Wolfgang Kirchhoff und Caris-Petra Heidel - "...total fertig mit dem Nationalssozialismus?"

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Es ist nicht nur aktuell lohnenswert, das Fortbestehen von Antisemitismus und Xenophobie aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu reflektieren; dieses Buch enthält bedenkenswerte Ansatzpunkte hin­ sichtlich der Analyse der Geschichte eines zahlenmäßig überschau­ baren deutschen Berufsstandes im Umgang mit einem Teil seiner Vergangenheit und nicht auszuschließenden Nachwirkungen. ISBN 978-3-938304-21-1

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“... total fertig mit dem Nationalsozialismus“?

Systematisch durchdrangen Mitglieder der Zahnärzteschaft die NSGesundheits-, Wissenschafts- und Standespolitik. Im Schulter­ schluss mit den Nationalsozialisten wurden die Zerschlagung kon­ kurrierender sozialmedizinischer Versorgungsformen und die Aus­ schaltung „rassisch“ und/oder politisch missliebiger KollegInnen durchgeführt. Die entstandenen Versorgungsdefizite sind bis heute spürbar. Die zahnmedizinische Wissenschaft lieferte Beiträge zur Durchführung von Sterilisation und Euthanasie. Zahnärzte beteilig­ ten sich am Massenmord in Konzentrationslagern; als kriegswichti­ gen Beitrag zum internationalen Devisenhandel organisierten sie das Entfernen von Goldzähnen aus den Leichen der Geschändeten.

Wolfgang Kirchhoff, Caris-Petra Heidel

“... total fertig mit dem Nationalsozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus

Wolfgang Kirchhoff, Caris-Petra Heidel

Bereits unmittelbar nach Kriegsende war die deutsche Zahnärzte­ schaft „…total fertig mit dem Nationalsozialismus“ (1948); das aus der NS-Zeit übernommene Personal wollte kein „nutzloses Wühlen in der Vergangenheit“ (1949). Der Faschismus sei unter den Zahn­ ärzten nicht „zuhause gewesen“ (1983). Die Wissenschaft war „fremdbestimmt“ (2009), die Medizinverbrechen waren unbegreif­ lich; die Täter seien missbraucht und instrumentalisiert worden (2016). Vor diesem Hintergrund wurden Täter des Berufsstandes re­ habilitiert und politischer Widerstand aus den eigenen Reihen igno­ riert. Das Eingeständnis von Schuld und Scham unterblieb.

9 783938 304211 ISBN 978-3-938304-21-1

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„… total fertig mit dem Nationalsozialismus“?

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Das Buch erscheint mit der finanziellen Unterstützung von Mitgliedern der VDZM.

Caris-Petra Heidel, geb. 1954, ist Medizinhistorikerin und Direktorin des Instituts für Geschichte der Medizin der Medizinischen ­Fakultät Carl Gustav Carus an der TU Dresden. Wolfgang Kirchhoff, geb. 1943, Zahnarzt seit 1971, 1973–1978 Universitätsklinikum Gießen, 1979–2002 in eigener Praxis in Gießen und Marburg, seit 2002 Beratung von Krankenversicherungen und seit 2005 Gutachter Medizinischer Dienste der Krankenkassen.

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Wolfgang Kirchhoff / Caris-Petra Heidel

„… total fertig mit dem Nationalsozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus

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1. Vorwort

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2. Berufs- und Sozialstruktur der Zahnärzteschaft zu Beginn der 1930er Jahre (C.-P. Heidel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1. Sozialstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2. Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3. Zahnärztlicher Berufsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.4. Kassenpraxis und Zahnkliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Der Beitrag der Zahnärzteschaft und ihrer Standesvertreter zur Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologie und Politik in der Zahnheilkunde (C.-P. Heidel) . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.1. Die Involvierung der Zahnärzteschaft in das nationalsozialistische Regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.2. Ideologische und organisatorische Gleichschaltung der zahnärztlichen Verbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2.1. Die Durchsetzung des „Führerprinzips“ unter Reichszahnärzteführer Ernst Stuck . . . . . . . . . . . . 45 3.2.1.1. „Einheitsfront der Zahnärzte“ – Kassenzahnärzte und KZVD . . . . . . . . . . . 55 3.2.1.2. Gleichschaltung der wissenschaftlichen Verbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2.2. „Säuberungsaktionen“ in den zahnärztlichen Verbandsvorständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.2.3. Machtpolitische Auseinandersetzungen um den Dualismus von Zahnärzten und Dentisten . . . . . . . 71 5

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3.2.4. „… total fertig mit dem Nationalsozialismus“ – das Ende des „Dritten Reiches“, Internierung und Entnazifizierung des „Führers“ der deutschen Zahnärzteschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Die Ausschaltung jüdischer Zahnärzte und Zahnärztinnen und der politischen Opposition (C.-P. Heidel) . . . . . . . . . . . . . 107 4.1. Überblick zum Anteil jüdischer Medizinalpersonen an der gesamten Ärzte- und Zahnärzteschaft im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.2. Die NS-Rassenpolitik und deren Folgen . . . . . . . . . . . . . . 112 4.2.1. Demütigungen, Verfolgung und „Ausschaltung“ . . 112 4.2.2. Emigration und Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.2.3. Deportation und Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5. Opposition, Widerspruch und Widerstand von Zahnärzten und Zahnärztinnen im Nationalsozialismus und warum wir erst so spät davon erfahren (W. Kirchhoff) . . . . . . . . . . . . . . 140 5.1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2. Politischer Widerstand im Nationalsozialismus . . . . . . . . 144 5.3. Umwidmung von Tätern zu Widerstandskämpfern . . . . 150 5.4. Standespolitisch motivierter Widerstand? . . . . . . . . . . . . 153 5.5. Kriterien des Widerstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.6. Zahnärzte im Widerstand als Mitglieder politischer Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.6.1. Oppositionelle Zahnärzte(-innen) im Zugriff der politischen Strafjustiz in Hessen . . . . . . . . . . . 158 5.6.2. Die Zahnärzte Ewald Fabian, Helmut Himpel, Paul Rentsch, Walter Mosbach und Heinrich Kipphardt im Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.6.2.1. Dr. Ewald Fabian (1885–1944) . . . . . . . . . . 159 6

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5.6.2.2. Helmut Himpel (1907–1943) . . . . . . . . . . . 166 5.6.2.3. Paul Rentsch (1898–1944) . . . . . . . . . . . . . 171 5.6.2.4. Dr. Walter Mosbach (1899–1971) . . . . . . . . 176 5.6.2.5. Heinrich Kipphardt (1897–1977) . . . . . . . . 178 5.6.3. Oppositionelle Zahnärzte und Zahnärztinnen in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.6.4. Denunziation als gesellschaftlicher Normalfall . . . 186 5.6.5. Gewinnung und Auswertung der Daten für das Land Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5.6.6. Die Einzelschicksale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5.6.7. Ermittelte Tatbestände und ihre Auswirkungen . . . . 195 6. Zahnmedizinische Wissenschaft (C.-P. Heidel) . . . . . . . . . . . . 197 6.1. Organisatorische Gleichschaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.2. „Neue Deutsche Zahnheilkunde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.2.1. Ziel und Aufgabenstellung einer „neuen deutschen Zahnheilkunde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.2.2. Institutionalisierung der „biologischen“ Zahn heilkunde im wissenschaftlichen Verband . . . . . . . 219 6.2.3. „Kampf der Karies“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.2.4. Rassenhygiene in der zahnmedizinisch „biologischen“ Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 7. Pervertierung und Liquidierung der sozialen Zahnheil kunde (W. Kirchhoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 7.1. Schulzahnkliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 7.2. Die Entwicklung der Jugendzahnpflege ab 1933 . . . . . . . 253 7.3. Das Reichsschulzahnpflegegesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 7.4. Gesundheitsämter und Schul(zahn)ärzte . . . . . . . . . . . . . 270 7.5. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKGS) . . . . . . . . . . . . . . 278

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8. Beflecktes Zahngold im kapitalistischen Verwertungs prozess (W. Kirchhoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 8.1. Der Goldraub der Nationalsozialisten ein Tabu? . . . . . . . 281 8.2. Zeitzeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 8.3. Die Beschaffung und der Weg des Zahngoldes . . . . . . . . 288 8.4. Geschätzte Mengen des geraubten Zahngoldes . . . . . . . . 291 8.5. Zahngoldwaschanlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 8.5.1. Nachkriegsentdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 8.5.2. Bankraub und internationale Devisen waschanalgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 8.5.3. Folgenschwere Entdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . 300 8.5.4. Drehscheibe und Waschsalon: die Schweiz . . . . . . 301 8.5.5. Schweizer Goldwaschfilialen: Portugal und Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 8.5.6. Geheimabkommen zwischen der Schweiz und Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 8.5.7. Schweden: die Transformation von Eisenerz zu Gold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 8.6. Deutsche Firmen und deutsche Banken im Sog von Enthüllungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 8.7. Der Umfang der Degussa-Beteiligung an der Verwandlung befleckten Goldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 8.7.1. Die Aufarbeitung der Geschichte des Degussa-Komplexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 8.7.2. Der chemische Antifaschismustest . . . . . . . . . . . . 319 8.8. Deutsche Bank und das braune Band der Sympathie der Dresdner Bank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 9. Faschismusrezeption der deutschen Zahnärzteschaft – die Wahrheit verjährt nicht (W. Kirchhoff) . . . . . . . . . . . . . . 325 9.1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 8

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9.2. Von allem nichts gewusst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 9.3. Die Nürnberger Prozesse und verpasste Chancen . . . . . . 340 9.4. Das System der deutschen Konzentrationslager in den Berichten von Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 9.5. Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958, der Eichmann Prozess 1961 und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse ab 1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 9.6. Der Fernsehfilm „Holocaust“ von 1979 . . . . . . . . . . . . . . 351 9.7. Gesundheitstag 1980 in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 9.8. Aufarbeitung in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 9.9. Im Westen zahlenmäßig kleine Opposition seit 1978 . . . 363 9.10. Allgemeine gesundheitspolitische Einflüsse . . . . . . . . . . 370 9.11. VDZM eröffnete 1982 die berufsinterne Diskussion . . . . 374 9.12. Die Aufarbeitung durch die Ärzteschaft . . . . . . . . . . . . . 393 9.13. Das große Schweigen der Hochschullehrer der Zahnmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 9.14. Übersicht über zahnmedizinische Dissertationen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 9.15. Keine Forschungsarbeit in eigener Sache . . . . . . . . . . . . 411 9.16. Der Fachbereich Medizin der Universität Marburg . . . . . 414 9.17. Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 9.18. Die DGZMK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 10. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 11. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 12. Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 13. Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

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1. Vorwort

I

n über 70 Jahren entwickelte sich die medizinhistorische Aufarbeitung der Zahnmedizin in der Zeit des Nationalsozialismus zu einer unendlichen Geschichte. Während schon in den 1980er Jahren aus beiden Teilen Deutschlands eine ganze Reihe wegweisender Publikationen über die Mitwirkung eines großen Teils der Zahnärzteschaft an dem menschenverachtenden und verbrecherischen System der Nationalsozialisten vorgelegt wurde, blieben die Bemühungen der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Kassenzahnärzt­lichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Landeszahnärztekammern (LZÄK), sich ihrer Verantwortung zu stellen, marginal. Vielfach erlagen sie der Versuchung, die historischen Prozesse dieses Zeitabschnittes der Geschichte relativierend zu beschreiben. Als teilweise kontraproduktiv erwiesen sich die wenigen Aufklärungsversuche aus den Reihen der Wissenschaftsorganisation Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK). Unter der fachlichen Obhut von Universitätswissenschaftlern entstanden Dissertationen, die nationalsozialistische Menschenrechtsverletzungen nicht nur relativierten, sondern Täter aus den eigenen Reihen zu rehabilitieren versuchten. Mit dieser Vorgehensweise steht die deutsche Zahnärzteschaft inzwischen unübersehbar im Schatten der Ärzteschaft, die sich 1989 auf dem 92. Deutschen Ärztetag dazu bekannt hatte, moralisch schuldig geworden zu sein, versagt und ihren ärztlichen Auftrag verraten zu haben. Auf dem 115. Deutschen Ärztetag 2012 wurde ergänzend eingeräumt, dass die Initiative für die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen nicht 11

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1. Vorwort

von den politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst ausgegangen waren. Die Ärzteschaft fügte hinzu, dass die Rechtsbrüche der NS-Medizin bis zum heutigen Tage nachwirkten und gleichzeitig Fragen aufwarfen, die das Selbstverständnis, das professionelle Handeln und die Medizinethik betreffen. Gleichzeitig verpflichteten sie sich einstimmig, den unbeschränkten Zugang zu den Archiven zu gewährleisten und weitere Forschungsarbeiten finanziell zu unterstützen. Die Ärzteschaft erkannte ihre wesentliche Mitverantwortung an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und betrachtete das Geschehene als Mahnung nicht nur für die Gegenwart sondern auch für die Zukunft. Sie bekundeten ihr tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte entgegen ihres Heilauftrages vielfach schuldig wurden, um in diesem Sinne der noch lebenden und bereits verstorbenen Opfer zu gedenken und ihre Nachkommen um Verzeihung zu bitten. Von diesem Eingeständnis und daraus resultierender Bekenntnisse von Schuld und Scham ist die Zahnärzteschaft noch entscheidende Schritte entfernt. Die Gründe ihrer Zurückhaltung sind vielschichtig. Der überwiegende Teil der Verantwortlichen dieses relativ überschaubaren und politisch äußerst konservativen Berufsstandes mit einem für diesen Themenkomplex unübersehbaren Mangel an politischer und moralischer Einsichtsfähigkeit glaubte zum einen daran, die Schuld des Berufsstandes fernab öffentlichen Aufsehens und analog ihres bis 1945 höchsten Repräsentanten, des ehemaligen Reichzahnärzteführers Ernst Stuck, einfach vergehen lassen zu können. Stuck war nach eigenem Bekunden bereits 1948 „total fertig mit dem Nationalsozialismus“ gewesen. Der mehrheitlich mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzte Vorstand der DGZMK distanzierte sich 1949 vom „nutzlosen Wühlen in der Vergangenheit“ und lehnte es ab, vor der Fédération Dentaire International (F.D.I.) ein Bedauern über seine antisemitische Haltung zum Ausdruck zu bringen. Obwohl etwa 70 Prozent der Angehörigen der zahnmedizinischen Wissenschaftselite der NSDAP und/ oder ihren Paraorganisationen angehört hatten, verbreitete die DGZMK 12

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1. Vorwort

im Jahr 2009 noch immer den Irrglauben, in den Jahren 1933 bis 1945 „fremdbestimmt“ gewesen zu sein. Damit stehen die zahnmedizinischen Wissenschaftler im absoluten Widerspruch zu allen seriösen medizinhistorischen Erkenntnissen. Gleichzeitig bekräftigten sie mit dieser Aussage erneut die abwegige These des ehemaligen Präsidenten der Vorgängerorganisation der BZÄK Horst Sebastian, aus dem Jahr 1983: Sebastian hatte verlautbaren lassen, dass der Faschismus unter Zahnärzten überhaupt nicht zuhause gewesen sei. In Fällen, in denen sich die Verantwortlichen der Zahnärzteschaft gezwungen sahen, der sie belastenden historischen Faktenlage nicht mehr ausweichen zu können, wurde der Eindruck von Zwangsläufigkeit und Unvermeidbarkeit der damit im Zusammenhang stehenden Menschenrechtsverletzungen und gesundheitspolitischen Veränderungen zu erwecken versucht. Die organisierte Zahnärzteschaft schloss sich vielfach den üblichen Exkulpationsversuchen ehemaliger Nationalsozialisten und/oder deren Sympathisanten an, die evidenten Zusammenhänge zwischen Menschen und Geschichte als bloße Entfaltung von Strukturen herunter zu spielen; mit dieser Interpretation wurde die Absicht verfolgt, die zahnmedizinhistorische Geschichtsschreibung des inkriminierten Zeitabschnittes auf einen ­Prozess ohne Subjekte zu reduzieren. Noch zu Beginn des Jahres 2016 wurde in den Zahnärztlichen Mitteilungen eine mit diesem Zeitabschnitt einschlägig befasste Zahnärztin mit dem Eingeständnis zitiert, dass sie hinsichtlich der Täter und der medizinischen Verbrechen nach wie vor von deren missbräuchlicher und unbegreiflicher Instrumentalisierung ausgehe1. Parallel dazu verfolgten BZÄK und KZBV eine Strategie, das Aufkeimen einer qualifizierten Diskussion demokratisch legitimierte Formen zahnmedizinischer Versorgungsgerechtigkeit durch konkur­ 1 ZM 106 (2016), H. 2, S. 56–57, zit. S. 57. Anhand der Aufarbeitung der Karrieren einer großen Zahl von Persönlichkeiten habe sich gezeigt, „wie die ärztliche Berufsausübung – und damit das Arzt-Patienten-Verhältnis – missbräuchlich für machtpolitische Zwecke des Staates oder einer Partei instrumentalisiert werden kann“.

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1. Vorwort

rierende Systeme im Gesundheitswesen zu verhindern. Mit der 1933 an deutschen Universitäten erfolgten Ausschaltung des Faches Sozial-(Zahn)Medizin verfiel der explizite soziale Auftrag der Zahn­ medizin in einen Dämmerschlaf. Aus naheliegenden Gründen warten wir heute noch auf die Implementierung einer suffizienten Versorgungsforschung. Versorgungsgerechtigkeit steht in einem engen Zusammenhang mit der epidemiologischen Wirksamkeit und dem volkswirtschaftlichen Nutzen konkurrierender alternativer zahnmedizinischer Einrichtungen wie Ambulatorien, Zahnkliniken, Polikliniken und Öffentlichem Gesundheitsdienst ohne privatwirtschaftliche Rendite­orientierung. Nach vehementer Daueragitation im Rahmen politischer, rassistischer und persönlicher Diskriminierung hatte die deutsche Zahnärzteschaft diese legitimen, konkurrierenden Versorgungsstrukturen und der darin tätigen Zahnärzte und Zahnärztinnen im engen Schulterschluss mit den Nationalsozialisten erfolgreich eliminieren können. Im späteren Westdeutschland richtete sie in personeller, nunmehr entnazifizierter Kontinuität ihre Handlungsmaxime danach aus, nicht nur die politisch motivierten Verbrechen auszublenden, sondern auch ihre Verantwortung für Tatbestände zu verschleiern, durch die die ab 1933 vollzogenen Eingriffe in die Versorgungsstruktur nach Ende des 2. Weltkrieges insbesondere bei Kindern und Jugendlichen eine Mangelversorgung mit weitreichenden Folgen fortsetzten. In einem Land mit den weltweit dritthöchsten Gesundheitskosten für Zahnbehandlungen sind die Auswirkungen noch bis heute spürbar: jahrzehntelange Unterversorgung mit vorzeitigen Milchzahnverlusten und entsprechend hohen Nachfolgekosten durch kieferorthopädische Maßnahmen inklusive der im Erwachsenenalter medizinisch notwendigen Zahnersatzversorgungen und nicht zuletzt die aktuellen, nicht anders als skandalös zu bezeichnenden Versorgungsdefizite bei Kindern und jugendlichen Populationsgruppen, die durch soziale Deprivation und Akkulturation ohnehin benachteiligt sind. Der gleiche Berufsstand, der 1990 unverzüglich, vehement und erneut erfolgreich für 14

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1. Vorwort

eine Liquidierung der Polikliniken in der ehemaligen DDR eintrat, trug zwar in diesem Zusammenhang irreführende Begriffe wie den der „Freiheit“ vor sich her, führte aber dem unvoreingenommenen Beobachter deutlich vor Augen, dass in jenem Kontext die Verteidigung materieller Vorteile bzw. deren ungehinderte Expansion in einem vor Konkurrenz rechtlich geschützten Berufsbereich gemeint war. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts fürchtete die selbstständig in Praxen niedergelassene Zahnärzteschaft nichts so sehr wie die reale Freiheit der Berufsausübung außerhalb des von ihnen definierten Behandlungsmonopols. Die Bereitstellung dieses Monopols durch die Nationalsozialisten bedeutete ihnen jedoch nur das Erreichen eines Etappenziels. Nachdem in der Nachkriegszeit die volkswirtschaftlich kontraproduktive, inzwischen den zahnmedizinischen Teil der Solidarversicherung sprengende Einzelleistungsvergütung durchgesetzt worden war, strebten die Vertreter des zu der Zeit in allen Selbstverwaltungsgremien mehrheitlich präsenten, den Ton angebenden Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte (FVDZ) konsequent das Erreichen der nächsten Wegmarken an. Zur Ausschaltung einer demokratisch legitimierten Kontrolle zahnärztlicher Tätigkeiten durch die Kostenträger und um der ungehinderten Honorarmaximierung willen, instrumentalisierten sie frei von Empathie und sozialpolitisch abwegig das sich ihnen vorbehaltlos anvertrauende sozialversicherte Klientel für die angestrebte Abschaffung der westdeutschen solidarischen Krankenversicherung. Begleitet von dem elitären und undemokratischen Schlachtruf „Klasse statt Masse“ reanimierte der FVDZ ohne erkennbare Skrupel und im Rückgriff auf die Vergangenheit den zwischen 1933 bis 1945 eingeübten antibolschewistischen Jargon, mit dem sie die Bevölkerung im Rahmen ihrer entwürdigenden Selbstverschuldungskampagne als „Oralsäue“ titulierte, um die Einführung eines endgültigen privatvertraglichen Honorar-Inkassos vorzubereiten. Mit Hilfe und hinsichtlich parteipolitisch un­terschiedlich zusammen­gesetzter Bundesregierungen ist die verfasste Zahnärzteschaft inzwischen auf 15

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1. Vorwort

­ ieser Etappe mit dem Ausbau von Selbstbeteiligung und Zuzahlung d weit vorangekommen: die derzeitigen Privateinnahmen der Zahnärzteschaft betragen bald zwei Drittel des gesamten Honorar­aufkommens. Wenn Krankenkassen, Gemeinden und gemeinnützige Vereine ohne privatwirtschaftliche Renditeinteressen die derzeit neu entstandenen Möglichkeiten der Gründung zahnmedizinischer Versorgungszentren nutzen würden, könnte theoretisch erneut eine alternative, konkurrierende und volkswirtschaftlich vorteilhaftere Versorgungsform unter gesundheits- und sozialpolitisch gerechteren Voraussetzungen entwickelt werden. Leider distanzieren sich die Kostenträger in einer Welt des globalen Neoliberalismus ihrerseits immer mehr vom Solidargedanken und die Gemeindeverwaltungen haben derzeit andere finanzielle Sorgen. Aus diesem Blickwinkel werden die Intentionen ersichtlich, aus denen das Konzept der Autoren resultierte, die Zeit vor 1933 hinsichtlich ihrer sozialmedizinischen und gesellschaftspolitischen Implikationen detaillierter vorzutragen. Für den Zeitraum bis 1945 war es ihnen ein besonderes Anliegen, den Beitrag der Zahnärzteschaft und ihrer Standesvertreter, insbesondere des Reichszahnärzteführers zur Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologie und Politik in der allgemeinen Zahnheilkunde inklusive der zahnmedizinischen Wissenschaft, die Ausschaltung jüdischer und politisch oppositioneller Zahnärzte, die Erkenntnisse über den Widerstand von Zahnärzten und die Pervertierung und Liquidierung der sozialen Zahnheilkunde auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu bringen. Etwa die Hälfte der geschätzt 1.600–1.800 jüdischen und oppositionellen Zahnärzte/Dentisten, die Opfer von Berufsverboten, Vertreibungen, im Exil, von Suiziden und Ermordungen in den Konzentrationslagern wurden, können namentlich in einer von der Vereinigung demokratische Zahnmedizin e. V. (VDZM) gepflegten Liste unter http://nsopfer.vdzm.de aufgefunden werden. Die Anzahl der von der VDZM dokumentierten Opfer beträgt derzeit 845 Personen (Stand Februar 2016). 16

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1. Vorwort

Dass die Gesellschaft noch längst nicht „total mit dem Nationalsozialismus fertig“ ist, wurde durch ein eigenes Kapitel über das befleckte Zahngold dokumentiert, das aus den Zahnreihen der Opfer in den Konzentrationslagern, Zuchthäusern, psychiatrischen Anstalten und Ghettos herausgerissen wurde, um im Anschluss daran dauerhaft in den globalen kapitalistischen Verwertungsprozess nationaler und internationaler Banken sowie einzelner Unternehmen wie der Firma Degussa zu gelangen. Um einer nach den bisherigen Erfahrungen grundsätzlich nicht auszuschließenden, standespolitisch gesteuerten Legendenbildung über den gleichermaßen skandalösen wie defizitären Aufarbeitungsprozess des inkriminierten Zeitabschnitts durch die verfasste Zahnärzteschaft und/oder anderer daran interessierter Kreise vorzubeugen, haben die Autoren der Faschismusrezeption dieser Berufsgruppen in beiden Teilen Deutschlands ein ausführliches Kapitel gewidmet. Dabei stellte sich heraus, dass diese relativ kleine und politisch homogene Berufsgruppe der Zahnärzte und Zahnärztinnen mit ihrem überschaubaren Publikationsvolumen für eine Analyse des berufsbe­zogenen Aufarbeitungsprozesses der Zeit des Nationalsozialismus gut geeignet war. Die Autoren befassten sich seit etwa drei Jahrzehnten intensiv mit der vorliegenden Thematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln, bevor sie sich zur Durchführung dieses Buchprojektes entschließen konnten. Ihrer Herkunft nach sind sie entweder der medizinhistorischen Wissenschaft im Universitätsbereich verpflichtet oder der zahnärztlichen Praxis verbunden. Die unterschiedlichen, systembedingten beruflichen Sozialisationen in den zwei deutschen Staaten erwiesen sich hinsichtlich der strikten Vermeidung standesoptisch orientierter Interpretationen der vorliegenden Fakten und Ergebnisse als vorteilhaft. Dieser Sachverhalt mag den geneigten, ausschließlich durch die zahnmedizinische Standespresse geprägten Leserinnen und Lesern zuweilen ungewohnt erscheinen. Um ihnen darüber hinaus die Möglichkeit zu eröffnen, sich dem Thema aus eher allgemeinpolitischen Blickwinkeln oder 17

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1. Vorwort

aus der Sicht der Opfer des nationalsozialistischen Terrorsystems zu nähern, wurde eine ganze Reihe von Literaturhinweisen eingefügt, die das Gesundheitswesen nur mittelbar tangieren. Abschließend sei der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass BZÄK, KZBV und DGZMK anlässlich des nächsten oder übernächsten Deutschen Zahnärztetages eine Erklärung analog des Inhaltes des 115. Deutschen Ärztetages 2012 abgeben möge – die Wahrheit verjährt nicht. Unser ausdrücklicher Dank gilt den Mitgliedern der VDZM, die seit der Vereinsgründung mit ihrem Verbandsorgan der artikulator in Westdeutschland zeitweilig das einzige Presseorgan zur Verfügung stellten, in dem sich zahnmedizinische Beiträge zu diesem Themenkreis publizieren ließen. Daher ist es nur schwer vorstellbar, dass der heutige Erkenntnisstand in dieser Form ohne die inhaltliche und publizistische Unterstützung dieser Vereinigung vorliegen würde. Für die finanzielle Unterstützung dieses Buchprojektes gilt ihren Mitgliedern unser nachhaltiger Dank. Gleichermaßen danken wir Frau Dipl.-Bibl. Silke Thrun (Institut für Geschichte der Medizin der Medizinischen Fakultät Dresden) für ihre engagierte Unterstützung bei der Literaturrecherche sowie die vorbildlich exakte Ermittlung und Korrektur der bibliographischen Angaben. Im April 2016

Dr. med. dent. Wolfgang Kirchhoff Dr. med. Caris-Petra Heidel

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