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4.2 Cullen und das Stadtvokabular
Gordon Cullen (1914-94) ist ein britischer Architekt und Stadtplaner. Er nahm eine prägende Schlüsselrolle in der Urbanistik ein. Fast ein Jahrzehnt lang beschäftigte er sich mit der Analyse der Stadt und ihrer Elemente.28
Das enge Zusammenleben in einer Stadt bringt viele Vorteile mit sich. Eine Familie im Dorf kann sich zum Beispiel nicht spontan entscheiden, eben mal so ins Theater zu gehen. Wer in der Stadt wohnt, kennt die Annehmlichkeiten, die man geniessen kann. Die Stadt ist viel mehr als die Summe ihrer Einwohner.29 Sie hat die Kraft, zahlreiche gesellschaftliche Angebote hervorzubringen. Dies entspricht der Natur des Menschen30 , auch evolutionär bedingt ist der Mensch ein soziales Wesen. Im Dorf wird ein freistehendes Haus als ein Stück Architektur erfahren, eine Ansammlung von Gebäuden wie in der Stadt löst es eine andere Wirkung aus: Wir sind überrascht vom Eindruck der Gruppe, nicht von einzelnem Bauwerk selbst; hinter jeder weiteren Hausecke öffnen sich unerwartete Kompositionen. Jede Gruppierung von Häusern hat ihr Eigenleben. Vielleicht stechen Häuser heraus, die eine besondere Funktion erfüllen. Das kann eine Bank oder eine Kirche sein. Wobei: Die Kirche auf einer freien Fläche auf sich alleine gestellt in ihrer Grösse wirkt nicht so effektiv, wie im Vergleich mit anderen Häusern in kleineren Massstab.31
Wie Lucius Burckhardt in der Spaziergangswissenschaft schildert: Durch unser Sehvermögen können wir unsere gebaute Umwelt immer wieder neu entdecken. Unser Sehsinn ist weitaus mehr als ein zweckdienliches Organ. Er lässt unsere Erfahrungen lebendig erscheinen und uns in Erinnerungen schwelgen. Das Sehen löst emotionale Reaktionen aus, die direkt oder indirekt mit einem Ereignisort verknüpft sind.32
Cullen beschreibt drei Ebenen der Wahrnehmung: Serielles Sehen, die räumliche Empfindung und die Ordnung der Dinge. Sie alle erzeugen eine Art von emotionaler Reaktion, die mit dem Ort verknüpft ist und diesen charakterisieren.
28 Cullen 1991, S. 2 29 Cullen 1991, S. 6 30 Cullen 1991, S. 6 31 Cullen 1991, S. 7 32 Cullen 1991, S. 8
Serielles Sehen (Bewegung) Die erste Betrachtungsebene widmet sich dem Optischen. Bewegen wir uns unvoreingenommen beispielsweise durch die Altstadt in Lugano, durch ihre engen Strassengassen: Plötzlich öffnet sich ein kleiner Platz. Durch diesen und weitere engen Gassen hindurch zeigt sich die Piazza Riforma. Sie liegt gegenüber dem Rathaus. Die zufällig aneinander gereihten Bilder fügen sich zu einer Szene zusammen. Das ist das beschriebene Serielle Sehen: Es ist eine Darlegung der Kunst der Beziehung33 , es ist ein Werkzeug, das die menschliche Vorstellungskraft befeuert. Damit kann die Stadt als ein zusammenhängendes Drama gesehen werden.34
Abb.16. Aus einzelnen Szenen fügt sich eine sinn-generiende Abfolge, das Serielle Sehen.
33 Cullen 1991, S. 9 34 Cullen 1991, S. 9
Der zweite Punkt behandelt die Reaktion des Körpers in einer Umgebung. Diese Ebene der Bewusstheit hat mit einer Anzahl von Erfahrungen zu tun, die von zwei entgegengesetzten Gefühlen definiert werden (zB. eng und weit). Der Mensch wird unweigerlich in eine Beziehung zur Umwelt gesetzt, ähnlich wie ein Fotograf die Lichtquellen von aussen in den Prozess einbezieht.35 In der Stadt entsteht räumliche Empfindung auf demselben Prinzip: Typische emotionale Reaktionen tauchen auf, wenn man sich über oder unterhalb der Erdoberfläche befindet – oder den Gegensatz der Enge eines Tunnels und der Weite eines Platzes erlebt. Die Stadt ist eine plastische Erfahrung, die durch gegensätzliche Paarungen wie Druck und Vakuum, Spannung und Erleichterung, Nah und Fern, Hier und Dort gebildet wird.
Abb.17.Oben: Ein nach aussen geöffneter Innenraum mit freiem Zugang.Ein Raum zum Hindurchschreiten. Enge.
Abb.18. Unten: Ein umschlossener Garten. Endpunkt einer Fortbewegung. Ein Raum zum Verweilen. Erlösung.
35 Cullen 1991, S. 10
Abb.19.Ordnung in der Metropole. Abb.20. Ordnung in einer Stadt. Abb.21.Ordnung in der Idylle
Ordnung der Dinge (Inhalt)
Die letzte Kategorie widmet sich der Untersuchung, was an Gestaltungsmitteln vor Ort zur Verfügung steht: Farbe, Materialien, Massstab, Stil, Charakter, Einzigartigkeit.36 Die meisten Städte bestehen aus alten Gründungen, die in den verschiedenen Stile unterschiedlicher Bauepochen und durch viele Zufällen entstanden sind. Es sind Mischungen aus Stilepochen, Materialien und unterschiedlichen Massstäben. Jede Stadt ist ein immer wieder neu überschriebenes Sammelsurium, für das Stadtplaner stets eine gewisse Konformität anstreb(t)en. Es gibt dazu unterschiedliche Auffassungen: Le Corbusier teilt in seinem Buch ‘An die Studenten – Die «Charte Athènes»’37 die Stadt minuziös in Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit ein – um das vermeintliche Chaos zu beseitigen. Cullen sucht eine andere Auslegung. Er plädiert dafür, eine allgemeingültige Konformität durch Differenzen zu erzeugen und in Nuancen von Massstab, Stil, Oberfläche und Farbe zu arbeiten. Dadurch erlange man Vorteile für alle. Auf diese Weise wird die Umgebung nicht zur Konformität gezwungen, sondern sie bewege sich innerhalb eines allgemein akzeptierten Rahmens. In diesem lasse sich ein lebendiges Spiel zwischen Dies und Das verwirklichen. Die Bereitschaft zu differenzieren erzeugt Leben.38
36 Cullen 1991, S. 11 37 Grassi 1962, S. 73-113 38 Cullen 1991, S. 12