Das Gesundheitswesen am Patienten orientieren

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Mabuse-Verlag

Christoph Kranich, geb. 1953, ist Krankenpfleger, Diplompädagoge und Manager im Gesundheitswesen. Er leitet die Fachabteilung Gesundheitsdienstleistungen der Verbraucher-Zentrale Hamburg. Karl D. Vitt, geb. 1944, ist Arzt fßr Chirurgie und Sozialmedizin. Zuletzt stellvertretender leitender Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Schleswig-Holstein.


Christoph Kranich / Karl D. Vitt (Hrsg.)

Das Gesundheitswesen am Patienten orientieren Qualit채tstransparenz und Beschwerdemanagement als Gradmesser f체r ein patientenfreundliches Gesundheitssystem. Acht europ채ische L채nder im Vergleich

Mabuse-Verlag Frankfurt am Main


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2. Auflage 2016 © 2003 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069-70 79 96-13 Fax: 069-70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de www.facebook.com/mabuseverlag

Umschlaggestaltung: Marianne Gräber, Frankfurt am Main Titelfoto: bonn-sequenz Druck: Faber, Mandelbachtal ISBN: 978-3-935964-10-4 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


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Inhalt

Warum dieses Buch?................................................................................. 7 Teil 1: Die Transparenz des Gesundheitswesens......................................... 11 Warum fordern Patienten Leistungs- und Qualitätstransparenz des Gesundheitswesens?......................................................................... 12 Christoph Kranich

Information und Transparenz................................................................ 17 Karl D. Vitt, Christoph M. Erben

Die öffentliche Bewertung von Krankenhäusern mit Hilfe von Leistungsdaten am Beispiel Großbritannien ....................................... 24 Richard Thomson

Leistungsdaten von Krankenhäusern anschaulich machen – Das Nationale Indikatorprojekt in Dänemark..................................... 38 Jan Mainz

Welchen Kompaß braucht der Hausarzt als Lotse? ........................... 51 Richard Hibbs

Die Rolle von Patienten in der Bewertung der Behandlungsqualität in Krankenhäusern ............................................ 62 Angela Coulter

Die Einführung eines Verbraucherinformationssystems über Medikamente und deren Nebenwirkungen in Schweden ................ 79 Lena Westin

Perspektive und Rolle der Patienten..................................................... 85 Fons Dekkers

Qualitätstransparenz in Gesundheitssystemen .................................. 92 Karl D. Vitt


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Teil 2: Beschwerdemanagement – ein Indikator für Patientenfreundlichkeit? ..................................................................... 101 Der Beitrag der Patienten zur Transparenz im Gesundheitswesen ................................................................................. 102 Bettina Berger

Anforderungen an ein modernes Beschwerdemanagement im Gesundheitswesen ................................................................................. 110 Roger Carbonell

Kriterien für Beschwerdesysteme aus Patientensicht ...................... 121 Christoph Kranich

Der Umgang mit Kunstfehlern in Finnland....................................... 133 Karl-Gustav Södergaard

Das System der Ombudsleute in Finnland ........................................ 136 Ritva Leskinen

Das Beschwerdesystem in den Krankenhäusern der Niederlande............................................................................................. 140 Henk Vriend

Das Beschwerdesystem in den Niederlanden ................................... 145 Fons Dekkers

Patientenvertretungen in Österreich................................................... 148 Gerald Bachinger

Das Beschwerdesystem in Großbritannien........................................ 154 Beryl Furr

Das Beschwerdesystem in Schweden und Norwegen ..................... 163 Lars Fallberg

Ein kurzer Überblick über das dänische Beschwerdesystem ......... 167 Margarethe Nielsen

Die Stimme der Patienten in Dänemark............................................. 170 Marianne Thomsen

Beschwerden als Bausteine des Qualitätsmanagements ................. 173 Christoph Kranich

Anhang .................................................................................................... 177


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Warum dieses Buch?

Ist das Gesundheitswesen reformierbar? fragt sich, wer die politische Diskussion über die Probleme seiner Finanzierung verfolgt. Die Frage stellt sich jedes Jahr neu. Meist folgt der Diskussion ein Gesetz, dessen negative Auswirkungen dann von allen Beteiligten gleichermaßen beklagt werden. Wir fordern hier, im Gegensatz zu fast allen am Gesundheitswesen beteiligten Interessengruppen, ein konsequentes Umdenken: Wir schlagen vor, das Gesundheitswesen an seinen Nutzern, den Patientinnen und Patienten1 zu orientieren – ja noch mehr: diese an seiner Gestaltung aktiv mitwirken zu lassen. Was alle ständig lautstark propagieren – „Der Patient steht im Mittelpunkt“ –, muß endlich wirklich gewollt und umgesetzt werden. Es scheint uns jedoch gar nicht sinnvoll, ja sogar gefährlich, Patienten ohne gründliche vorbereitende und flankierende Maßnahmen an der Gestaltung ihres Gesundheitswesens zu beteiligen. So wie sich Demokratie über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg entwikkelt hat, so muß auch die demokratische Mitgestaltung des Gesundheitssystems erst gelernt und geübt werden. Denn die Funktionsprinzipien sind hier so ganz anders als die anderer Systeme. Das Gesundheitswesen verfügt unter allen gesellschaftlichen Subsystemen über das höchste Ausmaß an Umverteilung der Mittel – wir nennen das für gewöhnlich unser Solidarsystem, in dem Junge für Alte, Gesunde für Kranke und Alleinstehende für Familien finanziell einstehen. Wir machen uns jedoch im Alltag kaum noch klar, daß dieses eigentlich ursozialistische Prinzip – jeder gibt nach seinem Leistungsvermögen und nimmt nach seinen Bedürfnissen – nirgends sonst in dieser Entschiedenheit Anwendung findet. Noch Anwendung findet, muß man hinzufügen, denn die Politik ist auf dem besten Wege, auch im Gesundheitswesen diesen „heimlichen Sozialis1 Gern hätten wir in diesem Buch eine zumindest ausgewogene Berücksichtigung der sprachlichen Geschlechter eingeführt. Aber da es sich bei fast allen Beiträgen um Abschriften gesprochener Rede handelt, haben wir alles so belassen und bitten die Leserinnen und Leser um innere Korrektur.


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mus“, den in der Regel niemand so nennt, durch das Prinzip des individuellen Egoismus der privaten Vorsorge zu ersetzen. Wenn die Menschen in Deutschland den Wert ihres solidarisch finanzierten und am Volk orientierten Gesundheitssystems erkennen könnten, würden sie sicher mehr dafür tun, daß es erhalten bleibt und gestärkt wird. Ansonsten droht seine Abschaffung. Zu einer solchen Stärkung werden die Wahlbürger jedoch nur fähig sein, wenn sie zuvor ihr demokratisches Bewußtsein weiterentwickeln. Angenommen die Bürger würden sich ihr Solidarsystem in einem demokratischen Kraftakt zurückerkämpfen oder seine Demontage verhindern, dann würden sie anschließend auch fordern, es leichter als heute nutzen zu können. Sie würden für mehr Durchblick, für mehr Transparenz sorgen. Den Patientinnen und Patienten fällt in der Praxis immer wieder auf, daß den großen Vorteilen unseres Gesundheitswesens – etwa der Bezahlbarkeit von Gesundheitsleistungen, der freien Arztwahl, dem relativ umfangreichen Leistungskatalog der Krankenkassen – entscheidende Nachteile gegenüberstehen: die weitgehende Intransparenz des Leistungsgeschehens und der Qualität seiner Ergebnisse. Was nützt der Patientin die freie Arztwahl, wenn ihr niemand sagen kann, welcher Arzt gut arbeitet und welcher nicht, oder welches Krankenhaus eine lebensentscheidende Behandlung von Diagnose bis Nachsorge besonders gut erbringt? Die Funktionäre des Gesundheitswesens kümmern sich nicht um diese Fragen, denn die Macht der Basis beschränkt sich auf intransparente Sozialwahlen, die entweder keine wirklichen Wahlen sind oder deren Ergebnisse schon vor der Stimmabgabe durch Zweckbündnisse feststehen. Die Basis hat keine Kundenmacht – das Gesundheitswesen ist nur zum kleinen Teil ein wirklicher Markt, auf dem der Kunde im Mittelpunkt steht; und sie hat auch keinen direkten demokratischen Einfluß – die Gesundheitspolitik spielt bei den demokratischen Wahlen stets eine Nebenrolle und das Gesundheitsressort gilt unter Politikern als besonders unbeliebt, als „Haifischbecken“ (Andrea Fischer) und als extrem „vermachtet“ (Gerhard Schröder). ë Wir legen ein Buch vor, das die Transparenz des Gesundheitswesens für seine Nutzer in den Mittelpunkt stellt. Im ersten Teil geht es um die Transparenz der Leistungs- und Ergebnisqualität, im zweiten


Warum dieses Buch?

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Teil um den Respekt vor denjenigen Nutzern, die mit der erhaltenen Leistung oder dem Ergebnis nicht zufrieden sind und sich beschweren. Leistungstransparenz und Beschwerdemanagement sind zwei Hauptaspekte der Patientenorientierung eines Gesundheitssystems. Und zugleich Grundvoraussetzung dafür, daß unser Gesundheitswesen wieder zu seiner Basis findet, den Bürgern, Versicherten und Patienten. Dieses Buch ist nicht nur die Dokumentation einer kleinen, hochrangig besetzten Expertentagung im Rahmen eines europäischen Recherche-Projekts (das im ersten Beitrag vorgestellt wird), sondern vor allem ein öffentliches Buch. Wir halten Thema und Ergebnisse dieser Tagung für so wichtig, daß es schade wäre, sie nur den damals etwa 50 Teilnehmern zugänglich zu machen. Das Buch besteht hauptsächlich aus den Referaten, die im September 2001 von Experten aus acht Ländern gehalten wurden. Wir haben ihnen den Vortrags-Charakter gelassen, so wirken sie authentischer. Stellen Sie sich einfach vor, Sie hätten zwei Tage Zeit und wären eingeladen zu einer Expertenkonferenz mit dem Titel „Transparency in Health Care: Hospital Performance and Complaint Management“. Die englisch gehaltenen Referate werden für Sie simultan übersetzt, der Titel heißt dann „Transparenz im Gesundheitswesen: Krankenhausleistungen und Beschwerdemanagement“. Leider können wir Ihnen durch ein Buch nicht das Ambiente des Hamburger Hafenviertels und der Finnischen Seemannskirche vermitteln, in der die Tagung stattfand. Aber das hat auch einen Vorteil: So können Sie sich ganz auf das Thema konzentrieren. Wir beschäftigen uns hier mit zwei durchaus unterschiedlichen, aber korrespondierenden Themen, den Krankenhausleistungen und dem Beschwerdemanagement. Beide Teile werden ergänzt durch die Diskussion während der Tagung und zum Teil auch durch Hinweise auf aktuelle Weiterentwicklungen. Den Projektbericht sowie ausführlichere Länderberichte, die auch Hintergründe der jeweiligen länderspezifischen Gesundheitssysteme beschreiben, finden Sie im Internet unter www.patientennavigation.de, dort gibt es auch eine englische Fassung. Wir danken allen Mitarbeitern des Projekts „PatientenNavigation – Verbraucherinformation über Leistungen und Qualität der Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen in Europa“ – neben den in diesem Buch als


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Autoren vertretenen sind das: Ron Pritzkuleit, Susanne Thorsen-Vitt, Isburga Weber – sowie dem Geschäftsführer der VerbraucherZentrale Hamburg, Dr. Günter Hörmann, und dem seinerzeitigen Geschäftsführer des MDK Schleswig-Holstein, Dr. Ingo Heberlein. Und wir danken Volker Bach, der die Übersetzungen in Englisch und Deutsch besorgte, sowie der EU-Kommission, Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz, für die finanzielle Unterstützung dieses Projekts. Christoph Kranich, Hamburg Karl D. Vitt, Lübeck


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Teil 1 Die Transparenz des Gesundheitswesens

Viel ist die Rede vom „gläsernen Patienten“, etwa im Zusammenhang mit der Einführung elektronischer Patientenkarten. Sie sollen nicht nur als Notfallausweis, sondern vor allem als Berechtigungsund Kontrollinstrument dienen. Ärzte sollen beispielsweise die Einnahme von Medikamenten besser überwachen und die Vorgeschichte der Patientin schneller und lückenloser erfassen können, um nur einige der erwarteten Vorteile zu nennen. Welchen Nutzen und Vorteil sollen aber Patienten davon haben? Wenn man sie fragt, haben sie ein ganz anderes Bedürfnis. Sie wollen endlich das Gesundheitssystem durchschauen. Sie wollen wissen, wie das alles funktioniert – und, noch wichtiger: wo sie gute Leistungen bekommen können. Wir kehren den Blick einmal um und fragen nicht nach dem gläsernen Patienten, sondern nach dem gläsernen Gesundheitswesen. Denn das Gesundheitswesen ist für die Patienten da, nicht umgekehrt. Man muß nur mal die Begriffe zurechtrücken und wieder richtig, in der richtigen Reihenfolge, denken lernen. So handelt der erste Teil dieses Buches also von mehr oder weniger gelungenen Versuchen in europäischen Ländern, Transparenz der Leistungsqualität des Gesundheitswesens für Patienten zu etablieren.


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Warum fordern Patienten Leistungs- und Qualitätstransparenz des Gesundheitswesens? Christoph Kranich Patientenberater in Deutschland haben seit vielen Jahren ein Problem: Patienten, Klienten, Ratsuchende fragen immer wieder, bei welchem Arzt oder in welchem Krankenhaus sie eine gute Behandlung bekommen. Sie fragen nicht nur „Wo ist das nächste Krankenhaus mit dieser oder jener Fachabteilung?“, sondern: „Operieren die mich dort auch wirklich gut?“ Solche Fragen nach der Qualität von Leistungen im Gesundheitswesen sind ganz besonders wichtig für Menschen, die bereits ein- oder mehrmals schlechte Erfahrungen gemacht haben, die etwa schon eine mißlungene Behandlung oder noch Schlimmeres erleben mußten. Leider können wir solche Fragen fast nie beantworten. Aber die Menschen fragen weiter: „Warum gibt es für jedes Auto und jeden Fotoapparat ausführliche Testberichte in zwanzig verschiedenen Zeitschriften – und über die Qualität von Ärzten und Krankenhäusern gibt es gar keine Informationen? Meine Gesundheit ist doch viel wichtiger, viel entscheidender und persönlicher als ein Auto oder ein Fotoapparat!“ Wir versuchen dann, zu erklären, warum das bei Ärzten und Krankenhäusern so viel schwieriger ist als bei Autos und Fotoapparaten: u Zum Beispiel weil der Arzt als Dienstleister keinen Erfolg garantieren kann, sondern nur die größtmögliche Bemühung um Heilung oder Linderung. u Und daß es in der Medizin äußerst schwierig ist, den Erfolg einer Behandlung im Voraus abzuschätzen, weil die Medizin nur „weiche Daten“ liefert, im Gegensatz etwa zu den „harten Daten“ technischer Bereiche, in denen es mehr um Dinge geht als um Menschen. u Ein weiterer Grund ist, daß im Gesundheitswesen kein wirklicher Markt besteht, sondern die Gelder zwischen Armen und Reichen, Kranken und Gesunden umverteilt werden: Jeder zahlt nach seinen Fähigkeiten und nimmt nach seinem Bedarf – um dieses vom Reichskanzler Bismarck vor über hundert Jahren eingeführte Solidarsystem werden wir von vielen anderen Ländern beneidet.


Warum Leistungs- und Qualitätstransparenz des Gesundheitswesens?

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u Und schließlich ist das Gesundheitswesen ein sehr viel komplexeres System als die meisten anderen Waren- und Dienstleistungssysteme, vor allem weil diese Umverteilung völlig eigene Institutionen der Abrechnung, Qualitätssicherung und Kontrolle erfordert. Wir wissen sehr gut, daß Ärzte und Krankenhäuser nicht so leicht zu beurteilen sind wie Autos und Fotoapparate. Aber wir halten das nicht für hinreichende Gründe dafür, keine Transparenz über ihre Leistungsqualität zu schaffen. Wir meinen, daß Patienten den legitimen Anspruch haben, zu wissen, wie gut und kompetent ein Arzt oder Krankenhaus arbeitet. Und daß sie recht haben, wenn sie sagen: „Gesundheit ist doch so viel wichtiger als Autos oder Fotoapparate!“ Ist es nicht ein Widerspruch: Auf der einen Seite werden Patienten immer mehr als Kunden angesehen, auf der anderen Seite aber wird ihnen auf dem immer unübersichtlicher werdenden Gesundheits„markt“ keinerlei Orientierung geboten. Wie soll ich denn mündiger Kunde sein, wenn mir niemand eine Hilfe gibt, die vielen konkurrierenden Angebote zu durchschauen? Also war die nächste Frage: Warum können Patienten gerade in Deutschland nichts über die Qualität der Leistungen erfahren? Wir wußten bereits, daß einige europäische Länder ihre Bürger sehr viel besser über den outcome der Leistungen von Krankenhäusern informieren; wir hatten z.B. gehört, daß in Großbritannien die Transparenz von der Regierung „verordnet“ worden war. Das interessierte uns: Wie konnte eine Regierung so etwas gegen die Interessenverbände der Leistungserbringer und Kostenträger durchsetzen? Oder gab es solche Gegensätze vielleicht in anderen Ländern gar nicht? Wir kannten nur Deutschland, ein Land, in dem mächtige Interessenverbände jede patientenfreundliche Weiterentwicklung seit Jahrzehnten behindern und Patienten überhaupt nichts zu sagen haben. So wurde unser europäisches Recherche-Projekt geboren. Mit Unterstützung der EU-Kommission konnten wir etliche Länder und ihren Umgang mit Daten über Krankenhausleistungen studieren. An dieser Stelle sollte ich etwas dazu sagen, warum wir unser Projekt „Patienten-Navigation“ genannt haben. Diese Wortwahl hat für uns große Bedeutung. Wir verbinden mit Navigation einen partnerschaftlichen Ansatz der Patientenunterstützung, wie wir ihn in unserer täglichen Arbeit gewohnt sind. Und wir grenzen uns ab gegenüber paternalistischen Ansätzen; gegenüber Menschen und Or-


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Christoph Kranich

ganisationen, die die Patienten gerne fremdbestimmen möchten, die genau zu wissen glauben, was für sie gut ist. In solchen Zusammenhängen wird oft von Lotsen gesprochen. Der Lotse ist aber einer, der die Schiffe fremdbestimmt in den Hafen lenkt, wenn sie zu groß und unbeweglich sind, das selber zu schaffen, oder wenn der Kapitän sich nicht auskennt. Navigation dagegen ist nur der Hinweis, wo der richtige Weg ist; gehen muß man ihn dann selber! Das Instrument für die Navigation ist der Kompaß oder der Wegweiser. Wir wollen Patienten, so lange sie können, selbstbestimmt und selbstbewußt entscheiden und mitgestalten lassen, dafür brauchen sie Instrumente der Navigation. Der Lotse ist erst nötig, wenn die eigenen Kräfte schwinden – aber auch für diese Lebenslage sollte dem Kranken oder Sterbenden möglichst weitgehende Selbstbestimmung ermöglicht werden, etwa durch eine Patientenverfügung. Vielleicht werden Sie über uns denken, wir seien ein bißchen größenwahnsinnig geworden. PatientenNavigation ist tatsächlich ein sehr großes Vorhaben, das uns völlig überfordern würde, wenn wir das Ganze auf einmal untersuchen oder gar hier in Deutschland aufbauen wollten. Deshalb mußten wir uns für dieses Projekt konzentrieren und beschränken. Die erste Beschränkung gilt den Bereichen, auf die sich Transparenz beziehen sollte. Wir haben uns auf das Krankenhaus konzentriert. Andere Institutionen und Personen – Pflegeheime, niedergelassene Ärzte und Zahnärzte, Physiotherapeuten und viele andere Berufe im Gesundheitswesen – sollten natürlich ebenso transparent arbeiten. Aber bei ihnen spielt das individuelle Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Dienstleister eine sehr viel größere Rolle, der Patient fühlt sich dadurch mehr geschützt. Institutionen dagegen sind für Patienten eher anonym und beängstigend. Häufig finden sie niemanden, zu dem sie Vertrauen entwickeln können. Sie müssen der anonymen Institution quasi blind vertrauen, weil sie auf sie angewiesen sind. Deshalb ist Transparenz der Leistungsqualität hier sehr viel wichtiger: Weil ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Institution kaum entstehen kann – nur zu einzelnen Ärzten oder Pflegepersonen; die sind aber oft nicht repräsentativ für die gesamte Organisation.


Warum Leistungs- und Qualitätstransparenz des Gesundheitswesens?

SystemInformationen

Selbstdarstellungen, Zertifikate

Strukturdaten

KrankheitsInformationen

Informationen über Krankheiten und medizinische Zusammenhänge

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Leistungsdaten

Daten aus Patientensicht Informationen über Behandlungskonzepte und deren Alternativen

Abbildung 1

Eine zweite Konzentration betrifft die Aspekte der Transparenz. Wir unterscheiden zwei wichtige Dimensionen von Informationen: solche über Krankheiten und Behandlungsmethoden, das ist in Abbildung 1 die untere Kreishälfte, und Informationen über das Gesundheitssystem, die obere Hälfte des Kreises. Die untere Hälfte haben wir ganz vernachlässigt; nicht weil sie nicht wichtig ist, sondern weil es über Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten bereits sehr viele Informationen gibt: im Internet, in der Fach- und Laienpresse, in Büchern und Zeitschriften, und natürlich bei Ärzten und anderen, die darüber sehr viel wissen. Die obere Hälfte dagegen ist bisher nur zum kleinen Teil vorhanden: u Vor allem das erste Tortenstück auf der linken Seite gibt es bereits, die Strukturdaten, sie stehen auch im Telefonbuch. Damit erfährt der Patient allerdings nur, wo ein Krankenhaus mit welchen Fachabteilungen ist. Die Frage nach der Qualität wird nicht beantwortet. Das ist erst mit weiteren Informationen möglich, die in den folgenden Tortenstücken stecken. u Das nächste Stück besteht aus Selbstauskünften und Zertifikaten, also Eigen- und manchmal auch Fremdbewertungen der Strukturund gelegentlich auch der Prozeßqualität. u Dann kommt ein ganz wichtiger Aspekt: die Leistungsdaten. Sie geben Auskunft darüber, was wann mit wem und von wem wie oft im Krankenhaus gemacht worden ist – eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Leistungsqualität.


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u Das letzte Tortenstück ist die Sicht des Patienten: einmal systematisch abgefragt als Patientenbefragung, aber auch spontan geäußert als Beschwerde. Hier müßten auch Erhebungen des outcome, also der Ergebnisqualität medizinischer Behandlungen einfließen. Damit haben Sie einen ersten Überblick über die Entstehung unseres Recherche-Projekts und dieser Tagung. Unsere bisherigen Erkenntnisse fließen als Thesen und Hypothesen in diese Expertenkonferenz ein. Eine These möchte ich schon einmal vorwegnehmen, sie hat in unseren Diskussionen die größte Rolle gespielt: Leistungs- und Qualitätstransparenz im Gesundheitswesen fehlt genau da, wo sie besonders notwendig wäre. In Gesundheitssystemen mit viel Markt oder viel Selbstverwaltung und wenig Staat – wie z.B. Deutschland – brauchen Patienten besonders viel Information, damit sie sich orientieren und als selbstbestimmte „mündige Bürger“ ihre Wahl treffen können. Gleichzeitig wird diese Transparenz aber durch die starken Verbände der Anbieter und Kostenträger und deren Eigeninteressen verhindert. Eine Patientenmacht, die Transparenz wirksam einfordern könnte, steht ihnen nicht gegenüber. Das klingt logisch, vielleicht auch irgendwie banal. Diese These führt jedoch, wenn sie richtig ist, zu einer wichtigen weiteren Frage: Was muß geschehen, damit diese Schere zwischen Bedarf und Hindernis geschlossen werden kann? Gibt es Länder in Europa (und anderswo), die diese Lücke geschlossen haben? Damit hatten wir für unsere Recherchen eine gute allgemeine Leitfrage.


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