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3.1 Die Stadt als Erlebnis- und Bildungsraum
3.1 Die Stadt als Erlebnis- und
Bildungsraum Der Stadtraum ist ein Handlungsort des Erleben und der Reflexion.11 Diese haben ihre eigene Physiognomie12 , geformt von spezifischen Gerüchen, einem eigenen Klima und unzähligen Faktoren wie Topografie, Frequentierung durch Auto und Fussgänger, Ausstattung mit Ladengeschäften und Zugang zu öffentlichem Verkehr. Sie bilden einen Raum für Protagonisten wie Bewohnende , Konsumenten, Spaziergänger, Reisende. Jeder Mensch wohnt an einer Strasse, nimmt am Geschehen teil und leistet eine Mitwirkung an der gesellschaftlichen Identität einer Stadt.13 Die Menschen schreiben Geschichten, welche die Stadt prägen und umgekehrt. Es ist eine wechselseitige Beziehung zwischen Menschen und Stadt.
So schreibt Rolf Lindner: «Städte sind keine unbeschriebenen Blätter»14 , sondern «narrative Räume, in die bestimmte Geschichten (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen), Mythen (von Helden und Schurken) und Parabeln (von Tugenden und Lastern) eingeschrieben sind.»15 Die Stadt fordert uns permanent zur Lektüre auf.16 Sie verlangt von uns Architekt*innen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt, deren politischen Geschehnissen sowie den bewohnenden Menschen. Alles zusammen bildet den Stadtraum, machen diesen zu einem Erlebnisraum und Bildungsraum zugleich.
Von der Strasse lernen Eine lange Zeit war das Lernen von der Strasse tabu. Strassenräume, Bewegungsräume hatten ihren heimlichen Anklang. Strassenkinder galten nach der Kriegszeit in den 1950er-Jahren als vernachlässigt und gefährdet.17 Gewalt, Diebstahl und Misstrauen sorgten dafür, dass der Stadtraum anfänglich nur dem funktionalen Zweck der Fortbewegung diente – bis das Auto und der neue Individualverkehr ab den späten 1950er-Jahren die Städte eroberten. Die neue Erreichbarkeit der Innenstädte und Parkplätze vor den Geschäften, sorgten für eine Wiederentdeckung des Strassenraums und dem Schaffen einer neuen Kultur des Zusammenlebens. Das Leben «Zuhause» wurde allmählich nach draussen verlegt18 .
11 Herbert/Samssuli 2014, S.11 12 Herbert/Samssuli 2014, S.18 13 Herbert/Samssuli 2014, S.18 14 Lindner 2008, S.86 15 Lindner 2008, S.86 16 Herbert/Samssuli 2014, S.13 17 Herbert/Samssuli 2014, S.18 18 Herbert/Samssuli 2014, S.18
Abb.10. Windscheibenspaziergang mit Studenten. Perspektive der Autofahrer wird eingenommen
Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt untersuchte in den 1980er-Jahren die Entscheidungsmechanismen von entscheidungsberechtigten Personen: Wie sie zu ihren Entschlüssen kommen und durch diese auf die Umwelt einwirken. Die von ihm eingeführte Promenadologie, bekannt als Spaziergangswissenschaft, ist eine von ihm entwickelte Vorgehensweise für Planer*innen und Architekt*innen. Sie ist ein hilfreiches Instrument, um ein anderes Verständnis von Landschaft und urbanem Raum zu erhalten.19
«Entscheidungen des Menschen beeinflussen die Umwelt – die veränderte Umwelt beeinflusst den Menschen. Es ist ein gegenseitiges Spiegelbild.»20 Es bleibt aber nicht beim Wechselspiel zwischen den genannten Parametern. Burckhardt führt eine dritte Instanz ein, die Politik. Den Begriff verstand er als ein Dachbegriff, unter dem sich einflussnehmende Fachleute wie Architekten, Verkehrsplaner und politisch aktive Personen sammeln liessen.
Diese dritte Instanz sorge dafür, dass die Ist-Auffassung der Umwelt bewusster erlebt wird, potenzielle Missstände entdeckt und der Entschluss, diese zu ändern, gefasst werden kann. Die Lösung wirkt auf die Umwelt ein, verändert sie. Meistens in Form einer baulichen Anpassung. In der Stadtplanung sind Verkehrswege, Fussgängerwege und gebaute Architektur prägende Einflussgrössen für die Veränderung. Infrastrukturen, zum Beispiel getaktete Busverkehrsnetzwerke, genormte Wegdurchführungen und ähnliches, müssen ineinander spielen.21 Zahlreiche Veränderungen muss die Stadtbevölkerung oft einfach hinnehmen; dann, wenn die Behörde ihren Einfluss «von oben herab» geltend macht.
19 SRF Kultur Extra 1985 20 SRF Kultur Extra 1985 21 SRF Kultur Extra 1985