Kunsttherapie mit demenzkranken Menschen

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sowohl für Betroffene als auch für begleitende Menschen. Die Kommunikation – notwendiges Bindeglied für soziales Miteinander – ist auf die vertraute Art und Weise nicht mehr möglich. Was tun, wenn die Worte für die inneren Bilder fehlen und das Gehörte keine adäquaten inneren Bilder wachruft? Wie können Begleitende und an Demenz erkrankte Menschen vertrauensvoll miteinander umgehen, während Letztere scheinbar in eine andere Welt und Zeit abtauchen?

Die Kunsttherapie als nonverbales und emotionales Ausdrucksmedium kann Zugangswege und Begegnungsräume schaffen, in denen sich Betroffene und Begleitende kommunikativ begegnen können. In diesem Buch sind unterschiedliche Wege der Kunsttherapie aufgezeigt, wie sie in der praktischen Arbeit mit Menschen mit Demenz eingesetzt werden. Die einen eher ausdrucks- und kommunikationsorientiert, andere dem Krankheitsprozess entgegenwirkend oder eher Sicherheit

Michael Ganß, Matthias Linde (Hrsg.)

Kunsttherapie mit demenzkranken Menschen Dokumentation des Symposiums »KunstTherapie in der Altenarbeit – künstlerische Arbeit mit Demenzerkrankten«

Michael Ganß, Matthias Linde (Hrsg.)

und Orientierung gebend.

Kunsttherapie mit demenzkranken Menschen

Die Demenzerkrankung ist eine Herausforderung und Grenzerfahrung,

www.mabuse-verlag.de ISBN 978-3-935964-51-7

Mabuse-Verlag


Der Dank f체r die Verwirklichung dieses Gedankenaustausches zwischen Menschen, die sich der kunsttherapeutischen Altenarbeit verbunden f체hlen, gilt allen ReferentInnen, die in diesem Band zu Worte kommen. Aber auch all denen, die dazu beigetragen haben, dass das Symposium und diese Textsammlung entstehen konnten. Genannt seien hier im besonderen: die Fachhochschule Ottersberg f체r Kunsttherapie, Kunstp채dagogik und Kunst, Herr Albrecht Lampe, Herr Peer de Smit und Frau Sabine Becker.


Michael Ganß, Matthias Linde (Hrsg.)

Kunsttherapie mit demenzkranken Menschen Dokumentation des Symposiums „KunstTherapie in der Altenarbeit – künstlerische Arbeit mit Demenzerkrankten“ an der Fachhochschule in Ottersberg


Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de. Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

Durchgesehene Auflage 2016 © 2004 Mabuse-Verlag GmbH Kasseler Str. 1 a 60486 Frankfurt am Main Tel.: 069 / 70 79 96 -13 Fax: 069 / 70 41 52 verlag@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de www.facebook.com/mabuseverlag

Satz und Umschlaggestaltung: Karin Dienst, Frankfurt am Main Druck: Books on Demand GmbH ISBN: 978-3-935964-51-7 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten


Inhaltsverzeichnis

Peer de Smit Kunsttherapie mit Demenzerkrankten Ein Vorwort .............................................................................................. 7 Matthias Linde Kunsttherapie mit dementiell Erkrankten Eröffnungsvortrag zum Symposium ..................................................... 13 Christine Sattler Kunst und Therapie in der Altenarbeit ................................................... 30 Gräfin Flora von Spreti „Ich bin wieder wer“ Kunsttherapie mit einer Alzheimerpatientin ...................................... 33 Almuth Haller Erfahrungsbericht aus der Arbeit mit verwirrten Menschen ............................................................................. 46 Mirjam Schröder Erinnerungstherapie mit Älteren in Wort und Bild ................................. 61 Kima Andrea Truzenberger So bunt wie das Leben ............................................................................ 64 Viola Mohaupt-Luksch Die Wirkung kunsttherapeutischer Maßnahmen Versuch eines wissenschaftlichen Nachweises ..................................... 82 Irene Steiner Erinnerungspflege Eine kreative Umsetzung von Biographiearbeit für den Alltag mit Hochbetagten und Demenzkranken ..................... 92


Merete Birkebæk Erfahrungsbericht mit der improvisatorischen Einzelmusiktherapie in der Gerontopsychiatrie sowie der Gruppenmusiktherapie mit einer gemischten Gruppe aus altersschwachen und gerontopsychiatrischen TeilnehmerInnen ................................................................................... 106 Tomas Müller-Thomsen Zeichnen in der Demenzdiagnostik – Malen in der Therapie ................ 114 Steffi Urbas Spurensuche, wenn die Welt zerfällt .................................................... 118 Franziska Weiß Melodie, Harmonie und Rhythmus Ein musiktherapeutischer Ansatz in der Altenarbeit ........................ 125 Regina Pitzke Erfahrungsbericht aus der kunsttherapeutischen Malerei in gemischten Gruppen im Pflegeheim ................................................. 136 Michael Ganß Materialisierte Erinnerung Bildhauern mit demenzerkrankten Menschen .................................. 144 Matthias Linde und Michael Ganß Schlussgedanken .................................................................................. 161

Literaturverzeichnis .............................................................................. 164 ReferentInnen ....................................................................................... 166


Peer de Smit

Kunsttherapie mit Demenzerkrankten Ein Vorwort

Will you still need me Will you still feed me When I´m sixty-four? Paul McCartney, 1967

Vorwort

Nichts ist so sicher, sagt man, wie der Tod. Für die Mehrzahl von uns gilt aber als nahezu ebenso sicher, dass wir alt werden. Die einen ein wenig früher, die anderen ein wenig später; sofern man Alter nicht bloß nach Jahreszahlen bemessen will. Wer könnte von sich sagen, er bliebe unbetroffen von Alter und Altern. Und selbst wem das Alter noch nicht selbst zu schaffen macht, die meisten von uns haben Angehörige, die sie mit den Problemen des Altwerdens konfrontieren. So unübersehbar und allgegenwärtig sie in unserer Gesellschaft auch sind, Altern und Alter scheinen mit einem Tabu belegt. Man spricht nur über sie, wenn man muss, und verdrängt sie ansonsten in die äußersten Randzonen des Interesses. Nach landläufiger Auffassung ist Altern ein anderes Wort für Verlust. Wer könnte darin einen Sinn erkennen? Und wer käme auf den Gedanken, für das Alter neben der endlosen Mängelliste irgendetwas auf der Gewinnseite verbuchen zu wollen? Es ist nicht sexy, alt zu sein. Was also sollte man vom Alter und den Alten erwarten? Jugend heißt der unangefochtene Fetisch der Gegenwart und Jungbleiben der Inbegriff aller Sehnsucht. Zur Ware geworden, ist das Junge von

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heute allerdings bereits morgen veraltet, und ein Neues muss her. Im Prinzip des schnellen Verbrauchs liegt ein Erfolgsrezept marktwirtschaftlicher Rentabilität: Die Wirtschaft floriert, wenn mehr und häufiger gekauft wird als nötig. Zwar sind die Alten, weil die Jungen immer weniger werden, für den Markt eine wachsende Zielgruppe. Aber in den Bildern der Werbung kommen sie nicht vor. Alte machen in der Welt der Waren, wo der optische Anreiz des Allerneuesten triumphiert, keinen werbewirksamen Effekt, es sei denn in den Provokationsattacken der Benetton-Reklame. „Ich will jung“, heißt der schnoddrig dumme Slogan einer trendgerechten Werbung. Denn wer will schon alt? Am allerwenigsten die Alten selbst. Für eine Gesellschaft, die der Markt permanent auf das Jüngste, Neueste und Schnellste trimmt, können Altern und Alter verständlicherweise keine Werte darstellen. Sie sind ein zwangsläufiges Übel, Tempoblocker und Sand im Getriebe der Innovation. Zu den Alten will niemand gehören. Ungestellt bleibt derweil die Frage, inwieweit sich auch der letzte Abschnitt einer Biographie, allen Abbauvorgängen zum Trotz, gestalten ließe, ohne dabei gleich die Maßstäbe früherer Lebensabschnitte anzulegen. Am heftigsten drängt sich diese Frage vielleicht dort auf, wo rapider Verfall das Altern eines Menschen kennzeichnet, wo Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer einen Menschen nicht nur marktwirtschaftlich disqualifizieren, sondern zum Pflegefall machen, der schließlich vollumfänglich versorgt werden muss. Unter dem Blickwinkel der Ökonomie: eine Investition ohne Zukunft. Demenz ist ein schleichender Verfall, der den denkenden, sprechenden und handelnden Menschen betrifft. Wer an Demenz erkrankt, verliert Schritt für Schritt die Fähigkeit, sich selbst als Subjekt seines Erlebens und Erfahrens zu reflektieren und mitzuteilen. Er vermag die wahrnehmbare Welt nicht mehr sinnvoll mit der erinnerten zu verknüpfen. Er vergisst, was gerade war und was er eben noch wollte, und das, woran er sich erinnert, kann er nicht mehr richtig in den Kontext der eigenen Biographie einordnen. Schließlich vergisst er auch, wer er selber ist. Er verliert am Ende seine persönliche Identität, die maßgeblich im Erinnern gründet. Unberührt von den Vorgängen der Zersetzung bleibt aber das Gefühlsleben des Erkrankten. Nach wie vor lösen angenehme oder unangenehme Erlebnisse Freude oder Verdruss aus. Da ihm jedoch die Fähigkeit zur Reflexion abhanden gekommen ist, kann er sich von seinen Emotionen nicht mehr distanzieren, und sie können sich unabgegrenzt in seinem Inneren

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ausbreiten. Weder kann er sich ihnen entziehen, noch kann er sie verarbeiten. Und weil sich der Kranke an die Worte und die mit ihnen verbundenen Bedeutungen nicht mehr erinnern kann, scheitert er beim Versuch, sich über solche Gefühle und das, was sie veranlasst, auszusprechen. Er bleibt mit seinen Gefühlen eingeschlossen in sich selbst. Was gibt es Qualvolleres, als seinen Emotionen ausgesetzt zu sein, ohne sie ausdrücken und mitteilen zu können. Wo anders als in seiner persönlichen Äußerung könnte ein Mensch sich seiner selbst vergewissern. Gegenüber einem demenzerkrankten Menschen versagen die Methoden, mit denen wir sonst unser Leben bewältigen. Und die üblichen Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation erweisen sich als völlig unbrauchbar. Denn in unserem sozialen Handeln und Kommunizieren verlassen wir uns gerade auf diejenigen Fähigkeiten, die einem demenzerkrankten Menschen abhanden gekommen sind. Wo ordnendes Denken, verständiges Sprechen und folgerichtiges Handeln eines Menschen beeinträchtigt sind, begegnet er uns vordringlich als Frage, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass diese Frage die gesamte Existenz und die Zukunft eines Menschen umspannt. Es wird viel davon abhängen, inwieweit es uns gelingt, diese Frage gleichsam aus der Perspektive des Erkrankten heraus zu verstehen. Und was kann das anderes heißen, als einem Menschen auf dem Weg zu folgen, auf dem er für uns zur Frage wurde. Ein dement gewordener Mensch ist nicht mehr dort, wo wir ihn sonst immer gefunden haben oder immerhin zu finden glaubten. Es macht keinen Sinn, ihn just auf der kognitiven Ebene ansprechen zu wollen, die er infolge seiner Erkrankung aufgeben musste. Wo aber hält sich einer auf, der vergaß, wer er ist, und der zwischen den Wahrnehmungen der Gegenwart und längst vergangenen Augenblicken seines Lebens keinen Unterschied mehr macht? Und wie erreiche ich ihn dort? Mit solchen und ähnlichen Fragen befassen sich unter wechselnden Gesichtspunkten die Beiträge dieses Bandes. Es handelt sich dabei um die überarbeiteten Manuskripte von Referaten, die die Autorinnen und Autoren im Rahmen des 2. Symposiums für „Kunsttherapie in der Altenarbeit“ gehalten haben, das im März 2002 an der Fachhochschule Ottersberg stattgefunden hat. Die hier versammelten Beiträge nähren insgesamt die Hoffnung, dass uns mit der Kunst ein Schlüssel in die Hand gegeben ist, mit der wir die Tür, welche hinter einem an Demenz erkrankten alten Menschen ins Schloss schlug, zumindest wieder einen Spaltbreit zu öffnen vermögen.

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Kunst im Kontext der Kunsttherapie bedeutet freilich mehr, als ästhetisch bemerkenswerte Werke in die Welt zu setzen. Sie umfasst menschliche Zuwendung und Aufmerksamkeit für den anderen ebenso wie die Bereitschaft, einen Menschen in seinem aus der Norm gerückten Zustand zu akzeptieren und zu begleiten. Sie erstreckt sich in alle Zonen des menschlichen Lebens. Sie hat zu tun mit der Art und Weise, sich zur Welt und zu anderen Menschen in Beziehung zu setzen. Und vor allem: Sie betrachtet diese Beziehung als eine jederzeit gestaltbare Wirklichkeit. Es gehört zum besonderen Vermögen der Kunst, Sichtweisen zu eröffnen, die die nackte Wirklichkeit transzendieren. Daher erstrecken sich die Impulse der Kunsttherapie bis in die alltäglichen Verrichtungen hinein. Damit wird nicht überflüssig, sich in einem künstlerischen Medium zu betätigen, aber die Bedeutung der vorzeigbaren Ergebnisse, und das gilt insbesondere für die kunsttherapeutische Arbeit mit Demenzerkrankten, relativiert sich. Dennoch: Die in Verbindung mit dem Symposium in der Fachhochschule präsentierten Werke von Senioren haben deutlich gemacht, dass eine solche Ausstellung nicht nur eine wichtige Funktion für den Lebenswert und das Selbstwertgefühl der alten, teilweise schwer an Demenz erkrankten Menschen erfüllt, sondern durchaus auch ein ästhetisches Ereignis darstellt. Und weil sich über das Sehenswerte mit den anwesenden Urhebern der Werke ganz selbstverständlich ins Gespräch kommen ließ, hatte das ästhetische Ereignis seinerseits auch wiederum eine soziale und kommunikative Komponente. Altersdemenz gilt als unheilbar und auch weitgehend als unaufhaltbar, das heißt, die Krankheit schreitet voran und die mentalen und schließlich auch das Mitteilungs- und Handlungsvermögen eines Menschen betreffenden Zersetzungsvorgänge verschlechtern sich immer mehr. Angesichts dieses drastischen Krankheitsgeschehens kann Kunsttherapie gewiss keine Heilung versprechen. Aber sie kann – dafür liefern die Berichte dieses Bandes eindrückliche Belege – dazu beitragen, inmitten der Deformationen und Verunsicherungen die Menschenwürde zu bewahren und Territorien der persönlichen Erinnerung und damit Identität zu erhalten. Sie kann den Erkrankten helfen, in der Flut der Krankheit nicht unterzugehen, ja, in einem Meer der Verluste Inseln des Gewinns zu entdecken, auf denen sich, wenn auch nur vorübergehend, unbeschwert leben lässt. Und sie bietet vor allem Möglichkeiten, die mit der Krankheit einhergehenden Veränderungen positiv zu nutzen. Wo die gängigen – und das heißt immer auch die gesellschaftlich standardisierten und monopolisierten – Formen der Kommunikation versa-

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gen oder nicht mehr ergriffen werden können, beginnt ein wesentliches Feld kunsttherapeutischer Arbeit. Künstlerische Medien öffnen ein Spektrum kommunikativer Möglichkeiten weit über das Reden und Handeln im Alltag hinaus. Die Sprachformen der Kunst sind nicht nur individueller, sondern sie eignen sich vor allem auch dafür, über das bloße Beschreiben hinaus emotionale Befindlichkeiten und Erfahrungen zu artikulieren. Statt Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit „anders“ werden, zurückzulenken auf die äußere Welt mit ihren intakten Verhaltenskonventionen, führt die Kunst in Räume des Bildes, der Einbildungskraft, der unmittelbaren, nicht an semantisches Wissen gebundenen Kommunikation, die dem veränderten Bewusstsein der Kranken, so scheint es, näher liegen als die normale Art, sich zu unterhalten. Wer sich in Rhythmen, Klängen und Lautfarben, in Bewegungen, Bewegungsspuren oder Farbklängen ausdrückt, braucht nichts über Bedeutungen zu wissen und kann sich doch mitteilen. Zu erleben, dass trotz der grassierenden Verluste Gestaltung und mit der Gestaltung persönliche Artikulation möglich ist, erneuert längst versiegte Gefühle von Lebenssinn. Es ermöglicht Augenblicke der Zufriedenheit, vielleicht sogar des Glücks inmitten einer Lebenswirklichkeit, die wesentlich von Versagen, Verunsicherung und mitunter von schwerer Depression gekennzeichnet ist. Kunst und Kreativität konfrontieren die Kranken nicht mit dem, was sie nicht mehr können, sondern geben dem, was sie noch können, Raum. Sie bieten für jene, denen es zunehmend schwer fällt, sich in der räumlichen Wirklichkeit ihres Alltags zurechtzufinden, Aufenthaltsräume, die zugleich Räume der Begegnung sind. Über die künstlerische Betätigung, so die Beobachtung der Kunsttherapeuten, werden Erinnerungsfelder der Biographie wieder zugänglich, die für das Bewusstsein der Demenzerkrankten bereits verloren waren. Diese unversehrten Felder der Vergangenheit haben insbesondere im Hinblick auf eine stark beschädigte Gegenwart für den Kranken eine große Bedeutung. Über die gestaltende Bewegung scheint in Fluss zu kommen, was sich dem Zugriff der Erinnerung entzog. Das Malen oder Musizieren weckt Erinnerung, der gestalterische Prozess löst, was sich am Grund der Seele abgelagert hat. Sedimentgestein des Gedächtnisses tritt zu Tage und findet Ausdruck in Farben und Formen, in Gebärden und Tönen, geht schließlich auch ein ins verständliche Wort. So scheint künstlerische Tätigkeit zwischen Gegenwart und verlorener Vergangenheit eine Brücke schlagen zu können, über die der Kranke Teile seiner bereits verlorenen Identität zurückgewinnen kann.

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Es ist, als fielen mit dem Verlust der gewohnten Verhaltensformen und des mentalen Vermögens, das sie aufrecht erhält, auch die Schranken, die den kreativen und spielerischen Impulsen eines gesunden Menschen oft entgegenstehen. Mit dem Niedergang der Verstandeskräfte scheint plötzlich Raum freizuwerden für ein Bewusstsein, das man als bildhaft, emotional oder, wenn man will, als poetisch bezeichnen könnte. Ein Bewusstsein der kreativen Wahrnehmung, der kreativen Impulse, das es möglich macht, vorgegebene Situationen weitgehend selbstständig und frei gestalten zu können. In seiner Aktivierung liegt eine zentrale Aufgabe der Kunsttherapie. Denn natürlich braucht es zumeist der äußeren Anregung und Hilfe, um den in jedem Menschen vorhandenen inneren Reichtum verfügbar zu machen. Es sind Praktiker, die in den Beiträgen dieses Bandes zu Wort kommen, und ihre Reflexionen und theoretischen Erwägungen stehen zumeist in unmittelbarem Bezug zur Praxis. Was beschrieben wird, leuchtet zumeist unmittelbar ein. Dass eine systematische Erforschung der kunsttherapeutischen Arbeit mit Demenzerkrankten nötig ist sowie die Ausbildung einer entsprechenden Theorie, scheint angesichts der vielen offenen Fragen dennoch auf der Hand zu liegen. Ebenso offensichtlich jedoch ist, dass praktizierende Kunsttherapeuten eine solche Forschungsarbeit nicht neben ihren beruflichen Verpflichtungen leisten können, sondern dass ihnen hierfür angemessene finanzielle und sicher auch institutionelle Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden müssen.

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Matthias Linde

Kunsttherapie mit dementiell Erkrankten Eröffnungsvortrag zum Symposium

Um offen zu sein, ich fürchte, ich bin nicht bei vollem Verstand. Mir scheint, ich sollte Euch kennen, und diesen Mann auch, doch ich bin im Zweifel; denn ich bin völlig im Unklaren, was für ein Ort dies ist, und alle Kenntnis, die ich habe, erinnert sich nicht an diese Kleider; auch weiß ich nicht, wo ich letzte Nacht gewohnt habe. W. Shakespeare, King Lear, Akt 4, Scene 7 Ein Symposium zu veranstalten zum Thema „Kunsttherapie in der Altenarbeit“ ist eine Sache; konkreter hinzuschauen auf die Lebensorte und -inhalte des hohen Alters, die kunsttherapeutische Arbeit mit dementiell Erkrankten zu fokussieren, ist eine ganz andere – das erfordert einiges mehr an Deutlichkeit und Präzision und damit an Mut, Willenskraft und (warum nicht auch) Lust. Denn tatsächlich ist es im Allgemeinen die Scham und die nackte Angst, die uns vorbei- oder durchschauen lässt. Wir haben in der Ausrichtung auf dementiell Erkrankte die meisten unserer Gefühle durch Angst ersetzt. Und diese Phobie scheint mir umso deutlicher, je eher wir mutmaßlich entdecken, was viele ursächlich mit dem „Alter“ verbinden: Den Verlust des VERSTANDES, lat. DEMENTIA, DEMENZ, der Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit.

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Wir haben uns also ein emotionalisiertes Thema gestellt. Der Blick auf dementiell Erkrankte verunsichert uns Menschen. Wir werden betroffen (was wir ja ohnehin sind), oft mitleidig, und angesichts der Ohnmächtigkeit im Umgang und der vermeintlichen Aussichtslosigkeit bezüglich einer Heilung, überkommt uns Traurigkeit und Resignation. Daraus resultiert eine Haltung, die sich instinktiv abgrenzt und die diese Nischen des realen Alters verdrängen will. Wir sind in der Regel noch in Besitz unseres Verstandes, wir sind geistig leistungsfähig – und tun uns doch so schwer, uns zuzuwenden, zu akzeptieren und zu würdigen. Das dementielle Syndrom ist mit 50 Prozent die häufigste psychische Alterskrankheit. Zusammen mit dem depressiven Syndrom, das in der Regel eng mit einer Demenz korreliert und nur schwer diagnostisch abzugrenzen ist, haben wir es mit drei viertel der gerontopsychiatrischen Krankheitsfälle zu tun. Meist ist es das Symptom der „Verwirrtheit“, das wir mit einer Demenz verbinden. Maßgebend sind Störungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, der Orientierung, des Denkens und des Sprech- und Handlungsvermögens. Oftmals kommen Persönlichkeitsveränderungen wie unkontrolliertes und aggressives Handeln, extreme Stimmungsschwankungen sowie Störungen des Sozialverhaltens hinzu. Der von Demenz Betroffene verliert buchstäblich seinen Kopf. Er leidet unter all diesen Veränderungen, die alle Bereiche dessen, was Identität ausmacht, bedrohen. Demente Menschen leben in dramatischen Höhen und Tiefen, in unvermittelter, scheinbar reiner Freude, um gleich darauf in abgrundtiefe Traurigkeit zu verfallen. Sie lieben, lachen, schreien und weinen. Und niemand weiß, an welchem Ort in Anderland sie sich gerade befinden. Kein Narr, wer dabei denkt: „... so geht´s mir auch manchmal ...“ Um zu verhindern, dass die Lebensgeschichte einer Krankengeschichte geopfert wird, ist es unerlässlich, sich die Kränkungen und die innere Not der Betroffenen bewusst zu machen. Sie betreffen den Kern der eigenen Identität und des Sicherheitsgefühls. Dies ruft nach Kompensation. Und der Schlüssel dazu ist Medium unserer Therapie: die Kreativität, die Fähigkeit des Menschen, schöpferisch zu sein, als Grundprinzip menschlichen Lebens im Denken, Fühlen und Handeln. Dazu eine Fabel, die das konkretisiert:

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Wilhelm Scharrelmann: „Traum hinter Gittern“ In einem der größten und festesten Zwinger des Gartens wanderte ein längst unverträglich gewordener alter Eisbär, einer der stärksten, die man im Zoo jemals gehegt hatte, täglich von früh bis spät hinter den rostigen Stangen seines Käfigs hin und her. „Welch unnütze Kraftverschwendung!“ wunderte sich ein junges Walroß, das erst vor kurzem eingeliefert worden war. Glaubte vielleicht der alte Räuber da drüben, im Gitter seines Zwingers unverhofft noch eine Lücke zu entdecken, um sich zu befreien und sich dann auf die Tiere seiner Umgebung stürzen zu können? Besorgt fragte das junge Walroß einen der älteren Genossen seines Beckens danach. „Nein, das Gitter ist fest genug, und für so töricht musst du auch den Bären nicht halten!“, bekam es zur Antwort. „Seine Ruhelosigkeit ist nur eine Erinnerung an die Weite des Ozeans und die Unendlichkeit der Schneefelder, deren Gebieter er einmal war. So kann er bei seinem Umherwandern glauben, noch so unbehindert zu sein wie früher. Die Gefangenschaft hätte ihn wohl sonst längst trübsinnig gemacht, ja, vielleicht schon getötet. Sag nicht, dass es unmöglich ist, von einer Einbildung zu leben. Viele von uns müssen es, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. Sie haben ja alle keine große Auswahl in den Mitteln, die ihnen helfen können, ihr Schicksal etwas leichter zu ertragen. Eine glückliche Illusion ist vielleicht nicht das Schlechteste!“ Das junge Walroß glaubte nicht richtig verstanden zu haben. „Eine Illusion? – Soll ich unser Wasserbecken hier vielleicht auch für das Polarmeer nehmen?“, fragte es spöttisch. „Wenn du es vermöchtest, warum nicht?“, erwiderte das alte Walroß ernst. Vielleicht würde es dir auch helfen, den alten Einsiedler da drüben besser zu verstehen und nicht nur zu belächeln. Der Weg zum Verständnis anderer führt immer über die Einsicht, die wir in unser eigenes Wesen gewinnen.“ Der Bär, das ist ein würdevolles, unabhängiges, starkes und stolzes Wesen. Doch er ist alt und unverträglich geworden und kommt in den festesten „Zwinger des Gartens“. Man „zwingt“ dieses erhabene Wesen in einen „Garten“. Das klingt paradox. Wie nach Manhattan versetzte Eskimos.

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Wir kennen solche „Gärten“. Manche heißen „Seniorenresidenzen“, „Haus Sonnenschein“ oder „Altersruhesitz“. Er wird für „törichter“ – also „verrückter“, „verwirrter“, „seniler“ – gehalten als er ist. Man hält dieses einst so würdevolle Wesen schlicht für „blöd“ und beraubt ihn seiner Würde. Doch es gelingt ihm, nicht auch noch „trübsinnig“ – also „depressiv“ – zu werden, weil er „von einer ,Einbildung‘ zu leben“ versteht. „Hat man die Wurzeln der eigenen Kultur verloren, versucht man das Grau und die Unsicherheit der Gegenwart mit den früheren Leben aufzubessern.“ – so beschreibt es Susanne Tamaro in ihrem Roman „Geh’ wohin dein Herz dich trägt“. Weil die Betroffenen in der Gegenwart nicht mehr zurechtkommen, besinnen sie sich auf Zeiten, in denen sie ihr Leben meistern konnten, als sie noch über Status und Anerkennung verfügten. Sie ziehen sich unbewusst zurück in Orte der Vergangenheit, die jetzt auf einmal auftauchen wie Lichtungen im Nebel oder Inseln der Erinnerung. Demente Menschen leben auf einer anderen Zeitebene. Sie dort zu erreichen ist eine Kunst – vielleicht eine Aufgabe für Kunst-Therapeuten?! Die Demenzerkrankung gilt derzeit als Hauptursache für Pflegebedürftigkeit im Alter. Demente Menschen stellen in Pflegeheimen mit 50 bis 80 Prozent bereits die größte Bewohnergruppe. Mit dieser Zahl rücken die Institutionen der stationären Altenhilfe ins Zentrum des Interesses, was – ganz pragmatisch betrachtet – ja auch dazu führt, dass diese die bedeutungsvollsten Arbeitgeber auch für KunsttherapeutInnen geworden sind oder in Zukunft noch werden können. Wenn man sich die Statistiken anschaut und feststellt, dass die Zahl der zu erwartenden anerkannten Pflegefälle des hohen Alters, bzw. der dementiell Erkrankten, sich bis zum Jahr 2040 weit mehr als verdoppeln wird, macht das deutlich, dass nicht nur die Felder der Gerontologie und der Geriatrie Wachstums- und Entwicklungsbereiche für Praxis, Forschung und Lehre sind, sondern dass es auch einen riesigen Fragenkatalog gibt und geben wird, der sich mit gesamtgesellschaftlichen sowie sozialen, psychischen und therapeutischen Problemen beschäftigt. Das sind Fragen, die zwar sachlich, nicht aber in einer technokratisch verkühlten Haltung zu stellen sind. Es sind Fragen des Umgangs mit unseren Mitmenschen – und auch Fragen des Umgangs mit uns selbst, denn die Statistiken von heute erfassen uns selbst als Betroffene von morgen. Sie erinnern den letzten Satz der Fabel: „Der Weg zum Verständnis anderer führt immer über die Einsicht, die wir in unser eigenes Wesen gewinnen.“

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Reimer Groonemeyer kristallisiert diesen „Betroffenheitsaspekt“ in seinem Buch „Die Entfernung vom Wolfsrudel“ sehr pointiert heraus: „Nimmt man alle Pflegebedürftigen zusammen, so müsste man bei einer optimalen Betreuung die Bevölkerung der Bundesrepublik fast gänzlich aufteilen in Betreuer und Betreute. Der wichtigste Statuswandel im Leben eines Menschen wäre dann der Wechsel vom Pfleger zum Gepflegten.“ Man könnte vielleicht ergänzen: „– vom kognitiv Gesunden zum Dementen“. Vor diesem Hintergrund lässt sich dementielles Denken und Erleben nicht länger nur pathologisieren. Auch alle „Gesunden“ leben in ihren eigenen Welten. Wer schon einmal voller Angst, mit Herzklopfen und schweißgebadet aus einem Alptraum erwacht ist – und wer ist das nicht –, weiß, wie „wirklich“ ihm seine eigene Innenwelt mitunter erscheinen kann. Klar, dass die Demenz mit dieser Erkenntnis noch nicht einer kulturellen Erfindung überführt ist. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass es nicht nur von der Person selbst abhängt, ob diese als „störend“, „hilflos“, „infantil“ oder letztlich „dement“ eingeordnet wird. Mindestens genauso wichtig ist der Beitrag des Umfelds, der Gesellschaft – ein Aspekt, den ich immer wieder mit einfließen lassen möchte. Wenn einem dementiell Erkrankten von hier aus keine angemessene Hilfe zur Verfügung gestellt, dieser wie ein Kind behandelt wird und sich Gemeinschaft durch ihn in seinen gesellschaftlichen Abläufen „gestört“ fühlt, wirkt sie an der Stigmatisierung dementer Menschen mit. Es geht also darum, den richtigen „Schlüssel“ zu finden, um in Kontakt mit der scheinbar verschlossenen und versunkenen Welt von Menschen mit Demenz zu gelangen. Je mehr Schlüssel und damit Türöffner wir finden, desto besser. Eine Therapie, die zur Heilung führt, ist derzeit für die Mehrzahl der Dementen nicht möglich. Und solange es keinen Impfstoff gegen Demenz gibt, die Gentherapie keine konkreten Heilungschancen verspricht und die verzweifelten Heilungs-, Linderungs- oder Prophylaxebemühungen, auch jenseits der klassischen medikamentösen Behandlung (Aluminium, Akupunktur, Vitamin C und E, Lichttherapie, Gingko-Pflanzenextrakt und Rotwein – so was wird im Internet diskutiert), solange diese Dinge nicht fruchten, bleibt das Hauptziel der Behandlung, die Lebensqualität der Dementen und ihrer Angehörigen zu verbessern. Und damit wären wir bei der Frage angelangt, was die Kunsttherapie in diesem Feld bewirken kann.

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Anfang der 90er Jahre noch hat man in der Arbeit mit Betroffenen das so genannte ROT (Realitätsorientierungstraining) favorisiert. Immer wieder der kompromisslose Hinweis auf die Realität im Hier und Jetzt. Cora van der Kooji wertet diese Erfahrung in einem Artikel in der „Altenpflege“ vom Mai 1992 folgendermaßen aus: „Wir hatten lediglich Einblick in die Kommunikationsmöglichkeiten auf kognitiver Ebene erhalten, aber das andere Ende glitt uns immer wieder aus den Fingern ... Es war klar, dass die kognitive Stimulanz und die Orientierung ,hin zur Wirklichkeit‘ die Menschen nicht glücklicher machte und auch nicht weniger dement! ... Es gibt nicht nur eine Wirklichkeit und niemand hat das Recht, seine Wirklichkeit die absolute Wirklichkeit zu nennen. Jeder, und somit auch der desorientierte alte Mensch, hat eine eigene innere Erlebniswelt, und es ist notwendig und möglich, ihm in diese innere Welt zu folgen.“ Wenn jemand kein Gespräch mehr führen und keine Fragen mehr beantworten kann, macht das Angst. Wer dafür noch gemaßregelt wird, wird schroff, wütend und/oder reagiert mit Trauer. Aus dieser Einsicht hat die Amerikanerin Naomi Feil die Methode der Validation entwickelt, ein Ansatz für die Menschen aus dem Umfeld, der sich bedingungslos auf die individuelle und situative Befindlichkeit der Person einlässt und dem es in der Hauptsache darum geht, das in dieser Befindlichkeit geäußerte Gefühl zu bestätigen. Gefühle der Angst oder Trauer z. B. werden erkannt, angenommen und wertgeschätzt. Der Ansatz ist also, ihnen bei ihrer Verzweiflung auf dem Weg in die Dunkelheit und ihrer Trauer um den Verlust der Gegenwart beizustehen. Der alte Mensch wird ernstgenommen und in seiner Authentizität bestätigt. Auf „Entdeckungsreise“ zu gehen in diese Welt ist sicher eines der vordringlichsten und möglichen Ansätze kunsttherapeutischer Angebote. Dabei ist die Haltung der positiven Wertschätzung in der Akzeptanz der ver-rückten Realität bereits der Einstieg in die Arbeit. Beispielhaft sei hier nur auf Detlef Marr verwiesen, der für den deutschen Sprachraum 1993 in seinem Buch „Malen heißt Zeichen setzen“ einige eindrückliche Ansätze seiner Arbeit schildert – ohne dabei die damit verbundenen Schwierigkeiten irgendwie zu schönen. Aus einem solchen Ansatz heraus – und dabei geht es um die Frage, was ich mir eigentlich von der Kunsttherapie verspreche – werden nämlich keine heilen Welten simuliert, es werden natürlich keine Allgemein-

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hilfen geboten und selbstverständlich nicht behauptet, dass Kunsttherapie das A und O menschlicher Zuwendung für diese Menschen bedeute. Vielmehr entstehen teilweise auch neue Fragen wie z. B. die nach der Unterscheidung der Bilderwelten dementiell Erkrankter. Möglicherweise sollte man sich von hier aus auch trauen, gezielter zu fragen, ob offenbare Defizite nicht auch gerade kreative Potenziale bergen oder sein können, ob einzelne dieser alten Menschen beispielsweise über Empfangsorgane verfügen, die nicht unserem Tagesbewusstsein entsprechen, die aber doch sehr konkret sein können als „nicht sinnlich und physisch in Erscheinung tretende Realitäten unterschiedlichen Ursprungs“. Eine Frage, die man sich in diesem Zusammenhang stellen könnte, formuliert Groonemeyer so: „Warum hat die Antike Menschen wie den blinden, alten Theiresias als Seher respektiert? Warum hat sie ihn nicht in ein psychiatrisches Krankenhaus eingesperrt, da er sich nach allgemeinem Verständnis doch keineswegs vernünftig ausdrückte?“ Die Tatsache, dass viele Alte den Pfad des als „normal“ Empfundenen verlassen, macht die Jungen nervös. Die Versuchung ist groß, normale Verhältnisse zu schaffen. Und doch: Vielleicht sollten sie auch das letzte Geheimnis der Alten bleiben ... Wer sich mit den Möglichkeiten kunsttherapeutischer Verfahren in der Begegnung mit Dementen beschäftigt, sollte mal ganz bescheiden werden und bereit sein, „ganz unten“ anzufangen, alles herauszunehmen, was in der Idealvorstellung das in-den-Dienst-Stellen meines Angebots zur klassisch kunsttherapeutischen Arbeit (was immer man auch darunter verstehen will) werden lässt. So wenig z. B. das Malen, Plastizieren, Singen, Theater spielen, die Poesiearbeit oder anderes für jeden älteren Menschen angezeigt ist, so sehr gilt es selbstverständlich auch – möglicherweise im gemeinsamen Experimentieren, zusammen mit dementen alten Menschen – (bei denen wir uns oft nur auf einen gemutmaßten Willen stützen können), über Sinn und Unsinn der entsprechenden Betätigung zu befinden. Dabei spielen unendlich viele Aspekte eine Rolle: Angefangen von der tatsächlichen Befindlichkeit des Menschen (z. B. nach Art und Schwere der Demenz), dem Aufbau, der Methode und dem Ziel der Angebote (z. B. Gruppen- oder Einzelarbeit) bis hin zur konzeptionellen Einbindung in ein Gesamtbehandlungs- oder Betreuungskonzept. Alle im Altenbereich arbeitenden Kunsttherapeuten kennen aber auch die Vorbehalte und die Skepsis gegenüber der Kunsttherapie und wissen

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