidigen. Für uns LINKE ist der 8. März ein fester Bestandteil unseres Selbstverständnis als feministische Partei, und vie-
le Genoss*innen sind an diesem Mittwoch im März und darüber hinaus dafür unterwegs. Es ist wichtig, sich an diesem Tag öffentlichkeitswirksam zu den Rechten von Frauen und einer gleichberechtigten Gesellschaft zu bekennen. Das allein oder bloße Lippenbekenntnisse aber reichen nicht aus, um voranzukommen. Es ist dem unablässigen und langwierigen Engagement vieler zu verdanken, dass sich Festgeschriebenes ändern konnte. Es sind die kleinen und großen Schritte, die verändern, das unermüdliche Lautsein, der Widerspruch, das Aufbegehren und der zivilgesellschaftliche Dialog über unsere gemeinsame Vorstellung von gleichberechtigtem und respektvollem Leben miteinander. Daran sollten wir festhalten. Der Internationale Frauen*tag ist ein wichtiger und historischer Moment frauen*rechtlicher Kämpfe und Errungenschaften. Wir sollten ihn nutzen, Streiter*innen für Gerechtigkeit danken und vor allem politisch(er) werden. Gerade angesichts der rechten und konservativen Angriffe. In diesem Sinne: Aufstehen! Einmischen! Gerade jetzt! Anja Eichhorn
Es gibt Veränderungen auf den Landtagsfluren der LINKEN. Genauer gesagt: Ein Büro wurde frei. Sebastian Scheel, unser Parlamentarischer Geschäftsführer, anerkannter Finanzexperte und ehemaliger stellvertretender Landesvorsitzender, hat die Fraktion verlassen. Nicht im Streit – Berlin hat ihn „gerufen“: Er nahm das Angebot von Katrin Lompscher an, Staatssekretär für Bauen und Wohnen zu werden. Das ist gut für Berlin und schade für Sachsen. Sebastian gelten mein Dank für seine Arbeit in Partei und Fraktion und meine besten Wünsche für die bevorstehenden Aufgaben. Sebastian ist ein aktuelles, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel dafür, dass LINKE Kompetenzen aus Sachsen gefragt sind. Zwei Minister*innen in Thüringen haben ihre Sporen in Sachsen verdient. In so manchem Landesverband ist Personal aus Sachsen gefragt, auch auf der Mitarbeiter*innenebene. Selbst in Bundesgeschäftsstelle und Bundestagsfraktion wird oft sächsisch gesprochen. Jeder Weggang ist auch ein Verlust für uns. Ich sage ehrlich: Ich würde die Genoss*innen lieber in den Ministerien an der Elbe treffen als in Erfurt oder Berlin. Ja, wir sitzen seit 27 Jahren in der Opposition. Und doch: Wir arbeiten jeden Tag daran, die CDU in die Opposition zu schicken. Ich bin mir sicher, dass der eine oder die andere dann gerne zurückkehrt. Einer hat es schon getan: René Jalaß, der Nachrücker für Sebastian, bringt als früherer Chef des Ministerbüros im Thüringer Bildungsministerium Regierungserfahrung mit. Sage noch einer, wir geben nur ab!
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Meinungen Zu „Mähliche Transformation in den Sozialismus?“ (Links! 12/2016, S. 3), „Die USA auf einem falschen Weg“ (Links! 12/2016, S. 1) und „Meinungen“ (Sachsens Linke! 12/2016, S. 2) Ja, „Akteure in der Aktion, Einstiegsprojekte“ können Beiträge zu einer bedürfnisorientierten Gesellschaft leisten. Einige hat ja Herr Schnabel beschrieben. Aber es besteht immer die Gefahr, dass diese vom kapitalistischen System vereinnahmt werden (z.B. Uber und ähnliche profitorientierte Tauschsysteme, Transfair-Siegel in Supermärkten, an Handelsketten liefernde Biolandwirte und faire Handelsorganisationen, von Softwareunternehmen genutzte/ vertriebene freie Software). Somit sind die marxistischen Kategorien und Analysemethoden wichtig, um wirklich revolutionäre Realpolitik zu betreiben und von Marx, Luxemburg und Lenin nicht nur einige Schlagworte unter Umkehrung ihres Inhalts zu übernehmen. Sonst wird bei einem opportunistischen Reformismus gelandet. Auch die Wahl von Trump und die Vorwahlerfolge von Sanders in den USA und die Erfolge der AfD zeigen ja eine verbreitete Unzufriedenheit bei einem Großteil der Bevölkerung. Mit Unterstützung der Mainstreammedien, der herrschenden Politik, der Geheimdienste und der „Wissenschaft“ (z.B. Patzelt) wird diese in eine für die Herrschenden ungefährliche Richtung umgelenkt. Unsere Aufgabe besteht somit darin, die Probleme der Unzufriedenen ernst zu nehmen und ihre Unzufriedenheit auf die wirklichen Probleme zu lenken. Dazu gehört, dass wir nicht nur einen etwas sozialeren Kapitalismus wollen und die kapitalismusbefördernden Kräfte unterstützen (z.B. in rot-rot-grünen Koalitionen). Sollten wir uns nicht die Bündnispolitik der Bolschewiki mit der bürgerlichen Regierung vor der Oktoberrevolution zum Vorbild nehmen? Dazu gehören: Bewahrung der Unabhängigkeit, keine Einbindung in das herrschende System, möglichst viel Macht für
die revolutionäreren Bevölkerungsteile und genau unter diesen Bedingungen gemeinsamer Kampf gegen noch reaktionäre Kräfte. Rita Kring, Dresden
Impressum
Kleiststraße 10a, 01129 Dresden
Sachsens Linke! Die Zeitung der LINKEN in Sachsen
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Termine der Redaktionssitzungen bitte erfragen.
Herausgeberin: DIE LINKE. Sachsen Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V.,
Zur Rezension über CDs von Uwe Steimle (Links! Ausgabe 12/2016) Ein Freund machte mich auf eine Rezension in der letzten Ausgabe von „Links!“ aufmerksam, in der sich Ralf Richter mit „Zwei CDs von und mit Uwe Steimle“ befasst. Über Kunst lässt sich ja immer streiten, daher will ich mir über die Qualität der Musik kein Urteil erlauben. Zu Recht wurde ich meiner Meinung jedoch gefragt, wieso wir jemandem wie Uwe Steimle eine Plattform bieten. Einige werden sich fragen, weshalb das so ist. Den älteren Genoss_innen ist Uwe Steimle als scharfer Dresdner Kabarettist bekannt. Mir jedoch ist Uwe Steimle nur durch eines bekannt: seine Nähe zu PEGIDA. Seit mehreren Jahren „erarbeitet“ er sich in verschiedenen Blättern und Fernsehauftritten einen gewissen Ruf. Das traurige Highlight kam jedoch kurz vor Weihnachten: Im Ballhaus Watzke (ja, das „Höcke-Watzke“) ließ er es sich nicht nehmen, mit anderen bekannten PEGIDASympathisant_innen aufzutreten. Der Verein „Dresdner Bürger helfen Dresdner Obdachlosen und Bedürftigen e.V“ lud dort zum Essen ein. Dazu muss man wissen: Der im Sommer gegründete Verein stritt im Herbst mit der Dresdner Tafel, die eine Kooperation ablehnte, da der neue Dresdner Verein nur „Deutschen“ und keinen Geflüchteten helfen sollte. Dies lehnte die Tafel ab. Der Verein entstammt dem Geiste PEGIDAs und rekrutiert sich vor allem aus diesem (Die Zeit, 23.12.2016, bit. ly/2hiVdeK). Alles das wurde laut und breit in der Dresdner Medienlandschaft ausgetragen und kann Herrn Steimle nicht unbekannt geblieben sein. Für mich als Dresdnerin ist er auch nicht „mein“ Uwe, wie es in der Rezension heißt, sondern vielmehr einer der Be-
Das Neueste aus dem Landesvorstand weise dafür, warum es Dresden nicht schafft, von seinem schlechten Ruf loszukommen. Wer es bei seiner Prominenz für wichtiger hält, mit besorgten Bürger_innen, Rassist_innen und Neo-Nazis zu kuscheln als sich den offensichtlichen Problemen in der Stadt zu stellen, sollte von uns nicht noch hofiert werden. Politik ist nicht alles, aber alles ist nun mal Politik. Franziska Fehst, Dresden
talkritik der DDR bereits einige Ansätze seiner neurechten Thesen finden. Schade, mit dem rechtsakademischen Pamphlet delegitimiert sich Lothar Fritze als glaubhafter Kritiker selbst. Fred Geigers
Sitzung vom Februar 2017
Zu R2G (Links! 01-02/2017, S. 5, Sachsens Linke! 0102/2017, S. 2, 9) Ohne breite soziale Bewegungen und eine entsprechende Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse können linke Regierungen keine strukturellen Veränderungen durchsetzen. Stattdessen wird eher der Widerstand gegen Verschlechterungen gehemmt. Das zeigte Raul Zelik. Genau das meint: Wenn Wahlen (allein) etwas (Grundsätzliches) ändern würden, wären sie verboten. Deshalb sollten wir uns vom Wunschdenken (hier: einer Regierungsbeteiligung) verabschieden, wie auch Monika Runge fordert. Das Bündnis mit weiter rechts stehenden Kräften, die Bekämpfung von links, einschließlich des Einsatzes der Polizei gegen linke Proteste stärkt nur den Faschismus. Das zeigte nicht nur das Verhalten der SPD in der Weimarer Republik. Sondern auch heute stärkt der Verzicht auf grundlegende Gesellschaftskritik und die Anpassung an die herrschenden Verhältnisse nur AfD, PEGIDA und Co. „Den Abschied von einer neoliberalen Finanz-, Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik“ unterstütze ich. Führende Kräfte von rot-grün haben die HartzGesetze durchgesetzt und auch die Finanzmärkte dereguliert und verteidigen dies noch heute. Wie kann erklärt werden, warum gerade mit ihnen dieses Ziel durchgesetzt werden kann? Wäre es da nicht besser, uns auf die Stärkung widerständiger antiautoritärer solidarischer basisdemokratischer sozialer Bewegungen zu konzentrieren? Auch die LINKE ist ja durch die Proteste gegen die Hartz-Gesetze und die Vereinigung der bei diesen Aktiven in WASG und PDS entstanden. Uwe Schnabel, Coswig
Die Vorstandssitzung wurde als zweitägige Klausur mit den Kreisvorsitzenden und am Samstag zum Teil als gemeinsame Beratung von Landesvorstand, Landesrat und Kreisvorsitzenden (sogen. Kleiner Parteitag) durchgeführt. In dieser Beratung wurde Katja Kipping zur Spitzenkandidatin in Sachsen für die Bundestagswahl im Herbst gewählt, zudem bestätigte das Gremium die Agrarpolitischen Leitlinien der Partei DIE LINKE in Sachsen. Das Thema Wahlkampfvorbereitung dominierte die Klausur. Am Anfang stand die Verständigung zu aktuellen Wahltrendumfragen und dem Sachsen-Monitor 2016 (Umfrage zu Zukunftserwartungen und -sorgen, sozialer Lage und politischer Partizipation), der von der sächsischen Staatsregierung in Auftrag gegeben worden war. Welche Rückschlüsse lassen sich inhaltlich und strategisch aus den Ergebnissen der Umfragen für die politische Arbeit unseres Landesverbandes ziehen? Weiter ging es mit der Wahlstrategie des Parteivorstandes und der Frage, wie sie hier umgesetzt werden kann. Damit in Zusammenhang zu sehen ist ein Vorschlag zu sächsischen Wahlzielen, der die Grundlage für die Ausrichtung des Leitantrages an den kommenden Landesparteitag bilden soll. Es folgte der Debattenfahrplan zum Bundestagswahlprogramm. So werden im Landesverband in bewährter Form breite Beteiligungsmöglichkeiten zur Qualifizierung des Programmentwurfs gewährleistet, etwa in Gestalt der schon angezeigten thematisch ausgerichteten Regionalkonferenzen in April und Mai, für die Leitfragen erarbeitet werden, die dann auch für Veranstaltungen in den Kreisund Ortsverbänden genutzt werden können. Den Schwerpunkt wird dabei die Debatte zum 2. Entwurf bilden, dessen Veröffentlichung Anfang April zu erwarten ist. Jayne-Ann Igel
Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 10.950 Exp. gedruckt.
Ralf Richter, Stathis Soudias.
Redaktionsschluss 22.02.2017
Bildnachweise, wenn nicht gesondert vermerkt: Archiv, iStockphoto, pixelio.
Die nächste Ausgabe erscheint voraussichtlich am 31.03.2017.
Der Redaktion gehören an: Ute Gelfert, Jayne-Ann Igel, Thomas Dudzak, Antje Feiks (V.i.S.d.P.), Andreas Haupt,
Kontakt: kontakt@dielinke-sachsen.de Tel. 0351-8532725 Fax. 0351-8532720
Schwierigkeiten mit Gegensätzen: Zu Beiträgen von Jochen Mattern und Rolf Ziegenbein über Lothar Fritze Gegensätzliche Einschätzungen zum gleichen Autor in ein und derselben Zeitung, hier in der Nr. 01-02/2017 von „Sachsens Linke!“ (S. 2) und „Links!“ (S. 9)? Das kann es durchaus geben, da die Rezensenten zwei sehr unterschiedliche Veröffentlichungen von Lothar Fritze aus dem Jahr 2016 bewerten. Leider werden die beiden Rezensionen dabei nicht in Beziehung zueinander gebracht. Der in der Sächsischen Zeitung veröffentlichte Text „Der böse gute Wille“ (auf dem gleichnamigen Buch von Fritze fußend) offenbart einen Einblick in die geistigen Grundlagen von AfD und Pegida und rechtfertigt damit die Zuordnung dieses Politikprofessors zur akademischen Rechten. Dem gegenüber steht die ein halbes Jahr vorher erschienene Schrift Fritzes zur „Delegitimierung und Totalkritik“. An die Adresse seiner eigenen Zunft richtete er eine deutliche Warnung vor Vereinfachungen und Fehlern bei der Aufarbeitung der DDRVergangenheit. Vom Rezensenten wurde das zu Recht als beachtenswerte „neue Töne vom Hannah-Arendt-Institut“ gewürdigt. Ich wünschte mir jedoch in der Links-Zeitung eine Aufklärung, wie es in der Person ein und desselben Autors in kurzer Zeit – unabhängig von den behandelten Themen – zu zwei so unterschiedlichen Haltungen kommt. Es würde sich herausstellen, dass sich in der Kritik Fritzes an der To-
03/2017 Sachsens Linke!
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Mein Name ist Kasner – Ich weiß von nix! Es war ein denkwürdiger Auftritt von Bundeskanzlerin Merkel am 16. Februar im NSA/ BND - Untersuchungsaus schuss, der nach 131 Sitzungen seine Beweisaufnahme vorläufig beendete. Dass die sonst recht souverän auftretende Regierungschefin diesmal doch aufgeregt war, zeigte ihr Eingangsstatement, als sie sich mit den Worten: „Mein Name ist Angela Dorothea Kasner“ vorstellte, also ihrem Geburtsnamen, ein Fehler, den sie weder bemerkte noch korrigierte. Was dann folgte, war eine knapp halbstündige Erklärung, dass sie von der massenhaften Überwachung der NSA in Deutschland nichts gewusst habe, an ihrer Aussage „Spionieren unter Freunden – das geht gar nicht“ nach wie vor festhalte und von dem Umstand, dass der BND genau das seit vielen Jahren ebenso praktizierte, erst im März 2015 erfahren habe. In der mehr als siebenstündigen Vernehmung wurde Angela Merkel mit Zeugenaussagen und Dokumenten konfrontiert, die ihre Version erheblich in Zweifel zogen. Es war Merkels Kanzleramtsminister Pofalla, der im Sommer 2013, kurz vor der Bundestagswahl, die Affäre mit den Worten für beendet erklärt hatte, die Amerikaner würden sich ohne Wenn und Aber an deutsches Recht halten und man werde ein No-Spy-Abkommen, also einen Verzicht auf die gegenseitige Spionage, abschließen. Das kam nie zustande, und die
amerikanische Seite bestreitet sogar, dass es jemals ernsthafte Verhandlungen dazu gab. Die Bundeskanzlerin hat nun wieder eine Chance verpasst, als Regierungschefin Verantwortung zu übernehmen und sich für die Übergriffe der deutschen Geheimdienste zu entschuldigen. Stattdessen verwies sie immer wieder auf eine Erklärung des Kanzleramtes, in der von „organisatorischen und strukturellen Defiziten beim BND“ die Rede war. Nach allem, was der Untersuchungsausschuss aufgedeckt hat, ist dies eine völlig unangemessene Verharmlosung des gesamten Skandals. Der BND verschaffte sich rechtswidrig Zugriff auf den europaweit größten Kabelknotenpunkt in Frankfurt/Main. Über vier Jahre hinweg wurden Tag für Tag Millionen Telefonate, Mails,
SMS, IP-Adressen ausgeforscht, und der US-amerikanische Geheimdienst saß mit an der Leitung. In den Abhörsystemen des BND laufen bis heute Suchbegriffe der NSA, deren Zahl zwischenzeitlich wohl bei 13 Millionen lag. Ein Drittel dieser Selektoren konnte der BND weder lesen noch verstehen, hat sie aber dennoch jahrelang gesteuert, obwohl klar war, dass es dabei nicht nur um Terrorbekämpfung ging. Nach den Snowden-Enthüllungen hat selbst der BND dann fast 40.000 dieser Suchbegriffe als rechtswidrig oder gegen deutsche bzw. europäische Interessen gerichtet eingestuft und gesperrt. Dass auch der BND seit langem Regierungen von EU- und Nato-Partnern, Botschaften und internationale Organisationen ausspionierte, will Frau Merkel
Hier spricht die Amazon-Belegschaft Das Weihnachtsgeschäft liegt hinter Amazon. Aber von Ruhe sind die Beschäftigten weit entfernt. Das Bestellvolumen ist im Vergleich zum Vorweihnachtsgeschäft deutlich zurückgegangen, von den 2.000 Weihnachtsaushilfen wurden etwa 200 befristet und unbefristet weiterbeschäftigt. Eigentlich eine gute Sache. Es gibt aber einen Haken. Das Bestellvolumen am Standort Leipzig ist zu niedrig, um alle Mitarbeiter mit Arbeit zu versorgen. Zusätzlich werden seit Februar noch neue Leute eingestellt. Um dieses Paradox aufzuklären, lohnt ein Blick hinter die Kulissen. Seit 2017 fährt die Geschäftsführung von Amazon eine knallharte Linie. Dabei wird zielgerichtet gegen Mitarbeiter vorgegangen, die schon mehrere Jahre bei Amazon beschäftigt und gewerkschaftlich organisiert sind. Die aus dem Weihnachtsgeschäft übernom-
menen und neu eingestellten Kollegen sollen mittelfristig die Kernbelegschaft ersetzen. Für Februar lobt Amazon ein Angebot namens „The Offer“ aus. Dies wird auf Plakaten und in der Mitarbeiterversammlung, auch „All Hands“ genannt, angepriesen. Ironischerweise folgt diesem Angebot stets der Spruch: „Wir hoffen, dass ihr dieses Angebot nicht annehmt.“ Bei „The Offer“ handelt es sich um ein zeitlich begrenztes Angebot, aus dem Arbeitsvertrag auszusteigen und eine Art Abfindung zu erhalten. Dieses sogenannte Angebot baut auf Freiwilligkeit. Es gibt aber auch Fälle, in denen etwas nachgeholfen wurde und man Mitarbeiter dazu gedrängt hat, das Angebot anzunehmen. Bei einigen hat das funktioniert. Dabei ist das Management fast ausschließlich auf Gewerkschaftsmitglieder zugegangen und hat gefragt,
erst im Frühjahr 2015 erfahren haben, und selbst dann – so erklärte sie auf meine Nachfrage – habe es sie angeblich nicht interessiert, welche Staats- und Regierungschef befreundeter Länder überwacht wurden. BND und Verfassungsschutz gaben Namen, Geo-Daten und Handynummern von tatsächlichen oder vermeintlichen Terrorverdächtigen an die NSA weiter, die zur Ortung der Personen geeignet waren. Kurze Zeit später wurden einige davon von US-Kampfdrohnen getroffen, darunter auch deutsche Staatsbürger. Im geheimen Drohnenkrieg wurden inzwischen hunderte unschuldige Menschen getötet. Alles nur organisatorische und strukturelle Defizite?, fragte ich die Kanzlerin. Als ich ihr die Zahlen der Opfer, darunter viele Kinder detailliert vorhielt,
kam sie doch ins Stocken und betonte, jedes zivile Opfer sei eines zuviel, das sie auch bedauere. Aber – so fügte sie hinzu – die gebe es nicht nur bei Drohnenangriffen. Eine ziemlich armselige Argumentation. Die Beweisaufnahme im Ausschuss ist deshalb nur vorläufig abgeschlossen, weil ein Urteil des Bundesgerichtshofes aussteht, mit dem die Opposition erzwingen will, dass die Bundesregierung verpflichtet wird, Amtshilfe zu leisten, damit Edward Snowden doch noch als Zeuge vernommen werden kann. In erster Instanz haben wir gewonnen, die Koalition hat Berufung eingelegt. Ungeachtet dessen beginnt jetzt die Arbeit am Abschlussbericht des Ausschusses und unserem Minderheitsvotum, und wir als LINKE werden dafür sorgen, dass dabei nichts totgeschwiegen wird. Georg Mascolo bilanzierte in der „Süddeutschen Zeitung“ schon jetzt, dieser Untersuchungsausschuss habe „Chancen, als einer der erfolgreichsten in die Parlamentsgeschichte einzugehen. Denn er legte offen, wie die Regierung nach Beginn der NSA-Affäre Öffentlichkeit und Parlament täuschte, die eigene Rolle des BND im weltweiten Abhörgeschäft mal verschwieg, gezielt falsch darstellte oder auch gar nicht so genau darum wissen wollte … Es ist, man kann es nicht anders sagen, eine beschämende Bilanz für Merkels Regierung.“ Dr. André Hahn
The Offer – Das Angebot
ob man sich schon auf dem Arbeitsmarkt umgeschaut habe. Es gibt noch andere Methoden, mit denen die Geschäftsleitung Mitarbeiter aus dem Angestelltenverhältnis drängen will. Das geht von Gesprächsnotizen (eine Art interne Vorstufe zur Abmahnung) über Ermahnungen bis zu Abmahnungen. Zurzeit ist der Betriebsrat damit beschäftigt, Mitarbeiter bei Personalgesprächen zu vertreten, um Schlimmeres zu verhindern. Oftmals geht es nur um Kleinigkeiten, die vonseiten des Managements aufgebauscht werden. Es wird regelrecht nach Fehlern gesucht, um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden. Frei nach dem Motto: wer sucht, wird finden. Aber selbst wenn man sich korrekt verhält, schützt das nicht unbedingt vor einer Rüge. Es ist schon vorgekommen, dass sich zwei Vorgesetzte abgesprochen, aus der Luft gegriffene Vorwürfe an-
gebracht und sich gegenseitig als Zeugen angegeben haben. Eine Gegendarstellung hilft da nicht, weil Vorgesetzten mehr Glauben geschenkt wird als einfachen Beschäftigten. Für solche konstruierten Fälle gibt es keine Abmahnungen, gegen die man rechtlich vorgehen könnte. Man belässt es bei Gesprächsnotizen, die in die Personalakte eingefügt werden. Dort wird dokumentiert, dass sich das Vertrauensverhältnis zum Mitarbeiter verschlechtert. Im schlimmsten Fall kann man verhaltensbedingt kündigen, da das Vertrauensverhältnis nachhaltig beschädigt sei. Nun mag man meinen, dass Vorgesetzte Besseres zu tun hätten als den ganzen Tag nach Fehlern ihrer Angestellten zu suchen. Wie erwähnt ist aber das Bestellvolumen derzeit relativ gering, so dass sich das Management anderen Dingen zuwenden kann.
Viele Vorgesetzte kommen direkt von der Universität und sind noch jung. Ohne je die Tätigkeit, der sie vorgesetzt sind, länger als ein paar Stunden ausgeübt zu haben, werden sie als Abteilungsleiter eingesetzt. Um sich herauszuheben, sehen viele eine Möglichkeit darin, Mitarbeiter zu drangsalieren. Sie sprechen dann davon, dass sie ihre Abteilung produktiver machen und die Mitarbeiter weiterentwickeln wollen. Das Motiv dahinter scheint zu sein, dass man bei der Personalabteilung punkten will, weil man sich bei der nächsten internen Stellenausschreibung auf eine höhere Position bessere Chancen ausrechnet. Der Betriebsrat steht diesen Machenschaften ziemlich ohnmächtig gegenüber. Hier würde mehr Rechtssicherheit und einfacheres Vorgehen gegen Mobbing helfen. Da müsste aber die Politik Vorarbeit leisten. Hector
Sachsens Linke! 03/2017
DIE LINKE im Erzgebirge
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SPD, GRÜNE und LINKE in gemeinsamer Klausur Der Erzgebirgskreis war nach 1989 fast ausschließlich durch die kommunalpolitische Übermacht der CDU geprägt. Wie in vielen anderen sächsischen Regionen wurde die übergroße Mehrheit der Rathäuser durch CDU-Bürgermeister regiert. Inzwischen hat sich die LINKE als zweitstärkste politische Kraft etabliert, freie Wählervereinigungen waren die stärksten Konkurrenten für uns. Die SPD und die GRÜNEN folgten mit weitem Abstand; mit dem Aufkommen der NPD erstarkte die Rechte bis zu zweistelligen Wahlergebnissen. Seit den letzten Kommunalwahlen ist festzustellen, dass sich diese politische Konstellation langsam ändert. Die Freien Wähler haben von der CDU reihenweise Bürgermeisterämter übernommen, AfD und NPD binden immer mehr rechte Kräfte. SPD und GRÜNE gewinnen im Grunde nur deshalb leicht, weil wir LINKEN im Landkreis in den letzten Jahren leicht Stimmen abgeben mussten. Dennoch sind wir immer noch die zweitstärkste Kraft
im Landkreis. Zu beobachten ist, dass sich konservative und rechte Politik immer mehr verfestigen. Was fehlt ist eine öffentlichkeitswirksame Alternative, um im Erzgebirge zu zeigen, dass es an der Zeit ist, die politischen Verhältnisse nach links zu verschieben. Seit zwei Jahren treffen sich Vertreter der Kreisvorstände von SPD, GRÜNE und LINKE. In regelmäßigem Gedankenaustausch haben wir daran gearbeitet, wie Grundlagen für eine linke Zukunft im Erzgebirgskreis geschaffen werden könnten. Letztendlich war die Suche nach gemeinsamen regionalen Projekten und Ideen wichtig. Wir waren uns auch sehr schnell einig, dafür unsere jungen Mitglieder, die in den letzten Jahren in alle drei Parteien zunehmend eintreten, von Anfang an maßgeblich einzubeziehen. Es geht uns dabei nicht um kurzfristige Aktionen in Kommunalparlamenten. Vielmehr soll sich diejenige Generation, die in den nächsten Jahren politische Verantwortung übernehmen wird, persönlich
kennenlernen und gemeinsame Ziele für eine Zusammenarbeit finden. Am 4. Februar war es dann endlich soweit. In der Naturherberge in Affalter fand unsere erste gemeinsame „Zukunftswerkstatt Erzgebirge“ statt. Moderiert von zwei professionellen Mentorinnen der
arbeiteten Ansätze dafür, was sich in den nächsten Jahren aus Sicht der Teilnehmer ändern muss. In gemischten Arbeitsgruppen wurde zu den Themen politische Kultur, Attraktivität der Region, Umgang mit der Natur und Arbeitsmarkt intensiv diskutiert.
Friedrich-Ebert-Stiftung diskutierten interessierte Mitglieder unserer Parteien darüber, wie die politische Situation im Erzgebirge gesehen wird, und er-
Erarbeitet wurden Herausforderungen, die in diesen Bereichen stehen. Daraus abgeleitet sind erste Ideen für gemeinsame Schritte entstanden, um
Demokratisches Miteinander im Erzgebirgskreis Im Landkreis Erzgebirge versuchen nicht parteigebundene Kräfte, sich in der Gesellschaft zu verankern. Menschenverachtende und antidemokratische Einstellungen sind in großen Teilen der Gesellschaft vorhanden und werden nicht nur durch asyl- und regierungskritische Proteste in der Öffentlichkeit sichtbar. Im Erzgebirgskreis haben Protestbewegungen schon 2015 zu 55 polizeilich bekannten Versammlungslagen geführt, die Mehrzahl davon fand im Bereich Stollberg statt. Es konnten sich neue neonazistische und rechtspopulistische Kräfte im Landkreis etablieren, „Der III. Weg“, die Identitäre Bewegung und die Reichsbürger. Ein NPD-Funktionär rief über sein Internetportal „Freigeist“ zu Demonstrationen in Aue, Schneeberg und Schwarzenberg auf und deklarierte das als „Volksaufstand“. Ein Sternlauf in Stollberg vernetzte verschiedene neonazistische Gruppierungen auch aus dem Umland und brachte 4.000 Menschen auf die Straße. In mehreren Kommunen bildeten sich Internetplattformen „NEIN zum Heim“, die auch Demonstrationen durchführten. Die meisten neuen Gruppierungen geben sich
heimattreu und eindeutig rassistisch. Die AfD als rechtspopulistisch agierende Kraft konnte auch im Erzgebirgskreis Fuß fassen, stellt Kreisräte und mehrere Stadt- und Gemeinderäte. Was kann und muss Zivilgesellschaft leisten? Vielerorts entstanden Initiativen und Helferkreise, die Geflüchteten halfen, sich in der zugewiesenen Kommune zurechtzufinden. Im Juni 2015 trafen sich diese Helfer und zumeist Ehrenamtliche erstmals in Annaberg-Buchholz zum Austausch und erarbeiteten gemeinsam Standards und Strategien, um Menschen im Landkreis zu integrieren. Am 9. Oktober 2015 gründete sich die „Allianz für Integration im Erzgebirgskreis“, der MdL, Arbeitgeberverbände, IHK, Agentur für Arbeit, DGB usw. beitraten. Es sind Schwerpunkte der gemeinsamen Arbeit festgelegt worden und Kooperationen entstanden. Im Dezember 2016 konnte die gemeinsame Arbeit überprüft und neue Ziele erarbeitet werden. Seit Mai 2016 bündeln Vertreter/innen der Zivilgesellschaft aus allen Regionen des Landkreises ihre Kräfte und arbeiten an einem
breiten Bündnis mit gemeinsamer Strategie für ein demokratisches Miteinander im Erzgebirge. Mit gemeinsamer Strategie für ein demokratisches Miteinander im Erzgebirgskreis Das Kompetenzzentrum für Gemeinwesenarbeit im Erzgebirgskreis (KGE) unterbreitet seit seinem Bestehen Angebote der Unterstützung in diesem Prozess des Miteinanders und der Teilhabe an einer demokratischen Alltagskultur. Leider ist auch in diesem Bereich der sozialen Arbeit keine dauerhafte Unterstützung gegeben. Jährlich gilt es, sich um Fördermittel zu bemühen; und der bürokratische Aufwand, der zulasten der inhaltlichen Arbeit geht, ist enorm. Zwar sind Bundesprogramme mehrjährig angelegt, jedoch müssen sie pro Haushaltsjahr beantragt und abgerechnet werden. Landesprogramme wie das „Weltoffene Sachsen für Demokratie und Toleranz“ geben Zuwendungsbescheide sehr spät heraus, Projekte haben in der Regel im ersten Jahresdrittel keine Fördergelder. Angela Klier, Kompetenzzentrum für Gemeinwesenarbeit Erzgebirge
diese Themen voranzubringen. Am Nachmittag wurden konkrete Vereinbarungen zum weiteren Vorgehen getroffen. Alle Teilnehmenden wünschen sich, dass die Zukunftswerkstatt fortgesetzt wird. Dazu hat sich eine kleine Arbeitsgruppe gebildet, die ein weiteres Treffen inhaltlich vorbereiten soll. Wir verständigten uns, die Ergebnisse der Klausur zu nutzen, um weitere Mitstreiter zu finden. Wir wollen die Ergebnisse im Partei-Umfeld besprechen, neue Bündnispartner außerhalb der Parteien gewinnen. Es gab erste Überlegungen für thematische Netzwerke und zur Öffentlichkeitsarbeit, um unsere Arbeitsergebnisse nach außen zu tragen. Für mich hat dieser intensive, arbeitsreiche Tag bestätigt, dass unser eingeschlagener Weg Zukunft hat. Abseits der Großstädte ist es wichtiger denn je, solche Plattformen zu schaffen, um junge, an der Politik in ihrer Heimatregion interessierte Menschen für aktive Mitarbeit zu gewinnen. Klaus Tischendorf
„Haben wir für alle Schwierigkeiten nur eine Antwort: Erst recht!“ Clara Zetkin 1910 initiierten sozialistische Frauen auf der 2. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen den 1. Internationalen Frauentag. Erstmals wurde er am 19. März 1911 begangen. Die Zeit war reif, dass die Frauenbewegung vereint gegen die wirtschaftliche Not, die Rechtlosigkeit der Frauen und Krieg anzukämpfen begann. Mit der Novemberrevolution 1918 wurde das freie, geheime aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt. Damit war eine Vorkriegsforderung der Frauenbewegung erfüllt. Aber noch heute ist der Internationale Frauentag weltweit hochaktuell! Wirtschaftliche Not, die Rechtlosigkeit der Frauen und Krieg bleiben immer aktuelle Probleme. Und damit ist der Kampf um die Gleichberech-
tigung noch lange nicht zu Ende. Lohnunterschiede beweisen das. Der Equal Pay Day am 18. März markiert die geschlechtsspezifische Lohnlücke. Umgerechnet ergeben sich daraus 77 Tage, an adenen Frauen 2017 umsonst arbeiten. Die Statistik weist den Erzgebirgskreis als Niedriglohngebiet aus. Das betrifft die Frauen besonders. Die damit auftretenden Probleme in den Familien und für Alleinerziehende werden noch verstärkt. DIE LINKE im Erzgebirge unterstützt solidarisch den weltweiten Kampf um die Rechte der Frauen. Wie in den Jahren zuvor ehren wir am 8. März unsere Frauen symbolisch mit einem Blumengruß für ihre Arbeit im Beruf, in der Familie und der Gesellschaft! • Heide-Marie Bamler & Andrea Schrutek, Kreisräte
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DIE LINKE. Kreisverband Zwickau
03/2017 Sachsens Linke!
Rettungskräfte in Not So könnte man die Situation der Rettungskräfte des DRK in Glauchau beschreiben, die bereits seit vergangenem Herbst im Arbeitskampf stehen. Mirko Schultze, Sprecher der Landtags-Linksfraktion für Rettungswesen, war vor Ort. Bis zu 72 Stunden Arbeitszeit, ein Tarifvertrag, der aus Kann-Leistungen und Ausschlussklauseln besteht und unzureichende Versorgung mit Arbeitsschutzkleidung (Schutzwesten) sind nur einige der Punkte, die zur Debatte stehen. Die MitarbeiterInnen des DRK Glauchau befinden sich zu Recht im Arbeitskampf, wofür der Arbeitgeber über elf Abmahnungen an den Betriebsrat
verschickte. Mirko Schultze: „Wer tagtäglich das Leben anderer Menschen beschützt und rettet, muss für seine Arbeit zumindest ordentlich bezahlt und anständig behandelt werden. Auf Landesebene stellen wir vermehrt Schwierigkeiten bei Leistungserbringern des Rettungsdienstes fest. Eine Lösung muss landesweit gesucht werden. Wir werden dementsprechende Initiativen ergreifen. Solche Probleme dürfen nicht als Argument für die Ausbeutung von Beschäftigten herhalten. Kolleginnen und Kollegen des DRK Glauchau haben unsere Solidarität verdient – ohne fairen Tarifvertrag geht’s nicht!“ Simone Hock
Aus dem politiKKontor Am 3. Februar ging es bei einer Veranstaltung mit Caren Lay und Sabine Zimmermann in Kirchberg um gutes und bezahlbares Wohnen. Dabei kamen interessante Aspekte zur Sprache. So weichen die Vorgaben der Fördermittelregelungen für Mindestmieten bei sozialem Wohnraum drastisch von Vorgaben zu den „Kosten der Unterkunft“ ab. Deshalb ist der Wohnraum für Bezie-
her von Arbeitslosengeld II gar nicht geeignet. Für den altersgerechten und barrierefreien Umbau von Bestandswohnungen gibt es gar keine Fördermittel, sondern nur Kredite, deren Kosten auf die Mieter umgelegt werden und kaum bezahlbar sind. Sehr interessant ist auch, dass die Kommunen seit einigen Jahren nicht mehr verpflichtet sind, Wohnungen für Notsituationen vorzuhalten.
Aus vom Kreisvorstand Unter dem Mangel von günstigem Wohnraum haben so auch wohnungslose Jugendliche insbesondere zwischen 18 und 21 zu leiden, für die es derzeit keine Hilfsmöglichkeiten gibt. Positiv für die Kommunale Wohnungswirtschaft Kirchberg zeigte sich hingegen der Zuzug von Geflüchteten, weshalb keine Zuschüsse aus dem Kommunalhaushalt nötig waren. Eine interessante Veranstaltung – mehr: gleft.de/1CP. Am 7. Februar drehte sich dann alles um die Drogenpolitik mit ihren verschiedenen Facetten, angefangen beim medizinischen Einsatz von Opiaten und Cannabis, über die Herausforderung von Suchtberatung und der Prophylaxe durch Schulsozialarbeiter und Streetworker bis hin zur Diskussion darüber, wie eine zeitgemäße Drogenpolitik aussehen muss. Mehr: gleft.de/1CQ Simone Hock
Am 15.02. kam der Kreisvorstand zur ersten Sitzung in diesem Jahr zusammen. Als Gäste begrüßten wir den Ortsvorsitzenden von Crimmitschau, Jürgen Schunn, und unseren Kandidaten zur diesjährigen OB-Wahl in Crimmitschau, Kevin Scheibel. Einstimmig beschloss der Kreisvorstand die finanzielle Unterstützung dieser wichtigen Wahl. Die Finanzanalyse für das Jahr 2016 wurde einstimmig beschlossen und kann nach der gemeinsamen Sitzung von Kreisvorsitzendem und Schatzmeisterin mit den Ortsvorsitzenden am 22.02. in den Ortsverbänden ausgewertet werden.
In Vorbereitung der Bundestagswahl gibt es eine Projektgruppe, der die Wahlkampfverantwortlichen der Ortsverbände angehören und die vom Kreisvorsitzenden geleitet wird. Per einstimmigem Beschluss wurde der 9. Kreisparteitag für den 19.08.2017 in die Glauchauer Sachsenlandhalle einberufen. Die zahlreichen Anträge aus den Ortsverbänden zur finanziellen Unterstützung des Frauentages wurden einstimmig bestätigt. Die traditionelle Blumenbindeaktion unseres Kreisverbandes findet wieder am 07.03. in der Kreisgeschäftsstelle statt. • Simone Hock
Termine 7. März 2017, 15 Uhr, Kreisgeschäftsstelle in Zwickau Gemeinsames Binden der Frauentags-Sträuße bei Kaffee, Anekdoten und viel guter Laune 8. März 2017: Tulpen aus Amsterdam… Um 15.30 Uhr lädt DIE LINKE. Stadtverband Zwickau ins Café mit Herz (AWO) Scheffelstraße, Eckersbach zu einer Frauentagsfeier ein. Eine musikalische Reise um die Welt wird Licht und Schatten für Frauen beleuchten. Für das leibliche Wohl ist gesorgt. 15. März 2017, 18 Uhr: öffentliche Mitgliederversammlung der BO WilkauHaßlau Als Gast begrüßen wir Stefan Hartmann, stellvertretender Landesvorsitzender,
der mit einem Diavortrag über seine Reise zum ZK der KP China im vergangenen Jahr berichtet. Interessierte sind herzlich eingeladen! Ort: Kleingartenanlage Am Schmelzbach, Kreuzung B93/Griesheimer Straße 19. März 2017, 14 Uhr: Kreisjugendplenum in Hohenstein-Ernstthal, Schulstr. 5 Die linksjugend im Kreis Zwickau wählt einen neuen Vorstand, da René Hahn aus Altersgründen ausscheidet. Weiterhin gibt‘s einen Rücksowie Ausblick auf geplante Aktionen und Vorhaben. Wir bitten um rege Teilnahme – alle Mitglieder der Partei unter 35 Jahren und Jugendverbandsmitglieder sind herzlich eingeladen. Ebenso ist das Treffen offen für „Noch-Nichtmitglieder“ und Interessierte.
Sachsens Linke! 03/2017
DIE LINKE. Kreisverband Meißen
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Die „Streitkultur“ in Sachsen wird rauer Am 21. Februar 2017 wurde in das MdL-Bürgerbüro Riesa ein Stein geworfen. Es kam zu einem erheblichen Schaden an der Fensterfront. Nun ist das in den letzten Jahren häufiger geschehen, an diesem Büro seit August 2015 zum dritten Mal. In diesem Fall geschah es allerdings bei Tage und das Büro war zudem besetzt. Durch den lauten Schlag aufgeschreckt, stellt Bärbel Heym, die Vorsitzende der Kreistagsfraktion DIE LINKE, die Steinewerfer zur Rede. Dies wurde mit hässlichem Gegröle und „Mach den Schlauch zu, alte Zecke“ quittiert. Obwohl die Jugendlichen im Alter zwischen elf und 15 Jahren flüchteten, konnte die Polizei sie schnell fassen. Der Vorfall hat die Beteiligten betroffen gemacht. Jugendliche, fast noch Kinder, haben keinen Respekt vor Personen und vor dem Eigentum Dritter. Wie sich später im Gespräch herausstellte, soll das Ziel bewusst ausgesucht worden sein. Wer oder was treibt Kinder zu solcher Art „Mutproben“? Wie weit ist die Hemmschwelle gesunken? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Anfangs schien das Interesse der Presse so gering, wie bei den Fällen vorher. Ist das nicht seit Jahren so? Die Häufung der Angriffe auf Büros der Partei
DIE LINKE in den letzten Jahren war nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen, sie wurde als Erscheinung deklariert, die es seit Anfang der neunziger Jahre zu verzeichnen gebe. Werner Rellecke, Interimsdirektor der Landeszentrale für politische Bildung, wurde zu diesem Fall in der Sächsischen Zeitung vom 24. Februar 2017 wie folgt zitiert: „Das ist ein Phänomen, das es in den letzten 25 Jahren so nicht gegeben hat. Auch nicht in den 90er-Jahren. Das wirkt sich leider nicht nur in den sozialen Netzwerken aus, sondern auch im realen Leben. Das geht bis hin zur Gewalt gegen Eigentum politischer Parteien oder Personen.“ Dieser SZ-Beitrag wurde allerdings auch dazu benutzt, um auf die Angriffe auf ein Restaurant in Großenhain, vermeintlich ausgeführt durch Anhänger der „Rote Beete Fraktion“, hinzuweisen. Leider wird nicht darauf verwiesen, dass gemäß der Stellungnahme unseres Ortsverbands diese Art „Streitkultur“ nicht unsere ist. Wir missbilligen dieses Verhalten. Nicht nur eigene Erfahrungen haben zu dieser Haltung beigetragen. Nur im respektvollen Umgang sind ein friedliches Miteinander und die eigene Freiheit gesichert. Uta Knebel
DIE LINKE im Kreis Meißen liefert einen Staatssekretär Das hätten wir uns natürlich nicht träumen lassen: Ein Landtagsabgeordneter aus unserem Kreis, bereits im November 2016 vom Kreisparteitag bestätigt als Kandidat zur Bundestagswahl 2017, wird nach Berlin „abgezogen“. So hieß das damals in der DDR-Kaderpolitik. Die Berliner sind es wohl immer noch gewohnt, im Falle eines Kompetenzbedarfes nach Sachsen zu schauen. Hat sich ja bewährt. Selbst der MDR verfiel in ungewohntes DDRDeutsch und sprach von „Kaderschmiede“ Sachsen, lange nicht gehört, dieses Wort. Von „nachgefragter Kompetenz“ war sogar die Rede. „Nachfrage“ – ein klassischer Begriff aus der Marktwirtschaft, angewendet auf einen linken Politiker! Wer hätte das gedacht? Dass Sebastian Scheel bei uns, in seinem Wahlkreis, präsent war, steht außer Zweifel. Dabei hat er sicherlich nicht „das bisschen Landtag nebenbei erledigt“. Erst im Dezember 2016 hat er eine Delegation aus dem
Kreis in den Landtag eingeladen und sie gemeinsam mit Fraktionskollegin Kerstin Lauterbach nicht nur bewirtet, son-
neues Gebiet zu erarbeiten, „etwas mit Wohnen“, sagt man. So kann er sich frisch halten – und vielleicht denkt er auch
Beim Sommerfest des Willkommens in Meißen, Sommer 2015. Foto: Andreas Graff
dern auch mit seinen aktuellen Themen vertraut gemacht. Er wird nun einiges davon nicht mehr zu Ende bringen, in Sachsen. Aber er hat Gelegenheit, sich im Dörfchen Berlin ein
manchmal noch an „seinen“ Kreis Meißen zurück, wo er bei so vielen Anlässen vor Ort war und so vielen Menschen einfach mal zuhörte. Reinhard Heinrich
Rettet das Abendland (1) Die Bedrohung unserer Kultur ist nicht so einfach wegzuwischen. Das äußert sich besonders schmerzhaft, wenn unsere althergebrachten Werte mit Füßen getreten werden. Als da wäre unsere wohlklingende, von D. Martinus Luther so wohlgeformte Sprache. Noch nicht einmal in ihrer anschmiegsamsten Form, der sächsischen – nein, selbst im schlichten Hochdeutsch, das sogar halbwegs gebildete Ausländer verstehen, ist sie bedroht, unsere Muttersprache. „Wo tut es denn diesmal weh?“ – höre ich die Integrationsbeauftragten in den Ämtern fragen. Gut gefragt! Die Bedrohung geht von halbgebildeten Personen in öffentlicher Position aus. Unsere Sprache wird öffentlich nicht für voll genommen. Nicht, dass ich dem staatsratsvorsitzenden Dachdecker sein „entsprechend des“ am Zeuge flicken will.
Handwerker im Staatsdienst dürfen Bildungslücken haben und auch zeigen. Und außerdem hatte er es dummen Wessis abgelauscht, wie wir heute wissen. Ein “des-entsprechend” ist ihm ja nie über die Lippen gekommen. Als aber dieser Tage ein Politiker angeblich „den Opfern ... gedachte“, zuckte ich zusammen. Nicht über den Politiker, dessen Name nichts zur Sache tut, sondern über die Radio-Sprecherin des MDR – und jetzt kommt’s: KULTUR. Mein Blümelein VergissMIRnicht neben dem Müllkübel für deutschen Sprache lachte höhnisch. Irgendwann werden wir alle „die Oma winken tun“, weil „Schantall“ ihren Master in Germanistik notdürftig bestanden hat und jetzt beim Rundfunk arbeiten darf. „Da duht sisch Mensch abber freuen, eh.“ • Sophia Sinner
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DIE LINKE. Kreisverband Bautzen
03/2017 Sachsens Linke!
Was tun gegen rechts? Hingehen und die soziale Frage stellen! Der Rechtsruck ist leider kein Problem von Bautzen allein oder von Sachsen oder Deutschland. Er ist ein europäisches, wenn nicht weltweites Phänomen, wenn wir uns Rechtspopulisten wie Donald Trump oder Erdogan ansehen. Doch was tun? Sicherlich nicht den Rechten nach dem Munde reden! Leider wird es nicht jedem gefallen, aber unsere Solidarität gilt allen Menschen, auch denjenigen, die vor Terror und Not fliehen und zu uns kommen. Wie können wir also Menschen überzeugen, die Angst haben, dass es ihnen wegen der Flüchtlinge schlechter gehen könnte? Indem wir hingehen und mit ihnen darüber sprechen, was eigentlich die große soziale Ungerechtigkeiten in diesem Land ist: die ungerechte Verteilung zwischen Arm & Reich! Ich besuche jedes Jahr die Tafeln in meinem Landkreis. Es ist wichtig, das nicht nur im Wahljahr zu tun, denn dann werden wir nicht ernst genommen. Natürlich musste ich da in den letzten beiden Jahren feststellen, dass viele Menschen die Flüchtlingsfrage umtreibt. Gregor Gysi hat in einer seiner wunderbaren Reden einem Bürger die folgende Frage ge-
stellt: „Geht es ihnen schlechter, seitdem mehr Flüchtlinge da sind? War Hartz IV vorher höher? Ist ihre Rente durch die Flüchtlinge gesunken?“ Genau diese Fragen habe ich auch bei der Tafel gestellt. Die Antwort war natürlich: Nein! Es ist wichtig klarzumachen, dass niemand persönliche Nachteile durch Flüchtlinge hat, sondern die Verarmung, die Rentenungleichheit zwischen Ost und West, der Abbau von Sozialwohnungen schon lange vor den Flüchtlingen von der falschen Politik der Bundesregie-
rung herrühren, ob nun der rotgrünen unter Schröder oder der schwarz-gelben und schwarzroten unter Merkel. Daran zu erinnern und das klarzumachen, ist wichtig. Und ich habe auch festgestellt: Seitdem mehr Flüchtlinge zur Tafel kommen, hat sich die Situation nicht verschlechtert, sondern verbessert. Viele Deutsche sehen, dass Flüchtlinge eben nicht alles geschenkt bekommen, wie uns AfD und Pegida glauben machen wollen. Dass sie selber am meisten betroffen sind von Armut. Ei-
ne gute Grundlage für Solidarität untereinander und dafür, den Kampf gegen diejenigen zu führen, die tatsächlich schuld an so vielem sind: an der wachsenden Schere zwischen Arm & Reich, an der anhaltenden Vernachlässigung des Ostens, an stagnierenden Löhnen und steigenden Mieten. Lassen wir uns von AfD und Pegida nicht einreden, dass die Flüchtlingsfrage die soziale Frage sei. Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen unten und oben! Caren Lay
Zu Besuch bei der Tafel in Bautzen.
Aus der Opposition die Welt verändern?! „Lohnt es sich überhaupt, DIE LINKE zu wählen, ihr seid doch in der Opposition, eure Anträge werden immer abgelehnt, was könnt ihr überhaupt bewirken?“ Solche Fragen begegnen uns an jedem Infostand, in jeder Bürgersprechstunde und mit Blick auf den Wahlkampf werden sie sich häufen. Gerade deswegen ist es wichtig, sie beantworten zu können. Ich sage: Ja, es lohnt sich, DIE LINKE zu wählen, auch aus der Opposition können wir die Welt verändern. Selbst in der Wahlkreisarbeit vor Ort. Ein paar Beispiele aus meiner Wahlkreisarbeit der letzten Legislatur: 1. Mehr Stellen für die Familienkasse Bautzen! Viele Familien haben sich in den letzten Jahren an mich gewandt, weil die Familienkasse Bautzen das dringend benötigte Kindergeld manchmal monatelang nicht auszahlte, Anträge nicht bearbeitet wurden. Es fehlte einfach Personal, nachdem die Familienkasse durch eine Umstrukturierung deutlich mehr Fälle auf den Tisch bekam. Es ist zwar traurig, dass die Fallbearbeitung erst schneller geht, wenn eine
Bundestagsabgeordnete Briefe schreibt, aber so kommen die Leute wenigstens zu ihrem Recht – und ihrem Geld. Nachdem bundesweit darüber berichtet wurde, stellte man mehr Personal ein – leider zunächst befristet. Zum Glück haben wir rechtzeitig mitbekommen, dass die Leute kurz vor der Entlassung standen. Unser Druck bei der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg hat dazu geführt, dass die Beschäftigten nicht entlassen, sondern unbefristet beschäftigt wurden. Ein Erfolg für die Arbeitnehmer – und die betroffenen Familien! 2. Mehr Geld für die Stiftung für das Sorbische Volk Jahrelang gab es hinter den Kulissen ein unwürdiges Gezerre um 500.000 Euro. Das ist für den Bundeshaushalt wirklich nicht viel, sichert im Landkreis aber die Arbeit der Stiftung – und ganz konkrete Stellen beim Sorbischen Institut in Bautzen. Unzählige Male habe ich in den Haushaltsverhandlungen die Aufstockung der Mittel gefordert, jetzt ist es endlich soweit. Ich freue mich, auch für die Menschen, die ihren Arbeitsplatz behalten können!
3. Keine Kürzungen bei den Zügen! Der Bund wollte die Gelder für den Schienenverkehr für Sachsen einfrieren, während bevölkerungsreiche Länder wie NRW mehr Geld bekommen sollten. Das hätte unsere Region weiter ausbluten lassen. Die Menschen wollen sich – zu Recht – nicht weiter abhängen lassen. Wir haben dazu im Bundestag einen Antrag eingebracht, ich habe zum ersten Mal zu einem verkehrspolitischen Thema gesprochen. Der Antrag wurde zwar abgelehnt, aber die Regierung hat dann, getrieben durch uns, selbst Geld draufgelegt. Jetzt ist klar: Auch nach 2018 werden Personenzüge von Hoyerswerda nach Görlitz fahren und die Zugverbindung GörlitzBautzen-Dresden bzw. ZittauBischofswerda-Dresden wird nicht unnötig eingeschränkt. Ein Erfolg für DIE LINKE! 4. Den Strukturwandel in der Lausitz begleiten – die Region nicht hängen lassen! Klar ist: Der Strukturwandel in der Lausitz wird nicht nur kommen, wir sind schon mittendrin. Die Frage ist nur: Wird es,
wie nach der Wende, ohne irgendeine staatliche Unterstützung laufen? Wird man zusehen, wie tausende arbeitslos werden und die Region weiter ausblutet? Ist irgendwann einfach Schicht im Schacht? Oder gibt es Unterstützung durch die Politik, wie es sie etwa in den Steinkohlerevieren im Westen gegeben hat? Wir LINKE fordern Letzteres. Die Region braucht Unterstützung, um sich von der Abhängigkeit von der Braunkohle zu lösen, ohne dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren und die Wertschöpfung flöten geht. Nachdem es DIE LINKE immer wieder gefordert hat, gibt es nun endlich einen Strukturwandelfonds für die Lausitz – noch zu schlecht ausgestattet und zu begrenzt in der Anwendbarkeit, aber das Problem ist erkannt und der erste Schritt getan. Jetzt gilt es, den Fonds mit mehr Geld auszustatten. Wir bleiben dran! Also: Mit Engagement und einem langem Atem kann DIE LINKE etwas bewirken, nicht nur auf der großen Bühne, sondern ganz konkret für Menschen vor Ort! Caren Lay
Schulpolitischer Dialog in Kamenz Wie soll in Sachsen die Schule der Zukunft aussehen? Marion Junge, LINKE Landtagsabgeordnete aus Kamenz, hatte am 19. Januar die bildungspolitischen Sprecher*innen der demokratischen Fraktionen zur Diskussion eingeladen. So waren von der Koalition Lothar Bienst (CDU) und Sabine Friedel (SPD) und von der größten Oppositionsfraktion Cornelia Falken (DIE LINKE) angereist. Es ging um das neue Schulgesetz und darum, wann es kommt. Lothar Bienst sprach von 50 Änderungsanträgen, die einzuarbeiten waren. Sabine Friedel sah noch größere Baustellen bei der beruflichen Bildung, Inklusion und Eigenverantwortung von Schulen. DIE LINKE will ein eigenes Gesetz 2018/19 vorlegen, da dieses Schulgesetz nicht zukunftsfähig sei. Der Lehrermangel wurde ebenfalls heiß diskutiert. Die Koalition hat im Dezember 2016 ein Maßnahmenpaket zur Lehrerversorgung verabschiedet. Cornelia Falken kritisiert, dass zu wenig für die Bestandslehrer*innen getan wird. In Sachsen fehlen viele gut ausgebildete Lehrer*innen, weil die Staatsregierung den Generationswechsel verschlafen hat. Beim Thema Inklusion gab es größere Kontroversen. Lothar Bienst will grundsätzlich am Konzept der Förderschulen festhalten. Er stellte das Inklusions-Konzept der Koalition vor. Hier mahnte Sabine Friedel an, die Maßnahmen auch mit Ressourcen zu unterlegen. Cornelia Falken begrüßte das überfällige Konzept zwar, wies aber darauf hin, dass Inklusion und Integration zwei unterschiedliche Dinge sind. Es gehe nicht darum, alle einfach in die normale Schule reinzuholen, sondern sie ab der ersten Klasse hineinwachsen zu lassen. Wichtig sei, dass begleitende Voraussetzungen geschaffen werden, beispielsweise die Diagnostik vor Ort. Sie beklagte, dass dieses Konzept nicht mit den Lehrern abgestimmt worden sei. Fazit: Will man die Bildung zukunftsfest machen, gibt es in Sachsens Schullandschaft viel zu tun. Der schulpolitische Dialog ist sehr wichtig, er muss fortgesetzt werden!
Sachsens Linke! 03/2017
Der Finanzbeirat informiert
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Entwurf eines neuen Finanzkonzepts für den sächsischen Landesverband der LINKEN Der Finanzbeirat hat in der AG Finanzen, die zum 13. Landesparteitages im Juni 2016 berufen wurde, aktiv mitgearbeitet. Er hat der AG Finanzen ein Grundgerüst für ein weiterreichendes, langfristiges Finanzkonzept vorgelegt. Dieses Dokument fand jedoch in der AG Finanzen kaum Beachtung. Das den Mitgliedern der AG Finanzen vorgelegte Abschlussdokument vom 15.01.2017 stellt in den Augen des Finanzbeirats eine Zusammenfassung aller Beratungen mit Ergebnisdarstellungen zu den jeweiligen Punkten dar, jedoch kein Konzept für die weitere Arbeit auf dem Gebiet der Finanzen des Landesverbandes Sachsen. Somit wurde nach der Auffassung des Finanzbeirates die an die AG Finanzen gestellte Aufgabe nicht erfüllt. Um ein zukunftsfähiges Konzept auf dem kommenden Parteitag beschließen zu können, möchten wir hier unseren Entwurf für ein neues, mögliches Finanzkonzept für unseren Landesverband unseren Mitgliedern zur Diskussion stellen. Wir möchten alle Parteimitglieder ausdrücklich auffordern, sich an der Diskussion um ein neues
Finanzkonzept zu beteiligen. Sendet Emails an finanzbeirat@dielinke-sachsen.de, ladet uns zu Veranstaltungen/ Versammlungen ein, schreibt uns Briefe … Wir sind für alle zielführenden Diskussionen offen. Für uns gelten folgende Grundprämissen: Nötig ist ein solidarisches Miteinander. Es gibt einen gemeinsamen Wahlkampffonds für Wahlkämpfe in den Folgejahren. Ein Reinreden in kreisinterne Finanzausgaben findet nicht statt. Und wir wollen Anreize schaffen für Gebietsverbände, die den Durchschnittsbeitrag weiter erhöhen. Die Einnahmequellen im Landesverband sind vor allem sämtliche Mitgliedsbeiträge, Spenden, Mandatsträgerbeiträge und staatliche Mittel. Wir schlagen die folgenden fünf Schritte vor. Erstens: Es wird ein vom Landesvorstand verwaltetes, gemeinsames Konto auf Landesebene gebildet und mit nachfolgenden Mitteln gespeist: sämtliche Mitgliedsbeiträge, alle staatlichen Mittel, 50% der am 31.12.2017
festgestellten flüssigen Finanzmittel incl. der Rücklagen aller Kreis- und Stadtverbände sowie des Landesvorstandes. Zweitens: Für die Finanzierung der Kreis- und Stadtverbände überweist der Landesvorstand auf die eigenen Konten der Kreisverbände Mittel wie folgt: für kleine Kreisverbände 20.000 €/ Jahr, für mittlere Kreisverbände 27.500 €/Jahr, für große Kreisverbände 35.000 €/Jahr und für den Landesvorstand 160.000 €/Jahr. Jahr für Jahr werden diese Zuschüsse um 2 Prozent zurückgefahren. Dabei zählen Kreisverbände mit weniger als 400 Mitgliedern als kleine und jene mit mehr als 700 Mitgliedern als große Kreisverbände. Drittens: Zur weiteren Finanzierung der einzelnen Gliederungen stehen denselben zur Verfügung: Spenden in der jeweiligen Gliederung, Mandatsträgerbeiträge in der jeweiligen Gliederung, die den vom kleinen Parteitag beschlossenen Gesamtbeitrag (Durchschnittsbeitrag multipliziert mit den Mitgliedern)
des jeweiligen Kreisverbandes übersteigenden Mehreinnahmen zu 100 Prozent (Im Umkehrschluss werden die Mindereinnahmen zu 100 Prozent abgezogen), Erbschaften, die an die jeweiligen Gliederungen gehen, Rücklagen, die die Kreisverbände aus ihren zur Verfügung stehenden Mitteln bilden. Viertens: Die Wahlkampfinanzierung erfolgt für alle kleinen Kreisverbände alle vier Jahre mit 5.000 € (Bundestagswahl), alle fünf Jahre mit 20.000 € (restliche Wahlen). Für mittlere Kreisverbände alle vier Jahre mit 7.500 € (BTW), alle fünf Jahre mit 30.000 € (restliche Wahlen). Für große Kreisverbände alle vier Jahre mit 10.000 Euro (BTW), alle fünf Jahre mit 40.000 € (restliche Wahlen). Für den Landesvorstand alle vier Jahre mit 170.000 € (BTW), alle fünf Jahre mit 600.000 € (restliche Wahlen). Ausnahme: Für die Wahl 2019 erhalten die Gliederungen nur 50% der oben genannten Summen. Fünftens: Personalzuschüsse werden aus dem gemeinsamen Konto finanziert: für
große Kreisverbände (siehe oben) mit 30.000 €/Jahr, für den Landesvorstand entsprechend dem tatsächlichen Aufwand. Das Finanzkonzept soll zum 01.01.2018 in Kraft treten und für alle Gliederungen des Landesverbandes der LINKEN Sachsen gelten. Weitere Regelungen sind der Bundesbzw. Landessatzung sowie der Bundes- bzw. Landes-Finanzordnung zu entnehmen. Konkrete Durchführungsbestimmungen sind nach Bestätigung des Finanzkonzeptes zu erarbeiten. Aus dem oben dargelegten Konzept ergibt sich die in der Tabelle aufgeführte finanzielle Entwicklung für ein gemeinsames Konto von Landesvorstand und Kreisverbänden, aus dem alle wesentlichen Ausgaben bestritten werden (Mandatsträgerbeiträge, Spenden und sonstige Einnahmen sind hier nicht zu berücksichtigen, da sie in die Verantwortungsbereich der jeweiligen Ebene zählen). Jan-Robert Karas, Bernd Spolwig
Unterstützung für den FC Kálló Seit Jahren sind die Bürgerinitiative „Leipzig Korrektiv“ und der Verein Verantwortung für Flüchtlinge e.V. im ungarischen Dorf Kálló tätig. Begonnen hat die Arbeit mit der Ausgabe von Saatgut, damit die Roma zusätzliche Nahrungsmittel anbauen können. Auch wurde gemeinsam mit einer schweizerischen NGO erreicht, dass 18 Bewohnen ihren 8. KlasseAbschluss nachholen konnten. Ein weiteres Projekt, das unterstützt wird, ist der Fußballverein FC Kálló. In ihm spielen je zur Hälfte Roma und Nicht-Roma. Als wir vor Jahren begannen, den Fußballclub zu unterstützen, gab es im Dorf einen
rassistischen Bürgermeister, der aktiv gegen den Verein vorging. Der heutige Bürgermeister Buda Baboss wurde von den Roma erfolgreich bei der Wahlvorbereitung unterstützt. Er hat sich für die ansässigen Roma als guter Partner und Förderer erwiesen. Seine Versprechen, den FC Kálló zu unterstützen und sich für die Belange der Roma einzusetzen, hat er bis heute weitestgehend erfüllt. Der FC Kálló hat in der letzten Saison leider knapp den Aufstieg verpasst. Der Bürgermeister berichtete jedoch in einem Gespräch mit dem Verein „Verantwortung für Flüchtlinge“ und der BI „Leip-
zig Korrektiv“ davon, dass ein Großteil der Mehrheitsbevölkerung (Nicht-Roma) den FC Kálló und die Roma weiter negativ sehen. Dem will der Bürgermeister weiter entgegenwirken. Seit seinem Amtsantritt hat er die Roma vielseitig unterstützt und durch ein gefördertes EU-Projekt Arbeitsplätze für fünf Roma geschaffen. Sie stellen mithilfe von Lehm und Stroh sogenannte Bio-Lehmziegel her. Sie werden verwendet, um die traditionell gebauten Häuser der Roma zu reparieren. Auf Bitten der Roma von Kálló sowie auf Bitte des Bürgermeisters wurde der Verein „Verantwortung für Flüchtlinge“ angeregt, ein neu-
es Projekt zu unterstützen. Der FC Kálló hat einen Sportplatz, aber leider kein Sozialgebäude, mit Umkleideräumen und Duschen. Der Bürgermeister und die Roma-Vertreter sowie der Vorsitzende des Sportvereins sagen, dass angrenzend an den Sportplatz ein kleines Grundstück mit einer Bauruine steht. Der FC Kálló würde dieses Grundstück inklusive der Ruine (das Fundament ist in Ordnung) kaufen wollen. Der Kaufpreis beträgt 2.000 Euro. Wenn dieses Grundstück bezahlt ist, kann der Verein es als Eigenkapital einsetzen, um weitere 8.000 Euro Kredit für den Bau des So-
zialgebäudes in traditioneller Bauweise zu bekommen. Das würde auch helfen, die fünf Arbeitsplätze zu erhalten. Leider fehlen die 2.000 Euro bislang. Der Bürgermeister beabsichtigt, der Bevölkerung bewusst zu machen, dass ein gemeinsames Handeln und Vorgehen, wie zum Beispiel beim Bau des Hauses, ein friedliches und diskriminierungsfreies Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft möglich ist. Wir möchten das gern unterstützen und bitten um Spenden an Verantwortung für Flüchtlinge e.V., Sparkasse Leipzig, IBAN: DE26860555921090088457, Zweck „Projekt FC – Kálló“
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Die junge Welt wird 70 Doch: Es ist schön, dass es sie noch gibt. Petra Pau, Gregor Gysi und Katja Kipping lieben sie nicht gerade – andere hassen sie gar. Der Umgang mit ihr ist ein Sinnbild für die innere Zerrissenheit des linken Lagers, die sich im Umgang mit der linken Presse durch die Linken widerspiegelt. Was liegt näher, als in der Feuilletonredaktion beim neuen deutschland nachzufragen, ob dort der freie Mitarbeiter Hans-Dieter Schütt einen Beitrag zum 70. Geburtstag der jungen Welt schreiben wird? Doch in der Redaktion winkt man ab. Maximal kann man sich eine kurze Nachricht vorstellen. Erstaunlich, beschäftigte man doch im Feuilleton des nd über Jahre den ehemaligen Chefredakteur der jungen Welt, eben jenen HansDieter Schütt. Ob sich die Kollegen beim nd vorstellen können, dass „Schütti“ bei der großen Feier im Kino International auf der Karl-Marx-Allee auftreten wird? Aber sicher, er habe ja keine schlechten Kontakte zu seiner ehemaligen Zeitung. Das ehemalige Premierenkino der DDR liegt nicht weit vom Alex entfernt. Im Großen Saal sollen etwa 600 Gäste Platz finden. Die Saalmiete sei sehr teuer gewesen, hört man. Auf der anderen Straßenseite sieht man das Cafe Moskwa – es ist noch alles da: Die junge Welt, der Alexanderplatz mit der Weltzeituhr, die Karl-MarxAllee, das Kino International. Mehr DDR-Erinnerungen an einem Ort kann man sich kaum vorstellen. Es herrscht ein wenig familiäre Atmosphäre, schließlich waren die Betriebe der DDR auch so etwas wie Familien: Wurde jemand 50 oder 60, dann stand der halbe Betrieb schon mal für einen Moment fast still – die Gratulanten kamen und ließen sich Zeit. In den Zeiten, als Zeit nicht Geld,
sondern Leben war. Wer am 25. Februar den Weg ins Kino ging, kennt das wahrscheinlich – die Besucher waren zum großen Teil älter als 60. Viele waren einst Mitarbeiter dieser Zeitung, die 1947 erstmals als Wochenblatt erschien. Als ich das erste Mal die junge Welt in die Hand nahm, war ich 14. Damit lag ich absolut im Plan – denn in der Schule startete der Jungpionier mit der ABC Zeitung, bevor der Thälmannpionier die Trommel nahm. Dann schließlich, in der achten Klasse als FDJler, brach die Zeit der jungen Welt an. 15 Pfennige kostete das Blatt – und ich las es natürlich im Abo, das meine Eltern für mich abgeschlossen hatten. Auch wenn mich Sport nie besonders interessiert hat, einmal im Jahr packte einen das Thema doch: Dann wurde der Sportler, die Sportlerin oder die Mannschaft des Jahres gewählt – jeder Leser war angesprochen, seinen Tipp abzugeben. Bei 17 Millionen Einwohnern der DDR brachte es die junge Welt bis 1989 auf 1,3 Millionen Leser! Konnte man sich das nach der
„Wende“ noch vorstellen? Die Jugend eines Landes liest eine Jugendzeitung? Vergleichbares hat es im Westen Deutschlands zu keinem Zeitpunkt gegeben. Heute ist das Sportarchiv der jungen Welt das beste Sportarchiv einer Zeitung zum DDRSport überhaupt. Leider konnte Täve Schur nicht kommen – der 86jährige ist erkältet, aber nach wie vor ein großer Fan der jungen welt. Täve lebt so wie die Erinnerung an die Rubrik „Unter vier Augen“ von Jutta Resch-Treuwerth. Diese zwei Spalten musste man lesen – wie spricht man ein Mädchen an? Wer bezahlt, wenn man ausgeht? Die Aufklärung der DDR-Jugend hatte einen Namen: Jutta Resch-Treuwerth. Und Schütt, der alte Demagoge? Er kommt zum Geburtstag nicht aufs Podium. 2009 hat er mit der jungen Welt und seiner Arbeit abgerechnet in seiner Biographie „Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR“: „Ich kenne niemanden mit einem auch nur mittelmäßig wachen Geist, der einem SED- oder FDJ-Medium in der Rückschau noch mehr
zubilligt, als nur Windmacher für das Fahnenflattern gewesen zu sein.“ Die harte Selbstabrechnung eines Linientreuen, der die Stellung hielt, bis es keine Linie mehr gab. Heute erscheint die junge Welt mit 20.000 Exemplaren. Es gibt immer mehr Genossen, die sie als Hausbank finanzieren, und auch die Auflage steigt wieder. Im letzten Jahr klappte es dann mit der Westausdehnung: Vom Druckstandort Dreieich bei Frankfurt am Main wird das Rhein-Main-Gebiet, der RheinNeckar-Raum sowie Bayern, Baden-Württemberg und Österreich abgedeckt. Die junge Welt ist heute eine von sechs überregionalen Zeitungen in Deutschland. Links, marxistisch, radikal und unbequem wie keine andere. Nicht mehr blutjung, aber alles andere als alt und gestrig. Wer will, kann sich von der Qualität des Blattes im Netz überzeugen. Unter www.jungewelt.de ist am Vorabend schon ein großer Teil der neuen Ausgabe im Netz zu lesen. Wer kein Internet hat, braucht einen guten Kiosk in der Nähe. Ralf Richter Bild: Ralf Richter
Geschmäht, ignoriert, fast vernichtet, doch nicht tot zu kriegen – die junge welt hält Kurs
Vor 75 Jahren ermordet: Rosa Menzer Am 4. Januar 1886 als Tochter eines armen jüdischen Handwerkers in Plungjany/Litauen geboren, wurde Dresden 1910 für Rosa Menzer zur Wahlheimat. Hier lernte sie die deutsche Arbeiterbewegung und deren Geschichte kennen, wozu auch die von ihr besuchten Kurse des Arbeiterbildungsvereins beitrugen. Nach ihrer Heirat mit dem Schriftsteller und Bildhauer Max Menzer trat sie 1912 in die SPD ein. Später wurde sie Mitglied der USPD
und danach Mitglied der KPD. In ihrem Wohngebiet in Dresden-Striesen verkaufte sie sozialistische Literatur und trug auf vielfältige Weise zur Wirksamkeit der KPD bei. Sie leitete den „Roten Frauen- und Mädchenbund“ und die Gruppe „Internationale Arbeiterhilfe“. 1924 verstarb ihr Ehemann, womit die Sorge für ihre zwei Töchter allein in ihren Händen lag. Im November 1933 wurde ihre 16-jährige älteste Tochter wegen ihrer illegalen Tätigkeit im
„Kommunistischen Jugendverband Deutschland“ für zehn Monate inhaftiert. 1934 verurteilten die Nazirichter Rosa Menzer zu eineinhalb Jahren Gefängnis. Obwohl sie nach ihrer Entlassung unter ständiger Polizeiaufsicht stand, fand sie dennoch Mittel und Wege zur Teilnahme am illegalen antifaschistischen Widerstand. 1939 brachte sie die Gestapo, ohne ihr die Widerstandsarbeit nachweisen zu können, in das Frauen-KZ Ravensbrück, wo sie
bald zu den Organisatoren des geheimen Widerstands im Lager gehörte. Im März 1942 erfolgte ihre Überführung in das Vernichtungslager Auschwitz. Kurz nach ihrer Ankunft, der genaue Tag ist nicht bekannt, wurde Rosa Menzer als jüdische Kommunistin ermordet. Anlässlich des Internationalen Frauentages 2017 soll ihrer gedacht sein, stellvertretend für zehntausende von den deutschen Faschisten ermordeten Frauen. Prof. Dr. Kurt Schneider
Die LAG FiP blickt aufs Wahljahr Die LAG Frieden/internationale Politik Sachsen traf sich im Dezember zu ihrem Jahrestreffen in Leipzig. Dort wurden unter anderem Sprecher und Delegierte gewählt und Projekte wie der Rüstungsatlas Sachsen beraten. Auch wurde die folgende Erklärung verabschiedet: Die im Jahr 2017 anstehenden Bundestagswahlen haben für die Perspektive eines friedlichen Europa und einer friedlichen Welt eine entscheidende Bedeutung. Der Krieg in Syrien, der weiter schwelende Konflikt in der Ukraine, die von der NATO angetriebene Dynamik der Aufrüstung im Osten Europas, die Unwägbarkeiten des US-Agierens unter Trump – und nicht zuletzt die wiedererwachten deutschen Großmachtträume –: all das braucht eine konsequent friedenspolitisch agierende linke Partei in Deutschland als Druckmittel gegenüber der gegenwärtigen deutschen Außenpolitik. Wir sind uns einig, dass diese Herausforderungen von der LINKEN nur erfolgreich bestanden werden können, wenn unsere Partei und ihre KandidatInnen im Bundestagswahlkampf die friedenspolitischen Positionen des Erfurter Programms deutlich und offen artikulieren. Das gilt auch und gerade im Hinblick auf die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Perspektive. Deshalb sichern wir insbesondere denjenigen KandidatInnen unsere Unterstützung zu, die sich im Rahmen ihrer Kandidatur eindeutig zu den friedenspolitischen Grundsätzen unseres Erfurter Programms bekennen: zu einer Außenpolitik der Krisenprävention und friedlichen Konfliktlösung, zur Ablehnung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr, und der klaren Absicht, mit der Schließung von ausländischen Militärbasen wie Ramstein erste Schritte zum Austritt der Bundesrepublik aus den militärischen Strukturen der NATO zu gehen. Das Verbot von Rüstungsexporten und das Verbot jeglicher atomarer Waffen auf deutschem Boden gehören ebenso dazu wie das entschlossene Hinwirken auf eine deutliche Absenkung des Militäretats zugunsten des Etats für Entwicklungspolitik und die Ablehnung des „Werben fürs Sterben“ durch die Bundeswehr. Unsere KandidatInnen müssen auch deutlich machen, dass wir LINKE uns weiterhin als Teil der Friedensbewegung verstehen und diese aktiv unterstützen.
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Jugend
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Die Linksjugend unterwegs in Athen Vom 20. bis 26. Februar war eine 15-köpfige Delegation der linksjugend Sachsen in Athen unterwegs. Bei wunderschönem Wetter konnten wir Sehenswürdigkeiten wie die Akropolis oder den alten Königspalast (heute Parlamentsgebäude) am Syntagma-Platz erkunden. Natürlich stand auf unserer Bildungsreise nicht nur Touristenkram auf dem Plan, sondern auch ein Treffen mit unseren GenossInnen von der SYRIZA-Jugend. Dabei lernten wir einiges über die Entstehung und Entwicklung von SYRIZA und die Situation der griechischen Linken. Die SYRIZA-Jugend hat eine interessante und
schwierige Zeit durchgemacht. Im letzten Jahr verließen 35 Prozent der Mitglieder den Jugendverband, aus Protest gegen die Regierung. Letztlich ging es in unseren Diskussionen vor allem um die Abschottung der EU und die Austeritätspolitik. Des Weiteren beschäftigten wir uns mit dem Partisanenwiderstand während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg und dem Studentenaufstand während der Militärdiktatur. Man könnte natürlich noch viel mehr schreiben. Wer tolle Bilder sehen möchte, dem können wir unseren instagram-Account (@ linksjugendsolidsachsen) empfehlen. Paul Gruber
Gut kombiniert: Das Wahlkombinat Anknüpfend an unsere Struktur zur Vorbereitung der Landtagswahlkampagne 2014 treffen sich Teile der Linksjugend Sachsen auch zur diesjährigen Bundestagswahl unter dem Namen „Wahlkombinat“. Eine offene Struktur, bei der alle Mitglieder und Sympathisant_ innen eingeladen sind, mitzuwirken. (Wenn ihr mitmachen wollt, schreibt an jacob.wagner@linksjugend-sachsen.de.) Mit unserer damaligen Landtagswahlkampagne „Regierung stürzen ...“ haben wir gezeigt, dass wir eine Kampagne auf die Beine stellen können, die auch überregional bekannt wird. So bekamen wir Zuspruch aus vielen anderen Landesverbänden und sogar aus Österreich. Das ermutigt natürlich, legt aber auch den Anspruch fest, dieses Jahr wieder eine gut durch-
dachte Kampagne zu starten. Beim Landesjugendplenum im Herbst haben wir unsere sieben Schwerpunkte für die Bundestagswahl beschlossen: Europa, Energiewende, Recht auf Stadt, Prekarität, Laizismus, Demokratie für alle und Drogenpolitik (gleft.de/1Cg). Gerade sind wir noch in der Findungsphase für einen Slogan. Dabei wollen wir eine positive Vision davon eröffnen, wie eine schönere Welt aussehen könnte. Noch mehr Nationalismus ist keine Option, doch entwickeln sich die Länder des Westens in diese Richtung. Ganz klar liegt die Lösung aber nicht in der Rückkehr zu nationalstaatlichen Kompetenzen, sondern in einem solidarischen Europa. Das heißt zum Beispiel, mit einem Länderfinanzausgleich dafür zu sorgen,
dass es Menschen in strukturschwachen Regionen genauso gut geht wie denen in reicheren Regionen. Außerdem braucht es eine gemeinsame Rechtsetzung, die Steuerflucht Einhalt gebieten sowie einheitliche (Unternehmens-)Steuern festlegen kann. Uns geht es unter anderem darum, eine Vision zu entwickeln, wie ein gerechtes und offenes Europa aussehen könnte. Mit offenem Europa meinen wir vor allem offene Grenzen, sodass jeder Mensch in Europa eine Heimat finden kann. Da der Reichtum der Länder Europas seit Jahrhunderten auf den Ressourcen anderer Weltregionen fußt, ist es nur gerecht, wenn Menschen, die aus den ausgebeuteten Ländern fliehen, hier eine neue Heimat finden können. Ein offenes Eu-
ropa schließt aber auch eine kulturelle und religiöse Offenheit ein. Voraussetzung dafür ist ein Staat, der keine Religion einer anderen vorzieht – ein laizistischer Staat. Das ist aber leider für viele derzeit kein wichtiges Thema, obwohl die christliche Kirche noch immer viele Zuwendungen und Privilegien bekommt, die andere Religionen in Deutschland nicht genießen. Wir wollen einen Staat, der keine Leitkultur und Leitreligion vorgibt, sondern einen Rahmen bildet, in dem alle Kulturen und Religionen gleichberechtigt gelebt werden können. Die Grundlage für diese Welt ist aber, dass alle Menschen, die hier leben, auch mitbestimmen können. Unser Ziel ist es, junge Menschen dafür zu begeistern. Zu zeigen, dass es sich lohnt, für
Landesjugendplenum am 17.-19. März in Limbach-Oberfrohna Am dritten Märzwochenende trifft sich der Jugendverband zu seiner ersten Vollversammlung 2017, auch bekannt unter dem Namen Landesjugendplenum/Landesjugendtag. Um unserem Anspruch, die dörflichen Gebiete in unsere Arbeit einzubeziehen, gerecht zu werden, wird das Treffen im wunderschönen Limbach-Oberfrohna stattfinden, genauer
gesagt im „Feriendorf Hoher Hain“ (Mühlauer Weg 11). Wie immer im Frühjahr werden wir unsere Bundeskongress-Delegierten wählen, die uns beim höchsten bundesweiten Gremium der linksjugend [‘solid] vertreten. Außerdem soll es ein großes inhaltliches Programm geben: So gibt es eine riesige Workshop-Runde zum Thema Awareness, die hoffent-
lich dazu führt, dass wir für das Thema sensibilisieren und damit dem Ziel, linksjugendVeranstaltungen für alle angenehm zu gestalten, deutlich näher kommen. Außerdem wollen wir in zwei Diskussionsrunden zu Knackpunkten unseres Landesverbandes Argumente austauschen und hoffentlich ein Ergebnis produzieren, mit dem alle zufrieden sind. So holen
wir unsere Debatte zum Bedingungslosen Grundeinkommen nach und bequatschen, was mit euren Mitgliedsbeiträgen passieren soll. Du möchtest zum BuKo fahren? Dir gefällt mindestens eins der drei Themen? Du hast Lust auf den coolsten Jugendverband der Welt? Hier geht‘s zur Anmeldung: www.gleft.de/1CB Marius für den Beauftragtenrat
Endlich wird wieder anders getickt! Yippieyeah und Hooray! Nach einem traurigen Jahr der Abstinenz ist er wieder da: Der beliebte MÄRZKALENDER der Linksjugend Sachsen! Von März 2017 bis März 2018 wird das besonders (aber mitnichten aus-
schließlich) bei Studierenden beliebte bunte, große, praktische und unangepasste Stück Papier die Wände allerlei Zimmer optisch aufwerten und dafür sorgen, dass nie wieder wichtige Termine vergessen werden.
Egal ob BPT, CSD oder LJP, der Märzkalender hat die Daten eintätowiert bekommen. Wie gelangt man* nun an das Objekt der Begierde? Easy: Einfach eine nette Mail an kontakt@linksjugend-sachsen.de senden und ab der
Verschickung der Mail den Briefkasten nicht mehr aus den Augen lassen. Oder ihr besucht uns bei unserem nächsten Landesjugendplenum in Limbach-Oberfrohna, da bringen wir das gute Stück nämlich auch mit. :)
Forderungen zu kämpfen. Zum einen um die Gesellschaft progressiv zu verändern, zum anderen, weil es auch bitter nötig wird, Fortschritte gegen Rechts zu verteidigen. Wir wollen dabei im ganzen Land präsent sein. Für den Beginn des Wahlkampfes sind wir gerade dabei, mit den Jusos und der Grünen Jugend Podien an Schulen zu planen, bei denen wir mit den Schüler_innen über ihre Vorstellungen diskutieren werden. Auch die Jungliberale Aktion und die Junge Union haben Interesse, sich der Diskussion zu stellen. Wir wollen diese politische Auseinandersetzung im öffentlichen Raum, wir wollen eine bessere Welt – und hoffen, dafür Mitstreiter_innen zu finden! Jacob Wagner, Wahlkampfkoordinator
Termine 4. März: Naziaufmarsch verhindern in Leipzig-Connewitz. Vermutlich werden Gegenproteste organisiert, hört euch bitte um! 6. März: Vortrag zu Antifeminismus in der AfD. 17 Uhr, Malzhaus Plauen. Infos: www. gleft.de/1CS 6.-10. März: Queerfeministische Tage in Plauen. Infos: www.gleft.de/1CT 16. März: Reisebericht Nordkorea. 17 Uhr, Haus der Begegnung, Dresden. Infos: www. gleft.de/1Al 17.-19. März: Landesjugendplenum in Limbach-Oberfrohna. Infos, wie zu allen Veranstaltungen, hier: www.linksjugend-sachsen.de
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DIE LINKE im Europäischen Parlament
03/2017 Sachsens Linke!
Der letzte Rest Menschlichkeit fung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist“. Besser bekannt ist das Sprachungetüm als Dublin-Verordnung, wo schon 1990 erstmals die Grundzüge des bis heute gültigen Systems vereinbart worden waren. Das nach wie vor gültige Prinzip sieht vor, dass
Anteil an Flüchtlingen zu Fuß oder in Fischerbooten die Außengrenzen der EU überquert, sind mit Spanien, Malta, Italien und Griechenland einige wenige Mitgliedstaaten zuständig für die allermeisten Asylbewerber. Schon rein zahlenmäßig ist klar, dass das nicht funktionieren kann. Und seit Jahren schon wird das System auch
derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, wo der oder die AntragstellerIn zum ersten Mal die EU betreten hat. Dazu bestehen noch Regeln zur Familienzusammenführung, zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen und einige Ausnahmen. Die Ausnahmen laufen darauf hinaus, dass ein Staat grundsätzlich die Zuständigkeit für einen Antragsteller oder eine Antragstellerin übernehmen kann, die sich auf seinem Staatsgebiet befindet. Wer sich nach diesen Regeln im falschen Land befindet, wird in das zuständige Land abgeschoben. Das hat dazu geführt, dass schon seit Jahren die meisten Abschiebungen aus Deutschland sogenannte Dublin-Überstellungen sind. Da seit Jahren ein relevanter
dadurch aufrechterhalten, dass ein wesentlicher Teil der Menschen sich einfach unerlaubt in ein anderes Land begibt. Dass das ganze System nicht funktioniert, ist allen klar. Die mehrheitliche Analyse besagt, dass das System erstens einige Mitgliedstaaten zu viel und andere zu wenig in Anspruch nimmt und zweitens viel zu wenig flexibel ist, um gut auf spontane Veränderungen und Spitzen reagieren zu können. Deshalb hat die Kommission im letzten Sommer auch Vorschläge vorgelegt, wie das System in Zukunft aussehen könnte. Die werden derzeit im Europaparlament diskutiert. Zur allgemeinen Überraschung erklärten die Vertreter der Kommission, das Problem mit
Foto: wallsdontlie / flickr.com / CC BY-NC-ND 2.0
2016 sind etwa 180.000 Menschen als Flüchtlinge in die EU gekommen. Im Durchschnitt sind das etwa 500 Menschen am Tag gewesen, die Schutz suchten in einem Staatenbund, in dem mehr als 500 Millionen Menschen leben. Diese Menschen einigermaßen geordnet zu empfangen, in den verschiedenen Staaten der EU aufzunehmen und dann vor Ort in einem fairen Asylverfahren zu überprüfen, oder der Asylantrag berechtigt ist, ist keine sehr einfache Aufgabe. Es ist aber eigentlich auch keine besonders schwierige Aufgabe und unterm Strich vor allem ein lösbares logistisches Problem, wenn alle mit am Strang ziehen. Genau genommen müssten auch alle Staaten mithelfen. Nichts anderes besagt zum Beispiel der Artikel 80 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, wo es heißt, dass beim Umgang mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten herrschen solle. Die alles entscheidende Frage in dem Zusammenhang lautet: Welcher Mitgliedstaat der EU ist zuständig für welchen Asylbewerber? Denn auch wenn vonseiten der EU-Kommission manchmal der Anschein erweckt wird – ein europäisches Asylsystem in dem Sinne gibt es nicht. Es gibt zwar einige Regeln zu Mindeststandards, aber Prüfung von Anträgen, Unterbringung, Ausstellen von Dokumenten, Familiennachzug, Integration – all das machen am Ende die Behörden eines Mitgliedstaates. Geregelt wird die Frage, welcher Staat nun zuständig ist, um einen bestimmten Asylantrag zu prüfen, mit allem, was dazugehört, in einer EU-Verordnung: „Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prü-
der bisherigen Dublin-Regelung sei, dass sie den Mitgliedstaaten zu viel Spielraum lasse und unerlaubte Reisen der AsylbewerberInnen nicht ausreichend bekämpfe. Dies wolle man nun lösen, ebenso wie das Problem, dass einige Mitgliedstaaten das Gros der Bewerber übernehmen müssten. Der Vorschlag sieht Folgendes vor: Die Grundregel, dass der Staat der Ersteinreise zuständig ist, bleibt erhalten. Es wird ein Kennwert berechnet, der Angibt, wie viele Bewerber ein bestimmter Staat aufnehmen muss. Wird das Anderthalbfache dieses Wertes erreicht, wird eine Computerlotterie den nächsten Flüchtling einem anderen Staat zulosen, ohne dass irgendwer etwas dagegen unternehmen kann (Es sei denn, der Zielstaat sieht die Person als Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Gesundheit.) Der oder die Betreffende wird dann dorthin überstellt. Sollte sich danach herausstellen, dass die Person Anrecht auf eine Familienzusammenführung hat, wird sie noch einmal in ein anderes Land überstellt. Wer sich aus eigener Initiative in ein anderes Land begibt, und sei es eines, in dem die Familie bereits lebt, verwirkt jeglichen Anspruch auf Asyl. Was die Kommission dort vorgeschlagen hat, ist zuallererst ein bürokratisches Monster. Damit alles seine angebliche Richtigkeit hat, sollen Menschen von einem Land in ein
anderes verschoben werden, als wären sie Eier. Um die fehlende Flexibilität im System anzugehen, wird ein völlig unflexibles System vorgeschlagen, das nur in der Theorie funktioniert. Um die unverhältnismäßige Belastung von Griechenland und Italien anzugehen, soll festgelegt werden, dass die Aufnahmestrukturen vor Ort erstmal praktisch zusammenbrechen müssen, bevor die anderen Staaten helfen. Das, was das bisherige System halbwegs am Laufen hielt, nämlich die Eigeninitiative der Menschen, wird drakonisch bekämpft. Und damit am Ende keiner Schuld hat, soll das Schicksal von Hunderttausenden jährlich nicht mehr von Sachbearbeitern und auf Grundlage von Fragen und Antworten entschieden werden, sondern von einem Computer, der den einen nach Belgien, den nächsten nach Litauen und den dritten nach Dänemark schickt, ohne Sinn oder Grund. Damit geht der Verordnungsvorschlag, der zurzeit besprochen wird, nicht einfach nur in die falsche Richtung, wird nicht nur ein gescheitertes System zu retten versucht, gegen besseren Rat. Mit dem Monster, das die Kommission dort vorgelegt hat, wird dem Dublin-System zielsicher und mit Absicht der letzte Rest an Menschlichkeit entzogen. Die Entscheidung soll der Computer treffen. Ohne Widerrede. Cornelia Ernst & Lorenz Krämer
Linke Medienakademie und Rote Reporter Sie ist seit Jahren Tradition: Die Linke Medienakademie im Frühjahr in Berlin. Initiiert von der Bundesarbeitsgemeinschaft Rote Reporter, gibt es inzwischen einen gleichnamigen Trägerverein Linke Medienakademie e. V. Geblieben ist die wohl größte Bildungsakademie für linke Medienmacherinnen und Medienmacher mit einem vielfältigen Angebot rund um Recherche, Textbearbeitung, Bildbearbeitung, Layout, soziale Medien. Wie in den Vorjahren stellt die BAG Rote Reporter wieder ein Kontingent an LiMA-Tickets für Mitglieder der Roten Reporter
zur Verfügung. Die Nachfrage ist groß, es lohnt sich also, schnell zu sein und sich anzumelden. Mitglieder der Roten Reporter, die von den BAGTickets profitieren möchten, schicken bitte eine Mail mit den gewünschten Kursen an: simone.hock@dielinke-sachsen.de Das Programm zur LiMA findet sich hier: www.linkemedienakademie.de/programm-derlima17 Wer noch nicht Mitglied der Roten Reporter ist, aber Interesse hat, kann sich ebenfalls bei mir melden. Bei der Gelegenheit noch ein paar Worte zur LAG Rote Reporter in Sachsen. Mit
Stand 31.12.2016 fehlen uns noch einige Mitstreiter, um den LAG-Status zu behalten. Mitwirkungserklärungen können immer noch bei der Landesgeschäftsstelle eingereicht werden – man erhält sie dort oder bei mir. Damit wir ins Gespräch kommen, bereite ich eine Mitgliederversammlung vor, die voraussichtlich am 13. Mai ab 10 Uhr in Chemnitz stattfinden wird. Neben organisatorischen Punkten wird es ein Weiterbildungsangebot zu den sozialen Medien in Vorbereitung des Wahlkampfes geben. Interessierte sind herzlich eingeladen! Simone Hock, Rote Reporter
Sachsens Linke! 03/2017
DIE LINKE im Bundestag
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Als ob die Arbeit bei der Reichsbahn weniger wert gewesen wäre … re Betriebsrente. Das Schreiben der Deutschen Bahn AG besagt, dass ihr eine Betriebsrente von 24,18 Euro zustehe. Zugrunde gelegt ist dafür eine Betriebszeit von 78 Monaten. Nur 78 Monate, also 6,5 Jahre, wurden bei der Betriebsrente angerechnet. Dabei hat sie doch seit 1970 (mit einer kleinen Unterbrechung wegen Erkrankung ihres Kindes) bei der Bahn gearbeitet. Das Dokument zur Dienstzeitberechnung belegt dies eindeutig: Seit 1970 ist sie bei der Bahn tätig, im Februar 1997 feierte sie ihr 25jähriges Dienstjubiläum. Aber da sie im Osten gelebt hat, war sie eben formal erst ab 1994 bei der Deutschen Bahn AG tätig, davor arbeitete sie für die Reichsbahn, der Bahn in der DDR. Und somit, so der Bescheid, steht ihr nur eine Betriebsrente für 78 Monate zu. Sie schaute mich an und fasste ihren Ärger ganz einfach zusammen: Es ist als ob die Arbeit bei der Reichsbahn weniger wert gewesen wäre.
Die Beschäftigten der Reichsbahn sind eine Gruppe von vielen, neben Beschäftigten in der Braunkohle-Veredelung, neben Balletttänzerinnen oder DDR-Geschiedenen, die bei den Regelungen zur Rentenüberleitung deutlich benach-
teiligt wurden. Immer wieder hat unsere Partei im Bundestag Anträge zur Behebung dieser Diskriminierung ostdeutscher Biografien gestellt. Immer wieder haben die Regierungsparteien diese Anträge abgelehnt. In der Ren-
te gibt es offensichtlich auch so viele Jahre nach der Einheit noch viele kleine Mauern. Diese Mauern müssen fallen. Ich meine: Zur wirklichen Einheit gehört, die verschiedenen Biografien anzuerkennen. Katja Kipping
Bild: Bettenburg / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0
Vor kurzem kam eine Dresdnerin in mein Wahlkreisbüro und erzählte mir von ihren Erfahrungen mit der Rente. Sie sprach ganz ruhig darüber, dabei hätte ich es mehr als verstanden, wenn sie dabei wütend oder laut geworden wäre. Von 1970 bis 2000 arbeitete sie bei der Bahn. Danach folgten – wie bei so vielen im Osten – befristete Jobs oder andere Maßnahmen. Da es mit 63 verdammt schwer ist, einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen, ging sie mit Abschlägen in Rente. Nach vielen Jahren Arbeit und der Erziehung zweier Kinder bekommt sie nun eine Rente von rund 840 Euro. Ihrem Mann ergeht es ähnlich. Sie sind froh, dass sie zusammen ihre Wohnung und ihr kleines Auto auch in der Rente weiter halten können. Aber große Sprünge oder größere Reisen sind nicht drin. Sie weiß aus ihrer eigenen Familie, dass es anderen noch schlechter geht, insofern beklagt sie sich nicht darüber. Was sie zu mir brachte, war der Bescheid über ih-
Endlich für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen Der Erzgebirgskreis ist mit einem Medianentgelt von 2.036 Euro brutto für Vollzeitbeschäftigte der Kreis mit den niedrigsten Löhnen, Wolfsburg verfügt mit 4.610 Euro über das höchste Entgelt. Während der Niedriglohnanteil im Erzgebirgskreis bei 51,1 Prozent liegt, beträgt er in Wolfsburg 7,8 Prozent. Bei den vier Regionen mit den höchsten Löhnen, Wolfsburg, Ingolstadt, Ludwigshafen und Erlangen beträgt das Medianentgelt mehr als das doppelte des Entgeltes der Kreise mit den niedrigsten Löhnen, Erzgebirgskreis, VorpommernRügen, Elbe-Elster und Görlitz. Dies ist das ernüchternde Ergebnis der Antwort der Bundesregierung auf eine von mir gestellte Anfrage nach den niedrigsten und höchsten mittleren monatlichen Bruttoarbeitsentgelten. Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit erhalten Vollzeitbeschäftigte in Sachsen durchschnittlich 28 Prozent weniger Gehalt als westdeutsche Beschäftigte. 39,7 Prozent der sächsischen Vollzeitbeschäftigten arbeiten zu einem Niedriglohn, dies liegt über dem ostdeutschen Anteil von 36 Prozent und sehr deutlich über dem westdeutschen Wert von 16,6 Prozent. Umso beschämender ist, dass die sächsische Wirtschaftsförderung
und auch einzelne sächsische Landkreise viele Jahre mit den niedrigen Löhnen geworben haben. Das Ifo-Institut kam Anfang des Jahres zu der Einschätzung, dass sich die OstWest-Unterschiede verhärtet hätten und der Aufholprozess in vielen Bereichen zum Stillstand gekommen sei. Angesichts der Lohnunterschiede kann nicht von gleichwertigen Lebensverhältnissen gesprochen werden. Das Argument, dass die Lebenshal-
tungskosten in Niedriglohnregionen geringer seien, ist ein Scheinargument. Im Erzgebirgskreis kostet ein Auto oder der Einkauf im Supermarkt eben nicht die Hälfte weniger als in Hochlohnregionen. Die Bundesregierung hat das Ziel von gleichwertigen Lebensverhältnissen aus den Augen verloren und die Menschen in Niedriglohnregionen abgeschrieben. Es geht aber nicht nur um Niedriglohnregionen im Osten, auch im Westen gibt
es die. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass nicht ganze Landstriche und ihre Menschen auf dem Abstellgleis bleiben. Es ist ein Skandal, dass der Osten nahezu flächendeckend weiterhin so deutlich abgehängt ist. Die Bundesregierung muss sich für die weitere Angleichung der Löhne einsetzen. Ein wesentlicher Schlüssel dafür ist die Stärkung von Tarifverträgen und Tarifbindung, die im Osten deutlich schwächer
als im Westen ist. Ein Mindestlohn von 12 Euro ist notwendig, um Armut zu bekämpfen. Viele sächsische Beschäftigte würden davon profitieren. Notwendig ist zudem eine Wirtschaftsförderung, die finanzielle Mittel für Unternehmen an gute Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel tarifliche und existenzsichernde Entlohnung, koppelt und nicht prekäre Beschäftigung fördert. Die nun geplante Angleichung des Rentenwertes Ost an West ist über 25 Jahre nach der Wende längst überfällig. Dass damit aber auch die Hochwertung der deutlich niedrigeren OstLöhne, in vielen Fällen auch bei gleicher Tätigkeit, gestrichen werden soll, ist nicht akzeptabel. Die Umrechnung hat eine wichtige sozialpolitische Ausgleichsfunktion, die nicht einfach ersatzlos abgeschafft werden kann. Das ist keine Bevorteilung der ostdeutschen Beschäftigten, sondern ein Ausgleich dafür, dass sie am Arbeitsmarkt immer noch benachteiligt werden, nur weil sie im Osten arbeiten. Sabine Zimmermann
Kommunal-Info 2-2017 1. März 2017 Online-Ausgabe unter www.kommunalforum-sachsen.de
KFS
Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Integration Was ist Integration - eine kommunale Begriffsgeschichte Seite 3
Seminare
Grundlagenwissen in der Kommunalpolitik Fördermittel für Kommunen Seite 4
Intensivseminare Kommunikation in der Kommunalpolitik Kommunaler Haushalt & Kommunale Wirtschaft
Seite 4
Veranstaltung
Informationsveranstaltung zum Thema „Faire Beschaffung“ Seite 4 Gebäude der Dienststelle Leipzig der Landesdirektion Sachsen mit Hauptsitz in Chemnitz
Kommunen unter Aufsicht Die verfassungsmäßige Garantie der kommunalen Selbstverwaltung bedeutet nicht, dass Städte, Gemeinden und Landkreise diese Selbstverwaltung in völlig abgeschiedener Unabhängigkeit ausüben, sondern nur im Rahmen der staatlich vorgegebenen Gesetze. Die Kommunen besitzen als juristische Personen des öffentlichen Rechts zwar eine eigene Rechtspersönlichkeit und sind insofern von der „Staatsverwaltung“ zu unterscheiden, stehen aber deshalb weder jenseits des Staates noch außerhalb der staatlichen Rechtsordnung. Kommunen sind eben nicht Staat im Staate. Um das Handeln der Kommunalverwaltungen auf die Gesetzmäßigkeit hin zu überwachen, hat der Freistaat Sachsen nach Artikel 89 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung die Aufsicht über die Kommunen zu führen. Die Kommunalaufsicht ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) das verfassungsrechtlich gebotene Korrelat der Selbstverwaltung.“1 Wesen und Inhalt der staatlichen Aufsicht über die Kommunen werden in § 111 der Sächsischen Gemeindeordnung (SächsGemO) bestimmt.
Rechtsaufsicht und Fachaufsicht
Die Aufsicht des Freistaates wird je nach kommunaler Aufgabenart2 in unterschiedlicher Intensität wahrgenommen, entweder als reine Rechtsaufsicht oder zusätzlich als Fachaufsicht. Bei den freiwilligen und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben beschränkt sich nach § 111 Abs. 1 SächsGemO die Aufsicht darauf, „die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sicherzustellen (Rechtsaufsicht), soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.“ Bei der Erfüllung von Weisungsauf-
gaben erstreckt sich die Aufsicht nach §111 Abs. 2 „auf die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Verwaltung (Fachaufsicht), soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.“ Bei den freiwilligen Aufgaben wird die Kommune in einem Bereich tätig, in dem sie eigenverantwortlich handelt, hier ist die Aufsicht grundsätzlich auf die Gesetz- und Rechtmäßigkeitskontrolle, also auf die reine Rechtsaufsicht, beschränkt. Auf die Art und Weise der Aufgabenerledigung kann hier kein Einfluss genommen werden, ein Eingriff in die Ermessensentscheidung einer Kommune ist nicht zulässig. Bei Pflichtaufgaben, die ohne Weisungsgebundenheit erfüllt werden (Pflichtaufgaben im engeren Sinne), ist die Kommune ebenfalls allein einer Rechtsaufsicht unterworfen. Anders verhält es sich jedoch im Bereich der Pflichtaufgaben nach Weisung (Weisungsaufgaben). Hier ist die Kommune funktionell in die allgemeine Staatsverwaltung eingebunden, auch wenn sie die Aufgaben im eigenen Namen erfüllt und ihr die Maßnahmen als Rechtsträgerin zugerechnet werden. Die letzte Verantwortung für die hierbei zu erledigenden Aufgaben trägt der Staat. Die Prüfungsbefugnis der Aufsichtsbehörde geht deshalb über die Rechtmäßigkeitsprüfung hinaus und umfasst auch die Zweckmäßigkeit der Maßnahmen. Insoweit geht die Aufsicht über eine nur rechtsaufsichtliche Überprüfung hinaus, sondern umfasst auch eine fachaufsichtliche Überprüfung.3
Die Behörden
§ 112 SächsGemO bestimmt für kreisangehörige Städte und Gemeinden das Landratsamt als untere
Rechtsaufsichtsbehörde, für die Kreisfreien Städte jedoch die Landesdirektion Sachsen als Rechtsaufsichtsbehörde. Die Landesdirektion ist ebenfalls obere Rechtsaufsichtsbehörde für alle Gemeinden sowie nach § 65 der Sächsischen Landkreisordnung Rechtsaufsichtsbehörde und obere Rechtsaufsichtsbehörde für die Landkreise. Oberste Rechtsaufsichtsbehörde ist das Staatsministerium des Innern. Die zuständigen Fachaufsichtsbehörden sind in den jeweiligen Fachgesetzen geregelt. Oberste Fachaufsichtsbehörde ist das jeweils zuständige Staatsministerium. Für Verwaltungsverbände und Zweckverbände gelten die Bestimmungen der SächsGemO entsprechend, weitere Einzelheiten sind in §§ 74 und 75 des Sächsischen Gesetzes über kommunale Zusammenarbeit geregelt.
Mittel der Kommunalaufsicht
Damit die Kommunalaufsicht ihren verfassungsrechtlich bestimmten Auftrag erfüllen kann, sind ihr gesetzlich festgelegte Instrumente dafür an die Hand gegeben. Dabei sind die verschiedenen Aufsichtsmittel nach dem Grundsatz des geringstmöglichsten Eingriffs entsprechend gestaffelt einzusetzen. Das schwächste Mittel der Aufsicht besteht für die Rechts- und Fachaufsichtsbehörden nach §§ 113 SächsGemO im Informationsrecht, wonach sich die Behörden über einzelne Angelegenheiten der Gemeinde in geeigneter Weise informieren können. Weitergehender ist gemäß § 114 das Beanstandungsrecht, wonach die Rechtsaufsichtsbehörde Beschlüsse und Anordnungen der Gemeinde, die das Gesetz verletzen, beanstanden
kann und verlangen kann, dass sie von der Gemeinde binnen einer angemessenen Frist aufgehoben oder abgeändert werden. Sie kann ferner verlangen, dass Maßnahmen, die auf Grund derartiger Beschlüsse oder Anordnungen getroffen wurden, rückgängig gemacht werden oder Vollzugsmaßnahmen vorläufig unterbleiben. Ein noch stärkeres Mittel der Aufsicht ist das Anordnungsrecht nach § 115, dass zur Anwendung kommt, wenn eine Gemeinde nicht die ihr obliegenden Pflichten erfüllt. Hier kann die Rechtsaufsichtsbehörde anordnen, dass die Gemeinde innerhalb einer angemessenen Frist die notwendigen Maßnahmen durchführt. Die Ersatzvornahme nach § 116 bedeutet einen Eingriff der Rechtsaufsichtsbehörde in die kommunale Entscheidungshoheit. Sie wird in dem Fall vorgenommen, wenn die Gemeinde einer Anordnung der Rechtsaufsichtsbehörde nicht innerhalb der bestimmten Frist nachkommt. Hierbei kann die Rechtsaufsichtsbehörde die Anordnung an Stelle und auf Kosten der Gemeinde selbst durchführen oder einen Dritten mit der Durchführung beauftragen. Die Bestellung eines Beauftragten nach § 117, der anstelle der Gemeinde handelt und alle oder einzelne Aufgaben auf deren Kosten wahrnimmt, kann dann erfolgen, wenn die Verwaltung der Gemeinde in erheblichem Umfang nicht den Erfordernissen einer gesetzmäßigen Verwaltung entspricht und die Befugnisse der Rechtsaufsichtsbehörde nicht ausreichen, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Gemeinde zu sichern. Fortsetzung auf folgender Seite
Kommunal-Info 2/2017 Die vorzeitige Beendigung der Amtszeit des Bürgermeisters kann nach § 118 durch die Rechtsaufsichtsbehörde erklärt werden, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichen, um den Bürgermeister seines Amtes entheben, wird er den Anforderungen seines Amtes nicht gerecht und treten dadurch so erhebliche Missstände in der Verwaltung der Gemeinde ein, dass eine Weiterführung des Amtes im öffentlichen Interesse nicht vertretbar wäre. Den Fachaufsichtsbehörden steht neben dem Informationsrecht nach § 113 ein Weisungsrecht nach § 123 zu. Dieses Weisungsrecht ist eine Art Ersatz das den Fachaufsichtsbehörden fehlende Beanstandungs- und Anordnungsrecht, geht aber in seiner Reichweite über diese Instrumente hinaus, weil einer Weisung der Fachaufsicht neben rechtlichen auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen zugrunde liegen dürfen. Folgt eine Gebietskörperschaft der Weisung nicht, so hat sich die Fachaufsichtsbehörde betreffs der Ausübung weiterer repressiver Maßnahmen zu deren Durchsetzung an die Rechtsaufsichtsbehörde zu wenden.4 In einigen Bundesländern (nicht in Sachsen) besteht als schwerste Eingriffsmöglichkeit die Auflösung der kommunalen Vertretungskörperschaft, die in der Praxis jedoch kaum eine Rolle spielt. Für die Auflösung kämen nur zwei Gründe in Betracht: zum einen, wenn die Vertretungskörperschaft andauernd beschlussunfähig wäre oder zum anderen, wenn die Vertretungskörperschaft sich kontinuierlich weigerte, Anordnungen der Aufsichtsbehörden zu folgen oder rechtskräftigen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte nicht nachkäme.5
Funktionen der Kommunalaufsicht
Neben der Rechtsbewahrungs- und Ordnungsfunktion hat die Kommunalaufsicht darüber hinaus auch eine Schutz- und Förderungsfunktion und eine Beratungsfunktion gegenüber den Kommunen wahrzunehmen.6 Die Rechtsbewahrungs- und Ordnungsfunktion der Kommunalaufsicht wurde lange Zeit überbetont. Es hieß da verkürzt, „Gemeinden und Landkreise sind Teile des Staates“, sie sind eingebettet in dessen Rechtsordnung und erfüllen ihre Aufgaben „im Rahmen der Gesetze“ bzw. „nach Weisung“. Deshalb sei die Tätigkeit der Kommunen zu überwachen. Jedoch hat das BVerfG schon frühzeitig herausgestellt, dass die „repressive Aufsicht“ jedoch nur in Extremfällen anzuwenden sei: „Zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden und damit der Selbstverwaltung im eigentlichen Sinn soll deshalb nur in extremen Fällen mit den Mitteln der Beanstandung, Ersatzvornahme usw. eingegriffen werden.“7 Bei der Kommunalaufsicht soll der Staat nicht als Vormund über „unmündige“ Gemeinden oder Landkreise tätig werden, sondern nur zur Wahrung der Gesetzmäßigkeit des Handelns, zur Wahrung der Interessen des Staatsganzen gegenüber Sonderinteressen einzelner Kommunen und zur Gewährleistung der Gesamtordnung.8 Wenn nach BVerfG die „repressive Aufsicht“ (Beanstandung, Anordnung, Ersatzvornahme usw.) nur im Extremfall praktiziert werden soll, dann gilt
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für den Normalfall die Ausübung einer „präventiven Aufsicht“ (Information, Anzeigepflicht, Vorlage- und Genehmigungspflicht nach § 119 SächsGemO, Beratung). Die Schutz- und Förderungsfunktion der Kommunalaufsicht besteht nach Auffassung des BVerfG darin, die Gemeinden in ihren Rechten zu schützen und die Aufsicht so zu handhaben, „dass die Entschlusskraft und die Verantwortungsfreude der Gemeinden nicht beeinträchtigt werden.“ Das sei keine Vormundschaft über die Gemeinden, sondern „dirigierendes Prinzip“.9 In diesem Sinne enthält § 111 Abs. 3 SächsGemO die Bestimmung: „Die Aufsicht ist so auszuüben, dass die Rechte der Gemeinden geschützt und die Erfüllung ihrer Pflichten gesichert sowie die Entschlusskraft und Verantwortungsbereitschaft gefördert werden.“ Zur Schutzfunktion gehöre auch die „Abwehr von Gefahren durch Zugriffe staatlicher Stellen, aber auch von privater Seite, schließlich aber auch der Schutz vor Begehrlichkeiten anderer Gemeinden und auch vor den Folgen eigener Fehlentscheidungen.“10 Nach BVerfG gehört insbesondere die Beratungsfunktion zu den „wichtigsten Formen „präventiver Kommunalaufsicht“, „die Beratung der Gemeinde im Vorfeld kommunaler Entscheidungen. Die Zielsetzung der Beratungstätigkeit kann dabei unterschiedlich sein; es mag sich im Einzelfall um koordinierende, schlichtende, schützende, vergleichende, rechtsauslegende oder fachlich belehrende Beratung handeln…Sie schließt einen regen Informationsaustausch zwischen Gemeinde und Landkreis ein.“11 Die Beratung soll hierbei eine insgesamt fördernde Wirkung entfalten, sie soll rechtmäßiges und zweckmäßiges Handeln ebenso fördern, wie eine effektive, kommunaler Selbstverwaltung entsprechende Verwaltungsführung. Der Sinn der präventiv ansetzenden Beratung bestehe eben darin, zwar nicht die Kontrolle, aber doch Beanstandung und Anordnung möglichst zu erübrigen. Die Beratung durch die Kommunalaufsicht muss jedoch auch den Charakter einer Beratung behalten und nicht die Selbstentscheidung durch die Kommune ersetzen und so zu einer „Einmischungsaufsicht“ mutieren. Da es
sich um eine Beratung handelt, braucht die Kommune aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit den Einschätzungen und Empfehlungen der Aufsicht ggf. auch nicht zu folgen. Wenn sie die Kommunalaufsicht um eine Beratung ersuchen, haben die Kommunen einen Anspruch darauf, unabhängig davon, ob dies im Gesetz selbst geregelt ist. Lange Zeit hatte die Beratung vor allem den Zweck, kleineren Gemeinden zu helfen, die nicht immer die erforderliche Sachkunde, vor allem aber nicht die nötigen Fachkräfte besaßen, um allen in der Verwaltung auftretenden Fragen in ihrer Vielfalt und Schwierigkeit selbst gewachsen zu sein. Neue Herausforderung für die Beratung der Kommunen erwuchsen aus der zunehmenden Europäisierung kommunaler Angelegenheiten. Nicht nur kleineren Gemeinden ist es mitunter nicht möglich, das Europarecht mit seinen kommunalen Auswirkungen im Einzelnen auf seine Bedeutung zu verfolgen und rechtlich einzuordnen.
Kein Anspruch auf Einschreiten
Das Wesen der Kommunalaufsicht bestimmt sich aus dem Verhältnis des Staates zur Kommune. Es geht dabei ausschließlich um die Einhaltung der in den jeweiligen Gesetzen angelegten rechtlichen Schranken des kommunalen Handelns. Im Kern ist die Kommunalaufsicht dem Allgemeinwohl verpflichtet und soll im öffentlichen Interesse tätig werden und nicht dem einzelnen Bürger zu seinem Recht zu verhelfen. Ein Einschreiten der Aufsichtsbehörde geschieht deshalb grundsätzlich im öffentlichen Interesse. Weder der einzelne Bürger oder Einwohner noch gemeindlichen Organe oder die Gebietskörperschaft selbst haben daher einen Rechtsanspruch auf Einschreiten der Rechtsaufsichtsbehörde. Allenfalls kann durch Hinweise eine Überprüfung durch die Aufsichtsbehörde angeregt werden. Da Organe oder Organteile der Gemeinde kein aufsichtsbehördliches Einschreiten erzwingen können, bleibt ihnen dann ggf. der Rechtsweg des Kommunalverfassungsstreitverfahrens. „Will der Bürger oder Einwohner Ansprüche gegen die Gemeinde geltend machen, hat er diese daher in Zivilprozessen bzw. Verwaltungsgerichtsverfahren durchzusetzen. Der Aufsichts-
behörde ist es jedoch unbenommen, kraft eigenen Entschlusses parallel zu diesen Bemühungen im öffentlichen Interesse tätig zu werden. Gehen bei der Aufsichtsbehörde Hinweise Dritter über ein Fehlverhalten der Gemeinde ein, kann sich eine Prüfungspflicht für die Aufsichtsbehörde ergeben.“12 Werden erkennbar öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt, ist ein Einschreiten der Aufsichtsbehörde aus dem Allgemeininteresse heraus geboten, denn es geht um das öffentliche Interesse des Staates an der ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung durch die Gemeinde. In diesem Fall gibt es keine Subsidiarität der Kommunalaufsicht gegenüber den Klagemöglichkeiten eines Dritten.13 Im Übrigen gilt für die Kommunalaufsicht das Opportunitätsprinzip. Die Aufsichtsbehörde entscheidet in Wahrnehmung ihres Ermessensspielraums, ob sie einschreiten möchte und von einem möglichen Aufsichtsmittel Gebrauch machen will.14 AG — 1
BVerfGE 78, 331, v. 21.06.1988. Siehe hierzu den Beitrag „Freiwillige, Pflicht- und Weisungsaufgaben“ in Kommunal-Info Nr. 4/2015. 3 Vgl. Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Ergänzbarer Kommentar mit weiterführenden Vorschriften, G § 111, Randnummer (Rn) 8. 4 Vgl. Binus/Sponer/Koolmann: Sächsische Gemeindeordnung. Kommentar, Kommunal- und Schulverlag 2016, S. 406, 431. 5 Vgl. Vogelsang/Lübking/Ulbrich: Kommunale Selbstverwaltung, 3. überarb. Aufl., E. Schmidt Verlag 2005, S. 211. 6 Vgl. Binus/Sponer/Koolmann: Sächsische Gemeindeordnung…, S. 404 sowie Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, Springer-Verlag 2007, S. 221ff. 7 BVerfGE 6, 104, v. 23.01.1957. 8 Vgl. Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, S. 222. 9 BVerfGE 78, 331, v. 21.06.1988. 10 Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis Bd. 1, S. 224. 11 BVerfGE 58, 177, v. 06.10.1981. 12 Binus/Sponer/Koolmann: Sächsische Gemeindeordnung…, S. 405. 13 Vgl. Vogelsang/Lübking/Ulbrich: Kommunale Selbstverwaltung…, S. 179. 14 Vgl. Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Ergänzbarer Kommentar…, G § 111, Rn 16. 2
Impressum Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de Red., Satz und Layout: A. Grunke V.i.S.d.P.: P. Pritscha Die Kommunal-Info dient der kommunalpolitischen Bildung und Information und wird aus finanziellen Zuwendungen des Sächsischen Staatsministeriums des Innern gefördert.
Kommunal-Info 2/2017
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Integration
eine kommunale Begriffsgeschichte Von Konrad Heinze, Chemnitz In der BRD liegt die faktische Anerkennung der Realität Einwanderung von staatlicher Seite vergleichsweise nur wenige Jahre zurück. Beginnend mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts (2000) über das Zuwanderungsgesetz (2005) und den Nationalen Integrationsplan (NIP, 2007) bis zum Nationalen Aktionsplan Integration (NAP, 2011) und darüber hinaus wurde und wird dieser Prozess von einer fortwährenden Debatte um den Begriff der Integration begleitet. Selbige nimmt, erinnert seien an die Schlagworte „Leitkultur“ und „christlich-jüdisches Abendland“, zuweilen sehr erbitterte und polemische Züge an. Diese scharf geführten, öffentlichen Auseinandersetzungen verweisen auf und verschleiern gleichermaßen ein und denselben Umstand: dass nicht hinreichend definiert und somit sehr undeutlich ist, was Integration denn eigentlich meint. Ihren Ursprung nahm die Begriffsverwirrung in der Praxis kommunaler Integrationspolitik in den 1970er Jahren. Bis dahin galt jedwede Form von „Integration“ in der BRD als überflüssig, ging man doch davon aus, dass der Aufenthalt der seit 1955 angeworbenen GastarbeiterInnen zeitlich begrenzt sei.1 Auf den „Anwerbestopp“ von 1973, dem Verbleib von rund drei Mio. GastarbeiterInnen und der Gewissheit, diese würden sich dauerhaft niederlassen, folgte allerdings keine einheitliche Linie seitens der Regierung.2 Die BRD - das Einwanderungsland, das keines sein wollte, - kommunalisierte in der Folge die Aufgaben, die aus der tatsächlichen Migration erwuchsen. Die Kommunen reagierten ihrerseits mit sehr unterschiedlich ausgeformten Handlungen und Maßnahmen, die wiederum den örtlichen Gegebenheiten und Ressourcen der Kommune geschuldet waren. Dies war direkt der „mangelnden Klarheit der migrationsund integrationspolitischen Rahmensetzung seitens des Bundes“ geschuldet und beförderte die Herausbildung verschiedenster kommunaler Integrationspolitiken.3 Diese entwickelten sich auf ihren unterschiedlichen Pfaden in den vergangenen Jahrzehnten langsam, aber stetig fort. So verabschiedete man sich auf kommunaler Ebene vereinzelt bereits in den 1980er Jahren vom Defizitansatz einer „Ausländerpolitik“, während sich auf der Bundesebene gleichzeitig ein allgemeiner Politikwechsel hin zur Abwehr von Einwanderung vollzog.4 Die 1990er bereiteten den Weg zur Modernisierung kommunaler Integrationspolitiken. Zaghafte Ansätze zur kommunalen interkulturellen Öffnung standen neben einem öffentlichen Diskurs, der von Abschottung und rassistischen Stereotypen geprägt war. Gleichzeitig erzwang dies aber eine neue Debatte über Migration, die schließlich die weitgehende politische Akzeptanz der Realität Einwan-
derung vorbereitete. So gewann mit Beginn der 2000er Jahre das Thema kommunale Integrationspolitik erheblich an Bedeutung, „inzwischen liegt ein erfahrungsgesättigter Wissensbestand über die Voraussetzungen und Prozessgestaltung lokalen Integrationsmanagements“5 vor. Mit Beginn der 2010er Jahre stehen Prozesse der kritischen Bilanzierung, der Systematisierung und Vereinheitlichung der Integrationsanstrengungen auf kommunaler Ebene im Vordergrund.6 Die Historie von „Pfaden der Integrationspolitiken“ begünstigte nun aber die Auffächerung der inhaltlichen Bedeutung von Integration, vor Ort zwischen den einzelnen Kommunen als auch in der Sozialforschung. Bis heute stecken die Arbeiten des Migrationssoziologen Hartmut Esser den Rahmen ab, in dem ablehnende als auch zustimmende Konzepte und Vorstellungen von Integration entwickelt werden.7 Zentral ist für Esser das Verständnis von „Assimilation als einen einseitigen Vorgang, der sich als Anpassung der Migrant(inn)en an die Aufnahmegesellschaft vollzieht.“8 Integration wird hier mit Anpassung gleichgesetzt, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Migration als einseitige Bringschuld den EinwanderInnen und deren Nachkommen aufgebürdet. Demgegenüber formulierte der Zuwanderungsrat, welcher 2008 im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) aufging, bereits 2004 folgende Definition: „Integration ist die messbare Teilhabe von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie z.B. frühkindliche Erziehung, schulische Bildung, berufliche Ausbildung, Zugang zum Arbeitsmarkt, Teilhabe an den rechtlichen und sozialen
Sicherungs- und Schutzsystemen, bis hin zur (statusabhängigen) politischen Teilhabe.“9 Dergestalt ausformuliert rückt die Gesamtheit der Bevölkerung in den Blick und fokussiert auf die empirischen Erfolgsbedingungen kommunaler Integrationspolitik: Abkehr vom Defizitansatz, systematische und strategische Herangehensweise, integraler Bestandteil von Politik als Querschnittsaufgabe, Begegnung auf Augenhöhe und die Formulierung realistischer und messbarer Integrationserfolge.10 Kurzum: eine geteilte, allgemein anerkannte Definition von Integration findet sich in der Forschung nicht. Um den akademischen Diskurs abzuschließen, kann man festhalten, dass sich der Integrationsbegriff, wie er gemeinhin in Öffentlichkeit und Politik gebraucht wird, von dieser trotz allem differenziert geführten Debatte vollständig abgelöst hat. Vielmehr kann Integration in dessen Unbestimmtheit so gut wie alles meinen: von stark ausgrenzenden Vorstellungen einer einheitlichen und unverrückbaren „Kulturnation“ bis hin zu Ansätzen, die nach den tatsächlichen Teilhabechancen von EinwanderInnen fragen. Im überwiegenden Maße finden sich aber die Kriterien von einseitiger und totaler Anpassung sowie Assimilation in der öffentlichen und politischen Debatte wieder - dergestalt werden die strukturellen Ursachen und Folgen von „Nicht-Integration“ ausgeblendet, soziale Konflikte auf eine vermeintlich kulturell bedingte „Integrationsunfähigkeit“ verkürzt.11 Was folgert sich hieraus für die Kommunalpolitik? EinwanderInnen und deren Nachkommen sind, je nach Aufenthaltsstatus und Staatsangehörigkeit, EinwohnerInnen und/oder BürgerInnen einer Kommune und gehören zur (lokalen) Gesellschaft dazu. Migration und ihre Geschichte lässt sich
nicht umkehren. Das Leitbild aber, wie diesen Menschen nun begegnet werden soll, muss stets konkret benannt werden, da die bloße Nennung von „Integration“ wenig erklärend ist. Hierüber sind, mit Blick auf die zuvor angeführten Erfolgsbedingungen, auch weiterführende Überlegungen anzustellen, wie die kommunale Gesellschaft in der Zukunft aussehen soll. Integration zu fordern und Integration zu ermöglichen sind zwei sehr verschiedene Prämissen und sagen ihrerseits viel über die zugrundeliegenden Vorstellungen von Gesellschaft aus. Wird sich aber auf kommunaler Ebene dafür ausgesprochen, im Rahmen der Möglichkeiten die strukturellen Voraussetzungen für tatsächliche Teilhabe zu schaffen, also ein „pragmatisch-pluralistischer“12 Integrationsbegriff und gewissermaßen eine gesellschaftliche „Bringschuld“ zugrundegelegt, rückt dies bereits nahe an die Idealvorstellung von Inklusion heran.13 Inklusion selbst ist erst seit relativer kurzer Zeit Debattengegenstand im Feld von Migration. Eine Gegenüberstellung zum Begriff der Integration ist allerdings dadurch schwierig, weil auch Inklusion je nach Verwendung und Kontext unterschiedliche Bedeutungen hat. So gesehen besteht zwischen beiden Konzepten auch keine unbedingte Frontstellung. Interessanter ist vielmehr, deren inhaltliche Überschneidungen herauszuarbeiten und für die kommunale Praxis nutzbar zu machen. In den folgenden Artikeln der nächsten Ausgaben soll auf diese einleitenden Überlegungen aufgebaut werden, um konkrete kommunale Handlungsmöglichkeiten anzubieten, die das gute Leben aller EinwohnerInnen einer Kommune gleichermaßen als Ausgangsbedingung und Ziel haben. — 1 Was hier für die BRD gilt, galt in ähnlicher Form für die DDR. Zuwanderung erfolgte bis zur Wiedervereinigung überwiegend in Form zeitlich begrenzter Arbeitsmigration, welche zentral gesteuert und somit der kommunalen Ebene bis zum Ende der DDR enthoben war. „Eine längerfristige Migrationsgeschichte mit dem Ziel einer Integration der Zuwanderer hat es in der DDR in diesem Sinne nie gegeben.“ Siehe hierzu: Weiss, Karin: Zuwanderung und Integration in den neuen Bundesländern, in: Gesemann, Frank/Roth, Roland (Hrsg.): Lokale Integrationspo-
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Kommunal-Info 2/2017
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Grundlagenwissen zur Arbeit in den Kommunalvertretungen Mittwoch, 29.03.2017, 18-21 Uhr Stadthaus, Albertstraße 4, Brand-Erbisdorf Hauptsatzung und Gemeindeordnung sind das alltägliche „Handwerkszeug“ in der Kommunalpolitik. Aber was genau regeln sie und wo liegen deren Spielräume für die Kommunalvertretung? Und was wird woanders geregelt. Weiterhin beschäftigen wir uns intensiv mit der Möglichkeit der Antragstellung. Wie werden erfolgreich Anträge geschrieben? Und was gibt es an Fristen, Begründungen usw. zu beachten. Referentin: Sylke Zehrfeld (Dipl. Juristin, Dipl. Betriebswirtin, Dipl. Verwaltungswirtin) Teilnehmerbeitrag: 5,00 EUR
Intensivseminar Kommunikation in der Kommunalpolitik II Argumentieren in Texten und Reden Freitag, 24.03.2017 ab 18 Uhr bis Sonntag, 26.03.2017 ca 14 Uhr „Landhotel Frankenberg“, Dammplatz 3, Frankenberg
Intensivseminar Kommunikation in der Kommunalpolitik III Freies Reden und sicheres Auftreten Freitag, 05.05.2017 ab 18:00 Uhr bis Sonntag, 07.05.2017 ca. 14:00 Uhr
Informationsveranstaltung in Kooperation mit dem Bürgermeister der Stadt Lugau
Möglichkeiten für eine faire Beschaffung Mittwoch, 29.03.2017, 18 Uhr Rathaus Lugau, Obere Hauptstraße 26, Lugau
Themen: Neuerungen im Vergaberecht Fairer Handel, was ist das, wie geht das? Vom Prinzip Weltladen bis zum Erzgebirgskaffee Praxisbericht einer Fairtrade-Gemeinde
„Hotel Schlossblick“, Markt 8, Trebsen Referenten in beiden Seminaren: Dr. Christian Wirrwitz (Dozent, Trainer, Coach) Dr. Romy Jaster (Philosophin, Humboldt-Univ. Berlin)
Intensivseminar Kommunaler Haushalt - Kommunale Wirtschaft
Referenten: Klaus Tischendorf (Vorsitzender KFS), Antonia Mertsching (Koordinatorin der Kampagne „Sachsen kauft fair“); Kathrin Weber (Vorstand faire WELT Chemnitz); Diana Bergmann (Steuerungsgruppe Fairtrade Town Markkleeberg)
Freitag, 12.05.2017, ab 18 Uhr bis Sonntag, 14.05.2017, ca 15 Uhr „Alte Schule“, Schulweg 10, Schönteichen OT Cunnersdorf
Fördermittel für Kommunen wo gibt es welche Fördertöpfe? Mittwoch, 05.04.2017, 19-21 Uhr Stadthaus, Albertstraße 4, Brand-Erbisdorf Was wird in Sachsen gefördert? Kann ich für mein Vorhaben Gelder akquirieren? Der Workshop soll einen kleinen Einblick in die Recherchemöglichkeiten liefern und den ein oder anderen Hinweis zum Umgang mit erlangten Informationen geben. Referent: Tilo Hellmann (MA Soziologie, Rechts- und Politikwissenschaften) Teilnehmerbeitrag: 3,00 EUR Fortsetzung von Seite 3
Integration ... litik in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2009, S. 133ff. 2 Dies, obwohl mit dem „Kühn-Memorandum“ von 1978 eine wegweisende Schrift veröffentlicht wurde, die schon zu jener Zeit Einwanderung faktisch anerkannte und entsprechende Maßnahmen vorschlug. 3 Vgl. Gesemann, Frank/Roth, Roland: Kommunale Integrationspolitik in Deutschland, in: Gesemann/Roth: 2009, S. 13. 4 Vgl. Filsinger, Dieter: Entwicklung, Konzepte und Strategien der kommunalen Integrationspolitik, in: ebenda, S. 284. 5 Ebenda, S. 288. 6 Vgl. Aumüller, Jutta: Handlungsmöglichkeiten kommunaler Integrationspolitik, vom 01.11.2012. Hierzu sei noch angemerkt, dass die Erwartungen an eine „Systematisierung und Vereinheitlichung“ nicht zu hoch anzusetzen sind. Was für die eine Kommune hervorragend funktioniert, kann aus Gründen
der lokalen Gegebenheiten für die andere schon gar nicht möglich sein. 7 Vgl. Aumüller, Jutta: Assimilation, Bielefeld 2009, S. 105. 8 Gestring, Norbert: Was ist Integration?, in: Gans, Paul (Hrsg.): Räumliche Auswirkungen der internationalen Migration, Hannover 2014, S. 82. 9 Bade, Klaus-Jürgen: Migration und Integration in der Einwanderungsgesellschaft, Vortrag in Berlin vom 14.06.2012. 10 Gesemann, Frank/Roth, Roland: Kommunale Integrationspolitik in Deutschland, in: Gesemann/Roth: 2009, S. 24/25. 11 Vgl. Foroutan, Naika: Die Einheit der Verschiedenen, IMIS-Kurzdossier 28, April 2015, S. 3. 12 Filsinger, Dieter: Entwicklung, Konzepte und Strategien der kommunalen Integrationspolitik, in: Gesemann/Roth: 2009, S. 290. 13 Vgl. Georgi, Viola: Integration, Diversität, Inklusion. Anmerkungen zu aktuellen Debatten mit der deutschen Migrationsgesellschaft, Zeitschrift für Erwachsenenbildung 2 (2015), S. 26.
Schwerpunkte: Kommunaler Haushalt: Haushaltssatzung und Haushaltsplan – was beinhalten beide? Nach welchen Haushaltsgrundsätzen ist der Haushaltsplan aufzustellen? Wie ist ein „doppischer“ Haushaltsplan aufgebaut? Was ist eine vorläufige Haushaltsführung? Welche Abweichungen vom Haushaltsplan sind zulässig, wann ist ein Nachtragshaushalt zu beschließen? Unter welchen Voraussetzungen darf die Kommune Kredite aufnehmen? Was ist ein Haushaltsstrukturkonzept? Was steht im Jahresabschluss und in der Eröffnungsbilanz und nach welchen Grundsätzen sind sie zu erstellen? Welche Übergangsregelungen zur DOPPIK gelten ab 2017? Kommunale Einnahmen: Wie können Mandatsträger Einfluss auf den kommunalen Haushaltsplan nehmen? Wo kommen die kommunalen Einnahmen her? Wie werden Gebühren und Beiträge kalkuliert? Auf welcher Basis steht der sächsische kommunale Finanzausgleich? Welche finanziellen Auswirkungen hat der Wegzug eines Einwohners? Kommunale Unternehmen und die Rechte und Pflichten von kommunalen Vertretern in Aufsichtsräten: Einführung in das Kommunale Wirtschaftsrecht Unter welchen Voraussetzungen darf eine sächsische Kommune wirtschaftliche Unternehmen führen? Welche Unternehmensformen des öffentlichen und des privaten Rechts kommen für kommunale Unternehmen infrage und was muss im Gesellschaftsvertrag einer GmbH enthalten sein? - Welche „fakultativen“ Regelungen sind möglich? Welche Aufgaben hat ein Aufsichtsrat in einer GmbH? Welches sind wesentliche Rechte und Pflichten kommunaler Vertreter in Organen von Unternehmen? Wie können Interessenskonflikt der kommunalen Vertreter in Aufsichtsräten aufgelöst werden? Können Unternehmen und Beteiligungen ohne weiteres veräußert werden? Was gehört als Mindestinhalt in einen Beteiligungsbericht? Referent: Alexander Thomas (Dipl.-Verwaltungswirt, Parlamentarisch-wissenschaftlicher Berater) Teilnehmerbeitrag: 20,00 EUR
Februar 2017
Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag
ParlamentsReport Gerechtigkeit für Ost-Bergleute!
Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) will „verstärkt auf Menschen zugehen“, „die sich als ,Wendeverlierer‘ fühlen“. Die SPD als Anwältin ostdeutscher Interessen? Da habe ich meine Zweifel, aus vielen Gründen. Ein Beispiel: Die SPD ist maßgeblich dafür mitverantwortlich, dass es erst nach 35 Jahren ein gesamtdeutsches Rentensystem geben soll. Anders als uns stört es sie auch nicht, dass die ostdeutschen Einkommen dann bei der Rentenberechnung nicht mehr hochgewertet werden, obwohl sie strukturell niedriger sind als die westdeutschen. So zahlen die künftigen Ost-Rentnerinnen und -Rentner die Zeche. Apropos Zeche: Ehemaligen Bergleuten in der DDR-Braunkohleveredlung widerfährt besonderes Rentenunrecht. Ihnen hat Köpping versprochen, sich in Berlin zu kümmern – draus geworden ist nichts. Als wir im Landtag Gerechtigkeit einforderten, lehnte auch die SPD ab, die Ministerin verließ vor der Abstimmung den Saal. Wir hatten verlangt, dass die sächsische Landesregierung in Berlin für die Bergleute-Betriebsrenten streitet. Die Antwort von der Koalition: Man könne nichts machen, schließlich haben CDU und SPD im Bundestag abgelehnt, als die LINKE die Rentenauszahlung beantragte. Was für eine merkwürdige, duckmäuserische Haltung! „Wendeverlierer“ fühlen sich nicht nur als solche, sie sind es. Es geht nicht um Einzelfälle – die Ostdeutschen werden seit Jahrzehnten systematisch benachteiligt. Ich kann auch die SPD nur an ihren Taten messen und erwarte deshalb von Frau Köpping, dass sie diese Benachteiligung aufarbeiten lässt. Die Staatsregierung sollte dann im Bundesrat aktiv werden. So würden wir es machen, wenn wir in Sachsen die Mehrheit hätten!
Rico Gebhardt Fraktionsvorsitzender
Für Susanne Schaper, Sozialpolitikerin der Linksfraktion, ist es unerträglich, dass „die Lebensleistung dieser Menschen auch im 27. Jahr der Einheit nicht gewürdigt wird“. Sie verwies auf die sächsische Ministerin Petra Köpping (SPD), die der Bergleute-Solidargemeinschaft in Espenhain zugesagt hatte, ihr Anliegen nach Berlin zu tragen. Schließlich sieht Köpping es als „demütigende Nachwende-Ungerechtigkeit, die dringend beseitigt werden muss“. Als die Bundestags-Linksfraktion im Januar beantragte, den Bergleuten ihre Rente rückwirkend mit 60 Jahren abschlagsfrei zu gewähren, stimmte jedoch auch die SPD dagegen.„Der Antrag wurde nur abgelehnt, weil man weitere Ausnahmen fürchtete. Denn die Bergleute sind nicht die Einzigen, die um ihre Rentenansprüche aus DDR-Zeiten kämpfen“, kritisiert Schaper. Auf Bundes- und Landesebene kämpfen die Linksfraktionen für weitere Benachteiligte: Geschiedene, Balletttänzerinnen, Krankenschwestern, Beschäftigte von Reichsbahn und Post. „Wie Bund und Land auf Zeit spielen, wohl in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst löst, ist ein Skandal.“ Die Betroffenen seien keine Härtefälle, auch kein Fall für Hilfsfonds, die CDU und SPD im Wahljahr in Aussicht stellen. „Sie haben eingezahlt und Anspruche eingeworben. Es geht schlichtweg um ihr Recht!“
Dr. Jana Pinka, Mineralogin und in der Linksfraktion für Ressourcenpolitik zuständig, pflichtete bei. Sie forderte, auch für andere Beschäftigtengruppen zu prüfen, ob ihnen die Bergmannsrente zu Unrecht vorenthalten wird. Das betreffe zum Beispiel die Beschäftigten jener Freiberger Betriebe, die in der Erzaufbereitung tätig waren, oder Bergleute, die Folgeschäden sanieren. „Als Naturwissenschaftlerin, die viele Jahrzehnte auch
Braunkohle, Flussspat oder Metalle gewann, eine Bergmannsrente erhält – nicht jedoch der andere Bergmann, der unter denselben widrigen und gesundheitsschädlichen Bedingungen den Bergbau nach Braunkohle, Flussspat oder Metallen möglicherweise erst Jahrhunderte später in bergmännischer Tätigkeit saniert hat.“ Redner der Regierungsseite flüchteten sich in den Hinweis, dass es eben
Braunkohleveredelungswerk Espenhain. Bundesarchiv, Bild 183-1990-0713B-021 / Grubitzsch (geb. Raphael), Waltraud / CC-BY-SA 3.0
untertage gearbeitet hat, begegnet man jedem Bergmann mit Respekt – sei es dem Hauer im tiefen Kupferschieferbergbau oder dem Steiger im Ortsbruch im oberflächennahen Altbergbau. Was niemand erklären kann: Warum der eine Bergmann, der beispielsweise untertägig Rohstoffe wie
© Carlo Schrodt / pixelio.de
Liebe Leserinnen und Leser,
Ob in der Nickelhütte Aue oder im Braunkohleveredelungswerk Espenhain: Wer zu DDR-Zeiten Rohstoffe verarbeitete, war oft Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Deshalb waren diese Bergleute, die über Tage tätig waren, ihren Kollegen unter Tage gleichgestellt. Sie erhielten eine Zusatzversorgung, zahlten in die Sozialversicherungskasse ein, um eine Zusatzrente zu erhalten. In der Bundesrepublik gilt diese Gleichstellung nicht – mit schlimmen Folgen: Denn die Rentenansprüche wurden nicht ins gesamtdeutsche Rentensystem übertragen. Bergleuten, die nach 1997 in den Ruhestand gingen, wurde ihre Zusatzrente gestrichen. Wer schon mit 60 aufhören musste, verlor wegen der Abschläge zusätzlich einen empfindlichen Teil seines Rentenanspruchs. Seit Jahren streiten die Betroffenen um ihr Recht. Sachsens Regierung könnte über den Bundesrat dafür streiten, dass die ehemaligen BraunkohleVeredler den untertägigen Bergleuten gleichgestellt werden und ihre Zusatzrente noch bekommen, und zwar rückwirkend. Das forderte die Linksfraktion im Landtag (Drucksache 6/8131). Außerdem soll geprüft werden, ob noch anderen Gruppen ehemaliger Bergleute Rentenunrecht widerfährt.
schwierig sei, die Rentenansprüche „überzuleiten“. Allerdings muss man vermuten, dass die Regierenden diese Überleitung gar nicht wollen – denn seit 27 Jahren hat sich nichts getan. Der „sozialpolitische Sprecher“ der CDU, Alexander Krauß, bemühte sich, vom Thema abzulenken – etwa mit der Behauptung, es habe in der DDR „flächendeckend Altersarmut“ gegeben. Unser Einsatz für die Bergleute sei auch nicht glaubwürdig, weil wir das Ende der Braunkohleverstromung forderten und damit die Arbeitsplätze im Kohlebergbau abschaffen wollten. Er verschwieg, dass es uns im Gegenteil darum geht, diese Arbeitsplätze auch nach dem absehbaren Kohleausstieg – unserer Prognose nach bis 2040 – zu erhalten. Wir wollen schon jetzt beginnen, Nachfolgebeschäftigung etwa im Bereich nicht-fossiler Energieträger zu organisieren. Die CDU aber verschließt die Augen vor dem Strukturwandel, riskiert den Strukturabbruch. So unterstützte sie, wie die SPD, auch nicht den Antrag, Gerechtigkeit für die sächsischen Bergleute zu schaffen. Von den über 600 Mitgliedern der Solidargemeinschaft Borna-Espenhain lebten 2014 nur noch 383. Auch Sachsen braucht schnell andere politische Mehrheiten!
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PARLAMENTSREPORT
Februar 2017
Fall al-Bakr: Innenminister Ulbig muss gehen! Die Februarsitzung war nicht leicht für Innenminister Markus Ulbig und Justizminister Gemkow (beide CDU). Sie mussten Stellung nehmen zu Versäumnissen der Sicherheitsbehörden im Fall des Terrorverdächtigen Al-Bakr. Der entkam am 8. Oktober 2016 einem Polizeieinsatz in Chemnitz, wurde dann in Leipzig von syrischen Landsleuten ausgeliefert und anschließend im Gefängnis nicht am Suizid gehindert. Eine Regierungskommission unter Leitung des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Herbert Landau hat die Geschehnisse nun aufgearbeitet – und kommt zu alarmierenden Ergebnissen. So fehlte im Landeskriminalamt (LKA) ein angemessener Einsatzführungsstab. Trotz klarer Ansagen von der Bundesebene ging der Einsatzführer davon aus, dass lediglich ein eventuell bewaffneter Mann festzusetzen sei. Das Angebot, Spezialeinheiten zu schicken, wurde abgelehnt. Zudem behinderten Kommunikationsdefizite die Festnahme. Nach einem Warnschuss des SEK vermutete der Einsatzleiter, dass Al-Bakr wieder in der Wohnung sei, weshalb keine Großfahndung eingeleitet wurde; Al-Bakrs offizielle Bleibe in Eilenburg wurde erst Stunden später durchsucht, weil Personal fehlte. Den Fahndungsaufruf übersetzte man erst nach 28 Stunden ins Arabische. Die Justizvollzugsanstalt Leipzig traf AlBakrs Einlieferung unvorbereitet. Das alles schreit nach Konsequenzen. Der Kommissionsbericht umfasst 200 Seiten, die Verschlusssache sind. Nach der Lektüre ist für die Linksfraktion klar: LKA-Chef Michaelis und Innenminister Ulbig (CDU) müssen gehen!
LINKEN-Innenexperte Enrico Stange befand: „Wir haben mehr Glück als Verstand und Können gehabt. Denn trotz des desaströsen Polizeieinsatzes konnte der Terrorverdächtige seine Planung nicht umzusetzen.“ Er dankte den Beamten, die „unter schlechten Bedingungen einen schwierigen Job gemacht haben“, und den Syrern, die Al-Bakr festsetzten. Der Bericht der Landau-Kommission sei hochwertig. Ihn interessiere, warum die Polizei nicht auf Terrorlagen vorbereitet ist. Wer wie Ulbig eine „Kultur der Verantwortlichkeit“ wolle, dürfe zur eigenen Verantwortung nicht schweigen. Der Innenminister habe nicht gesagt, was er gegen die Terrorgefahr unternommen hat. Der Al-Bakr-Einsatz sei „der Lackmustest“ gewesen, der gezeigt habe, dass es nicht einmal eine Konzeption gibt. Stattdessen würden die Folgen des Personalabbaus sichtbar. Ulbig verfalle in Aktionismus: Künftig sollen Anti-Ter-
ror-Einsätze von den Polizeidirektionen statt vom LKA geführt werden. Dabei sei nicht belegt, dass die das könnten. Und beim neuen „Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum“ sei unklar, ob es alle Aufgaben – die Abwehr politisch motivierter Kriminalität und Terrorismus jeder Couleur – erfüllen kann. LKA-Chef Michaelis habe „Führungsschwächen zugelassen“ und solle gehen. „Allerdings endet die Verantwortung der Staatsregierung damit nicht. Die Polizei braucht den konzeptionellen, personellen, strukturellen und operativen Neustart. Sie, Herr Ulbig, haben den Problemberg seit 2009 wachsen lassen. Sie sollten um Entlassung ersuchen.“ Zu den Versäumnissen im Justizbereich sprach der LINKEN-Rechtspolitiker Klaus Bartl. Über die Terrorgefahr sei „viel schwadroniert“ worden. „Als es nun zum Treffen kam, haben herkömm-
liche Handlungs- und Reaktionsmuster zu Teilen jämmerlich versagt.“ Bedenke man, welche Erkenntnisse zu Al-Bakr vorlagen, sei unverständlich, dass die Bundesebene nicht Ermittlungen übernommen hat. Allerdings: „Wir haben uns bei der Fehleranalyse zuallererst an die eigene ,Landesnase‘ zu fassen“. Die Mitschuld der CDU-geführten Staatsregierungen sei klar: Anstatt auf die „gefährlicher werdende Kriminalitätsbedrohung und sich radikalisierende Täterpersönlichkeiten“ zu reagieren, „machten sie Justiz und Polizei zum Terrain einer überambitionierten Sparpolitik“. Nun arbeiteten die Justizvollzugsbediensteten am Limit. „Wer aber ackert wie der Hamster im Laufrad, Krankheitstage der Kollegen kompensieren und unzählige Überstunden leisten muss, dem fehlt es an Nerven und Zeit, um Terrorverdächtige richtig einzuschätzen“. Nachbesserungen beim Personal, die der Justizminister erstreiten konnte, reichten nicht. Was tun? Die Linksfraktion unterstütze manche Empfehlungen der LandauKommission, etwa die, mehr Personal mit Migrationshintergrund für die Justizvollzugsanstalten zu gewinnen. Es sei auch gut, wenn Dolmetscher und Psychologen länderübergreifend kooperierten. Abzulehnen sei aber die Videoüberwachung von Gefangenen, die Grundrechte abbaue und ein „fataler Kotau vor dem Terrorismusproblem“ wäre, so Bartl. Auch müssten Geheimdienste und Polizei getrennt bleiben, das sei auch eine „Erfahrung aus der demokratischen Wende von 1989“. Die Aufarbeitung ist längst nicht vorbei.
„Rasse“ raus aus der Verfassung! Wir leben in polarisierten Zeiten, erleben teils hasserfüllte Konflikte. Der Freistaat muss reagieren – der Rahmen dafür ist die Verfassung. Mit unserem „Gesetz für ein tolerantes und friedliches Zusammenleben“ (Drucksache 6/8130) wollen wir sie dafür auf den neuesten Stand bringen. Wir wollen einen neuen Artikel einfügen, der festlegt: „Alles staatliche Handeln muss dem inneren und äußeren Frieden dienen und Bedingungen schaffen, unter denen gesellschaftliche Konflikte gewaltfrei, friedlich und tolerant gelöst werden können.“ Zu dieser Richtschnur kommt die klare Ansage, was verfassungswidrig ist: alle Handlungen, die „geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker oder der Menschen zu stören“, die „rassistisches, fremdenfeindliches, antisemitisches und nationalsozialistisches Gedankengut wieder zu beleben, neu zu beleben und zu verbreiten“ suchen. Der Freistaat soll künftig alle fördern, die sich für den inneren Frieden einsetzen. Die Zeiten, in denen die CDU zivilgesellschaftliches Engagement kritisch beäugt oder nach dem Motto „Der Feind steht links“ unter Generalverdacht stellt, sollen vorbei sein.
Unsere Verfassungsänderung soll ein zweites Ziel erreichen. Wir wollen das Wort „Rasse“ streichen. Der Verfassungstext soll stattdessen von „rassistischer Benachteiligung“ und „rassistischen Gründen“ sprechen. So wird die Abwertung ganzer Menschengruppen geächtet, ohne die Annahme hinzunehmen, dass es „Menschenrassen“ gebe. Das Deutsche Institut für Menschenrechte argumentiert, dass die Verwendung des Begriffs „Rasse“ das faschistische Konzept von „menschlichen Rassen“ als akzeptabel erscheinen lässt. „Der Begriff der ,Rasse‘ ist keiner vernünftigen Interpretation zugänglich. Er kann es auch nicht sein, da jede Theorie, die auf die Existenz unterschiedlicher menschlicher ,Rassen‘ abstellt, in sich rassistisch ist“, so InstitutsMitarbeiter Dr. Hendrik Cremer. Worte schweben nicht frei im Raum umher. Sie stehen für ein bestimmtes Denken, das in Handeln gerinnt. LINKEN - Fraktionschef Rico Gebhardt erinnerte an die Verfassungsdebatte der letzten Wahlperiode. Damals einigten sich Vertreter von Regierung und Opposition darauf, zunächst die Finanzverfassung zu ändern. Ein Punkt war die „Schuldenbremse“; die Linksfraktion setzte
gleichzeitig durch, dass im Landeshaushalt das Prinzip des sozialen Ausgleichs geachtet werden muss. Danach, so die fraktionsübergreifende Verständigung, sollten weitere Verfassungsänderungen folgen. Allerdings hat die CDU ihr Wort gebrochen; Fraktionschef Frank Kupfer weigert sich, überhaupt zu verhandeln. Gebhardt hielt ihm seine Sturheit vor: „Sachsen hat durch Menschenfeindlichkeit erheblichen Schaden genommen. Ein Signal von Verfassungsrang gegen diese antihumanen Fehlentwick-
lungen stünde unserem Land gut zu Gesicht. Dies stärkt zugleich all denen den Rücken, die täglich für Menschlichkeit und Mitgefühl Gesicht zeigen“. Der Gesetzentwurf wurde in die Ausschüsse überwiesen. Die CDU-Fraktion konnte sich nicht einmal durchringen, dieser Überweisung zuzustimmen, obwohl damit keine inhaltliche Bewertung verbunden ist. Wir sind nun gespannt auf die Debatte und die Argumente der Regierungskoalition!
Februar 2017
PARLAMENTSREPORT
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Die Neunziger klopfen an
Die extreme Rechte bedroht die öffentliche Sicherheit, vor allem Andersdenkende, Andersaussehende, Andersliebende. Parteiverbote helfen da nicht, auch keine Debatten über die staatliche Parteienfinanzierung etwa der NPD. Mit Parteien wie „Der III. Weg“ und „Die Rechte“ stehen neue Gruppierungen bereit. Auch Verbote militanter Naziorganisationen eilen der Entwicklung oft nur hinterher. Die der „Skinheads Sächsische Schweiz“ im Jahr 2001 und der Kameradschaft „Sturm 34“ im Jahr 2004 zählen noch zu den erfolgreicheren Maßnahmen. Die „Nationalen Sozialisten Döbeln“ verbot man 2013 erst, als sie nicht mehr relevant waren; die „Nationalen Sozialisten Chemnitz“ blieben vor ihrem Verbot 2014 jahrelang unbehelligt. „Das Verbot einer Gruppierung richtet weder gegen die Ideologie etwas aus noch gegen die gefestigten
Netzwerke, deren Anhängern es egal ist, unter welcher Bezeichnung sie auftreten“, meint Köditz. Oft behaupten Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, angereiste Störer seien für rechte Umtriebe verantwortlich. Das lässt sich allerdings nicht nachweisen. Die Probleme sind „hausgemacht“, regionale Schwerpunkte erkennbar, darunter Dresden und Leipzig sowie der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Dort existiert eine hochorganisierte rechte Szene. „Die extreme Rechte ist selbstbewusst. Sie sucht die Konfrontation. Es ist offenbar nicht gelungen, Hochburgen der extremen Rechten, in denen Angsträume geschaffen wurden, zu befrieden“, so Köditz. „Die Neunziger Jahre klopfen an! Wir sind gut beraten, naive Fehler nicht zu wiederholen, als die Tür geöffnet und das Thema systematisch kleingeredet wurde“. Die Staatsregierung müsse ein Gesamtkonzept vorlegen, mit dem die extreme Rechte zurückgedrängt wird. Auf das Landesamt für Verfassungsschutz sei dabei
aber kein Verlass, wie etwa dessen Umgang mit der neurechten „Identitären Bewegung“ zeige. Vier Jahre lang prüfte man die eigene Zuständigkeit, bevor man die Beobachtung aufnahm. Auf Fragen der Linksfraktion konnte man aber nur mitteilen, wo Ortsgruppen aktiv sind. Das allerdings steht im Internet. Dazu braucht man keinen Inlandsgeheimdienst. Köditz forderte, die extreme Rechte zu entwaffnen. Seit 2011 überprüfte der Verfassungsschutz lediglich 100 amtsbekannte Neonazis, gestrichen wurden waffenrechtliche Erlaubnisse nur in drei Fällen. Zivilgesellschaftliche Projekte, insbesondere die Beratungsstellen für Opfer rechter und rassistischer Gewalt, müssten kontinuierlich sicher finanziert werden. Und das neue „Polizeiliche Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum“ dürfe die Aufgaben des bisherigen Operativen Abwehrzentums im Kampf gegen Rechtsextremismus nicht vernachlässigen. Sachsen hat ein Problem. Die CDU-geführte Staatsregierung muss endlich anfangen, es zu lösen. Bild: DIE LINKE Baden-Württemberg
Sachsen hat ein Problem. Es ist „chronisch und akut zugleich“ und „größer, als es die NPD je war“. Die Rede ist von der extremen Rechten, die Einschätzung stammt von Kerstin Köditz, Expertin der Linksfraktion für die extreme Rechte. Sie sieht eine „verschärfte Gewaltdynamik“ und verweist auf die Ergebnisse einer Großen Anfrage der Linksfraktion (Drucksache 6/6532), die Thema im Parlament war. Sie liefert erschreckende Befunde. Mehr als zehntausend rechtsmotivierte Straftaten sind dokumentiert. Statistisch gesehen wurden zwischen 2011 und Mitte 2016 an jedem Tag fünf rechtsmotivierte Delikte verübt. 2015 waren es täglich fast sieben. Keine andere Straftat, von wem sie auch verübt werden mag, macht das weniger schlimm. Diese Zahlen umfassen freilich nur jene Taten, die erkannt und der rechtsmotivierten politischen Kriminalität zugeordnet werden konnten – die Dunkelziffer liegt höher.
Nicht revolutionär, nur menschlich Trumps Ankündigung, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu errichten, sorgt in Europa zu Recht für Empörung. Viele Kritiker sind wenig glaubwürdig, weil sie nicht jene „Wassermauer“ kritisieren, die Europa abschirmt: das Mittelmeer. Beim Versuch, es zu überwinden, lauert der Tod. 2016 ertranken fünftausend Männer, Frauen, Kinder. Europas „Badeteich“ ist ein Massengrab. Die Profiteure sind Schlepperbanden, die ein Vermögen schöpfen, weil es keine legalen Fluchtwege gibt. Selbst wer es ans Ufer schafft, ist dem Elend nicht entkommen. In den Aufnahmelagern in Italien und Griechenland herrschen unerträgliche Zustände, vor allem für Kinder, ältere Menschen und Kranke. Viele leben in Zelten oder Industrie- und Lagerhallen ohne Heizung oder ausreichende sanitäre Anlagen; Wasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung sind knapp. Die Zahl der Todesfälle steigt. Sachsen allein kann nicht erreichen, dass die Geflüchteten in Europa solida-
risch verteilt werden. Das EU-Umsiedlungsprogramm vom September 2015 ist gescheitert. Es sollte 160.000 Geflüchtete aus Griechenland und Italien in die EU bringen – bis Ende Januar 2017 hatte Deutschland aber nur 1.831 Personen auf diesem Wege aufgenommen. Die mehr als 25.000 freien Plätze sollten genutzt werden, um Menschen aus den Lagern zu holen. Auch Sachsen könnte ein Kontingent bereitstellen, besonders Schutzbedürftige aufnehmen – und jene, deren Verwandte schon hier leben. Eine solche „humanitäre Initiative“ hat die Linksfraktion im Landtag gefordert (Drucksache 6/8128). In Sachsen kommen inzwischen viel weniger Menschen an, im letzten Jahr waren es knapp 15.000 – 2015 lag die Zahl noch bei knapp 70.000. Dementsprechend gibt es genug Platz in den Erstaufnahmeeinrichtungen; der Betrieb mancher Häuser ist ohnehin noch für Jahre vertraglich vereinbart.
maßnahmen wie die Schließung der Balkan-Route und den Deal mit der Türkei. „Diese Politik kostet Menschenleben. Die Gründe, die Menschen zur Flucht zwingen, sind in den letzten Jahren nicht weniger geworden. Die Zahl der weltweit Flüchtenden steigt weiter. Währenddessen nehmen die am wenigsten entwickelten Staaten das absolute Gros an Geflüchteten auf. Aber die reiche EU schottet sich weiter ab.“ Der Antrag der Linksfraktion sei „nichts Revolutionäres. Wir drängen nur darauf, den Menschen zu helfen, die in den Mittelmeer-Anrainerstaaten vor sich hin vegetieren.“ Dem Königsteiner Schlüssel entsprechend könnte das Sachsen insgesamt 1.350 Menschen Schutz bieten. „Sagen Sie nicht, dass der Freistaat nicht in der Lage wäre, dieser Zahl von Menschen über zwei Jahre Zuflucht zu bieten“, so Nagel in Richtung der Regierungskoalition, die sich dem Anliegen verweigerte.
Juliane Nagel, Sprecherin für Migrations- und Flüchtlingspolitik, kritisierte europäische Abschottungs-
Konsequenterweise müssten CDU und SPD nun auch aufhören, sich über Trumps Mauerpläne zu empören.
Komm‘ mit mir ins Lehrermangel-Land, … dort darfst Du selbst entscheiden, wo Dein Kind zur Schule gehen soll, ja, sag mal, find’st Du das nicht toll? In Abwandlung eines PUR-Titels könnte man so die jüngste „Großtat“ zusammenfassen, derer sich Sachsens CDU-SPD-Koalition rühmt: die neue „Bildungsempfehlung“. Bisher war dieselbe weniger eine Empfehlung als eine Vorgabe, die Bildungswege eröffnet oder verschlossen hat – mit allen Folgen für das spätere Leben der zehnjährigen Aussortierten. Diese Praxis widersprach dem in der Verfassung garantierten Elternrecht, über die Bildung ihrer Sprösslinge zu entscheiden. Zu dieser Erkenntnis gelangte die Regierung nicht selbst – Eltern mussten sich ihr Recht einklagen. Ein Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts machte nun gesetzgeberische Schritte nötig. Ein Vierteljahrhundert lang hatten Eltern nicht das letzte Wort darüber, ob ihr Nachwuchs aufs Gymnasium oder auf die Oberschule gehen soll. Nun entscheiden laut Schulgesetz „die Eltern auf Empfehlung der Schule.“ Gleichwohl wurden Hürden auf dem Weg ans Gymnasium errichtet: Leistungsfeststellungen, verpflichtende Gespräche, enge Fristen. Eine zweite Regelung könnte diesen Fortschritt für viele allerdings wieder aufheben: „Über die Aufnahme an eine Schule entscheidet […] der Schulleiter im Rahmen der verfügbaren Ausbildungsplätze.“ Die Eltern dürfen also die Schulart festlegen – bei der Wahl der Schule selbst können sie allerdings am Lehrermangel scheitern, der in Sachsen regional und nach Schularten unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Schon jetzt wird befürchtet, dass die Gymnasien aufgrund vieler Anmeldungen aus allen Nähten platzen, vor allem in Dresden und Leipzig. LINKEN-Bildungsexpertin Cornelia Falken hat deshalb das Kultusministerium aufgefordert, diese Schulstandorte gezielt zu unterstützen. Die neue Bildungsempfehlung beseitige auch nicht das Grundproblem des sächsischen Schulwesens, so Falken: „Die Entscheidung, für Schüler in der vierten Klasse den Bildungsweg festzuschreiben, fällt viel zu früh. Kinder werden nach Notendurchschnitten, nach Leistungen sortiert – mit zehn Jahren!“ Diese Schulstruktur stammt aus dem Jahr 1919. Die Linksfraktion fordert deshalb, dass an sächsischen Schulen länger gemeinsam gelernt wird – mindestens bis zur Klasse 8. Das wäre wirklich toll.
PARLAMENTSREPORT
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Februar 2017
Osten entlasten: Netzentgelte einheitlich regeln!
Februar 2017 Die 48. und 49. Sitzung des 6. Sächsischen Landtages fanden am 01.02.2017 und 02.02.2017 statt. Die Fraktion DIE LINKE war mit folgenden parlamentarischen Initiativen vertreten: Aktuelle Debatte „Jahrelange Benachteiligung Ostdeutschlands bei den Strom-Netzentgelten beenden – Energiewende nicht länger gefährden. Strompreise runter“ Gesetzesentwürfe „Gesetz über die Neuordnung der Flüchtlingsaufnahme im Freistaat Sachsen und zur Änderung weiterer Vorschriften“ (Drs 6/4865), dazu Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE (Drs 6/8290) zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses
Was steckt dahinter? Der EnergieExperte der Linksfraktion, Marco Böhme, erklärt: In Ostdeutschland wird mehr Strom produziert als verbraucht, schon wegen der Kohleverstromung. Überschüsse werden in andere Landesteile exportiert, den Transport bezah-
len die Stromkunden mit – über die Netzentgelte. Im Osten sind sie höher, weil hier schon mehr Ökostromanlagen gebaut, Netze modernisiert wurden. In Westdeutschland steht das noch bevor. Wenn sich nichts ändert, wird der Osten dann für die Energiewende „bestraft“: Denn die Netzentgelte würden nicht sinken, obwohl der Netzausbau geschafft ist, und der Ausbau im Westen würde vom Osten mitbezahlt, nachdem man dort lange von den hiesigen Stromexporten profitiert hat. Auch für Nico Brünler, Sprecher für Wirtschaftspolitik, ist das eine Gerechtigkeitsfrage für den Osten. „Höhere Kosten beim Produktionsfaktor Energie müssen kompensiert werden. Wenn man unterstellt, dass keine höheren Preise durchsetzbar sind und Rohstoffkosten auf dem Weltmarkt determiniert sind, dann bleiben nur die Löhne“. Zudem würden nicht nur Privathaushalte durch zu hohe Netzentgelte belastet, sondern auch Unternehmen: Es sei betriebswirtschaftlich „ein Unterschied, ob der Bäcker in Sachsen 3.000 Euro mehr Energiekosten hat als sein Kollege in Nordrhein-Westfalen. Bei Industrieunternehmen geht es schnell um Millionen.“ Die Netzentgelte müssten in Deutschland solidarisch aufgebracht werden, um den Osten spürbar zu entlasten.
„Von schwarzen Männern und weißen Frauen“: Diskussion über Rassismus und Sexismus 10. März, 17 Uhr, riesa efau, Wachsbleichstraße 4a, Dresden Themenabend: „Die Kurdische Kommune in Sachsen als Partnerin für Integration – Erfahrungen, Beitrag und Wege“ 21. März, 14 Uhr, Sächsischer Landtag, Lobby 4. Etage
„Gesetz für ein tolerantes und friedliches Zusammenleben in einem weltoffenen Sachsen“ (Drs 6/8130) Anträge „Gerechtigkeit für sächsische Bergleute herstellen!“ (Drs 6/8131) „Dringende humanitäre Initiative aus Sachsen – Solidarische Verteilung und Selbstverpflichtung Sachsens bei der Umverteilung Geflüchteter aus Aufnahmelagern in Italien und Griechenland“ Drs 6/8128 Große Anfrage „Die Entwicklung der extremen Rechten in den Landkreisen und Kreisfreien Städten des Freistaates Sachsen und Maßnahmen zur Zurückdrängung des Problems“ (Drs 6/6532), dazu Entschließungsantrag der Fraktion DIE LINKE (Drs 6/8350) Alle Drucksachen unter www.edas.landtag.sachsen.de
Scheel wechselt, Jalaß kommt Wechsel in der Linksfraktion: Finanzexperte Sebastian Scheel, seit 2004 im Landtag und zuletzt Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, wechselt nach Berlin. Dort wird er Staatssekretär für Wohnen und folgt auf Andrej Holm, der wegen Stasi-Vorwürfen seinen Posten räumen musste. Scheel blickt zurück und voraus: „Ich bin dankbar für viele erfüllte Jahre, in denen ich in Sachsen politisch wirken durfte. Nun freue ich mich auf die neue Herausforderung und werde mit aller Kraft die Reformvorhaben der rot-rot-grünen Regierung unterstützen, damit in Berlin das linke Herzensanliegen einer sozialen Wohnungspolitik umgesetzt wird. Ich würde mich über eine weitere Zusammenarbeit mit Andrej Holm freuen.“ Für Scheel nachrücken wird René
Noch ein zweiter Aspekt zeigt, dass die Energiewende nicht an hohen Strompreisen schuld ist. Während die Stromrechnung offenlegt, welcher Preisanteil für sie verwendet wird (EEG-Umlage), bleibt unklar, welche Kosten die konventionelle Stromerzeugung verursacht. Das Forum für Ökologisch-soziale Marktwirtschaft berechnet dafür jährlich eine fiktive Umlage. Die EEGUmlage betrug 2015 6,17 Cent, die für konventionelle Kraftwerke hingegen 11 Cent! Die Nutzung von Steinkohle, Braunkohle und Atomenergie hat seit 1970 mehr als 600 Milliarden Euro Steuergeld gekostet, die der erneuerbaren bisher nur 100 Milliarden Euro. Die Kostenposten sind zahlreich: Finanzhilfen für Forschung und Entwicklung in Bergbau, Kraftwerken und CCS-Technik, Bergbausanierung, Stilllegung von Kernkraftwerken, EndlagerSuche, Steuervergünstigungen, Ausgaben für Unfälle, Bergsenkungsschäden, Umsiedlungen, Castor-Transporte, Katastrophenschutz etc., von den Klimafolgekosten ganz zu schweigen. „Die erneuerbaren Energieträger sind nicht die ,Preistreiber‘ der Stromversorgung, sondern sie ersetzen Energieträger mit viel höheren Folgekosten“, so Böhme. Langfristig sollten die Überkapazitäten verschwinden. Strom sollte dort produziert werden, wo er gebraucht wird. Das schont die Umwelt und den Geldbeutel.
Termine
Bild: Manfred Moitzi / flickr.com / CC BY-SA 2.0
Plenarspiegel
Auch 2017 werden die Strompreise steigen. Weshalb eigentlich, und wie setzt sich der Strompreis zusammen? Ende 2016 bestand er zu sechs Prozent aus Konzessionsabgaben für das Verlegen von Leitungen; zu sieben Prozent aus der Strom- und zu 16 Prozent aus der Umsatzsteuer. 21 Prozent beruhten auf den Erzeugungskosten, 22 Prozent auf der Umlage gemäß dem ErneuerbareEnergien-Gesetz (EEG). Mit fast 25 Prozent waren Netzentgelte der größte Posten. Ostdeutsche Verbraucherinnen und Verbraucher werden dabei benachteiligt: Bei einem Durchschnittspreis von 28 Cent pro Kilowattstunde waren die Netzentgelte im Bundesschnitt für sieben Cent „verantwortlich“, in Sachsen für bis zu neun Cent. Ein Vier-Personen-Haushalt mit 4.000 Kilowattstunden Jahresverbrauch zahlt so im Jahr 150 Euro mehr als ein vergleichbarer Haushalt in Bremen. Die Bundesregierung hatte versprochen, die Netzentgelte einheitlich zu regeln. Das ist aber vom Tisch. Die Linksfraktion brachte das Thema in den Landtag.
Jalaß (Bild). Der 34-jährige Sozialpädagoge stammt aus Leipzig. Nach dem Abschluss seines Studiums der sozialen Arbeit war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landtagsabgeordneten Enrico Stange und des Bundestagsabgeordneten Axel Troost, bevor er 2015 ins Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport wechselte. Dort war er Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und leitete später das Ministerbüro.
„Soziale Absicherung von Selbstständigen neu gestalten“ 21. März, 18 Uhr, Sächsischer Landtag, Raum A400 Veranstaltungsinfos: gleft.de/1Br
Impressum Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Telefon: 0351/493-5800 Telefax: 0351/493-5460 E-Mail: linksfraktion@slt.sachsen.de www.linksfraktion-sachsen.de V.i.S.d.P.: Marcel Braumann Redaktion: Kevin Reißig